Der Duft von warmer Schokolade hängt in der Luft und der von Gebäck, das erst vor wenigen Minuten die Backstube des Erebors verlassen hat. Es sind die ersten Kekse des Winters, die einen vorzüglichen Vorgeschmack auf die Gemütlichkeit und Wärme dieser kalten Jahreszeit geben. So empfindet es zumindest Thror, König unter dem Berge, Herrscher über das Zwergenreich des Erebors. Großvater der drei Zwerglinge, die sich immer wieder aus der großen Gebäckschale bedienen. Ebenso ist er der Gefährte des Mannes, der ihm soeben einen Keks in Herzform über die Tischplatte zuschiebt. Selbstverständlich ist Thror auch Vater, aber Thraín hat er zu dieser Versammlung nicht eingeladen, da dieser mehr mit den Kostbarkeiten des Berges beschäftigt ist, als die Kleinodien in dieser heimeligen Runde zu beachten.
Sie sitzen in gemütlicher Runde am großen Tisch in Thrors Gemach. Genießen, was die dienstbaren Geister aufgetragen haben, sowie die Stille des späten Nachmittags.
»Hmmmm, Großvater.« Frerín seufzt und verdreht genüsslich die Augen, als er sich den in die Schokolade getunkten Keks in den Mund schiebt. »Köstlich«, nuschelt er und langt auch schon nach dem nächsten. »Warum muss man immer ein ganzes Jahr warten, bis man wieder welche essen kann?«
Thorin schnaubt leise. Ein abwertender Ton, der Thror aufhorchen lässt. »Würdest du es noch wertschätzen, wenn es dir ständig zur Verfügung stehen würde?«
»Warum wertschätzen?«, mummelt Frerin mit voller Schnute. »Ich will die Kekse essen und nicht anbeten oder ihnen huldigen.«
Dís kichert, während sie in ihrem Becher rührt und mit dem Löffel Gebäckkrümel aus der Schokolade fischt, die nicht minder genussvoll wie bei Frerin, in ihrem Mund verschwinden. Sie ist bereits zu einer kleinen Dame herangewachsen, doch ist alle Geziertheit vergessen, sobald sie in der Stube des Königs unter dem Berg ist. Wie sollte man auch bei solchen süßen Köstlichkeiten an gutes Benehmen denken? »Ich seh dich schon auf Knien rutschen...«
»Kinder!«, wird sie von Nár unterbrochen, der mahnend einen Finger hebt. »Denkt daran, dass Völlerei zwar angenehm sein kann, aber auch seine Schattenseiten hat. Seht euch nur Bombur an. Schon jetzt wiegt er mehr als zwei erwachsene Zwerge. Wie wird er in fünfzig Jahren aussehen?«
»Kugelig«, mutmaßt Frerin und schiebt sich ein weiteres schokoladenglasiertes Gebäckstück in den Mund.
Nachdenklich zieht Dís die Nase kraus. »Ob er dann rollen kann?«
Mit zwei geübten Handgriffen versetzt Thorin seinen Geschwistern eine Kopfnuss. »Spricht man so über einen lieben Freund?«
Dís Wangen färben sich rötlich, während Frerins Augen trotzig den großen Bruder anblitzen. Aber er bleibt stumm, was seltsam ist, da Thror ihn in den vergangenen Wochen und Monaten nur als widerstrebend und herausfordernd erlebt hat.
»Warum hast du uns eigentlich rufen lassen, Großvater?«, fragt er stattdessen an den König gewandt. »Ich wüsste nicht, wann du uns sonst zum ›Verkosten der ersten Kekse‹ eingeladen hättest.« Dabei zeichnet er Gänsefüßchen in die Luft und stellt fest, dass seine Finger mit Schokolade bekleckert sind. Eilig leckt er die Tropfen ab.
»Nun«, beginnt Thror gedehnt und blickt auf das Keksherz, das vor ihm auf dem dunkel gemaserten Holz liegt.
»Du willst uns keine Märchen mehr erzählen!« Es ist der schwarzhaarige Zwergenprinz, der die Vermutung mit ruhiger Stimme in Worte fasst. Ein erschrockenes Keuchen und ein unwilliges Stöhnen ist von seinen Geschwistern zu vernehmen.
»Das kannst du nicht machen!«, echauffiert sich Dís, die sofort aufgesprungen ist und zum König eilt. Sie umarmt ihn so fest, als würde sie verhindern wollen, dass er sich von der höchsten Zinne in den Tod stürzt. »Das kannst du nicht machen!«
Auch Frerin ist aufgestanden, doch scheint er sich nur mühsam zurückhalten zu können, Dís Beispiel zu folgen. »Das darfst du nicht«, fleht er mit einer Stimme, die zwischen Kind und Mann schwankt. »Das ganze Jahr freuen wir uns auf die Märchenstunden. Du darfst sie uns nicht nehmen.«
»Wer sagt, dass ich sie euch nehmen will?«, fragt Thror mit einem gutmütigen Grollen und streichelt Dís beruhigend über den Rücken. »Thorin hat eine Vermutung geäußert, mehr nicht, und er wollte euch bestimmt nicht damit erschrecken.«
»Oh!«, haucht Dís und auch von Frerin ist ein ebenso leises Oh zu hören.
»Wenn ihr euch setzt und beruhigt habt, kann ich euch von meinem Anliegen erzählen.«
Nach einem zweifelnden oder auch unsicheren Blick lässt sich der junge Zwergenprinz auf seinen Stuhl plumpsen, während Dís auf den Schoß des Königs klettert und sich in dessen Arme kuschelt.
»Es wird auch in diesem Jahr ein Märchen geben«, beginnt der Herr des Zwergenreiches. »Ich liebe die Stunden genauso wie ihr. Womöglich sogar ein kleines Eckchen mehr, da ihr mir damit eine Möglichkeit gebt, mich vor der Realität zu verbergen.«
»Hört, hört!«, ist leise von Nár zu vernehmen. »Du verkündest Wahrheiten, die wir uns doch schon längst zusammengereimt haben.«
Ein Lächeln huscht um Thorins Lippen. »Du versteckst dich und wir sind die Ausrede.«
»Nun ja«, gibt der König nach kurzem Zögern zu. »Aber meine Wortwahl ist ansprechender.«
»Ein gewandter Wortverdreher - ja, das bist du.« Nár lacht, doch ist es zärtlich, ebenso, wie er über den Arm des Königs streicht. »Wir lieben dich auch deswegen. Du zeigst uns immer wieder neue Facetten deines Wesens.«
Neckend lässt der König die Augenbrauen tanzen. »Ich bin so einzigartig und kostbar wie ein Diamant.«
Nun, da geklärt ist, dass es auch in diesem Jahr ein neues Märchen geben wird, scheint Frerin vollkommen damit zufrieden, sich die buntesten Kekse aus der Schüssel herauszusuchen. Doch bezeugt sein verschmitztes Grinsen, dass er durchaus dem liebevollen Schlagabtausch folgt. »Auch Zucker hat Kristalle und Salz. Aber sie müssen nicht geschliffen werden, um uns zu erfreuen.«
»Da hast du vollkommen Recht, Frin«, sagt Thror. Seine Augen funkeln vor Heiterkeit, doch bleibt seine Miene ernst, als er Frerin ansieht. »Das Eine ist für Glanz und Glorie geschaffen und für die Ewigkeit. Das andere – nun, sagen wir mal – ist gut für das Hüftgold und nicht ganz so dauerhaft. Aber nun sag mir, was besser ist.«
Nachdenklich tippt sich Frerin erst an das Kinn, dann gegen die Nase, schließlich kratzt er sich an der Schläfe. »Beides ist gut«, beginnt er langsam. »Aber besser ist das, was mich gut fühlen lässt. Diamanten sind schön. Sie nehmen mich mit ihrem Glanz gefangen und erfreuen mich. Aber sie tun nichts für mich. Wogegen Salz gut für mich ist. Es lässt Blumen und Bäume gut wachsen und Balin erzählte, dass es das auch für uns Zwerge macht. Und Zucker ... Es ist süß und köstlich und manchmal macht es mich glücklich. Wenn ich Süßes esse, muss ich immer an den Winter denken.« Selten hat man den Zwergling so ernst gesehen, wie in diesem Moment, als er auf das Stück Gebäck in seinen Fingern blickt. »Eines Tages werde ich so alt sein wie du, Großvater, und ich bin mir sicher, dass ich mich auch dann noch an die Stunden mit dir und Nár erinnern werde. Nur ein kleines Stück Zuckerwerk wird mir die Erinnerung zurückbringen. Die Wärme dieser Stunden, die Gemütlichkeit.« Tief atmet der junge Zwerg durch, bevor sein Blick durch die heimelige Stube gleitet. »Ich denke, die vergänglichen Kristalle sind besser, weil sie uns das Leben spüren lassen.«
Andächtige Stille herrscht am Tisch, ehe Nár ein leises »Hört, hört!« murmelt. Tränen funkeln in seinen Augen, als er aufsteht und zu Frerin eilt, ihn in eine feste Umarmung zieht. »Das hast du wundervoll gesagt, mein lieber Frin. Ich denke, ich spreche deinem Großvater aus dem Herzen, wenn ich dir sage, dass es wunderbar wäre, wenn du dich im Alter an unsere gemeinsamen Stunden erinnern würdest.«
Ein lautes Räuspern ruft die Anwesenden zur Ordnung respektive in die Gegenwart zurück. »Das ist ja alles gut und schön«, sagt der König. »Aber wir schweifen vom eigentlichen Thema ab. Das Märchen.«
Eilige Geschäftigkeit. Nár huscht wieder zu seinem Stuhl, Dís stibitzt einen Keks aus der großen Gebäckschale, Frerin wischt sich über das Gesicht, als würde er sich von etwas befreien wollen. Nur Thorin rührt sich nicht. Oder doch: Er lehnt sich vor, stützt die Ellenbogen auf der Tischplatte ab und birgt das Kinn in den Händen. Nur sein Blick aus blauen Augen, die an den Sommerhimmel erinnern, huscht von einem zum anderen. Schließlich bleibt er am Gesicht des Königs hängen.
Dieser räuspert sich ein weiteres Mal. »Ich möchte probieren, wie es ist, ein Märchen aus der Sicht des Bösewichts zu erzählen.«
Frerin stößt ein leises Pfeifen aus. »Aber ein Bösewicht verliert doch immer! Er stirbt. Wie soll das funktionieren?«
»Hast du dir schon ein Märchen ausgesucht?«, hakt Thorin nach und Dís rutscht so unruhig auf seinem Schoß herum, dass Thror sie bitten muss, sich wieder auf ihren Platz zu setzen.
»Ich habe mir ein kleines Märchen herausgesucht«, erklärt er. »Eines, das einfach ist und das ich leicht anpassen kann. Ich denke, ihr kennt alle ›Rotkäppchen‹.« Fragend sieht er seine jungen Gäste an, auf deren Gesichtern sich Enttäuschung abzeichnet. Zumindest auf zweien. Thorin wirkt geradezu gefasst.
»Das ist doch eines für kleine Zwerglinge«, mault Frerin und Dís nickt zustimmend. »Und viel zu kurz.«
Begütigend hebt Thror die Hände. »Lasst es mich damit versuchen. Wenn es nicht gehen sollte, müssen wir uns etwas anderes überlegen. Seid ihr damit einverstanden?«
Noch immer sind Frerin und Dís nicht überzeugt.
