Wirtschaftswunder und Jungmädchenzeit
(1948 - 1955)
Nachdem in den drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands am 21. Juni 1948 die Reichsmark von der Deutschen Mark abgelöst wurde (die Stadt Essen gehörte zur britischen Zone), ging es wirtschaftlich langsam wieder aufwärts. Zunächst waren von einem zum anderen Tag die Schaufenster und Regale in den Geschäften mit zum Teil vorher gehorteten Waren wieder gefüllt. Der Schwarzmarkt verschwand spurlos. Verbunden mit der Währungsreform, gab es allerdings eine enorme Preiserhöhung und die Arbeitslosigkeit nahm zu.
Mit zehn Jahren aß ich zum ersten Mal eine Banane. Doch die großen Warenangebote in den Geschäften konnten wir zunächst nur staunend wahrnehmen. Mein Vater verdiente nicht so viel, so dass wir uns nicht viel leisten konnten. Er hatte Silikose, eine Berufskrankheit von Bergleuten. Die Silikose ist eine Lungenerkrankung, die durch die Inhalation von mineralischem Staub verursacht wird. Zunächst einmal wurden meinem Vater 60 % anerkannt. Das hatte zur Folge, dass er nicht mehr als Hauer vor Kohle im Streb arbeiten konnte. Der Streb ist beim Kohlebergbau der Teil eines Flözes in dem die Kohle abgebaut wird. Ein Hauer ist ein Bergmann, der alle Gesteins- und Gewinnungsarbeiten zur Erschließung und zur Gewinnung von mineralischen Rohstoffen verrichtet. Mein Vater arbeitete nun nicht mehr im Gedinge. Das Gedinge war eine spezielle Form der Entlohnung. Der Arbeiter wurde nach erbrachter Leistung bezahlt, z. B. der Anzahl der geförderten Wagen. Mein Vater wurde nun nur im Schichtlohn bezahlt und das bedeutete weniger Geld. Aber hungern brauchten wir nun nicht mehr, obwohl die Lebensmittelkarten noch nicht abgeschafft waren. Als meinem Vater Anfang der 50ziger Jahre 80 % anerkannt wurden, arbeitete er noch zwei oder drei Jahre über Tage und bekam eine kleine Unfallrente. Dann kam der Tag als ihm 100 % anerkannt wurden und er in Rente gehen konnte. Ich verstand nicht, dass meine Eltern sich darüber freuten. Ich wusste, dass einige Bergleute aus unserer Nachbarschaft mit dieser Krankheit nicht sehr alt geworden waren. Sie bekamen immer weniger Luft und sind am Ende qualvoll erstickt. Ich hatte also Angst um meinen Vater und die Eltern freuten sich hauptsächlich darüber, dass mein Vater nun eine hohe Rente bekam. Mein Vater ist mit der Silikose 85 Jahre geworden. Er ist nicht erstickt, sein Herz hatte ganz einfach aufgehört zu schlagen. Ich war bei ihm, als er ganz ruhig eingeschlafen ist.
In der Schule gehörte ich zu den drei Klassenbesten. Ich ging gerne zur Schule. Das Lernen machte mir Spaß und ich hatte zwei Schulfreundinnen gefunden.
Im Frühjahr 1949 bestand ich die Aufnahmeprüfung zur Städtischen Knaben- und Mädchen-Mittelschule in Essen- Steele. Aus meiner Klasse waren wir nur zu dritt, die eine weiterführende Schule besuchen wollten und aus finanziellen Gründen konnten; denn die weiterführenden Schulen kosteten Geld. Da in meiner Klasse fast nur Arbeiterkinder waren, kam eine weiterführende Schule für sie nicht in Frage. Wir drei waren eine Ausnahme. Die schriftliche Prüfung bestand aus einem Diktat, einem Aufsatz und Rechenaufgaben.
Das Diktat war aus unserem Lesebuch und hieß “Die beiden Pflugscharen”. Das Aufsatzthema sollte ein Erlebnis sein. Ich ließ meiner Phantasie freien Lauf und nahm die Überschrift “Wie ich mir mein Kleid zerrissen habe.” Es war eine frei erfundene Geschichte.
