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Es war seltsam, verliebt zu sein. Natürlich schön, aber doch seltsam. Besonders wenn man wusste, dass der Mann, in den man sich verliebt hatte, bereits über 150 Jahren tot war…

„Verpiss dich doch, du Arsch!“, schrie ich meinem Exfreund nach, der hastig davon lief. Es war eine lange Nacht gewesen; geile Party, nette Leute, super Stimmung. Bis mein Noch-Freund gestand, er hätte eine Andere gefunden. Manchmal wusste ich nie, ob mich mein Freund nur wegen des Geldes liebte, dass ich besass. Wahrscheinlich dachte Timo, ich würde ihm Kohle liefern, da ich ja seine Freundin war. Falsch gedacht. Und da machte er einfach Schluss. Ich wäre fast im Erdboden versunken, wenn da nicht meine ungeheure Wut gewesen wäre, die mich aufrecht stehen liess. Ich war gut darin, mich zu beherrschen. Doch Timo war nun bereits meine 5. gescheiterte Beziehung und ich war fertig mit den Nerven- und mit dem seelischen Schmerz. Seufzend und mit tränenverschmiertem Gesicht lief ich nach Hause. Jeder um mich herum war glücklich- hatte einen richtig guten Partner oder Partnerin erwischt. Bloss ich stand allein da. Es kam mir vor, als hätte Gott für mich niemanden vorbereitet, der mich lieben würde; den ich lieben konnte.
Ich kam Zuhause an. In der Küche und im Arbeitszimmer brannte noch Licht. Natürlich. Meine Schwester machte sich wahrscheinlich ihre übliche Mitternachtsmahlzeit. Ich seufzte, als ich an den langweiligen, morgigen Tag dachte, an dem ich meine Zeit damit verbringen würde, Bilder anzustarren, da die gesamte Familie eine Ausstellung besuchen würde. Was ich nicht ahnte war, dass der morgige Tag mein ganzes, ödes Leben komplett auf den Kopf stellen würde.

Seit einer guten Stunde lief ich schon durch die Ausstellung. Meine Schwester Lacy war mit mehr Enthusiasmus als ich durch die Ausstellung marschiert. Sie liebte Bilder und besuchte einen Malkurs, den meine Eltern locker finanzieren konnten. Die Ausstellung zeigte Bilder aus dem 19. Jahrhundert. Meistens sah ich nur flüchtig auf die Bilder und lief weiter. Lacy gesellte sich zu mir und lief auf eines der Bilder zu. Wieder warf ich einen flüchtigen Blick auf die Portraits und als ich meinen Blick wieder abwenden wollte, fesselte mich das Bild, dass Lacy betrachtete. Es stellte ein Familienportrait dar. Unten Stand: „Familie Deer, 1848“ „Schönes Portrait, nicht wahr, Sam?“ Ich nickte nur geistesabwesend und starrte das Bild an. Auf dem Bild waren sieben Familienmitglieder abgebildet. Zwei ältere Frauen, sowie zwei ältere Herren. Ein junges Mädchen, vielleicht 10, 11 Jahre alt und zwei ältere Jungen, der eine mit strohblonden, der andere mit rabenschwarzen Haaren, etwas älter als ich, also um die 19. Nicht die Frauen, in den schönen Kleidern, auch nicht die Männer, mit den markanten Gesichtszügen und auch nicht das hübsche Mädchen mit den Pausbacken, fesselten meine Aufmerksamkeit. Es war der seltsame Junge, mit den rabenschwarzen Haaren, der mich erstarren liess. Er hatte ein wunderschönes Gesicht, doch seine Augen! Seine Augen hatten einen Ausdruck, der mich erschauern liess. Er kam mir so ungeheuer bekannt vor. So voller Trauer und Wehmut. Plötzlich ging mir ein Licht auf. Nun wusste ich, weshalb mir dieser Gesichtsausdruck so bekannt vor kam. Ich hatte denselben.