»Lass es uns versuchen«, sagt an ihrer Stelle Thorin und mit einem Zwinkern an seine Geschwister: »Mehr wie schiefgehen kann es nicht. Und vielleicht bekommen wir sogar zwei Märchen zu hören.«
Sofort glänzen Dís Augen und ihre Zöpfe scheinen zu tanzen, als sie begeistert nickt. »Das wäre sooo schöööön!«
Nár muss sich als Miesepeter beweisen und hebt warnend einen Finger. »Aber nicht, dass ihr sagt, dass ihr das Märchen schrecklich findet, nur um ein anderes auch noch hören zu dürfen. So wird das nicht laufen«, betont er und sieht insbesondere die Jüngsten am Tisch an. »Euer Großvater wird die Entscheidung fällen, falls er Schwierigkeiten haben sollte, etwas sinnvoll erzählen zu können. Seid ihr damit einverstanden?«
»Ja, aber ...«, beginnt Dís, verstummt jedoch sofort wieder.
»In Ordnung«, stimmt Frerin zu, wenn auch eher unzufrieden. »Deine Räume, deine Regeln, deine Märchen.«
Zufrieden lehnt sich Thror zurück und wenn er könnte, würde er sich die Hände reiben. Aber das würde den Zwerglingen nur verraten, dass er etwas Besonderes erdacht hat und sie neugierig machen. Noch muss es ein Geheimnis bleiben, auch weil er tatsächlich nicht weiß, inwieweit seine Idee Früchte tragen wird. Nur die Zeit wird es zeigen.
Wie die Jahre zuvor, ist auch in diesem ein wahrer Berg an Kissen, weichen Fellen und kuscheligen Decken vor dem Kamin aufgeschichtet worden. In diesem prasselt wieder ein großes Feuer, geschürt von den dienstbaren Zwergen, die ebenso fleißig Gebäck, Zuckerzeug, warme Schokolade und Krüge mit gewürztem Wein bereitgestellt haben. Der Duft von Tannengrün liegt in der Luft und bringt den Hauch des Winterwaldes mit sich. Alles zusammengenommen ist das Gemach mit einem berauschenden Bouquet an Gerüchen und wunderbaren Erinnerungen gefüllt, welche dem König unter dem Berg ein Gefühl der kribbeligen Vorfreude beschert.
»Nun fehlen nur noch unsere kleinen Gäste!«, sagt er an Nár gewandt und reibt sich die Hände.
»Sooo klein sind die drei nun nicht mehr«, erwidert sein Gefährte und neigt leicht den Kopf zur Seite, als würde er lauschen. »Ich glaube, ich höre sie schon«, sagt er, schüttelt dann jedoch das Haupt. »Aber das kann nicht sein. Es sind nur Schritte und kein Geplapper von Dís zu hören.«
Thror schnauft enttäuscht. »Dann werden sie es nicht sein.«
Im nächsten Augenblick wird die Tür aufgestoßen, als wäre sie aus den Angeln gesprengt. Ein bunter Wirbelsturm fegt herein und lässt mit wehenden Röcken das Feuer hell auflodern. »Großvater! Nár!«, zwitschert Dís und fällt erst dem einen, dann dem anderen um den Hals. »Ich freue mich schon den ganzen Tag auf heute Abend.«
Frerin und Thorin folgen ihr langsamer und begrüßen die Gastgeber mit wesentlich weniger Enthusiasmus, aber mit ebenso viel Wärme, die überdeutlich aus ihrer Mimik spricht.
»Setzt euch!«, werden sie vom König aufgefordert, während Nár bereits zum Bücherregal schreitet und von einem der unteren Bretter ein Buch nimmt.
Den Zwerglingen ist es wohlbekannt. Ein dicker Foliant. Lederner Einband mit goldener Prägung. Rissig vom Alter, aber das Gold noch immer spiegelblank. Anders ist der Goldschnitt. Zum Teil geschwärzt, zum Teil abgegriffen und zu einem ganz geringen Teil lässt er sich noch erahnen.
Thror hat es sich in seinem Sessel bequem gemacht. Die Füße auf einem Schemel abgelegt, in der Hand bereits einen Becher mit Wein, aus dem feine Dampffahnen aufsteigen. Während er daraus einen Schluck nimmt, winkt er Nár heran, der geradezu andächtig über den Buchdeckel streicht.
»Es ist mal wieder soweit!«, murmelt er wie in Gedanken versunken.
»Ja, ja, mein Lieber«, brummt Thror. »Und je eher ich das Buch habe, umso schneller kann ich beginnen.«
Von ihrem Platz auf der Spitze des Kissenberges sieht Dís zweifelnd herab. »Großvater. Wenn du sowieso ein altes Märchen neu erzählst, also so, dass es ganz anders ist: Warum brauchst du dafür das Buch?«
Nun ist es der König, der andächtig über den Buchdeckel streicht und auch über den Goldschnitt, der sich glatt unter seinen Fingerspitzen anfühlt. »Hast du schonmal einen Märchenerzähler ohne ein Buch gesehen?«, fragt er mich Schalk in den Augen. »Ich mag das Gewicht und das Gefühl und es gibt mir Sicherheit, wenn ich nicht weiter weiß. Manchmal benötigt man eine kleine Hilfestellung.«
»Wenn du magst, setz ich mich auf deinen Schoß«, schlägt Dís vor. »Sehr viel schwerer als der dicke Wälzer bin ich bestimmt nicht und wenn du nicht weiter weißt, flüstere ich dir Vorschläge ins Ohr.«
»Ich helfe dir auch gern«, bietet sich Nár an. Dann leiser: »Auf deinem Schoß.«
Der König spürt, wie seine Ohren heiß werden.
Von Frerín ist ein genervt klingendes Stöhnen zu hören und von Thorin ein: »Liebestolle alte Zwerge.« Und vermutlich verdreht er dabei auch noch genauso genervt wie sein kleiner Bruder die Augen, nimmt der König an.
Ihm selbst macht das Geplänkel mit seinem Liebsten vor seinen Liebsten Spaß. Wie leicht gerade die jungen Zwerge auf die Tanne zu bringen sind! Wenn er so an seine Jugendzeit zurückdenkt ... Thror war nicht viel anders gewesen als Thorin und Frerín. Auch Thraín war in diesem Alter leicht zu erzürnen, aber auch zu beschämen, wenn er und Nár Zärtlichkeiten austauschten und er dies sah.
Unwillkürlich entringt sich der Brust des Königs ein sehnsüchtiger Seufzer. Jung müsste man wieder sein können – und so weise wie heute. Das Ungestüme der Jugend, die widerstreitenden Gefühle, waren ihm selbst eine Plage gewesen, weil ihm ein Ventil dafür gefehlt hatte. Jedoch würde er sie nun mit Lust füllen. Standhaft bis zum Morgengrauen.
»Na, mein lieber Thror, was geht dir gerade durch dein schönes und kluges Köpfchen.« Nár hat sich zu ihm herübergelehnt und zupft an seinem Ohr, das sich nun bestimmt glutrot einfärbt, weil es ganz heiß wird.
»Du hast mich ertappt«, gibt Thror leise zu und wirft einen Blick auf die Zwerglinge, die inzwischen die besten Plätze auf dem Kissenberg eingenommen haben und sich nun an all den süßen Köstlichkeiten gütlich tun. »Ich habe daran gedacht, was ich alles verpasst habe, weil ich dir in meiner Jugend noch nicht begegnet war. Was hätten wir alles miteinander unternehmen können!« Ein schwermütiges Lächeln huscht um seine Lippen. »Schade, dass ich die Zeit nicht zurückdrehen kann.«
»Es ist gut so, wie es ist, mein Lieber«, erwidert Nár, tätschelt die Hand des Königs. »Und es ist gut, dass niemand mit der Zeit herumspielen kann. Wenigstens etwas, das unveränderlich in seinem Ablauf ist. Was mich zum heutigen Abend bringt: Wie lang willst du uns warten lassen?«
Zustimmend nickt Dís. »Die Keksschale ist schon fast leer.«
»So spät ist es schon?« Der König tut ganz erschrocken. »Dann muss ich mich aber sputen!« Trotzdem schlägt er geradezu gemächlich das Buch auf, blättert einige Seiten um, ehe er beginnt:
Rotköppchen
Lang lang ist es her. Da lebte in einem dunklen Wald ein Wolf. Ein Omega. Der Niedrigste im Rudel. Er war einer der schwächsten und zudem noch jung und unerfahren. Doch war er gewitzt und klug und wollte nicht mehr als Spielball und Beißlumpen für alle, die über ihm standen, herhalten. Seine Hoffnung war, sich einen besseren Platz in der Rangfolge erkämpfen zu können. Dies kam seinem Vater, dem Alpha des Rudels zu Ohren, der nur über seinen schwächlichen Sohn lachte. Trotzdem beobachtete er den jungen Wolf und er entdeckte tatsächlich Anzeichen dafür, dass er einst ein großer Alpha werden könnte. Ein Rudelführer, wie es bisher nur wenige gab und der ihm seinen Rang streitig machen konnte.
Wie der Alpha wusste, waren Kraft und Schnelligkeit nicht alles, um das Oberhaupt eines Rudels zu sein. Er war das Herz, er war das Zentrum. Er gab den Takt vor und achtete auf den Gleichklang. Er sagte, wo gejagt werden musste, wie viel Nahrung benötigt wurde, um jeden Wolf zu sättigen. Das hieß, ein Wolf musste schlau sein, weitsichtig und mutig, um diesen Rang einzunehmen und ihn zu halten. Gefahren musste er rechtzeitig erkennen und ihnen entsprechend begegnen. Hunger und Not mussten abgewendet werden, denn sie waren der Tod selbst des stärksten Rudels. Konnte ein Alpha es nicht davor beschützen, zerbrach es daran. Hilfreich waren hierbei Bündnisse mit anderen Rudeln, die in der Not halfen und ihn auch unterstützten, wenn sein Revier verteidigt werden musste, weil fremde Wölfe ihn angriffen. Kämpfe mit Einzelgängern waren dagegen eher selten. Die verirrten sich nur selten auf das Gebiet eines so starken Rudels.
»Großvater?«, meldet sich Frerín geradezu zaghaft zu Wort. »Du weißt schon, dass das bei Wölfen nicht ganz so ist?«
»Und wann geht nun eigentlich das Märchen los?«, verlangt Dís zu wissen.
Gütig blickt der König über den Rand des Buches auf seine jungen Gäste. »Ich bin mir dessen durchaus bewusst, mein lieber Frín. Aber alles zu seiner Zeit.«
Wie es nun mal so ist, verging die Zeit und der junge Wolf wuchs heran. Er wurde kräftig, stattlich und stark – zumindest für einen Omega. Sein Blick war wach und seine Ohren aufmerksam gespitzt. Obwohl er es inzwischen mit einem Beta aufnehmen und sogar als Sieger hervorgehen konnte, wurde er immer wieder verbissen und auf seinen Platz verwiesen. Trotz allem gab er seine Hoffnung auf ein angenehmeres Dasein nicht auf. Hin und wieder erkämpfte er sich sogar einen der besseren Brocken, wenn es an das Aufteilen einer Beute ging. Der junge Wolf war kein Schwächling mehr und hatte sich zudem seine Klugheit und Gewitztheit bewahrt. Nicht unbedingt bemerkenswert in einem Wolfsrudel, in welchem Kraft und Gewandtheit das Leben bestimmten, doch wurden sie beachtet.
