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Ich habe vor kurzem einen „Zeit“-Artikel gelesen. Es ging um das Aussterben des Feierabends. Dieser ist heutzutage ein Relikt der Unterschicht. Wer es zu etwas gebracht hat, dem ist kein Feierabend mehr vergönnt hieß es. Zustimmen kann ich dem Artikel im Wesentlichen, doch wieso ich ihn erwähne, hat eine andere Bedeutung. Was mir auffiel, ist die Entwicklung der Kommunikation, die sich heute bis zur Überkommunikation steigert. Fraglich ist, ob diese Entwicklung wirklich ein Fortschritt ist, oder ob sie nicht eher eine Verwahrlosung des Ichs bedeutet.

Und dann kam das Handy! Willkommen im 21 Jahrhundert. Die Menschen sind kurz davor, sich selbst zu verlieren. Wieso? Überkommunikation – Übererreichbarkeit - Stress. Die letzten Monate bestätigen meine These durch erschreckende Realität. Diverse Freunde von mir besorgten sich eine Handyflatrate. Klingt erstmal gut. Genaue Kostenübersicht, hektikfreies Telefonieren, ohne lästigen Zeitdruck (bedingt durch Geiz), schlicht und einfach der ebene Weg zur Kommunikationsfreiheit – gepaart mit einer Internetflatrate und der Erfindung von sozialen Netzwerken haben wir sie geschaffen, Komplettkommunikation.
Was bei der schönen Werbung von Base, D2 und wie sie alle heißen mögen nicht bedacht wurde, sind die Freunde, die im Spot so fröhlich und unverbindlich angerufen werden. Zu welchem Zweck? Smalltalk. Sinnlosigkeiten, belangloses Gefasel, Informationsaustausch unter RTL2-Niveau. Dabei sind die Freunde vielleicht gerade mit wichtigeren Dingen beschäftigt, als zu erfahren, dass dieser oder jener dieses oder jenes gesagt oder getan hat – was sie sowieso erfahren hätten, nur zu einem günstigeren Zeitpunkt, z.B. bei einem Treffen und nicht während einer Wohnungsbesichtigung, einer Sitzung oder gar beim Sex, nie ist man vor dem penetranten Gebimmel sicher.
Mit den Flatrates war die Überkommunikation noch lange nicht erreicht, der Störfaktor, der von ihnen ausgeht ist – da bis jetzt nur wenige eine besitzen – noch marginal. Doch, was vor einigen Jahren, als sich der erste engere Freund eine Flatrate anschaffte, auffiel: Es ist ätzend, wenn man zwischen 18 und 19 Uhr angerufen wird und schon vor dem Abnehmen weiß, was die Intention des Anrufs sein soll: der anrufende Freund wartet auf seine S-Bahn, da er gerade Feierabend hat – wie jeden Tag. Heute eine fast schon belanglose Geste der Kommunikationsjunkys. Sie treiben es sogar so bunt und rufen wegen noch größerer Nichtigkeiten einfach täglich an, wohl schlicht und einfach der Kommunikation wegen und weil sie verlernt haben, sich mit sich zu beschäftigen – selbst in den wenigen ruhigen Minuten der Freizeit oder des Wartens und trotzdem man sich am selben oder nächsten Tag sehen wird.