In derselben Nacht träumte ich von dem schönen Jungen mit den traurigen Augen und auch am Tag danach. Ich wusste, dass ich das Gemälde wieder sehen musste. Also ging ich zum Ausstellungsort zurück. Es war spät nachmittags, ich war die Einzige, die sich an der Ausstellung befand. Schnell eilte ich zum Portrait. Es war immer noch so wunderschön und vollkommen wie vor zwei Tagen. Ich betrachtete das Bild eine ganze Weile. Als ich mich vergewisserte, dass mich niemand beobachtete, strich ich sanft über das Gesicht des Jungen. Hoppla! Plötzlich bewegte sich das Bild. So, als wäre es aus Wasser. Oder Pudding. Ich stiess noch einmal sanft dagegen. Mein Finger glitt durch das Bild durch. Ich stiess meinen ganzen Arm durch das Bild. Unglaublich. Neugierig und vorsichtig, stieg ich durch das Bild hindurch. Und ich befand mich plötzlich in einem Wald. Als ich einige Meter durch den Wald lief, hörte ich Stimmen. Ich trat aus dem Wald und sah, wie sich vor mir ein grosses Dorf erstreckte. Ich hörte Stimmen von Arbeitern, von Frauen, die auf dem Markt für ihre Waren anpriesen, und Kinder die spielten. Ich wollte schon zu einer der Frauen hin, um zu fragen wo ich denn hier sei, als mir auffiel, wie alle gekleidet waren. Alle trugen Röcke, schlicht und einfach, oder elegant und prunkvoll. „Oh!“, rief ich überrascht aus und starrte auf mich herab. Wenn ich kein Aufsehen erregen wollte, musste ich mich anders anziehen. Ich schlich mich an ein paar Häusern vorbei, lugte in die Vorgärten und schnappte mir das erstbeste Kleid, das dort zum trocknen aufgehängt wurde. Ich zog mich rasch um und warf meine Kleider in ein Gestrüpp. Mein Handy jedoch behielt ich. Ich eilte durch die Strassen und wusste, hier würde ich ihn finden. Den schönen Jungen mit den traurigen Augen. Als ich an einer Schmiede vorbei kam, fragte ich den Schmied höflich, ob er wohl nicht die Familie Deer kenne. „Deer’s? Na klar kenn‘ ich die. William ist bei mir in der Lehre, aber er ist auf Frauen nicht so gut zu sprechen…“ „Hast du mich gerufen, Bill?“, fragte der junge Mann, der aus der Schmiede kam. Ich hielt inne. Der wunderschöne Junge mit dem traurigen Blick! Plötzlich verliess mich der Mut. Wieso war ich überhaupt hier? Ich wollte ihn sehen. Aber wer sagt, dass er mich sehen will? „Äh… na ja, wenn er auf Frauen nicht so gut zu sprechen ist, dann… dann geh ich wohl besser wieder“, nuschelte ich und wollte gehen. Kurz sah ich William noch an und sah, wie sich sein trauriger, wehmütiger Blick erhellte. Plötzlich lächelte er sogar. „Was? Bill, du hast dieser reizenden Dame doch wohl nicht gesagt, ich sei auf Frauen nicht gut zu sprechen?“, sagte William scherzend und blickte weiterhin starr zu mir. Bill sah ihn verdattert an. „Wie… wie kommt es, dass du lächelst, Will? Du lächelst! Seit du bei mir in der Lehre bist hast du noch nie gelächelt! Das ist unfassbar. Bist du krank? Diese Lady vollbringt Wunder!“, rief Bill und lachte nun. Ich stand nur verständnislos da und sah William scheu an. Er nahm meine Hand, küsste sie und verbeugte sich. „Ich bin William Deer. Und wie ist Ihr Name, wenn ich so unverschämt bin und fragen darf?“ Ich wurde Rot. „Ich… ich heisse Samantha Anthony. A…aber meine Freunde nennen mich Sam“, antwortete ich. William lachte. „Oh okay. Da ich ja nicht zu Ihrem Freundeskreis zähle werde ich wohl bei Miss Anthony bleiben. Doch ich hoffe schwer, Sie irgendwann Miss Sam nennen zu dürfen, wenn Sie wissen was ich meine“, sagte William, so anständig, so voller Freude, dass ich den traurigen Jungen auf dem Portrait fast nicht mehr erkannte. Auch Bill schien aus der Fassung zu sein. „Mein lieber Mann, so anständig hast du zuletzt geredet als die Queen bei uns im Dorf vorbei kam. Doch so charmant hab ich dich ja noch nie erlebt! Moment! Das muss ich Charlie erzählen!