Der Alpha sah seine Befürchtungen bestätigt und begann, den jungen Wolf zu provozieren, zu erniedrigen und zu drangsalieren, wo immer es ihm möglich war. Statt ihn mit auf die Jagd zu nehmen, musste er die Welpen hüten. Bei Schnee und Regen musste er die Grenzen des Reviers ablaufen und nur noch die Reste vom Mahl blieben für ihn übrig. Über die Zeit des Winters zog es sich, dass der Alpha ihn von sich fernhielt und das Rudel stand gleich einer Mauer zwischen ihnen, hielten ihn auf Abstand. Der Omega hatte keine Möglichkeit, Kraft aus der Nähe des Alphas zu schöpfen, denn er war das Herz. Ohne ihn konnte kein Rudel existieren und je stärker ein Alpha war, umso stärker konnte die Gemeinschaft sein.
Doch das galt nicht für einen einzelnen Wolf. Der war schwach.
Noch ehe er im Frühjahr aus dem Rudel gebissen wurde, war er als Einzelgänger verschrien und dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als Teil einer Gemeinschaft zu sein, die ihn akzeptierte.
»Geh!«, schrie ihn der Alpha an. »Geh und lass dich nie wieder in diesem Teil des Waldes blicken!«
»Aber wovon soll ich leben?«, verlangte der junge Wolf zu wissen. »Wie soll ich ohne ein Rudel leben?«
»Das ist nicht meine Angelegenheit. Es schert mich nicht, ob du tot bist oder lebendig.« Wütend schnappte der Alpha nach ihm. »Nun mach dich fort.«
Langsam trottete der Omega davon, doch sandte der Alpha seine erfolgreichsten Jäger hinter ihm her. Sie sollten ihn bis weit über die Reviergrenzen hinaus treiben.
»Der arme Wolf«, murmelt Dís. »Aber warum sucht er sich kein anderes Rudel?«
Thorin schnaubt abwertend. »Wer will sich schon mit einer schwachen Kreatur abgeben?«
»Och ...« Nachdenklich kaut Frerín auf einer Zuckerstange herum und sein Blick wird verträumt. »So ein Wolf mit gefährlichem Gebiss ... Legolas würde es sich mehrmals überlegen, wem er an den Zöpfen zieht.«
Nár horcht auf. »Wer zieht wem an den Zöpfen?«
»Du hast versprochen, dass du nicht petzt!«, zischt Dís und knufft ihrem Bruder gegen den Arm.
Unvermittelt sieht sich die Zwergenprinzessin den fragenden und prüfenden Blicken aus drei Augenpaaren ausgesetzt, während der vierte verschämt ihrem ausweicht.
»Bis jetzt hatte niemand etwas deswegen gesagt«, mault Frerín in die Stille hinein und schiebt sich einen Keks in die Schnute.
»Kinder!«, fordert Nár die Aufmerksamkeit von allen ein. »Das können wir zu einer anderen Zeit klären. Heute wollen wir das Märchen genießen.«
»Wenn es ein Märchen ist.« Nun ist es Thorin, der sich aufgrund seiner leise gemurmelten Worte den bösen Blicken gegenüber sieht. »Na ist doch wahr! Die Geschichte klingt eher nach einem Biologievortrag, wie Balín ihn gern hält.«
Mit einem Räuspern bringt sich der König wieder in Erinnerung. »Wenn ihr nichts dagegen habt, würde ich sehr gern das Märchen weitererzählen oder den Vortrag halten.«
Auch wenn seine Miene gutmütig und seine Stimme weich ist, lodert doch in seinen Augen ein Feuer, das verdeutlicht, wie getroffen er von den Äußerungen der Zwerglinge ist.
»Wir können für heute Schluss machen, wenn es dir lieber ist, mein Liebster.« Nár sieht ihn besorgt an.
»Nein, nein, nein«, und »bitte erzähl weiter!«, tönt es mehrstimmig vom Kissenberg.
»Wir wollen nun ganz artig sein«, setzt Dís mit Kleinzwerglingenstimme und einem lieben Lächeln hinzu. Wie kann man einer solchen Bitte widerstehen?
Lange wanderte der Wolf durch den Wald, folgte den Spuren von Wild, doch mehr als einen Hasen hier und da erwischte er nicht. Auch wenn überall das zarte Grün sprießte, war seine Beute dürr und ausgemergelt. »Womöglich später, in ein oder zwei Wochen werden sie köstlicher sein und ihr Fleisch saftig«, sagte er sich. Aber so lange wollte und konnte er nicht warten, denn jetzt nagte rasender Hunger an ihm, der gestillt werden musste.
Schließlich gelangte der Wolf in eine Gegend, in der sich Menschen angesiedelt hatten. Bäume waren gefällt und Land urbar gemacht worden. Schneisen schnitten durch einst unwegsamen Wald und Wege führten zu Einsiedeleien, wo Holzfäller und Köhler ihrer Arbeit nachgingen. Doch davon verstand der Wolf wenig. Was er dagegen verstand, war, dass die Menschen Nahrung hatten. Manche trugen es in weißen Tüchern, das sie ausbreiteten und sich vom Inhalt etwas abbrachen. Andere hielten seltsame Gefäße in den Händen. Manchmal löffelten sie sich daraus etwas in den Mund oder tranken direkt daraus. Und all das war köstlich, wie er in einem unbeachteten Moment erfahren durfte. Brot hatten die Menschen es genannt, und Suppe, und allein die Erinnerung daran ließ dem Wolf das Wasser im Maul zusammenlaufen, dass es ihm von den Lefzen troff. Es war so wunderbar weich und warm gewesen. Fast genauso wie frisch gerissenes Wild, wenn das Blut in die Kehle pumpte.
Einige Male gelang es ihm, etwas zu stehlen. Insbesondere die warme Suppe hatte es ihm angetan. Ihr Geschmack war berauschend und sie erzeugte ein Gefühl von Geborgenheit in seinem Bauch, das er bisher nur mit der des Rudels in Verbindung gebracht hatte. Es machte ihn gierig und er wollte mehr. Doch konnte er das Gefäß nicht einfach forttragen, wie das Brot, das er in die Schnauze nehmen konnte. So musste er das Risiko der Entdeckung eingehen, aber das war es ihm wert.
»Hey!«, schallte es eines Tages über die Lichtung und erschrocken sah der Wolf sich um, während er sich die köstliche Brühe von der Schnauze leckte.
»Nun weiß ich, wer ständig meine Mahlzeit frisst!«, sagte ein Mensch. Nicht laut, aber trotzdem verstand der Wolf jedes Wort. Langsam, Schritt für Schritt kam der Mann näher und schwang dabei eher nachlässig ein langstieliges Werkzeug in der Hand, dessen breite Klinge in der Frühlingssonne blitzte.
»Eine Axt!«, wirft Frerin hilfreich ein und leckt sich Zuckerguss von den Lippen, wie es wohl der Wolf mit der Suppe gemacht haben mag.
Bestürzt sieht Dís den König an. »Der Mann wird doch nicht etwa ...?« Erschrocken über ihre eigene Vorstellung, presst sie eine Hand auf den Mund und auch das Lächeln des Großvaters scheint seine beruhigende Wirkung nicht zu entfalten.
»Wir werden sehen«, fühlt er sich genötigt hinzuzufügen - sowie ein Augenzwinkern.
Der Frühling hatte den Himmel blankgeputzt. Keine Wolke hinderte die Sonne daran, die noch immer winterkalte Erde auf der gerodeten Fläche aufzuwärmen. Deren Duft erfüllte die Luft, aber stärker war der des frisch geschlagenen Holzes oder der großen Tiere, die die Stämme aus dem Wald zogen.
Der Wolf wusste, dass er den Rückzug antreten sollte, vor allem, da der Mensch immer näher kam. Doch war da etwas, dass ihn verharren ließ, als wäre er an Ort und Stelle festgefroren. Keinen Muskel konnte er bewegen und nicht die Augen abwenden, während ihm der Speichel aus dem Maul tropfte.
Es war wohl dem warmen Wetter und der schweren Arbeit geschuldet, dass der Holzfäller Wams und Hemd abgelegt hatte. Nun strichen Sonnenstrahlen über nackte Haut, die ohne Fell, sondern nur mit einem dünnen Flaum bedeckt war. Hell und glatt. Zumindest wesentlich glatter als die eine Wolfes und womöglich weicher als die eines neugeborenen Kaninchens. Das Muskelspiel war deutlich zu erkennen, zeichnete sich unter der Haut der Arme ab und sogar die Bewegung der Kehle war zu sehen. Ein erregender Anblick, wie der Wolf fand. Wie würde es sich anfühlen, wenn er die Zähne in diesen Hals schlagen würde? Würde er dann die Bewegung unter seiner Zunge spüren? Wäre das Blut so köstlich wie die Brühe und so süß wie der Duft, der gerade zu ihm herüberwehte? Wie würde wohl das Fleisch schmecken und was würde mit der Haut geschehen? Würde sie so aufplatzen wie die Beeren, die er im letzten Herbst gefressen hatte?
Schon spürte er, wie sich sein Körper anspannte. Bereit zum Sprung, um sich die Fragen selbst zu beantworten.
Plötzlich wurden Stimmen laut. Unverständliche Worte wurden gerufen und forderten die Aufmerksamkeit des Mannes. Nur für einen Moment wandte er den Blick ab und sofort spürte es der Wolf in seinem Körper. Die Anspannung floss aus ihm heraus, schien im Boden zu versickern, und statt den Sprung nach vorn zu wagen, trat er zurück bis er in den Schatten des Waldes verschwand.
Der König verstummt und nach einem Blick in die Runde, schließt er das Buch.
Thorin kneift die Augen zusammen. »Du willst jetzt schon Schluss machen?«
»Och nööö!«, mault Frerín und auch von Dís ist eine ebensolche Klage zu hören. »Das ist noch viel zu früh.«
»Ihr müsst morgen wieder raus. Balin wird auf euch warten.« Mit einem lauten Ächzen quält sich Nár aus seinem bequemen Sessel und streckt sich, dass die Gelenke knacken. »Ich bin zu alt, um so lange irgendwo rumzusitzen«, murmelt er leise.
»Wir können dir morgen eine Liege vor den Kamin stellen«, schlägt Frerin hilfreich vor und Dís nickt begeistert.