Als ich nach der Prüfung nach Hause kam, schlug ich sofort mein Lesebuch auf, um nachzusehen, ob ich in dem Diktat Fehler gemacht hatte. In der Volksschule waren meine Diktate immer fehlerfrei. Und oh Schreck, ich fand 2 Fehler. Ich weinte bitterlich und war der Meinung, dass ich durchgefallen wäre.
Mutlos fuhr ich am nächsten Tag mit der Straßenbahn von Essen-Kray nach Steele überzeugt davon, dass ich die Prüfung nicht bestanden habe. Wir mussten uns auf dem Schulhof aufstellen und die Rektorin verlas die Namen, derjenigen Schülerinnen, die auf Anhieb die schriftliche Prüfung bestanden hatten. Ja, welch eine Erleichterung, als auch mein Name aufgerufen wurde. Die Mitschülerin und der Mitschüler aus meiner Klasse mussten noch eine mündliche Prüfung absolvieren, die sie dann auch bestanden. Allerdings sind beide nach zwei Jahren wieder abgegangen. Ich weiß nicht ob freiwillig, oder ob sie gehen mussten. Ich wurde am 29. März 1955 mit dem Abschlusszeugnis entlassen. Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg.
Unsere Schule hieß zwar Knaben - und Mädchen Mittelschule, aber wir mussten uns die Schule mit den Knaben teilen und hatten Schichtunterricht. Wenn die Jungen vormittags Schule hatten, mussten wir nachmittags zur Schule. Der Vorteil dabei war, dass wir samstags immer frei hatten. Der Nachteil, dass ich vor 18.00 Uhr nie zuhause war und dann meine Hausaufgaben noch erledigen musste . Wenn ich nicht so viel auf hatte, machte ich sie am nächsten Vormittag. Dann stand ich aber morgens sehr früh auf, um alles zu schaffen. Unser Haus war das letzte Haus auf Essener Gebiet. Das nächste Haus gehörte schon zu Gelsenkirchen - Rotthausen. Mit der Straßenbahn waren es ungefähr zwanzig Minuten Fahrtzeit bis Essen - Steele und dann kam noch einmal ein Gehweg von 15 Minuten dazu.
Die Wochenfahrkarte kostete 2,60 DM, und für den Schulbesuch mussten meine Eltern jeden Monat 10,-- DM bezahlen. Das fiel meinen Eltern bestimmt nicht leicht, zumal sie für meinen Bruder, der an der Folkwangschule in Essen - Werden Musik studierte, auch noch 35,-- DM Schulgeld zahlen mussten. Ich bin ihnen noch heute dankbar, dass sie mir den Schulbesuch ermöglicht haben. Auf der halben Strecke in Essen - Kray- Nord stiegen noch drei Mädel aus meiner Klasse ein. Es mag am dritten oder vierten Schultag gewesen, als mich eine der drei ansprach. “Du bist doch auch in unserer Klasse, wie heißt Du denn?” Ich nannte meinen Namen. Mein Nachnahme war Lorenz, und eine der drei, mit der ich dann bis zum Schulabgang befreundet war, wiederholte die erste Silbe meines Nachnamens zweimal “ Lo-lo” Ja, und da hatte ich für sechs Jahre den Spitznamen Lollo .Mein Spitzname hatte nichts mit der berühmten italienischen Filmschauspielerin zu tun. Dazu muss ich sagen, dass ich selbst mit 16 Jahren überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem Filmstar Lollobrigida hatte, wenn man von ihr sprach nannte man sie nur “ Die Lollo “.Entscheidend dabei war vor allen Dingen, dass da, wo die Gina den Superbusen hatte, bei mir alles flach war. Aber ich wurde von den Klassenkameradinnen nur mit meinem Spitznamen angeredet.
Was die Zensuren anbelangt, war schon das erste Zeugnis ein gravierender Unterschied zu meinen Zeugnissen in der Volksschule. Zu der Zeit gab es übrigens nur die Zensuren, sehr gut, gut, genügend, mangelhaft und ungenügend. Ich war gewohnt, dass ich in allen Fächern gut oder sehr gut hatte. Das änderte sich schon schlagartig mit dem ersten Zeugnis der Mittelschule, Die Kopfzensuren waren alle drei gut und in Musik hatte ich noch ein gut, alles andere war genügend. Zu der Zeit bekamen wir auch noch dreimal im Jahr Zeugnisse. Erst auf dem Versetzungszeugnis am 31. März 1950 waren zum ersten Mal die Noten befriedigend und ausreichend. Die Note genügend gab es nicht mehr. Die Note “Gut “ fehlte bei mir immer noch, aber ich hatte zumindest in Deutsch die Note “befriedigend “. und in keinem Fach “mangelhaft “.