“, rief Bill und eilte davon. William schien davon nichts gehört zu haben, er sah weiterhin mich an, was mich ganz verlegen machte. Er kam näher auf mich zu. „Ich habe das Gefühl als hätte ich Sie schon einmal gesehen… Tut mir leid, ich möchte wirklich nicht aufdringlich sein, aber ich möchte Sie unbedingt näher kennenlernen, Miss Anthony“, erklärte er hastig und seine zuvor noch so traurigen Augen leuchteten vor Erregung. Ich nickte erfreut. „Sam“, korrigierte ich ihn und lächelte freundlich, „Ja, es war mir eine Ehre, William Deer.“
Wir sassen auf einer gemütlichen Holzbank, in der Nähe des Wäldchens. Ich erzählte ihm alles. Von dem Portrait und wie ich durchgeklettert bin. Ich erzählte ihm davon, dass ich aus der Zukunft käme und als er mich auslachte, zeigte ich ihm mein Handy. Er erschrak zwar, doch wollte mir immer noch nicht glauben. „Tut mir Leid Miss Sam, aber ich glaube, Sie sind eine zutiefst gestörte Person“, sagte er lachend und strahlte mich an. Ich lachte ebenfalls. Schon seit langem hat mich niemand mehr so zum Lachen gebracht. „Es hat mich schon lange niemand mehr so zum Lachen gebracht“, meinte William und ich sah ihn schräg an. „Das Gleiche hab ich auch gerade gedacht. Dir müssen die Frauen doch in Scharen nachrennen“, meinte ich und sah ihn misstrauisch an. Er lachte spöttisch. „Na ja, an dem liegt es ja nicht. Aber die Frauen hier sind so… so spiessig und so geschwätzig. Sie wollten bloss reden und sich rühmen. Sie wollen mit mir zusammen sein weil ich beliebt bin, aber das ist schon alles. Verstehen Sie? Aber Sie… Sie sind so ganz anders. Sie wecken wahres Interesse in mir“, erklärte er und ich wurde abermals rot. „Ach so… na ja, mir geht es genauso. Viele Jungs wollen bloss mit mir zusammen sein weil ich Geld besitze, das nervt echt. Und als ich dich auf dem Portrait gesehen habe, da wusste ich, ich muss dich finden“, erzählte ich. Er sah mich lange an und nahm mich dann bei der Hand. „Komm, ich zeige Ihnen meinen Lieblingsort.“ Es dämmerte schon, doch William wusste genau, wo er hin wollte. Wir liefen auf eine schöne Kirche zu und er öffnete mir die Tür. „Kommen Sie“, drängte er und ich folgte ihm schnell. Wir liefen eine lange Treppe hinauf und erreichten endlich das Dachgeschoss. Er führte mich auf eine Art Balkon und wir setzten uns. „Schauen Sie nur, wie schön die Sonne untergeht!“, rief er fasziniert und deutete auf den roten Horizont. „Ja, wunderschön“, stimmte ich zu und bewunderte den schönen Himmel. Es war ein sehr gemütlicher Ort und ich rutschte automatisch näher zu William. Unsicher und sehr vorsichtig, legte er einen Arm um meine Schulter und noch nie hatte ich durch eine solch simple Berührung eine solche Gänsehaut bekommen.

Als es schon ganz dunkel war, brachte er mich zu sich nach Hause. Wir schlichen durch den langen Korridor in das Gästezimmer. Als er die Türe hinter uns schloss, atmete ich durch. „Soll ich hier bleiben, oder was?“, fragte ich unsicher und sah mich in dem wunderschönen, geschmackvoll eingerichteten Zimmer um. „So schnell kommen Sie mir nicht mehr davon, Miss Samantha“, meinte er und lächelte mich spitzbübisch an. Ich lächelte zurück. „Was machen wir morgen?“, fragte ich und sah ihn neugierig an. „Als erstes gehen wir in’s Dorf und kaufen Ihnen ein schönes Kleid. Anschliessend werde ich Sie meiner Familie vorstellen, wär Ihnen das genehm?“ „Mehr als genehm“, gab ich zur Antwort und liess mich aufs Bett fallen. Ich schloss kurz die Augen und plötzlich schlief ich ein.