»Mit ganz vielen Decken und weichen Kissen.«
Nachdenklich wiegt der Gefährte des Königs das Haupt. »Wenn ihr gestattet, lege ich mich lieber zu euch auf den Kissenberg. Denkt ihr, dort ist noch Platz für einen alten Haudegen wie mir?«
Dís kichert hinter vorgehaltener Hand. »Haudegen«, wiederholt sie amüsiert, doch klettert sich vom Hügel herab. Geradezu huldvoll macht sie einen Knicks vor dem König und vor seinem Liebsten. »Gute Nacht, ihr beiden Haudegen.« Und dann leise zu Thorin: »Ich mag das Wort.«
Der 2. Abend
»Nun frag mich schon!«, fordert Nár, während er das Gemach abschreitet und sich die Vorbereitungen für den heutigen Märchenabend besieht. »Ich sehe doch, wie unruhig es dich macht.«
»Im Gegenteil.« Augenscheinlich gelassen lehnt der König im Sessel, die Beine übereinandergeschlagen und die Hände über dem Bauch gefaltet. Ein Bild der Zufriedenheit und innerer Ruhe. »Ich bin ganz entspannt, wie du siehst.«
»Hmm, ja, ich sehe es.« Nár verdreht die Augen und lehnt sich gegen den Kaminsims. »Du willst wissen, was ich von dem Märchen halte. Vermutlich beschäftigt dich schon den ganzen Tag die Frage, ob es mir gefällt. Und Ja: Ich mag das Märchen, auch wenn noch nicht viel Märchenhaftes geschehen ist.«
Tief schnauft Thror durch. »Das klingt gut.« Trotzdem huscht ein scheues Lächeln um seine Lippen. »Aber ist es auch für die Kinder geeignet?«
Nachdenklich schiebt Nár die Unterlippe vor. Für einige Augenblicke bleibt er stumm, blickt in das Kaminfeuer, ehe er zu sprechen beginnt. »Du erzählst ein Liebesmärchen, wie mir scheint, was das Original nicht ist. Es wird größer. Und da du die dunkle Seite betrachtest, womöglich nicht so hell und sonnig wie die bisherigen Märchen, die du erzählt hast.« Mit einem herausfordernden Blick wendet er sich zum König und zwinkert ihm zu. »Sei ehrlich mein Liebster: Bei der Wahl des Titels hast du nicht an Rotkäppchen gedacht, sondern daran, den Kindern und mir einen roten Kopf zu bescheren.«
»Nein, nein, nein! Auch wenn es eine verlockende Vorstellung ist, Thorin aus seiner versteinerten Verknöcherungen herauszuholen«, wehrt der König ab und richtet sich auf. »Ich bemühe mich wirklich, nahe am Märchen zu bleiben. Aber der Wolf hat ein Eigenleben entwickelt.«
Eilig tritt Nár auf Thror zu, fällt vor ihm auf die Knie und ergreift dessen Hände. »So war das nicht gemeint, mein Liebster. Es sollte keine Anklage sein. Du weißt, dass ich deine Märchen über alles liebe. Sie sind zauberhaft und dazu gehört auch dieses. Ich bitte dich, erzähle weiter und lass die Kinder selbst entscheiden, wenn es ihnen zu viel wird.«
»Das hatte ich auch vor«, stimmt der König zu. »Nur bin ich verunsichert, ob es der richtige Weg ist.«
Fest drückt Nár die Hände. »Du bist auf dem richtigen Weg, mein Herz. Glaub mir, und so, wie ich die Kinder kenne, werden sie sich weitere Märchenabenden nicht entgehen lassen. Und Thorin mit hochrotem Kopf – das würde ich mir keinesfalls entgehen lassen.«
Der König neigt sich weiter vor, bis er ganz zart seine Lippen, auf die seines Gefährten legen kann. Es ist ein sanfter Kuss, ganz keusch, verwoben mit einem Lächeln. »Ich kann sie tatsächlich schon hören.« Noch schnell stiehlt er sich einen weiteren Kuss, bevor die Tür aufgestoßen wird.
Wie am Abend zuvor stürmt Dís mit einem lauten ›Großvater!‹ herein und springt ihm regelrecht in die Arme. »Ich habe mich schon den ganzen Tag auf den Abend gefreut. Wir wären ja schon längst hier, aber Thorin konnte sich einfach nicht von seinem Spiegelbild trennen.«
Der König schiebt die junge Zwergendame von seinem Schoß und wendet sich dem ältesten seiner Enkelkinder zu. Schalk tanzt in seinen Augen, als hätten sie bereits seit einer Ewigkeit darin gewohnt. »Wenn du zu lange vor dem Spiegel verweilst, wird aus dir ein Elb. Womöglich hat deine Wandlung schon begonnen?« Prüfend blickt er den Zwergenprinzen an. Betrachtet das schwarze Haar, den sorgsam gestutzten Bart und die in dunklem Blau gehaltene Kleidung, deren Farbe sich in den Augen widerspiegelt. »Nein, du siehst noch genauso aus wie gestern. Aber manchmal kommen Veränderungen schleichend.«
»Stimmt das, Großvater?« Unsicher sieht Dís zwischen dem König und ihrem Bruder hin und her. »Verwandelt sich Thorin wirklich in einen Elben?«
»Großvater zieht Thorin auf.« Frerín stibitzt aus einer übervollen Gebäckschale ein Plätzchen, schiebt es sich in den Mund und verdreht genussvoll die Augen. »Köstlich! Genau wie gestern.«
»Stimmt das, Thorin?«, verlangt Dís nun von ihm zu wissen. »Will der König dich ärgern?« Nun blitzt ihr der Schalk aus den Augen und mit mädchenhafter Zwerginnen Geste, neigt sie den Kopf zur Seite. »Wirst du ihm deswegen den Krieg erklären?«
»Aber selbstverständlich!« Thorin zwinkert ihr zu. »Ein Kekskrieg - und du wirst mir dabei helfen. Wir werden alle Kekse, Süßigkeiten und sämtliches Gebäck aufessen, bis sein Zuckerbäcker so erschöpft und müde ist, dass er nichts mehr machen kann.«
»Bevor es hier tatsächlich noch zum Schlimmsten und Schrecklichsten kommt, machen wir es uns lieber bequem«, fordert Nár alle auf und weist einladend auf den Kissenberg. »Der Abend kann erst beginnen, wenn wir es gemütlich haben.«
»Spielverderber«, murmelt der König. Im nächsten Moment hebt er hilflos die Hände. »Und was ist mit dem Märchenbuch? Es fehlt! Wie soll ich denn ...«
Weiter kommt er nicht, da ihm Frerin das Verlangte auf den Schoß legt.
»Du bist genau so ein Spielverderber, wie dein Bruder«, wird dieser angeklagt, doch huscht ein schelmisches Grinsen über die verwitterten Gesichtszüge des Königs. »Aber ich liebe euch trotzdem.«
In den Schatten verborgen beobachtete der Wolf in den folgenden Tagen die Menschen. Insbesondere der eine Mann faszinierte ihn.
Dieser war es auch, der ihm stets ein Stück Brot sowie eine Schüssel warmer Suppe zur Seite stellte, wenn die Sonne im Zenit stand. Schon bald hatte sich der Wolf an das regelmäßige Fressen gewöhnt und auch an die Nähe zu den Menschen. Doch kam er ihnen nicht zu nahe, denn hin und wieder gefiel ihm der Klang ihrer Stimmen nicht. Dann waren sie laut und kalte Schauer jagten ihm über den Rücken.
»Willst du den Wolf als Haustier halten. Rune? Er ist kein Hund, den man sich erziehen kann«, hörte er an einem Morgen, als noch Nebel über der Lichtung hing und die Baumwipfel verbarg. »Er wird dir die Kehle aufreißen und dir das Fleisch von den Knochen nagen. Ruf lieber einen Jäger, der sich um das Tier kümmert. An Menschen gewöhnt, wird er keine Scheu haben, sich über das Vieh und womöglich unsere Kinder herzumachen.«
»Er ist noch jung und lernfähig«, sagte der Mann, der mit Rune angesprochen worden war. »Er ist ein schönes Tier und es würde mir um ihn leidtun.«
Der andere grummelte. »Er ist ein wildes Tier und gezähmt ein nicht einschätzbares Risiko.«
»Erstaunlich, was für großartige Wörter ein einfacher Holzfäller kennt«, stellt Frerín leise fest, während er die Ecken von einem Keksstern abknabbert.
»Bestimmt ist er gebildet«, wirft Dís ein. »Oder hochgeboren.«
»Selbstverständlich«, stimmt Thorin ihr zu, doch zupft an einem Mundwinkel ein Lächeln. »Er hat eine ausgezeichnete Wortwahl mit der Muttermilch aufgesogen.«
Dís verdreht die Augen. »Männer!«, grummelt sie und schiebt sich einen Keks in die Schnute. »mampff ipfff iff beffa wiffn müffn.« Mit beleidigter Miene kaut sie auf dem Gebäck.
Der Frühling ging unbemerkt in den Sommer über. Heiß und trocken flimmerte die Sommerglut auf der Lichtung, doch unter dem dichten Blätterdach blieb es kühl. Tagtäglich standen die Mahlzeiten an immer der gleichen Stelle für den Wolf bereit, doch eines Tages wartete er vergebens auf Brot und Suppe.
Als auch am nächsten Tag der Mann nicht erschien, leise mit ihm sprach, während er die Schale hinstellte, wurde der Wolf unruhig. Trotzdem blieb er vorsichtig, als er die Lichtung umrundete und sich der Behausung von der Rückseite her näherte. Die Nase reckte er in die Luft oder hielt sie tief auf dem Waldboden. An manchen Stellen nahm er die Witterung seines Menschen auf, doch war sie am Vergehen. Zu alt. Zwei, drei Sonnenaufgänge, wenn nicht sogar mehr.
Unruhig schlich er um die Hütte, wo der Duft noch am stärksten war und den Wolf in seinen Bann zog. Alles schien hier seinen Geruch zu tragen und wollte ihn dazu verleiten, sich an den Gegenständen zu reiben, den Duft zu seinem eigenen zu machen. Nichts war ihm wichtiger. Nur mit Mühe riss er sich davon los und fand dann endlich eine Spur. Sie war frischer als jene an der Hütte und überschwemmte seine Nase mit Erinnerungen an die Aromen von warmen Fleisch und Blut. Pulsierendes Leben. Eilig folgte er der Fährte.
Sie führte den Hohlweg entlang, in die Richtung, in der der Wolf ein Dorf wusste. Er hatte es nur aus der Ferne gesehen, aber allein der Geruch, den der Wind zu ihm getragen hatte, war voll mit dem von fettem Geflügel, Hasen und Schafen. Es war wie eine Einladung, sich an einen reich gedeckten Tisch zu setzen. Aber dazu hätte er sich den Ställen und Weiden nähern müssen, würde womöglich entdeckt werden. Dann würde er aber auch seinen Menschen verlieren. Er würde ihm nie mehr etwas zu Essen hinstellen ...
»Aber das macht er doch jetzt schon nicht mehr«, grummelt Thorin. Der hat sich die Schale mit den kandierten Nüssen herangezogen und lässt sich eine nach der anderen schmecken.
Allein die Vorstellung setzte dem Wolf zu. Schlimmer war jedoch der Gedanke, nie mehr den Menschen zu sehen, zu riechen, seine Stimme zu hören.
Es war Nacht, als der Wolf das Dorf betrat. Der Duft des Mannes war nur noch ein Hauch, überlagert von vielen anderen Gerüchen. Der Gestank von Mist und Schweinen hing wie Wasser in der Luft und machten es ihm schwer, der Fährte zu folgen. Zudem strömten von überall her seltsame Geräusche auf ihn ein, füllten seine Ohren und wollten ihn von diesem schrecklichen Ort jagen. Doch er blieb und wagte sich sogar immer weiter vor.
Durch das gesamte Dorf folgte er der Fährte, bis er zu einem kleinen Häuschen kam. Dieses war von einem Zaun sowie einem hübschen Garten umgeben, in welchem unter einem Apfelbaum eine Bank stand, die zum Verweilen einlud. Auf dieser entdeckte er den Mann. Er hatte sich auf der Bank ausgestreckt, die Augen geschlossen und schien die laue Nacht zu genießen.
Langsam und leise trat der Wolf durch das offen stehende Tor und näherte sich ebenso geräuschlos dem Mann. Der schien zu schlafen, denn nichts wies darauf hin, dass er das Tier bemerkt hätte. Das gab dem Wolf Mut und er kam dem Ruhenden so nahe, dass er dessen Wärme selbst durch die Kleidung spüren konnte, die er trug.