Ab 1951 wurde die Mittelschule in Realschule unbenannt.
Deutsch wurde mein Lieblingsfach. Besonders liebte ich die Literaturstunden. Meine Mitschülerinnen und meine Deutschlehrerin stellten fest, dass ich sehr gut Gedichte und Balladen rezitieren konnte. Ich stand dann vor der Klasse und konnte alles rings um mich vergessen. So habe ich einmal “Die Bürgschaft “ von F. Schiller aufgesagt und die Klassenkameradinnen fingen an zu kichern Ich hörte mittendrin auf, weil ich dachte, sie würden mich auslachen. Doch hinterher meinten sie, ich hätte das so drastisch rezitiert, und nur meine Mimik und meine Gesten dabei hätten sie zum Lachen gebracht. Ich habe dann in den folgenden Jahren bei Schulfeiern immer in der Aula die Gedichte aufsagen müssen. Besser ausgedrückt, ich durfte sie aufsagen. Als die Rektorin das erste Mal in unsere Klasse kam und fragte, wer denn von uns gut Gedichte aufsagen könnte, riefen alle sofort: “ Die Lollo”. Die Rektorin musste dann erst einmal aufgeklärt werden, dass ich damit gemeint war.
In Deutsch mündlich bekam ich dann übrigens auch immer die Note “Gut “.
Der Schulalltag verlief damals anders als heute, nicht so locker. Da war z. B. unsere Biologielehrerin. Sie begrüßte uns immer mit “Gruß Gott “, obwohl wir nicht in Bayern waren. Heute glaube ich, dass sie zur Nazizeit mit “Heil Hitler “ die Klasse betrat. Wir mussten dann aufstehen und in einer geraden Linie wie die Soldaten stehen. Sie ging dann durch die Reihen und kontrollierte, ob auch kein Mädel aus der Reihe tanzte.
Unsere Klassenlehrerin habe ich in guter Erinnerung. Sie war eine mütterliche Frau mit warmen Augen, allerdings auch ein wenig launenhaft. Wir hatten nur das Fach Englisch bei ihr. War sie mal schlecht gelaunt, war nicht gut Kirschen essen mit ihr. Unter dem ganzen Lehrpersonal befand sich nur ein Mann, unser Mathe-Physik und Chemielehrer. Als er uns einmal eine Mathearbeit ankündigte und wir meinten, es wäre noch nicht der richtige Zeitpunkt dafür, weil wir das Ganze noch nicht richtig verstanden hätten, er aber den Termin nicht ändern wollte, beschwerten wir uns bei unserer Klassenlehrerin. Nachdem auch sie keinen Einfluss darauf hatte, wir vor der Mathestunde bei ihr Englisch hatten und natürlich sehr aufgeregt und zappelig waren, hatte sie insofern Mitleid mit uns, indem sie die Englischstunde ausfallen ließ und mit uns einen Spaziergang machte. Das war zwar sehr nett von ihr, aber ich habe trotzdem eine fünf in der Arbeit bekommen. Sie war 4 Jahre unsere Klassenlehrerin, dann bekam sie eine Rektorenstelle in Düsseldorf. In den letzten zwei Jahren wurde dann unsere Musiklehrerin unsere Klassenlehrerin, die uns auch in dem Fach Deutsch unterrichtete.
Am 23. Mai 1949 wurde die BRD gegründet. Aber erst am 15. September 1949 gab es den ersten BRD-Bundeskanzler. Konrad Adenauer von der CDU , der das Amt bis zu seinem Rücktritt am 15. Oktober 1963 innehatte und 3 Tage vorher wurde Prof. Dr. Theodor Heuss von der FDP Bundespräsident. Er wurde 1954 wieder gewählt und erst 1959 von Heinrich Lübke von der CDU abgelöst. Ich kann mich noch an einen Werbeslogan der SPD vor den ersten Wahlen erinnern. “Jeder Ochse jede Kuh wählt in Deutschland CDU”. Meine Eltern waren CDU Wähler und ich dachte damals mit meinen 10 Jahren, das wäre ein Slogan der CDU. Ich habe erst Jahre später begriffen, dass das ein Spruch der SPD war.