Jemand schüttelte mich leicht an der Schulter. „Miss Sam? Miss Sam! Aufwachen!“, drang mir eine Stimme am Ohr. Ich öffnete die Augen und blickte wie erhofft in das Gesicht von William. Schnell war ich auf und wir gingen leise aus dem Haus, denn alle schliefen noch, da es noch so früh war. Die Läden hatten schon offen. William brachte mich in eine schöne Schneiderei, dort konnte ich ein paar Kleider anprobieren. Ich hatte ein königsblaues, leicht eingeschnittenes Kleid an, das perfekt sass. „Oh, Sie sehen bezaubernd aus!“, rief Will und starrte mich an. Ich lächelte verlegen, als ich sah wie er mich anglotzte. Als er meinen Blick erwiderte, sah er verschämt zu Boden. „Wie unerhört von mir, entschuldigen Sie vielmals“, nuschelte er und wurde ein wenig rot. Ich legte meine Hand auf seine Schulter und meinte leicht kokett: „Macht doch nichts. Ich find es schön wenn ich dir gefalle.“ Er hob eine Augenbraue und lächelte schief. Wir kauften das Kleid und ich liess es gleich an, als wir zurück zu ihm nach Hause gingen. Wir kauften auch noch gleich auf dem Markt Gemüse und Früchte ein, damit es die Dienerin nicht mehr zu tun hatte. Auf dem Weg nach Hause begegneten wir einem bettelnden Mädchen. Ich hatte Erbarmen mit ihr und gab ihr ein paar von den Äpfeln. Sie kniete vor mir nieder und winselten vor Freude. Ich kniete mich zu dem Kind herab und hob sein Kinn um ihm ins Gesicht schauen zu können. „Wie heisst du, Kleines?“ „Cassie“, antwortete es. „Cassie. Das ist ein sehr schöner Name, für ein sehr schönes Mädchen. Pass auf dich auf, Cassie, okay?“ Sie nickte. „Natürlich Mam.“ Ich lächelte sie herzlich an und sah schliesslich zu Will, der mich verwundert ansah. Als wir weiterliefen fing er an: „Das…das war sehr nett von Ihnen, wirklich. Äusserst grossherzig.“ „Nun ja, grossherzig vielleicht nicht unbedingt, aber nett. Weisst du, wir haben so viel, dass wir nicht brauchen, und sie bräuchten so wenig, und haben doch nichts.“ William nickte zustimmend. „Sehr weise“ Es sah mich einige Sekunden weiterhin bewundern an, als er seinen Blick senkte und sich in Gedanken vertiefte.

Ich war sehr nervös, als wir im grossen Esszimmer sassen und mich William’s Familie unauffällig beäugte. Doch Mrs. Deer stellte sich als eine sehr liebenswürdige Person heraus. „Nun gut, meine Liebe, Sie heissen Samantha. Und wie ist ihr Vatername?“ „Anthony“, antwortete ich leise und kaute auf meiner Lippe. Auch Williams Bruder Jakob hatte ein sehr gutmütiges Wesen. „Oh, gehören Sie zufällig zu den Deer’s im Norden des Landes? Sie haben einen wirklich sehr schönen Besitz.“ Ich lächelte. „Nein, ich glaube nicht, dass wir mit ihnen verwandt sind“, sagte ich mit etwas mehr Selbstbewusstsein in der Stimme. Auch der Vater sah mich freundlich an, fand es aber doch ein wenig unangebracht von seinem jüngsten Sohn, ohne die Eltern im Voraus um die Erlaubnis für einen Besuch zu bitten, oder sie wenigstens vorzubereiten, einfach eine junge Dame mit nach Hause zu bringen!
Da William aber sonst nie Besuch mit nach Hause brachte, und schon gar nicht eine junge Dame, war sein Zorn schnell verflogen. Es wunderte ihn nicht, dass er Samantha mochte. Sie strahlte absolute Natürlichkeit und Wohlwollen aus, dass man sich in ihrer Nähe automatisch wohl fühlte. Er begrüsste Miss Samantha mit viel Freude in seinem Haus, denn er sah seinen Sohn schon lange nicht mehr so glücklich. Er merkte wie nervös Miss Samantha war, deshalb fing er ein Gespräch mit seiner Gattin an und so entwickelten sich leise Gespräche untereinander.