Nur ein Schritt weiter, dann könnte er mit der Nase die unbedeckte Haut berühren, unter der im steten Rhythmus der Puls schlug. Er hatte die Kehle direkt vor Augen. Der Anblick war zu verführerisch und das Wasser lief ihm im Maul zusammen. Er lockte ihn. Vorsichtig reckte er den Hals und leckte sich die Lefzen ...
»Er wird doch nicht etwa ...?« Dís Stimme klingt quietschig, wohl vor Anspannung, wie Thror annimmt. So hoch oben auf dem Kissenberg thronend, hat sie sich gefährlich weit vorgeneigt. Es fehlt nicht mehr viel, dass sie herunterkullert. Sie würde zwar weich fallen, aber einen Schreck hätte sie trotzdem davon.
... und in der nächsten Bewegung strich seine Zunge über warme Haut, verharrte auf der Stelle, unter der er den Herzschlag spürte. Kräftig und ruhig war er und allein das herrliche Gefühl von Leben und zugleich dem betörenden Geschmack auf der Zunge entlockte ihm ein ganz und gar unwölfisches Seufzen. Hitze rann durch seine Adern ...«
»Ein ralliger Wolf.« Nun ist es Thorin, der sich eine leise Bemerkung nicht verkneifen kann.
»Läufig«, verbessert ihn sein jüngerer Bruder. »Bei Hunden und Wölfen heißt es läufig und bei Katzen rollig. Rallig können nur Zwerge, Menschen und Elben sein, wenn sie ...«
Nár räuspert sich. »Danke für die Lehrstunde, Frerín.«
Thorin gluckst leise. »Leerstunde.«
Ehe Frerín darauf reagieren kann, räuspert sich nun der König. »Soll ich für heute Schluss machen? Ihr scheint mir sehr unaufmerksam.«
»Nein, nein, nein!« Schallt es sofort vom Kissen- und Deckenberg herab. »Wir sind jetzt ganz aufmerksam!«, verspricht Frerín und seine Geschwister stimmen zu.
Die Hitze machte ihm das Denken schwer und träge und er achtete kaum auf seine Umgebung.
Plötzlich zerriss ein lauter Knall die nächtliche Stille und ein schwerer Schlag schleuderte den Wolf zur Seite. Zugleich explodierte Schmerz in seiner Flanke und er konnte ein verschrecktes Winseln nicht unterdrücken.
Augenblicke später war der Mann bei ihm. »Ganz ruhig«, flüsterte er, während sich eine Hand auf seine Schulter legte und die andere über seinen Körper strich. Dabei berührte er die Wunde an der Seite.
»Warum hast du das getan?«, fragte er lauter, den Kopf dem Menschen zugewandt, der nun näher kam. »Es hatte keine Anzeichen gegeben, dass er mich anfallen wollte.«
»Für mich sah das anders aus.« Der Unbekannte hielt noch immer die Büchse in der Hand, doch eher nachlässig. Trotzdem schien er aufmerksam den Wolf im Auge zu behalten. »Oder willst du etwa behaupten, dass der Wolf mit dir schmusen wollte? Herrgott, Rune! Ein Wolf bleibt ein Wolf, auch wenn er sanft und nachgiebig scheint.«
Es glich einer Liebkosung, wie die Finger durch das Fell glitten.
»Es gibt Männer, die genauso viel Wolf in sich haben, wie dieses Tier hier«, hörte der Wolf seinen Menschen sagen. »Aber nun hilf mir wiedergutzumachen, was du angerichtet hast. Lass ihn uns reinbringen und verarzten. Hier kann ich nicht erkennen, wie schwer verletzt er ist.«
»Wiedergutmachung?« Der Fremde schnaubte abfällig, doch hängte er sich den Gurt des Gewehrs über die Schulter und trat näher. »Ich bin ein Jäger und schieße nur auf Tiere, die eine Gefahr darstellen. Wiedergutmachung ist in meinen Augen, wenn ich mir das Fell als Dank für meine Arbeit nehmen kann.«
Angst wütete in Wolfs Gedärmen, als er die Worte vernahm und ein weiteres Winseln entwich ihm.
»Ganz ruhig«, hörte er seinen Menschen wiederholt sagen und er fand es erstaunlich, wie wechselhaft der Klang der Stimme war. Weich und geradezu sanft, wenn er mit ihm sprach, oder hart und geradezu schneidend, sobald er sich dem Jäger zuwandte. »Der dumme Kerl spuckt nur große Töne.«
»Wer ist hier dumm?«, ereiferte sich der Jäger, doch schoben sich seine Hände mit ebenso viel Sanftheit unter seinen Körper, wie die Runes. »Ich will dich nicht wegen etwas verlieren, das vermieden werden könnte. Dazu gehört nun mal, dass dir ein Wolf die Kehle herausreißt.«
»Das hätte er keineswegs getan«, murrte sein Mensch, während er rückwärts gehend die Hütte betrat und mit einer Kopfbewegung andeutete, den Wolf auf dem nahen Tisch abzulegen, über dem eine blackende Petroleumlampe ihr unruhiges Licht spendete. »Ich weiß nicht, warum ich es weiß, aber er vertraut mir. Nun vertraue du mir auch, Tomasz.«
Der Wolf spürte den prüfenden Blick des Jägers, nachdem dieser an der Lampe hantiert hatte und nun das Licht ruhig den Raum erhellte. »Es widerstrebt mir zutiefst, mich nur auf dein Gefühl zu verlassen, mein Lieber, aber du scheinst vergessen zu wollen, dass er trotz allem ein wildes Tier ist. Er wird dich angreifen, wenn du es am wenigsten erwartest.«
Rune seufzte und er klang ungeduldig. »Ja, ja, Tomasz. Aber nun hol endlich die vermaledeite Kugel aus ihm heraus«, forderte er grantig, doch waren die Finger sanft, die durch das Fell strichen. »Ich werde den Wolf festhalten.«
Der Jäger schien noch etwas dazu sagen zu wollen, doch blieb er stumm. Stattdessen stapfte er zu einem Schrank, öffnete ihn und entnahm ihm einen Stapel weißer Tücher. Des Weiteren ergriff er einen schmalen Dolch, der neben dem Spülstein lag.
All dies beobachtete der Wolf aufmerksam. Er wusste, dass er sich fürchten und sich gegen den sanften Griff wehren sollte. Der Schmerz sollte ihn wahnsinnig machen, ebenso wie das Gefühl, von den Wänden und den wohlriechenden Armen eingeschlossen zu sein.
Doch nichts von all dem geschah. Er war ruhig, sein Blick klar. Die Wunde war nicht mehr als ein leichtes Summen, das mit jedem Streicheln mehr schwand. Er fühlte sich wohl, so umfangen und gehalten zu sein. Der Duft seines Menschen wob ein feines Gespinst um seine Sinne. Seltsamerweise schien auch der des Jägers irgendwie darin verwoben. Welch kurioser Gedanke! Und wäre er ein Mensch, hätte er bestimmt gelacht. Ein noch absonderlicherer Gedanke!
Unvermittelt schoss Schmerz wie Blitze durch seine Glieder, brannte sich durch seine Nerven. Hilflos scharrte und kratzte er über das Holz, winselte und Geifer benetzte seine Lefzen. Dass sich Schwärze über seine Gedanken und seinem Körper legte, bemerkte er nicht mehr.
»Er ist tot?« Dís klingt ungläubig. »Aber was ist denn dann mit dem Märchen von Rotkäppchen? Und sooo viel Märchenhaftes war ja auch noch nicht.«
Frerín verdreht die Augen. »Selbstverständlich ist das Märchen noch nicht zu Ende«, erklärt er voller Überzeugung und steigt aus seinem Kissennest, das er sich an der Bergseite geschaffen hat. Fragend sieht er den König an: »Dürfen wir morgen wiederkommen? Oder erst an einem anderen Tag?«
»Nein, Morgen ist gut«, stimmt Thror nach kurzem Nachdenken zu. »Ich würde auch gern wissen, wie es weitergeht.«
»Manchmal bist du komisch, Großvater.« Ein leichtes Lächeln huscht über Thorins Gesicht. »Du bist der Erzähler und weißt nicht, was du erzählen willst. Was ist, wenn du dich in der Geschichte verrennst?«
Grübelnd tippt sich der König an die Nase. Ja, er scheint heute in besonders grüblerischer Stimmung zu sein. »Weißt du, mein Junge, das frage ich mich auch manchmal.«
»Aber es scheint ja wirklich gut zu laufen«, wirft Frerín ein. »Zumindest hast du keine Zweifel mehr, ob das Märchen funktioniert oder nicht.«
Mit einem heftigen Nicken stimmt Nár dem jungen Prinzen zu. »In meinen Augen funktioniert es ausgezeichnet, und ich bin gespannt, wie die Geschichte weitergeht.«
»Hört auf, mir Honig ums Maul zu schmieren!«, fordert Thror. »Und ich zweifle noch immer.«
Dís hüpft vom Kissenberg herab, direkt in die Arme des Großvaters. »Das musst du nicht. Die Geschichte war bisher zauberhaft und wird es bestimmt auch weiterhin sein.«
»Danke, mein kleiner Schatz.« Fest schlingt der König die Arme um die Prinzessin. »Aber nun: Abmarsch!«
Artig macht Dís einen Knicks und Thorin und Frerín verneigen sich zum Abschied und ehe dann auch im Gemach des Königs unter dem Berg Ruhe einkehrt.
Ende des 2. Abends
»Großvater, ich wünsche mir ein Mädchenmärchen«, verkündet Dís, ehe sie sich in den Kissenberg fallen lässt. Sofort richtet sie sich jedoch wieder auf. »Aber nicht so ein Märchen wie im letzten Jahr. Mit Mädchen. Ich mag lieber die mit schönen Prinzen und starken Helden. Du weißt schon: Liebe auf dem ersten Blick und so. Etwas für das Herz. Aber nicht so eines mit Rumgehechel und Gesabbere.«
Überrascht hebt der König eine Augenbraue. »Ich wüsste nicht, wann jemand gehechelt oder gesabbert hätte.«
»Du weißt genau, was ich meine!«
Die zweite Augenbraue wird erstaunt angehoben.
»Sie meint, dass ihr zu viel Erotik in der Geschichte ist«, kommt ihm Thorin zu Hilfe.
Verwundert blickt Thror von einem zum anderen. »Aber da war ja noch nicht einmal ein Kuss drin!«
»Sie haben halt eine lebhafte Phantasie«, fasst Nár das Offensichtliche zusammen. »Allein die Andeutung reicht schon aus, um sie auf die richtige Spur zu schicken.«
Nachdenklich neigt der König das Haupt. »Heißt das jetzt, dass ich das Märchen nicht weitererzählen soll?«
Alle Blicke richten sich auf Dís. Sie muss die Entscheidung treffen und sie kostet dies weidlich aus. Wann hat die Jüngste in der Runde mal das Sagen? Zumindest kommt es nicht häufig vor.
Mit hoheitsvoller Geste streicht sie sich eine Strähne aus der Stirn, ehe sie mit ebensolcher Mimik den Großvater anblickt. Was gar nicht so einfach ist, da sie ihr Näschen erhoben hat. »Du darfst weitererzählen«, erlaubt sie ihm. Dann huscht ein leichtes Lächeln um ihre Lippen, ihre Zöpfe wippen vergnügt und sie ist von einem Moment zum anderen wieder das freche Zwergenmädchen, das alle Bewohner des einsamen Bergs ins Herz geschlossen haben. »Schließlich will ich wissen, wie der Wolf seinen Mann bekommt. Und das wird er doch wohl. Etwas anderes will ich gar nicht hören. Ein Mädchenmärchen halt.«
»Hört, hört«, murmelt Nár und zwinkert der Enkeltochter seines Gefährten zu. »Da hat unsere kleine Maus ganz genaue Vorstellungen davon, was sie möchte. Aber kann der König dem gerecht werden?«
Der prustet und schlägt das Märchenbuch auf, das bereits auf seinem Schoß liegt. »Ihr werdet es schon sehen – oder eher hören!«
Welch eine Kampfansage!