Wir leben in einer Zeit, in der die meisten Menschen von Kind auf verlernt haben, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, ihre freie Zeit, statt sie zu verschwenden, in das eigene Ich zu investieren. Man wird von klein auf darauf konditioniert, dass, wenn gerade mal nicht viel Action auf dem Tagesprogramm steht, das ewig dahinlamentierende schleimig-modernde Gebrabbel einen stets verfügbaren Lückenfüller darstellt. Die Konditionierung geht mittlerweile soweit, dass sich beim Fernsehprogramm keinerlei Mühe mehr gegeben werden muss – die Leute schauen es sowieso, mangels Alternativen. Antwort der opportunen Kritiker, der hinnehmenden Knechte: Das ist wohl Kapitalismus. Bravo, gut erkannt! Wie lässt sich sonst die Existenz von Sendungen mit fünftklassigen Schauspielern erklären, die eher lächerlich als echt wirken, während sie versuchen, pseudosouverän ihre Rolle zu spielen (z.B. K 11 oder andere Sendungen, die das Mittags- bis Nachtprogramm übernommen haben).
Geschickter Schachzug, die Meisten wurden schon dahingehend konditioniert, von Kind auf mit fernsehen ihre Zeit zu vertreiben, so dass man das Programm nach und nach niveauloser und somit kostengünstiger gestalten konnte, ohne spürbar an Zuschauerzahlen zu verlieren. Vermeintliche Wissenssendungen zeigen mittlerweile, wie man Lebkuchen herstellt oder wo es das größte Schnitzel der Welt gibt – welch Wissen! Platon würde sich im Grabe umdrehen. Bildungsauftrag des Fernsehens, spöttische Utopie. Einzig die Elterngeneration achtet zumindest noch teilweise darauf, was sie sich anschaut. Auf das Fernsehverhalten ihrer Kinder können sie letztlich trotzdem kaum Einfluss nehmen. Hier reflektiert sich bemerkenswert der Statusunterschied.
Eine weitere Folge des Fernsehens, ein scheinbar unaufhaltsamer Schwall von Stars, die Vorbilder sind, allein, weil sie gezeigt werden. Das ist das Wunschbild, da will man hin. Den Respekt vor sich selbst haben die Menschen durch den Fernsehhype schon lange verloren, Eigenarten werden nicht nur heraus- sondern bloßgestellt. Bauern suchen Frauen im Fernsehen und blamieren sich bis auf die Knochen durch ihre Hinterwäldlerart, die dem Städter komisch anmaßen, während Models den selbsternannten Freaks beibringen, wie sich ein normaler Mensch zu gebärden hat. Gut, dass es Models gibt! Wer könnte das besser außer sie – mal abgesehen von Supernannys und Talkshowmoderatoren. Das Traurige ist, die Bloßgestellten scheinen es nicht einmal zu bemerken oder nehmen die Bloßstellung als akzeptabel hin, besser, als kein Auftritt vor einem Millionenpublikum.
Und der Zuschauer? Der Respekt vor anderen Menschen stagniert auf niedrigstem Niveau. Es wird sich auf Kosten anderer amüsiert, in kolosseumsähnlicher Manier „Haha, guck mal!“, denn im Schatten des Leides anderer, ist das Eigene weniger schlimm. Kool Savas meinte dazu „Wir sehen kranke, kaputte Menschen im Fernsehen und finden das witzig, ehrlich das ist krank!“. Jetzt gäbe es hierzu noch etliches an soziologischem und sozialpsychologischem Geschwafel, dessen Quintessenz sich jeder selbst denken kann und das wir deshalb getrost überspringen dürfen. Man muss ja eigentlich nicht mal erwähnen, dass Fernsehen zum Synonym für einen endlos dahinlamentierenden gärenden Scheißhaufen geworden ist.
An dieser Stelle großes Lob an MTV, wenn die Kiddys schlafen gehen, spielt ihr politisch und humoristisch anspruchsvolle Sendungen und sogar ab 1 Uhr nachts noch Musik! Leider gehen die Meisten aber vorher schlafen, infolge von Sklaverei der Zwangsarbeit. Soviel Gejammer, aber ich komm gleich auf den Punkt.

Oh, Moment. Es kam auch das Internet! Genauer gesagt E-Mails, Facebook, Studivz, Onlinechat, Myspace. In Deutschland für Leute in meinem Alter maßgeblich natürlich Studivz. Nicht, dass ich falsch verstanden werde. Ich bin durchaus ein Fan des Internets und ein Verfechter der Idee, dass es die Welt zum Positiven verändern wird, freier und differenzierter macht, solange der Rahmen dies hergibt. Nur habe ich mich dabei ertappt, dass ich tatsächlich mehrmals täglich (über 10 mal, denn ich mache gerade ein Praktikum…) schaue, ob mir nicht jemand eine Nachricht geschickt hat, mir irgendetwas zu sagen hat – trivialer Nonsens, personalisierte RTL 2 News des Bekanntenkreises. Ann Sophie berichtet, dass sie morgen früh raus muss und Döner essen will, während …ach nein ich zitier hier jetzt nicht weiter. Man kennt es: kurzes, inhaltloses Geschnatter, das auf den ersten Blick vielleicht manchmal einen Sinn haben mag, doch der eigentliche Sinn ist die Chatterei auf Pinnwänden, um die Langeweile zu besiegen, oder wenigstens zu teilen. Ich hatte noch nie Langeweile, mal abgesehen von Zeiten des Arbeitens mit Anwesenheitspflicht – nervige Präsenskultur, doch das ist ein anderes Thema. Trotzdem muss ich mein Verhalten jetzt ändern. Man braucht diese Emails, Studivz-Nachrichten/Einträge, SMS und den ganzen anderen Kommunikationsschnickschnack, der dafür sorgen sollte, dass man im Gedächtnis bleibt, nicht in diesem exzessiven Maße. Mehr noch: Es ist schlecht für einen selbst. Man stresst sich, muss Nachrichten checken, schauen, ob man „wichtig“ und „gefragt“ ist und natürlich auch schreiben, verlernt aber dabei so manches, denn zu groß ist die Oberflächlichkeit. Immerhin sind es Stunden, die man so ganz ohne schlechtes Gewissen damit verbringen kann, soziale Kontakte zu festigen indem man Freunden, vermeintlichen Freunden und Bekannten auf die Pinnwand schreibt oder schlichtweg grüßt, weil man ihnen nichts zu sagen hat.
Was ist es, das die Menschen dazu bringt, Kommunikation so verwahrlosen zu lassen? Man schreibt sich andauernd kurze Nachrichten, um des Schreibens, um der Beschäftigung willen, nicht mehr, um ein Treffen zu arrangieren, wichtige Neuigkeiten auszutauschen oder weil man ernsthaftes Interesse daran hat, wie es dem anderen gerade ergeht – zumindest beim Groß der Nachrichten.
Im Grunde fand ich die Idee hinter Studivz genial: Man kann Kontakt zu den alten, meistens über das ganze Land verteilten Freunden und Bekannten halten, Treffen organisieren und verliert sich nicht aus den Augen. Doch die Kehrseite der Medaille bietet schreckliche Visionen: Man schickt sich unentwegt Nachrichten, obwohl man sich in den nächsten Tagen sowieso sieht. Oberflächlich „befreundet“ man sich in den Netzwerken mit allen möglichen Menschen, nur um eine möglichst große Liste zu haben, dabei kennt man sich gar nicht wirklich. Doch eine Freundschaftseinladung ablehnen wäre auch irgendwie beleidigend.
Zum Glück sind die richtigen Junkys noch rar gesät, größtenteils sind es noch die, die aus irgendeinem Grund (z.B. durch das Verlernen des mit sich selbst Beschäftigens) kaum mehr in der Lage sind, ohne Kommunikation (oder lethargischem vor der Glotze vegetieren) mit sich allein zu sein. Meine These: Der Junkygrad des Nutzungsverhaltens ist in Relation zur verlernten Selbstbeschäftigung zu sehen. Idiokratie wird noch etwas auf sich warten lassen, doch lernen, sich auch ohne andere sinnvoll zu beschäftigen, das wäre eine Tugend, die es (auch in der Schule) zu erlernen gilt.