Und wie profitierten wir vom Wirtschaftswunder? Zum 10. Geburtstag bekam ich meine ersten Rollschuhe. Ich habe den ganzen Tag auf der Hauptstraße geübt, solange, bis ich es konnte. Ich weiß nicht wie oft ich dabei gestürzt bin und wie viele Blessuren ich davon getragen habe. Zu der Zeit konnte man noch auf der Hauptstraße Rollschuhlaufen, es gab ja kaum Autos. Mit 12 Jahren bekam ich mein erstes Fahrrad. Fahrradfahren hatte ich schon vorher auf einem Herrenfahrrad gelernt. Weihnachten 1950 bekam ich meine erste Armbanduhr und zum Lesen die beiden ersten Bände der Pucki-Bücher. Ich habe noch alle 12 Bände bei mir im Zimmer stehen. Meine beiden Töchter haben sie auch als Kinder gelesen. Ich weiß nicht, ob meine Enkeltochter einmal Interesse dafür zeigt.
Anfang der 50ziger Jahre hatte das Kino seine Blütezeit. Die ersten Farbfilme wurden gezeigt. Es waren meistens Heimatfilme, z. B. “Schwarzwaldmädel “ mit Sonja Ziemann und Rudolf Prack, oder” Grün ist die Heide” mit den gleichen Hauptdarstellern. Diese Filme waren ab 12 Jahre zugelassen und ich stand sonntags mit der Freundin in der Schlange an der Kinokasse, um eine Karte zu ergattern. An die Preise kann ich mich nicht mehr so ganz genau erinnern. Ich glaube 1,20 DM für eine Karte bezahlt zu haben.
Zu der Zeit kauften sich meine Eltern die erste Polstergarnitur. Als 1954 die Fußballweltmeisterschaft in Bern stattfand, konnten wir diese an unserem neuen Radio verfolgen. Aber erst 1957 bekamen wir den ersten Fernseher und den ersten Kühlschrank erst 1958. Wann meine Mutter ihre erste Waschmaschine bekam weiß ich gar nicht mehr. Aber ich erinnere mich, dass ich schon verheiratet war, als sie immer noch einmal im Monat in der Waschküche große Wäsche hatte. Das bedeutete Wäsche im großen Kessel kochen, im Waschbecken spülen und dann durch den Wringer drehen.
1957 buchten meine Eltern die erste Urlaubsreise. Wir sind für 14 Tage mit Touropa nach Bayern gefahren, und zwar nach Miesbach. Wie groß war die Enttäuschung, als wir von den 14 Tagen nur 10 Sonnentage hatten. An allen anderen Tagen regnete es und das in Strömen.
Mein Bruder beendete 1952 sein Musikstudium an der Folkwangschule in Essen-Werden und bekam im Städtischen Orchester Bielefeld eine Anstellung zunächst als 2. Pauker und später als 1. Pauker und war dort bis zu seiner Pensionierung beschäftigt. Er schickte mir regelmäßig jeden Monat 5,-- DM, damit ich ins Theater gehen konnte. Von dem ersten Geld kaufte ich mir eine Eintrittskarte für das Stadttheater in Gelsenkirchen. Ich habe mir dort die Oper “La Traviata “ von Giuseppe Verdi angeschaut und angehört Ich war und bin auch heute noch eine fleißige Theaterbesucherin. Ich liebe das Musiktheater aber auch das Sprechtheater. Mit der Schulklasse haben wir uns regelmäßig Theateraufführungen angeschaut. Meistens war das dann hinterher ein Aufsatzthema.
Am 31. März 1953 wurde ich in der evangelischen Kirche in Gelsenkirchen Rotthausen konfirmiert. Vorher bin ich drei Jahre einmal in der Woche zum kirchlichen Unterricht gegangen. (Vorkatechumenen- Katechumenen- und Konfirmandenunterricht.) Wir wohnten zwar in Essen-Kray, aber kirchlich gehörten wir zu Gelsenkirchen. Einen Sonntag vor der Konfirmation hatten wir unsere Prüfung in der Kirche vor den Familienangehörigen, Gemeindemitgliedern und Presbytern. Dafür bekam ich extra ein neues Kleid. Es war kornblumenblau mit einem weißen Kragen. Und zur Konfirmation hatte ich ein schwarzes Samtkleid. Beide Kleider von einer Schneiderin genäht. Alle Prüflinge waren bemüht wenigstens zweimal vom Pfarrer dran genommen zu werden. Ich war ganz stolz, ich durfte dreimal antworten und jedes Mal war meine Antwort richtig.