Der Wolf fand sich auf einer weichen Decke direkt vor einem Kamin gebettet wieder, in welchem trotz der Sommerhitze des Tages ein kleines Feuer brannte. Es spendete ihm angenehme Wärme und erzeugte in ihm ein Gefühl der Geborgenheit, das ihn an die heimatliche Höhle erinnerte. Sehnsucht nach seinem Rudel entlockte ihm ein leises Winseln der Trauer um den Verlust. Auf der Suche, sich vor diesem Schmerz in seinem Herzen zu verbergen, rollte er sich auf der Decke zusammen, machte sich so klein wie möglich. Doch das war für einen so großen Wolf nicht einfach, insbesondere, da ihn ein anderer Schmerz das Geschehene in Erinnerung rief. Er war sanft und pochend, nicht so scharf wie zuvor und auch nicht so schneidend wie der in seinem Inneren.
Tatsächlich fühlte er sich wohl, wie er erstaunt feststellte. Wohl genug, dass er sogar in Erwägung zog, sich in dieser seltsamen Höhle umzusehen und sich von seiner Sehnsucht abzulenken. Aber eher war es der unverwechselbare Duft seines Menschen, der die Luft erfüllte und ihn lockte, dessen Ursprung zu suchen. Hinzu kam der Geruch des Jägers, stark, jedoch nicht in dem Maße dominant wie der des Holzfällers.
Vorsichtig und zögernd tappte der Wolf durch das Zimmer, verharrte hier und dort, wo ihm ein Duft besonders interessant erschien. Dabei näherte er sich einer angelehnten Tür, durch deren Spalt ein schmaler Streifen Licht herausfiel. Das verführerische Aroma seines Menschen wurde hier stärker, voller – aber auch der des Jägers.
Mit der Schnauze schob er die Tür weiter auf und für einen Moment fühlte er sich vom Kerzenschein geblendet und überwältigt von der Fülle an Aromen, die den Raum durchdrangen. Prüfend hob er die Nase, atmete tief ein und versuchte, die verschiedenen Düfte zu unterscheiden, doch waren sie so sehr miteinander verwoben, dass es ihm nicht möglich war.
»Wir bekommen Besuch«, hörte er den Jäger sagen. »Ein Wolf gehört nicht in die Schlafkammer.«
Der Holzfäller lachte leise. »Dann hättest du die Tür verschließen sollen, ehe du zu mir kamst.«
Zögernd betrat der Wolf das kleine Zimmer, das mit den schattenerfüllten Winkeln und der breiten Schlafstatt, die den Raum bestimmte, wie das Sinnbild einer heimeligen Höhle wirkte.
Inmitten von Kissen und Decken hatte sich der Holzfäller aufgesetzt und streckte eine Hand nach ihm aus. »Komm her, Wolf!«, lockte er ihn näher.
»Du solltest ihn nicht auch noch ermutigen«, warf der Jäger widerwillig ein, der mit zerzaustem Haar hinter dem Holzfäller auftauchte und über dessen Schulter auf den Wolf sah. »Er ist kein Hund, den du vor dem Bett schlafen lassen kannst. Allein schon, dass du das Tier ins Haus holen musstest, war unbedacht. Was ist, wenn er dich im Schlaf anfällt? Es ist ihm ein Leichtes, dir die Kehle herauszureißen.«
Wäre er dazu in der Lage, hätte der Wolf abwertend geschnauft. Wie konnte der Mann nur eine solche Behauptung aufstellen? Nichts lag ihm ferner, als seinem Menschen Schmerzen zuzufügen. Nie würde er ihn in Gefahr bringen oder ihn gar verletzen! Wie zur Bestätigung seiner Vertrauenswürdigkeit trat der Wolf dicht an das Bett heran und schmiegte das Haupt in die ausgestreckte Hand. Der Holzfäller wirkte im ersten Moment überrascht, doch im nächsten verstärkte sich der Griff seiner Finger und er begann, über den Kopf des Wolfs zu streicheln. Und immer weiter.
Unwillkürlich entkam dem Tier ein freudiges Winseln, als sie durch sein Fell fuhren. Zuerst noch zögernd, doch mit jeder Bewegung immer zielstrebiger, folgten sie der Linie seines Körpers vom Scheitel bis zur Rute. Immer wieder glitten die Hände über seinen Pelz, kämmten ihn mit den Fingern.
Der Wolf kam nicht umhin, sich den Berührungen entgegen zu lehnen. Sie weckten Erinnerungen an Gefühle und beschworen verblasste Bilder aus Welpentagen herauf, als er als Teil eines Wurfs die heimatliche Höhle erkundete, ehe er hinaus in den Wald und später die Welt gehen musste. Mit der Zunge hatte die Wölfin über sein Fell geleckt, den kleinen Welpen mit der simplen Geste verwöhnt und ihm kleine Laute des Wohlseins entlockt. Glückliche Zeiten. Warme in Stunden, nach denen er sich in seiner Einsamkeit sehnte.
Auch jetzt fühlte der Wolf sich schwach und wackelig auf den Beinen wie ein neugeborener Welpe und wusste nicht, warum es so war. Waren es die heraufbeschworenen Gedanken? Die Verletzung, für die der Jäger die Schuld trug oder der Mann, der mit seiner Nähe, seinen Berührungen und seinem Zuspruch sein Wesen zu erfüllen schien. Oder war es Dankbarkeit, die sein Herz schmelzen ließ? Ein heißes Gefühl, das durch jede Faser seines Körpers sickerte und ihn noch näher zum Mann zog, der ihm soeben am Ohr kraulte. Nur leicht musste er den Kopf neigen, bis er ihn auf der weichen Decke ablegen konnte. Die Nase dabei so nah wie möglich an dem Verursacher des köstlichen Dufts.
»Sieh ihn dir an, Tomasz! Wie sehr er es genießt«, flüsterte der Mann, der nichts von den seltsamen Gefühlen des Wolfs ahnte, während weiterhin seine Hände über dessen Körper strichen und durch den Pelz kämmten.
Der Angesprochene schnaufte abfällig. »Ich sehe, dass du ihn wie einen Hund behandelst.«
»Wäre er einer, würde ich ihn zu mir ins Bett nehmen.« Nur der Wolf sah das freche Grinsen und das mutwillige Funkeln in den Augen des Holzfällers. »Das würde dir gefallen, Wolf?«, wurde er nun mit weicher Stimme gefragt.
Er wäre entzückt und ein weiteres Winseln entkam ihm. Er könnte Teil eines Rudels sein, auch wenn es nur aus diesen beiden Menschen und ihm bestünde. Besser als das, was er hatte, wäre es allemal – und womöglich sogar besser, als das alte Rudel. Aber wäre es möglich?
»Mir kommt kein Vieh ins Bett, das Fell trägt«, grollte der Jäger.
»Also Federvieh und Gewürm sind dir genehm?« Der Holzfäller wandte den Kopf zum Jäger und ein weiteres freches Lächeln huschte um seine Lippen. »Pass auf, dass ich dich, Lockenkopf, nicht gegen einen Wolf eintausche. Du magst ausgezeichnet mit deiner Büchse umgehen können, aber ich bin dazu auch in der Lage.«
»Warte, warte, warte!« Dís hat die Hände erhoben, die Augen zusammengekniffen und zwischen den Augenbrauen zeigt sich eine steile Falte. »Sie wollen den Wolf abschießen? Aber warum will der Holzfäller ihn erst ins Bett holen?« Mit einem tiefen Seufzen lässt sie die Hände sinken und ihr Antlitz glättet sich wieder. »Ich gebe zu, dass ich etwas damit überfordert bin, dass die Männer im Bett liegen. Zu viel nackte Haut. Zu viele Informationen. Aber ...«
Thror blickt ebenso ratlos wie seine Enkeltochter.
»Sie wollen ihn nicht erschießen«, kommt Thorin seinem Großvater mit ruhiger Stimme zu Hilfe. »Der Holzfäller macht eine Andeutung, dass er den Wolf besteigen würde. Mit Büchse meint er seine Erektion und die Ejakulation als schießen.«
Es kommt schon einem Übermaß an Interesse gleich, wie sich Dís vorneigt. »Und das funktioniert? Ein Mann kann einen Wolf besteigen?«
Thorins Ohren nehmen eine schön rote Farbe an. Sie erinnert Thror an reife Walderdbeeren und rotwangige Winteräpfel.
»Ich habe gehört, dass Elben ihre Reittiere besteigen, um sie gefügig zu machen«, wirft Frerín geradezu naseweis ein.
Unvermittelt lacht Nár aus vollem Halse. »Nun ...«, versucht er zu sagen, doch prustet er wieder los. »Nun weiß ich, warum das Märchen Rotköppchen heißt!«
Auch, dass Thror ihn strafend ansieht, bringt ihn nicht zur Ruhe. »Du bist keine große Hilfe.«
Nár wischt sich einige Tränen aus den Augen, von den Wangen und sogar aus dem Bart. »Ich habe nicht gesagt, dass ich dir eine Hilfe sein werde.«
Der König räuspert sich. »Die Elben besteigen nicht in DIESER Art ihre Reittieren. Sie satteln sie und reiten sie zu.«
»Das ist ja einfallslos!« Leise schnauft Dís. »Ich glaube, wenn ich das nächste Mal einen Elben auf einem Hirsch sehe, werde ich nur noch daran denken können, wie sie sie anders besteigen.«
Dass sie ihre Überlegung vernehmlich in Worte fasst und dazu auch noch in einem Moment, in welchem die Welt den Atem anzuhalten scheint, wird ihr erst bewusst, als sie in die Gesichter der Anwesenden sieht. Zum großen Teil erheitert, zum ganz geringen Teil erschrocken, zum guten Teil erstaunt und auch etwas Fassungslosigkeit von Seiten des Zwergenkönigs ist vorhanden. Glücklicherweise überwiegt die Belustigung und selbst Thorins Lachen, mit dem er in den letzten Monaten mehr als sparsam war, ist bis in die hintersten Ecken des Erebors zu hören. Zumindest wäre es das, wenn, ja wenn gerade in diesem Moment jemand die Tür zum weitläufigen Flur geöffnet hätte. So blieb also die Erheiterung innerhalb des Gemaches gefangen.
»Noch hast du aus dem Wolf keinen Schoßhund gemacht, der dir die Laken wärmt, mein Liebster«, zischte der Jäger dicht am Ohr des Holzfällers. Im nächsten Augenblick umschlang er ihn mit einem Arm, während er mit der anderen Hand Decken und Kissen zur Seite wischte. Nur einen Augenblick später zog er den Holzfäller an der Hüfte nach hinten, sodass dieser den Halt verlor und nach vorn auf die Matratze fiel.
Von einem Moment zum anderen fand sich der Wolf Auge in Auge mit seinem Menschen gegenüber, der versuchte, sich wieder aufzurichten. Doch wurden seine Bemühungen zunichtegemacht, als seine Beine vom Jäger auseinandergedrückt wurden. Weit wurden seine Schenkel gespreizt, bis sein Gemächt das Laken berührte. Jedoch machte der Mann keine Anstalten, gegen die Behandlung zu protestieren. Stattdessen schien er sich sogar nach hinten zu bewegen und einer Berührung entgegen, die ihm mehr als angenehm schien. Seine Lider senkten sich leicht und ein dunkles Stöhnen entrang sich seiner Kehle.