Ich erinnerte mich an das Portrait auf dem noch ein Mann und eine Frau abgebildet waren und ein kleines Mädchen. Ich erkundigte mich bei William danach. Es stellte sich heraus, dass das Portrait erst seit kurzem existierte und im Besitz seines werten Onkels war. Die andere Dame war infolge dessen seine Tante; das reizende Mädchen seine Cousine. Auch sie waren sehr zuvorkommende Leute. Anscheinend hatte die Familie Deer sehr hohes Ansehen in der Gegend, auch wenn sie nicht die reichste Familie war. „Miss Samantha, stellen Sie uns doch auch ihre Familie vor! Wir fänden es reizend, sie einmal bei uns zum Dinner einladen zu können. „Ehm… na ja…“, stotterte Sam; hinter ihrer makellosen Fassade häufte sich stetig wachsende Hilflosigkeit. „Oh, Miss Samantha, kommen Sie, ich möchte Sie gerne unserer Gouvernante Mrs. Anderson vorstellen!“, rief Will und ich warf ihm einen dankbaren Blick zu. Er bot mir seine Hand an und ich ergriff sie ohne Zögern. Wir entschuldigten uns bei seiner Familie; Will’s Mutter warf ihm einen leicht verärgerten Blick zu, doch lächelte gekonnt. Schnell liefen wir den langen Gang entlang und ich fing an zu lachen. „Ach du Scheisse, so nervös war ich in meinem ganzen Leben noch nie!“, rief ich erleichtert. Will drehte sich zu mir um und sah mich leicht entsetzt, leicht empört an. „Sie befinden sich wirklich auf einer unglaublich schmutzigen Sprachebene“, meinte er und spielte auf meinen Ausdruck im vorherigen Satz an. Ich entschuldigte mich und errötete, noch nie hatte mich jemand wegen solch einem Ausdruck gefühlsmässig so beschämt gemacht. Wir erreichten einen grossen Raum mit zwei Pulten in der Mitte des Raumes und einen grossen Tisch im vorderen Teil des Zimmers. „Guten Tag Mrs. Anderson, ich hoffe wir stören Sie nicht“, begrüsste Will seine Gouvernante und machte eine leichte Verbeugung. Mrs. Anderson schien sich aber über ihren Besuch zu freuen. „Nein, nein, überhaupt nicht. Setzt euch, meine Lieben. Sie sind wohl Miss Samantha“, sagte die Gouvernante und sah mich schliesslich an. Ich nickte. „Was macht ihr hier?“, fragte ich neugierig und sah mich verwundert um. Will lachte laut auf. „Lernen natürlich, was sonst?“ Ich sah ihn verblüfft an. Wer ging an einem Feiertag schon freiwillig in die Schule? Will nahm ein Buch zur Hand und fing an auf lateinisch zu sprechen. Die Gouvernante hörte aufmerksam zu und stoppte Will, um ihn zu korrigieren. Fasziniert sah ich zu mit wie viel Hingabe sich Will an diese Aufgabe machte. Nach einer Viertelstunde nahm er ein anderes Buch zur Hand und eine kleine Wandtafel. Er löste damit Mathematikaufgaben. „Wollen Sie es auch versuchen, Miss Samantha?“, fragte er höflich. „Ich bin nicht gut in Mathe, echt“, meinte ich und lachte. „Wenn Sie nicht üben, werden Sie schlecht bleiben. Sie müssen sich nicht demotivieren, versuchen Sie es einfach“, munterte er mich auf und zwinkerte mir zu. Ich blinzelte verblüfft und nahm anschliessend auch eine Wandtafel und ein Buch. Die Gouvernante half mir, wenn ich nicht weiterkam und Will schaute amüsiert zu mir herüber und freute sich, wie sehr ich mich bemühte, die Aufgaben zu lösen.

Will und ich waren überaus begeistert voneinander, über die Lebensweisen und die Charakteren, und wir mochten uns sehr. Nachdem Will und ich bei Mrs. Anderson eifrig gelernt hatten, gönnten wir uns am Abend noch einen Besuch in einer Kneipe. Weil Will’s Eltern nichts von solchen Spelunken hielt, da sie zum niederen Stand zählten, gingen wir nach dem Abendessen, unter dem Vorwand spazieren zu gehen, davon. Als ich hinter Will in die Spelunke eintrat, schlug mir der Geruch von Zigaretten und Bier ins Gesicht. Die Kneipe war ziemlich herabgekommen und stark verraucht. Ich nahm Will automatisch an der Hand, aus Angst ihn verlieren zu können. Er sah mich überrascht und erfreut an, zog mich hinter sich her zu einem Tisch und setzte sich. Ich tat es ihm nach und als der Wirt zu uns kam sah er mich schräg an. „Hübscher Fang, Will“, meinte er und lächelte anerkennend. Ich war mir durch die dicken Rauchwolken und das Dämmerlicht nicht sicher, aber ich hatte das Gefühl, William wäre rot geworden. „Ein Bier und…“, fing Will an und sah mich fragend an. „Mir auch eins“, fügte ich an und Beide sahen mich überrascht an. Der Wirt lachte als er davon ging. Als er uns die zwei grossen Gläser Bier brachte sah mich Will unsicher an. „Miss Samantha, wenn Sie nicht alles mögen, kann ich es sonst noch trinken.