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Plötzlich schwebe ich. Oder nein, ich fliege! Ich fliege und fühle mich leicht. Mein Körper ist schmal und zart.Noch nie habe ich mich so zerbrechlich und doch so unbesiegbar gefühlt. Ich fliege auf einen grossen Holzpfosten zu und lande vorsichtig und doch graziös. Ich plustere meine Federn auf und mache es mir gemütlich. Ich lächle vor mich hin und geniesse es, so frei und ungebunden zu sein. „Es hat gewirkt! Es hat tatsächlich gewirkt!“, denke ich erfreut und blicke um mich. Es ist ein kühler Tag, besonders am Hafen. Der See ist unruhig, fast schon quengelig. Ich sehe eine ältere Dame, die voller Freude meine Artgenossen mit Brotstücken füttert. Sie streiten sich um das Brot, beschimpfen einander sogar. „Du Bastard!“, oder gar, „Elender Langschnabel!“, höre ich sie sich gegenseitig zurufen. Ich möchte die Stirn runzeln, doch es gelingt mir nicht. Meine Haut ist nicht so elastisch, wie die eines Menschen. Ich kann vieles nicht mehr, das ich früher einmal konnte. Ich kann mich nicht mehr hinsetzen, ich kann meine Finger nicht mehr beliebig bewegen, kann nicht mehr so gut riechen wie früher, kann nicht mehr kauen. Doch ich kann fliegen, und das ist es mir wert. Weiterhin betrachte ich die Andern, die sich wie wild um das Essen streiten, bis ich spüre, wie sich mir etwas nähert. Ich mag es nicht, wenn etwas so schnell auf mich zukommt, und bekomme Angst. Intuitiv flattere ich hysterisch auf und sehe wie ein Stein mich knapp verfehlt. Als ich wütend nach unten blicke, sehe ich zwei Jungen, die los prusten und sich über mich lustig machen. Statt kehrt zu machen, wie es die Meisten in meinem Fall getan hätten, flieg ich gemütlich und harmlos wirkend über ihre Köpfe hinweg. Als kleines Andenken hinterlasse ich einen kleinen, weissen Fleck auf der Jacke des mich angreifenden Jungen. „Scheiss Möwe!“, flucht es und sei Freund neben ihm lacht nun noch mehr. Triumphierend fliege ich über dem Hafen hin fort und gleite über den trüben, gräulichen Januarhimmel. Meine Flügel sind warm, trotz der kühlen Temperaturen, und jucken. Es macht mir nichts. Ich fliege, und das ist Freiheit pur. Der See unter mir verschwimmt, und die Wolken hüllen mich ein. Sie umarmen mich, streicheln meinen Kopf, mein Gefieder, und ich krächze. Eigentlich wollte ich jauchzen, was aber nicht möglich ist. Das Rauschen des Wassers hypnotisiert mich, verleitet mich dazu, immer weiter zu fliegen. Langsam jedoch werden meine Flügel schwer, und ich lande gemächlich im kalten Wasser. Ich ziehe meine dürren Beine ein und gleite- ich lasse mich vom Wasser gleiten und schliesse die Augen. Ein Gefühl der Freiheit überkommt mich. Ein Gefühl der Freiheit übermannt mich, macht sich in mir breit und ich bin friedlich. Das Jucken nimmt zu, doch ich kann mich nicht kratzen. Zu blöd.
Da macht sich plötzlich der Hunger bemerkbar. Mein Magen wütet und ich brauche dringend etwas zu Essen. Essen. Was soll ich bloss essen? Meine Augen werden gross. „Igitt!“, denke ich, als mir bewusst wird, das eine Möwe altes Brot und rohen Fisch bevorzugt. Plötzlich beneide ich die Menschen. Sie sind diejenigen, die gut speisen. Sie sind die Geniesser. Und dann... bin ich plötzlich durchnässt und die Kälte sticht in mich ein. Ich schlucke Wasser und strample wie wild um mich. Das Elixier hat nachgelassen. Ich bin wieder ein Mensch. Als ich mich wieder Zuhause befinde, am Kamin sitze und ein belegtes Brot verzehre, überkommt mich die Gewissheit: Das mein Hunger zwar mit Brot gestillt werden kann, doch der Hunger nach Freiheit, der bleibt für immer.

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Tag der Veröffentlichung: 18.01.2009

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Widmung:
Ganz nach dem Motto: Frei wie ein Vogel.

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