»Sieh dir an, was mit einem Schoßhund geschieht und entscheide, ob du lieber ein Wolf bleiben willst«, sagte der Jäger und forderte die Aufmerksamkeit des Wolfes.
»Ich bin kein Schoßhund!«, flüsterte der Holzfäller.
Unwillkürlich trat der Wolf zurück, als sein Mensch vollends niedergestoßen wurde. Mit dem Gesicht lag er auf dem Laken, niedergehalten von einer Hand in seinem Nacken. Währenddessen spie sich der Jäger auf die Finger der freien Hand und verrieb die Feuchtigkeit zwischen den Backen des Holzfällers. Augenblicke später keuchte er erstickt auf und seine Lider senkten sich vollends.
»Doch, das bist du«, erwiderte der Jäger mit rauchiger Stimme, kratzig und doch so weich wie ein warmer Regenguss im Sommer. »Du bist mein Liebstes. Mein Liebster. Mein schneller Hirsch, mein graziles Reh, mein schlauer Fuchs, mein flinkes Wiesel.« Und jede Umschreibung unterstrich er mit einer stoßenden Bewegung seiner Hüften, die schnell an Geschwindigkeit zunahm ...
»Können wir das bitte ausblenden?«, wirft Frerin ein und macht eine allumfassende Handbewegung. »Wir wissen doch alle, wie ... Beischlaf funktioniert.«
Ein scharfer Blick von Thror und auch von Nár lässt seine Wangen und Ohren, überhaupt das gesamte Haupt in einem kräftigen Rot glühen.
»So, so«, murmelt Nár. »Du weißt also, wie es funktioniert.«
»Hmm, ja.« Eilig greift Frerin nach einem Keks und schiebt ihn sich in den Mund. Als würde ihn dies vor einer Antwort bewahren!
»Sollten wir ein ausführliches Gespräch miteinander führen?«, hakt der König nach.
»Es ist nur Theorie«, hilft mal wieder Thorin aus. »Mit Balin hatten Frin und Dís erst vor Kurzem das Thema.«
»So ein Spielverderber!«, stellt Nár leise fest.
Von neuem brandete Duft im Zimmer auf, der dem Wolf das Wasser in der Schnauze zusammenlaufen ließ. Würzig und reichhaltig.
»Willst du wirklich den Wolf zu einem Schoßhund machen?«, hörte er den Jäger fragen. Der hatte sich neben den Holzfäller auf die Matratze fallen lassen und ihn an sich herangezogen. Zögernd trat der Wolf wieder näher und sah, dass die Männer so dicht beieinanderlagen, dass kein Haar mehr zwischen sie gepasst hätte.
»Ich wollte ihn nie dazu machen«, widersprach der Holzfäller. »Doch ich werde ihn solange hier behalten, bis seine Wunde verheilt ist. Verletzt wäre er nur eine Gefahr für alle, insbesondere für sich selbst.«
Der Jäger schnaufte und betrachtete nachdenklich den Wolf. »Du wirst ihn danach auch nicht gehenlassen können. Er ist auf dich geprägt. Umsonst hatte er nicht den ganzen Weg auf sich genommen, um bei dir sein zu können.«
»Kommt Zeit, kommt Rat«, erwiderte der Holzfäller. »In einigen Tagen muss ich wieder an die Arbeit. Dann werde ich ihn mitnehmen und es ihm überlassen, ob er in den Wald zurückkehrt.«
»Er hätte ganz einfach den Wolf nicht füttern dürfen, dann wäre er ihm nicht hinterher gerannt«, stellt Dís fest. Im nächsten Moment gähnt sie herzhaft.
Thror zwinkert ihr zu. »Kluges Mädchen. Und wir machen für heute Schluss. Morgen ist auch noch ein Tag.«
Um Aufmerksamkeit heischend hebt Nár eine Hand und blickt ihre jungen Gäste fragend an, wobei sein besonderes Augenmerk auf Dís liegt. »Nun? Entspricht die Geschichte einem Mädchenmärchen? Zu viel Gehechele und Gesabbere?«
Nachdenklich legt Dís die Stirn in Falten, tippt sich überlegend gegen die Nasenspitze. »Gehechelt und gesabbert wurde tatsächlich, aber nur vom Wolf. Aber wo ist dabei das Märchenhafte? Da war bisher noch gar nichts.«
Frerin nickt bekräftigend. »Ausnahmsweise muss ich meiner kleinen Schwester Recht geben. Keine Zauberei – also kein Märchen.«
»Wie willst du die Ansprüche deiner Enkelkinder befriedigen?« Nár hat es sich in seinem Sessel bequem gemacht, in der Hand bereits einen Becher mit Wein, dessen Aroma durch das Gemach zieht. Wärme und Gewürze, die nicht die Haut berühren, jedoch die Sinne.
Während er sein Getränk genießt, stapft der König unter dem Berg um den Kissenberg herum, begutachtet die Vorbereitungen für die abendliche Stunde mit den Enkeln. Eher mit einer nachlässigen Bewegung zieht er im Vorbeigehen den dicken Folianten aus dem Regal, betrachtet ihn einen Moment. Bevor er ihn sich unter dem Arm klemmt, streicht er in einer liebevollen Geste über den Buchdeckel. »Ich weiß schon wie«, erwidert er und zwinkert seinem Gefährten verschwörerisch zu. »Und ich denke, du hast eine Ahnung. Ich bin ja schon heilfroh, dass die Zwerglinge die Geschichte zu mögen scheinen.«
Verständnisvoll nickt Nár. »Wenn sie es nicht täten, müsstest du etwas anderes erzählen.«
»Und ich habe keine Ahnung, was es sein könnte. Ich habe keine Ausweichmöglichkeit«, gibt Thror mit einem tiefen Schnaufen zu und lässt sich in den Sessel fallen. »Vielleicht ist es ganz gut, dass heute die letzte Stunde sein wird. Da ...«
»Du willst heute schon Schluss machen?«, unterbricht ihn sein Gefährte erstaunt. »Das wird den Kindern überhaupt nicht gefallen. Und mir auch nicht.«
»Ich kann nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag das Märchen ausweiten und darauf vertrauen, dass ich den Geschmack meiner Enkel treffe. Nein, nein, heute ist Schluss.«
Leise lacht Nár. »Du könntest den größten Blödsinn erzählen. Sie würden trotzdem an deinen Lippen hängen, als würdest du die großartigsten Wahrheiten verkünden.«
Ein scharfer Blick aus zusammengekniffenen Augen trifft ihn.
»Willst du etwa andeuten, ich würde das nicht tun?« Lachfalten tanzen um die Augen des Königs. Diese vertiefen sich noch mehr, als in diesem Moment die Tür geöffnet wird und die Gäste eintreten. Dieses Mal ruhig und eher still, auch wenn Dís Zöpfe bei jeder Bewegung wie aufgeregt schwingen und hüpfen.
Artig begrüßen sie die alt... ähhh ... älteren Herrschaften, ehe sie sich ebenso ruhig und gesittet auf dem Kissenberg niederlassen.
»Ich habe heute einen Elben gesehen, der sein Pferd bestiegen hat«, eröffnet Dís mit ernstem Gesicht, gleich darauf kichert sie. Zuerst noch hinter vorgehaltener Hand, schließlich lacht sie herzhaft. »Er stand gerade hinter dem Gaul und es sah tatsächlich aus, als ob ...«
Thror zieht eine königliche Augenbraue hoch, während Nár sein Grinsen hinter seinem Becher verbirgt. Thorin versucht, seine Belustigung mit einem todernsten Gesicht in die Flucht zu schlagen und Freríns Lachen ist ebenso laut, wie das seiner Schwester.
»Wir müssen mehr auf unsere Wortwahl achten«, stellt der König ruhig fest. »Ich werde morgen Balin aufsuchen, dass er euch einige lehrreiche Aufgaben gibt.«
Sofortige Stille.
»Spielverderber«, murmelt Nár in seinen Becher, woraufhin ihn ein weiterer scharfer Blick trifft. »Na ist doch wahr!«, verteidigt der Zwerg seine kleine verbale Entgleisung. »Wenn wir hinter geschlossenen Türen keine Wortspielereien machen können, könnten wir die Märchenstunden gleich sein lassen.«
»Nein, nein, nein!« Dís Zöpfe schwingen nervös auf und ab. »Das darf nicht sein!«
Sogar Thorin scheint entsetzt über die Wendung des Augenblicks. »Wir sind stets höflich gegenüber anderen. Das schließt die Elben mit ein, die auf uns herabblicken.«
Wieder herrscht Ruhe im Gemach, die nur vom Prasseln des Feuers im Kamin erfüllt wird.
In einer müden Geste streicht sich der König über das Gesicht, blickt auf das Buch auf seinem Schoß. »Verzeiht mir, aber ...« Die Stille scheint sich noch zu vertiefen. Angst- und sorgenvoll, ist sie und fast greifbar und spröde. »Verzeiht mir, aber ...«, beginnt er ein weiteres Mal, doch sieht er nun auf, direkt in die angespannten Gesichter seiner Enkel. Er wusste, was sie sehen. Lachfalten um funkelnde Augen, Heiterkeit und unbändige Belustigung.
»Großvater!«, ruft Frerín aus. »Du hast uns auf den Arm genommen!«
Ablehnend schüttelt der König den Kopf. »So etwas würde ich niemals tun. Da würde ich mir ja den Rücken verrenken!«
»Also keinen zusätzlichen Unterricht?«, hakt Dís nach. Rein sicherheitshalber.
Thror zwinkert ihr zu. »Selbstverständlich nicht, mein Schatz«, versichert er ihr und schlägt endlich das Buch auf.
In der folgenden Zeit blieb der Wolf beim Holzfäller, der täglich die Wunde überprüfte und sie reinigte. Doch schmerzte diese kaum noch und behinderte ihn auch nicht, wenn er durch den Garten lief. Das Tor war nun immer geschlossen, aber der Zaun stellte für ihn kein Hindernis dar. Es wäre ein Leichtes, ihn zu überwinden, nur dass der Wolf es nie in Erwägung zog. Das lag nicht daran, dass er täglich Fleisch und Suppe vorgesetzt bekam und für keinen Augenblick hungern musste. Es lag an dem Mann, der ihm das Gefühl gab, ein geachtetes Mitglied eines Rudels zu sein. Aber das war es nicht allein. Da war noch so viel mehr. Etwas vollzog sich in seinem Inneren, wenn der Holzfäller ihn ansah, mit ihm sprach, als würde er sich mit dem Jäger unterhalten.
Dieser kam an jedem Abend in die kleine Hütte am Dorfrand und sobald sie das Nachtmahl gemeinsam eingenommen hatten, gingen die beiden Männer in die kleine Kammer, die der Wolf nun nicht mehr betreten durfte. Seit jenem Abend blieb die Tür für ihn verschlossen. Aber die Geräusche und der Duft, die durch die Ritzen hindurch seine Ohren und seine Nase kitzelten, erzählten ihm, was dort geschah. Bilder aus Leidenschaft, Verlangen und Hitze wurden vor seinen Augen erschaffen. Sie erregten ihn auf seltsame Weise und mehr als einmal wollte er an dem Türholz kratzend um Einlass bitten. Dann zog sich der Wolf auf die Decke vor dem Kamin zurück, wo er die Wärme auf seinem Fell spürte, während sein Herz an der kalten Einsamkeit und der Sehnsucht zu zerbrechen drohte. Zu gern wäre er bei den Männern, die sich nun in der Stille bestimmt atemlos aneinanderschmiegten. Wenn er dürfte, würde er zu ihnen unter die Decke schlüpfen und ihnen den Schweiß von der warmen Haut lecken. Aber das würde niemals geschehen. Der Wolf wusste das. So lange er sich innerhalb dieser aus Holz und Stein errichteten Höhle befand, war er nicht mehr als ein Hund. Geboren, um dem Menschen zu dienen und ihn zu erfreuen.