“ Ich lachte spöttisch. „Du schätzt mich falsch ein, William. Ich mag mehr verleiden als gesund ist, glaub mir!“, lachte ich und prostete ihm zu. Fasziniert und schwer beeindruckt sah Will mir zu, wie ich das Halbliterglas ex austrank. Der Wirt beobachtete das Spektakel und rief aus: „Mein Lieber Mann, wenn das nicht ein tolles Weib ist!“ Viele der Gäste sahen interessiert zu unserem Tisch herüber und sahen zu, wie ich das zweite Glas herunter leerte. William war gerade mit dem Ersten fertig geworden. Viele der Gäste grölten und johlten bei meinem Anblick. Lachend gingen ich und William aus der Kneipe. „Liebe Miss Samantha, das war ja unglaublich! Noch nie habe ich solch eine selbstbewusste, hochbegabte Trinkerin gesehen!“, rief er lachend und hielt mich an den Schultern. Als ich rot wurde liess er mich wieder los. „Könnten Sie einen Moment warten? Ich muss mit dem Wirt noch etwas bereden. Wäre das in Ordnung?“ Ich nickte. „Natürlich. Ich werde hier warten.“
Nachdem Will nach drinnen verschwand, lehnte ich an einer Hauswand und starrte in den sternenklaren Nachthimmel. Plötzlich stand ein Mann neben mir und lächelte honigsüss. „Na hallo, hübsche Dame“, säuselte er und stellte sich aufrecht neben mich. „Guten Abend“, begrüsste ich ihn freundlich. Der Fremde sah sich einen Moment lang suchend um und wandte sich mir wieder zu. „Was macht denn so eine hübsche, junge Lady mitten in der Nacht noch allein auf der Strasse?“, fragte er und lief um mich herum. „Geht dich doch nichts an, oder?“, antwortete ich genervt. Der Mann lächelte. „Gewagte Worte für so ein junges Ding. Na wie wärs? Ich hab ein Boot am Pier, möchtest du mitkommen?“, er stemmte seine Hände auf beiden Seiten der Wand ab, sodass ich direkt dazwischen stand. Ich drückte mich an die Wand. „Nee, danke. Ich warte hier auf meinen Freund.“ „Scheint nicht, als würde er kommen“, meinte er und strich mit seiner schmierigen Pfote eine Strähne aus meinem Gesicht. „Finger weg!“, zischte ich und schlug die Hand aus meinem Gesicht. Das Lächeln des Mannes erstarrte. Grob packte er mich am Arm und flüsterte: „Na komm schon, tu doch jetzt nicht so! Dein Freund ist nicht gekommen, also wieso kommst du nicht einfach mit mir mit?“ Er zerrte mich am Arm und ich versuchte mich krampfhaft zu befreien. Angst kroch mir den Rücken hinauf. Riesige Angst. „Lass mich los, du Arschloch. LASS MICH LOS!“, schrie ich und schlug um mich. Der Mann packte mich und wollte mich davon schleifen; als William aus der Spelunke trat. Sein eben noch so unbekümmertes Gesicht verwandelte sich schlagartig in eine Maske der Wut. Schnurstraks kam er auf uns zu und riss mich von dem Mann weg. „Wehe Sie fassen meine Freundin noch einmal an, und ich schwöre bei Gott, ich weiss nicht was ich tue. Verschwinden Sie, Sie Parasit!“, fauchte er, mit solch einer Beherrschung und Konzentration in der Stimme, wie sie nur ein wütender Gentlemen haben konnte. Der Gauner sah ihn genervt und unbeeindruckt an, doch in seinem Blick konnte man eine Spur von Furcht erkennen. Er zuckte mit den Schultern und huschte davon. Besorgt wandte William sich mir zu; ich hatte mich hinter seinem Rücken versteckt. Meine Augen waren aufgerissen, kleine Wasserperlen waren auf meinen Wangen verteilt und ich zitterte heftig. Will nahm mich in den Arm und drückte mich fest. „Es tut mir so unglaublich Leid, Sam. Es tut mir so verdammt Leid. Ich hätte dich nie allein lassen dürfen. Nie. Nie. Aber jetzt ist alles gut, hast du gehört? Alles ist gut. Schsch. Alles ist gut“, flüsterte er mir sanft ins Ohr, strich mir über den Kopf und wiegte mich in seinen Armen. Ich schluchzte und fühlte mich plötzlich so geborgen wie nie. Noch nie hatte ein Junge solche Gefühle in mir ausgelöst. Noch nie. Ich löste mich sanft aus meiner Klammerbewegung und sah ihm ins Gesicht. „Danke William“, flüsterte ich ihm zu. Ich trat auf die Zehenspitzen, sein Kopf neigte sich zu meinem herab, ich schloss die Augen und drückte meine Lippen auf seine. Und so wie er mich küsste, wusste ich, dass er gleich empfand wie ich.