Ich hatte bis zur Konfirmation Zöpfe und drei Tage danach durfte ich sie mir beim Frisör abschneiden lassen und bekam meine erste Dauerwelle. Ich fühlte mich als “Junge Dame “. Da fällt mir die Mode in den 50ziger Jahren ein. Auch wenn die Frauen in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg andere Sorgen hatten, waren sie dennoch modehungrig. Die Mode in den 50zigern Jahren wurde von Paris diktiert, und die Frauen fertigten sich teilweise selbst nach Modeheften Diors figurbetonten New Look an.
Für die Kids entstand ein neuer Stil, Lederjacken, hervorgerufen durch die Filme mit Elvis und James Dean, Caprihosen und am Bauch zusammen geknotete Blusen wurden von den Backfischen getragen Dazu gehörte ich auch. Das Rock `- n Roll-Fieber machte Petticoats zum absoluten Muss. Und die Bluejeans wurden in der Badewanne auf hauteng getrimmt.
Apropos Rock `-n Roll. Ich erinnere mich, dass ich mit ein paar Freunden den Steno-Kursus geschwänzt habe, stattdessen sahen wir uns den Film” Rock around the clock “ an. Und da ging die Post ab. Anschließend rundete noch ein Besuch in der Milchbar den Abend ab. Die Milchbars waren beliebte Treffpunkte der damaligen Kids. Dort konnten wir bei Milchshakes und Cola unsere Musik hören und die ersten Kontakte mit dem anderen Geschlecht wurden geknüpft..
Ein paar Monate nach meiner Konfirmation sind wir dann umgezogen. Wir bekamen eine größere Wohnung mit einem Badezimmer und einem Badeofen, in dem wir unser Badewasser jederzeit heiß machen konnten. Dazu muss ich noch Folgendes berichten.
Wir hatten zwar vorher auch ein Badezimmer mit einer Badewanne. Aber das Wasser zum Baden musste in der Waschküche im großen Waschkessel heiß gemacht und mit Eimern heraufgeholt werden. Und in dem Badewasser hat die ganze Familie dann gebadet und es gab bloß einen Badetag in der Woche. Und nun hatten wir einen Kohlenboiler, den wir nur wie einen gewöhnlichen Kohleofen anheizen mussten. Allerdings durfte man es nicht eilig haben, wenn man einmal baden wollte. Es dauerte nämlich einige Zeit, bis das Wasser heiß war.
Ab dem 8. Schuljahr fing ich an, mich mit der Vergangenheitsbewältigung, d. h. mit der Nazizeit zu beschäftigen. Das erste Buch, das ich dazu las und welches mich darauf brachte, meinen Eltern zum Teil unangenehme Fragen zu stellen, war. “Das Tagebuch der Anne Frank“ Ich habe viele Diskussionen mit meinen Eltern geführt. Mein Vater war zur Nazizeit in der Partei und war Blockwart. Der Blockwart war der rangniedrigste Parteifunktionär innerhalb der NSDAP. Er war für etwa 40 bis 60 Haushalte zuständig. Warum ??? Entschuldigungen wie arbeitslos - die Partei hatte Arbeit versprochen, die er auch bekommen hatte- nichts gewusst vom Holocaust- am Ende des Krieges die Gräueltaten nicht geglaubt. Weitere Gegenargumente des Vaters - Verantwortung für die Familie - wie hätte er ohne Arbeit die Familie durchbringen sollen - Unverständnis von mir. Aber wieso dann auch noch Blockwart? - Das verstehst Du nicht, du warst damals noch zu klein, ich will darüber jetzt nicht mehr diskutieren, basta. -
Nach so einer Debatte zog ich dann immer enttäuscht und wütend ab.