Man kann vielleicht sagen, dass sich der Mensch durch die Aufklärung aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreit hat – geführt hat es ihn in eine, zumindest bis zu einem gewissen Zeitpunkt unverschuldete, weil nicht voraussehbare und somit nicht zu beeinflussende, Pseudo-Mündigkeit. Der selbstverschuldeten Unmündigkeit folgt nach der Befreiung die systematisierte. Der Kapitalismus funktioniert umso besser, je mehr er hingenommen wird. Desto mehr Manipulation Alternativlosigkeit bedingt, je höher ist der Grad der Abhängigkeit von Instrumenten des Kapitalismus und je geringer die Tiefe der Kritik am System und seinen Ausuferungen. Ich habe gelogen, ob es selbstverschuldet oder unverschuldet war, lässt sich heute nicht mehr wirklich beantworten. Sicherlich war es anfangs nicht geplant. Andererseits wurde, als gesehen wurde, dass Manipulation und die Steuerung über Kapital funktioniert, angefangen, diese zu perfektionieren – ob bewusst oder unbewusst, doch sicherlich verschuldet, da unreflektiert für das Wohl der Menschheit.
Manchmal kommt man vom Weg ab, dann bedeutet Fortschritt tatsächlich Rückschritt, im Sinne des für die Menschheit guten Ziels. Was nun gut oder schlecht ist, lässt sich definieren, anhand der humanistischen Grundidee. Man braucht den Mut, eine neue Abbiegung auszuprobieren, den alten Weg zu vergessen und die Richtung radikal zu ändern, einen Paradigmenwechsel – auch wenn man dafür ein stückweit Sicherheit aufgibt, doch was ist Sicherheit wert, wenn man sich sicher ist, dass der Weg nicht zum Ziel führen kann. Der Weg kann nur das Ziel sein, wenn es ein fiktives Ziel gibt, eine blaue Blume, denn Weg und Ziel bedingen sich, sonst ist es wie Auto fahren ohne Karte in einer fremden Gegend, nur mit dem Hauch der Idee, wo man hin möchte, doch weder mit dem Wissen wo das sein soll, noch wo man ist.
Ich denke, um dieser schönen Blume näher zu kommen, muss man auch lernen, mit den neuen Medien richtig umzugehen. Es ist zwar schön (und) einfach in der Welt der unverbindlichen Kommunikation, des Geschwafels und Stumpfsinns, doch gleichzeitig fällt einem auf, dass man etwas vermisst. Ruhe und Zeit für sich selbst, für das Nachdenken und reflektieren – denn zur Kommunikation gehören immer min. 2, Sender und Empfänger und wenn der Empfänger mal nicht empfangen werden möchte, kann man es dem Sender nur schwerlich erklären. Man kann jedoch einfach seltener seine Mails checken, weniger Studivz, weniger Myspace, mal das Handy und Telefon ausschalten ist mehr Myspace. Es fehlt in der Zeit der ständigen Erreichbarkeit (auch bedingt durch das „erreicht werden wollen“) Ort und Zeit für Nichterreichbarkeit, eine Insel. Vor wenigen Jahren war es noch die Insel des Feierabends, 22 Uhr. Eine Unzeit noch bei den Leuten anzurufen! Heute wird erwartet, nein, nicht nur erwartet, es ist selbstverständlich, noch um 23 Uhr an sein Handy zu gehen.
Macht weiter. Ich bin weg. Hallo Insel!

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Texte: Alle Rechte an den Grafiken verbleiben bei Alexander Jäger. Die Rechte und Verantwortlichkeit für diesen Text liegen bei dem Autoren.
Tag der Veröffentlichung: 28.11.2008

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