Ich fühlte wie alles in mir prickelte, so als würde ich mich auflösen. Doch Moment- ich löste mich auf! „Oh mein Gott, William, was geht hier vor?“, schrie ich hysterisch und versuchte mich an ihm festzuhalten. Auch Will sah ziemlich verwundet und ängstlich aus. „Ich…ich weiss es nicht! Vielleicht verschwindest du wieder in die Zukunft. Ach du meine Güte, aber wieso? Ich… ich will dass du bei mir bleibst!“, rief er verzweifelt und versuchte mich festzuhalten. „Will!“, schrie ich noch, bevor alles um mich schwarz wurde.
Als ich zu mir kam, lag ich auf dem Rasen vor dem Ausstellungsgelände. Ich schüttelte den Kopf. Unsicher stand ich auf und sah mich um. Ich lief durch die Ausstellung und suchte das Bild von William. Einige Passanten sahen mich komisch an, was wahrscheinlich an meinen altmodischen Kleidern lag. Das Bild war unverändert. Immer noch der Junge mit dem traurigen Blick. Verzweifelt versuchte ich mit der Hand durchzustossen, doch ich machte bloss das Gemälde kaputt. Seufzend liess ich mich auf den Boden fallen. Ich kauerte mich zusammen und fing an zu weinen. Endlich hatte ich den Mann gefunden, den ich immer lieben könnte, doch ich verlor ihn wieder. Es war so ungerecht. Eine alte Frau kniete sich zu mir herab und sah mich neugierig an. Ihr intelligenter Blick durchbohrte mich. Ich hatte das Gefühl, als wüsste sie genau was mich bedrückt. „Ich habe dich gesehen, mein Kind. Heute Morgen, als du durch das Bild gestiegen bist. Ich hatte es anschliessend auch versucht, als ich mich vergewissert hatte, dass mich niemand beobachtete. Aber bei mir funktionierte es nicht. Und nun bist du auch wieder da. Aber ich nehme an, du wärst lieber dort geblieben?“, fragte sie mich und ihre weisen Augen funkelten. Ich nickte zustimmend. Die alte Frau dachte angestrengt nach. „Ich habe vor langer Zeit von meinem Urgrossvater gehört, dass es einen Weg gäbe, durch ein Gemälde zu wandern, und dort zu bleiben. Natürlich hielt ich ihn für verrückt, aber heute weiss ich, dass er möglicherweise recht hatte.“ Neugierig hörte ich ihr zu. Ich wollte unbedingt wissen, wie ich zurück zu William konnte- für immer. „Mein Grossvater hatte immer gesagt: ‚Der Glaube an das, was man wirklich will, ist das Wichtigste, sonst funktioniert es nicht…` Diesen Satz hatte er in seinen letzten Lebensjahren immer wieder gesagt. Und einmal, da ist er ganz nah zu mir herangekommen und hat mir zugeflüstert: ‚Wenn du dann da bist, dort, wo du dir gewünscht hast, zu sein, muss das Gemälde für eine gute Stunde, in absoluter Dunkelheit verharren. Wenn man es dann wieder aus der Dunkelheit heraus nimmt, wirst du ein Teil des Bildes sein- und auch immer bleiben. ‘“ Ich sah die alte Frau mit grossen Augen an. „Und das funktioniert auch sicher?“, fragte ich sie. „Wir können es nur versuchen“, meinte sie und sah mich herausfordernd an. „Bist du auch sicher, dass du das willst?“ Ich nickte. „Noch nie war ich mir in irgendeiner Entscheidung sicherer.“ Die alte Frau lächelte. „Na gut, komm.“

Wir machten alles bereit. Ich gab der alten Frau noch einen Brief für meine Familie, indem stand, ich wäre mit meinem Traummann durchgebrannt, sie sollen nicht nach mir suchen, da sie mich sowieso nicht finden würden. Dass ich sie alle lieb habe und ich nun für immer glücklich sein würde. Die alte Frau brachte ein grosses, dichtes Tuch mit, mit dem würde sie das Bild verdecken, und aufpassen, dass es niemand wegnehmen würde. Als wir alles vorbereitet hatten, stand ich vor das Bild und atmete tief durch. Ich sah zu der alten Lady und sie nickte mir aufmunternd zu. Ich nickte zurück. Voller Hoffnung und Freude ging ich auf das Bild zu und da ich wirklich unglaublich fest daran glaubte, passieren zu können, schlüpfte ich durch.