Meine Mutter versuchte dann immer die Wogen zu glätten
In unmittelbarer Nähe der Zeche, auf der mein Vater beschäftigt war, gab es während des 2. Weltkrieges ein russisches Kriegsgefangenenlager, die Gefangenen mussten im Bergbau unter schweren Bedingungen arbeiten. Die Essensrationen müssen mehr als karg gewesen sein. Meine Mutter erzählte mir eines Tages nach einer heftigen Diskussion wegen Vaters Parteizugehörigkeit die andere Seite. Auf seiner Schicht war damals sein Kumpel ein russischer Kriegsgefangener. Obwohl wir selbst nicht viel hatten, nahm er jeden Tag eine Stulle mehr mit zur Arbeit, die für den Russen bestimmt war. Meine Mutter hatte schreckliche Angst, dass das mal auffliegen könnte, denn das war verboten. Diese Geschichte stimmte mich zwar ein wenig gnädiger, aber das gespaltene Verhältnis zu meinem Vater blieb. Heute mit meinen 70 Jahren denke ich noch oft darüber nach, wie ich mich wohl zur Nazizeit verhalten hätte, wenn ich kein Kind, sondern schon erwachsen gewesen wäre. Ich finde keine Antwort darauf und bin froh, dass ich damals noch so klein war und keine Entscheidung treffen musste. Mein Bruder, 10 Jahre älter als ich, war übrigens nie in der HJ. Er hatte sich ganz einfach geweigert der Hitlerjugend bei zu treten.
Nach diesen Debatten verschwand ich dann meistens in mein Zimmer und bearbeitete die Klaviertasten. Vom 7. Bis zum 15. Lebensjahr habe ich Klavierunterricht bekommen und konnte Sonatinen von Mozart, Beethoven, Clementi usw. spielen. Bei den Läufern spielte ich mir dann den ganzen Frust weg. Ach ja, der Klavierunterricht. In den ersten zwei Jahren fuhr ich jede Woche nach Gelsenkirchen zur Klavierstunde. Nachdem die Klavierlehrerin weggezogen war, kam eine andere Klavierlehrerin zuerst einmal in der Woche und in den letzten beiden Jahren dann nur noch alle zwei Wochen zu uns ins Haus. Sie war zwar eine hervorragende Klaviervirtuosin, aber ich konnte sie im wahrsten Sinne des Wortes nicht riechen. Mit anderen Worten, sie stank. Wenn sie neben mir am Klavier saß, versuchte ich immer ein Stückchen von ihr weg zu rücken. Aber das war nicht nur der Grund, warum ich mit den Klavierstunden aufhörte. Ich hatte mit 15 Jahren einfach keinen Bock mehr zu üben.
In der Schule hatten wir im letzten Schuljahr eine neue Geschichtslehrerin bekommen. Es war ihr erstes Lehramt. Als sie feststellte, dass unsere Geschichtskenntnisse zu wünschen übrig ließen, stellte sie lakonisch fest, dass sie in einem Jahr den Stoff, den man bisher versäumt hatte uns beizubringen, nicht mehr aufholen könnte. Sie schlug uns vor, unsere jüngste Vergangenheit und die Gegenwart durchzunehmen. Was unsere Zensuren anbelangte, kündigte sie uns an, dass wir unsere Zensuren vom vorherigen Zeugnis bekommen würden. Falls sich jemand verbessern wollte, sollte er sich melden. Er könnte dann ein Referat halten. Ich hatte eine Drei auf dem Zeugnis und es drängte mich nicht, diese Zensur zu verbessern.
Wir haben dann von ihr viel über die Nazizeit und über die junge Bundesrepublik erfahren und auch viel diskutiert.
Am 29. März 1955 wurde ich mit dem Abschlusszeugnis aus der Realschule entlassen. Ich hatte das Ziel der Realschule erreicht.
Bei der Abschlussfeier in der Aula, bekam ich feuchte Augen und wischte mir heimlich ein paar Tränen fort. Ich bin sehr gerne zur Schule gegangen. Der Abschied von meinen Klassenkameradinnen fiel mir schwer. Mit einigen hatte ich noch ein paar Jahre Kontakt, Aber irgendwie trennten sich dann unsere Wege. Ab und an gab es mal ein Klassentreffen. Das letzte fand 1985 dreißig Jahre nach unserer Schulentlassung statt. Ich wusste, dass nun eine unbeschwerte Zeit vorbei war und der so genannte Ernst des Lebens begann. Was würde mir die Zukunft bringen? Eines war klar, ein wichtiges Kapitel meines Lebens ging mit meiner Schulzeit zu Ende und ein neues begann.
Tag der Veröffentlichung: 19.04.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine Kinder und Enkelkinder