Plötzlich stand ich wieder in dem kleinen Wäldchen. Ich verlor keine Minute, rannte durch den Wald und zur Schmiede. Als ich atemlos dastand, sah ich Will, der gerade ein Schwert schliff. Als er mich sah, weitete er die Augen, liess alles fallen und rannte auf mich zu. „Sam! Sam! Du bist wieder da! Ich dachte mein Herz würde für immer gebrochen bleiben, aber nun bist du wieder da und kannst es heilen“, rief er mir zu als er mich in seine Arme nahm und mich küsste. Nichts auf der Welt würde uns mehr trennen. „Ich liebe dich Sam. Ich hatte dich vom ersten Moment unserer Begegnung geliebt“, gestand er mir und sah mich liebevoll an. „Ich auch, Will. Ich liebe dich auch, von dem ersten Moment an, als ich deine wunderschönen Augen sah. Ich liebte dich, obwohl ich wusste, dass du bereits über 150 Jahre tot warst. Ich liebe dich wirklich, William“, gestand ich und wusste, dass ich ohne Handy, ohne Internet, Hip-Hop und Fernsehen, ohne Shoppen und ohne Nightlife, bloss mit William Deer, glücklich werden konnte.

Mrs. Carter, die treue Helferin von Samantha, stand immer noch bei dem Bild. Es war bereits eine Stunde vorüber, doch sie hatte Angst, das riesige Tuch wegzunehmen. Doch als einer der Wachmänner seine Runden drehte, hatte sie keine Wahl mehr, nahm das Tuch hastig weg und doch vorsichtig darauf bedacht, den Alarm nicht auszulösen. Ohne einen weiteren Blick auf das Familienportrait zu werfen, verschwand sie und wünschte dem lieben Mädchen alles Gute.

Sams Eltern erhielten den Brief, erstaunt und verärgert zugleich. Sie hielten alles für einen albernen Streich, machten sich aber keine grossen Sorgen um ihre fast erwachsene Tochter. Nur Lacy, Sams jüngere Schwester, machte sich wahrlich Sorgen. Sie wusste zwar, dass Sam nie etwas Unbedachtes machte, und immer wusste, was sie tat, aber dass sie einfach abhauen würde, hätte sie ihr nicht zugetraut. Um ihren Frust ein wenig zu lindern, ging sie an die schöne Kunstausstellung wo sie mit Sam zuletzt gewesen war. Sie schlenderte durch die riesige, schöne Kunstgallerie und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Sie schrie laut auf und hielt sich erschrocken an der gegenüberliegenden Wand fest. Ein Wachmann kam auf sie zu. „Alles in Ordnung, Kleines?“ Lacy nickte mechanisch. Plötzlich war sie nicht mehr erschrocken, sondern überrascht. Und dann glücklich. So glücklich, dass sie anfing zu lachen und auch ein wenig zu weinen. Auf dem Bild, dass Sam so gut gefallen hatte, waren plötzlich nicht mehr 7 Personen abgebildet. Aus dem Jungen mit den rabenschwarzen Haaren und traurigen Augen, war ein Junge mit rabenschwarzen Haaren und mit überaus glücklichen und verliebten Augen geworden. Neben ihm sass ein lachendes Mädchen mit langen Haaren und einem Blick, der solch eine Fröhlichkeit und ungeheure Verliebtheit ausstrahlte, dass man automatisch lächeln musste. Sie hielten ihre Hände und es sah fast so aus, als wollten sie sich nie wieder loslassen. Lacy strahlte übers ganze Gesicht und war überrascht, als sie Samantha’s Armband auf dem Bild sah, dass man bloss im H&M kaufen konnte. Und sie war sehr froh, dass ihre grosse Schwester endlich den Platz gefunden hatte, wo sie glücklich werden konnte, auch wenn sich dieser Platz im Jahre 1850 befand.


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Tag der Veröffentlichung: 09.01.2010

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