»Bald kannst du wieder durch die Wälder laufen«, sagte sein Mensch und kraulte ihm hinter dem Ohr. Eine wunderbare Geste, an die sich der Wolf schnell gewöhnt hatte und ihm sein Dilemma nur umso deutlicher vor Augen führte. Er wollte dem Holzfäller gefallen, wollte ihn erfreuen wie ein tumber Dorfköter. »Tomasz wird dich in den nächsten Tagen in den Wald mitnehmen. Dorthin gehörst du.«
Unwillkürlich wich der Wolf vor der streichelnden Hand zurück und blickte in sorgenvolle Augen, auf ein trauriges Lächeln. »Ich hätte dich für keinen Tag hierbehalten dürfen. Tomasz hat Recht: Du bist ein Wolf. Aber es fällt mir schwer, dich als solcher zu behandeln. Du bist mir so sehr ans Herz gewachsen, dass ich manchmal denke, du hättest schon immer zu uns gehört.«
Genauso empfand der Wolf und ein Winseln entkam ihm. Eilig drängte er sich an seinen Menschen, leckte dessen Hand, wollte ihm zu verstehen geben, dass es ihn ebenso erging.
»Willst du mir etwa meinen Liebsten abspenstig machen?«, erklang in dem Moment die tiefe Stimme des Jägers. Dieser hatte soeben die Hütte betreten, seine Flinte in die Ecke gestellt und kam nun auf den Wolf und seinem Menschen zu.
Doch das Tier ließ sich von dem Jäger nicht beeindrucken, schmiegte sich nur stärker gegen den warmen Körper des Holzfällers und begann, jeden offen liegenden Flecken Haut mit seiner Zunge zu berühren.
»Ih! Hundesabber!«, murmelt Dís und wird von Frerín prompt ebenso leise verbessert.
»Wolfsabber.« Jede weitere Diskussion darüber geht im Knuspern der Kekse unter.
Unter Lachen brach er unter dem Wolf zusammen, der seine Bemühungen nun auf Hals und Gesicht des Mannes konzentrierte.
»Er wird dich noch zu Tode lieben!«, grollte der Jäger, schob den Wolf zur Seite und zog den Holzfäller in seine Arme.
Dieser grinste zu seinem Liebsten auf. »Und wenn es so wäre? Was würdest du dagegen tun?«
»Es ist nicht der Fehler des Tieres, das es dich vergöttert, mein Rune«, wird er vom Jäger zurechtgewiesen, trotz der brüsken Reaktion liebevoll. »Er würde jedem seine Zuneigung schenken, wenn er dafür nur etwas Futter erhält.«
Still war der Wolf zurückgetreten, beobachtete das Geschehen und hätte dem Jäger widersprochen, wenn er es gekonnt hätte. Doch es war so, wie der Mann sagte: Allein das Futter hatte den Holzfäller für ihn interessant gemacht. Erst danach hatte er den Duft bemerkt und ihn nicht mehr losgelassen.
Leise lacht der Mann in den Armen des Jägers. »Willst du womöglich seine Zuneigung auf die gleiche Weise erkaufen?«
»Keineswegs«, grollte der andere. »Es sei denn, du willst ihn hier und im Haus behalten. Du weißt, dass ich für dich auch einen Bären zähmen würde. Aber ich verstehe seine Anhänglichkeit. Du hast sein Herz ebenso schnell erobert, wie meines. Es war dir zugeflogen.«
»Mir erging es mit dir genau so. Du hast mein Herz gestohlen.« Der Holzfäller wandt sich aus der Umarmung. Alle Heiterkeit war verschwunden und Traurigkeit bestimmte seine Miene, als sein Blick zwischen dem Tier und seinem Liebsten hin und her wanderte. Mit einem leisen Seufzen wandte er sich dem Fenster zu, als bräuchte er die Weite davor, um sich wiederzufinden. »Den Wolf mag ich auch. Aber sein Leben ist im Wald. Das ist seine Welt. Hier würde er zugrunde gehen. Dich darf ich an meiner Seite behalten, aber er gehört nicht hierher. Ihn muss ich gehen lassen.«
»Morgen früh«, stimmte der Jäger leise zu. »Morgen früh nehme ich ihn mit.«
»Ich hoffe doch, du bist nicht so gemein und lässt den Jäger ihm das Fell abziehen.« Thorin klingt schroff und scharf. Ganz im Gegensatz zu seiner lässigen und bequemen Haltung, mit der er in den Kissen lümmelt.
Ein ebenso schroffer und scharfer Blick aus königlichen und zwergenprinzessinnen Augen trifft ihn. Bestimmt wäre er von einem, zweien oder gar drei Blitzen getroffen worden, würde er sich nicht im Gemach des Königs aufhalten. Tief, tief im Erebor verborgen.
In dieser Nacht blieb es still in der Kammer, doch trotzdem konnte der Wolf lange keinen Schlaf finden. Die nächtlichen Geräusche waren ihm lieber, als die Ruhe.
Noch vor dem Morgengrauen griff der Jäger nach seiner Büchse ...
Leises Kichern ist im Gemach zu vernehmen, das sofort verstummt, als Thror seinen Blick schweifen lässt.
Die Sonne färbte im Osten den Himmel und es versprach ein schöner Sommertag zu werden, als der Jäger nach seiner Flinte griff. Er öffnete die Haustür und trat in den Morgen hinaus. Der Wolf folgte ihm langsamer. Am Tor wandte er sich um und tat es somit dem Jäger gleich, der ebenfalls zurück auf Rune blickte. Dieser stand in der Tür und sah ihnen hinterher. Trauer lag auf seinem Gesicht und färbte seine Augen.
Dieses Bild nahm der Wolf mit, als sie dem Weg aus dem Dorf hinaus folgten und in die Schatten des Waldes eintauchten.
Aus dem Weg wurde bald ein Pfad und schließlich ein Wildwechsel, der sich irgendwann in undurchdringlichem Dickicht verlief. Hier standen die Bäume dicht beisammen und es war dunkel unter dem verzweigten Geäst. Schlussendlich gelangten sie an einen Felsen, der sich aus dem Wald erhob.
»Hier wirst du Höhlen finden und dir dein eigenes Revier erschaffen können«, sagte der Jägersmann nach einem zufriedenen Blick in die Runde, »und dein eigenes Rudel. Spuren von Menschen habe ich hier keine entdeckt, aber das von Wild. Du bist kräftig und schnell. So wirst du kein Hunger leiden müssen.« Sprach er, schulterte seine Flinte und drehte sich um. »Hier wirst du ein besseres Leben haben, als bei Rune und mir«, sagte er über die Schulter, ohne den Wolf direkt anzusehen. Tief seufzte er. »Wir sind nicht dafür geboren, dir ein Heim zu bieten, so, wie du nicht dafür gemacht bis, ein Leben als Hund führen zu müssen.«
Ich will kein Heim! Ich brauch ein Rudel, wollte der Wolf erwidern, doch stahl sich nur ein dunkles Knurren seine Kehle hinauf. Ich will Teil eures Rudels sein. Ich will das, was ihr miteinander teilt. Ich will ein Teil von euch sein.
»Ich werde dich vermissen, Wolf«, hörte er den Jäger sagen, bevor dieser den Rückweg antrag.
Für einige Tage trieb sich der Wolf am Berg herum. Tatsächlich fand er eine Höhle, die trocken und in der Sommerhitze angenehm kühl war. Von hier aus hatte er einen guten Blick auf eine Lichtung, deren Gräser sanft im Sommerwind schwankten. Rehe und Hasen waren hier des Morgens unterwegs und tranken das Wasser am nahen Bach. Ja, der Jäger hatte Recht: Es ging ihm hier gut. Zumindest würde es das, wenn ihm die Brust nicht vor Sehnsucht nach dem Holzfäller und auch dem Jäger schmerzen und ihm vor lauter Qual der Appetit fernbleiben würde. Für Hase und Reh war er kaum eine Gefahr. Auch für die Mäuse nicht, die unbedingt nachsehen mussten, wer sich in der Höhle niedergelassen hatte. Er musste sich dazu zwingen, auf die Jagd zu gehen. Kraftlos fühlte er sich, antriebslos. Als wäre er bereits gestorben, obwohl sein Herz noch immer schlug.
Es war, als wäre es von ihm losgelöst.
Als ihm der Gedanke kam, horchte er in sich hinein, suchte nach der Ursache für sein Leiden. Tatsächlich fand er sie. Er hatte sein Herz verloren und andere gefunden. Sie waren Eins. Ein Herzschlag. Aber wie konnte es sein? Er musste dieser Frage auf den Grund gehen und noch in der gleichen Stunde machte er sich auf den Weg zurück zum Dorf.
Der Wolf folgte der bereits verblassenden Spur des Jägers, die ihm süß in der Nase kitzelte. Der Duft war ihm wie das Versprechen des Heimkommens, durchdrungen von seinem eigenen. Nur der des Holzfällers fehlte. In der Sehnsucht gefangen, diesen Missstand auszumerzen, eilte er vorwärts und noch am Abend erreichte er die kleine Hütte am Dorfrand. Das Tor stand wie beim ersten Mal offen und lud zum Eintreten ein. Doch was er sah, ließ ihm angstvoll Winseln.
Unter seinen Pfoten stob der Kiesweg staubig auf, der zuvor saftiggrüne Rasen war trocken und bleich. Auf den Beeten lagen die Sommerblumen matt und vergessen und Risse zogen sich durch die trockene Krume. Dem Wolf bot sich ein Bild der Vernachlässigung und Furcht krampfte sein Herz zusammen.
Eilig strebte er auf die Hüttentür zu. Sie war verschlossen und auch auf heftiges Kratzen am Holz erhielt er keine Reaktion aus dem Inneren. Auf der Suche nach einer anderen Möglichkeit in die Hütte zu gelangen, entdeckte er das Fenster, von dem der Holzfäller gern in den Garten hinausgeblickt hatte.
Glas splitterte und ritzte seine empfindliche Nase, als er durch die Scheibe sprang. Aber das kümmerte ihn nicht. Wichtiger war, den Ursprung des üblen Geruchs zu finden, der in der Stube hing. Er war sauer, unrein und hing wie fauliger Sirup in der Luft. Zäh und klebrig wie Honig.
Zögernd und auf unsicheren Pfoten tappte der Wolf durch die Stube auf die Tür zur Kammer zu. Diese war nur angelehnt und Stille war von dort zu hören. Eine dünne Spur aus Blut blieb zurück, als der Wolf die Tür weiter aufschob. Hier war die Quelle des Geruchs, direkt vor ihm, in der Mitte des Nachtlagers.
Ein Berg aus Decken und Kissen türmte sich dort auf ...
Ein schnüffelndes Geräusch ist zu vernehmen. Eindeutig von Dís. »Frin! Warst du das etwa?«
In überzeugend gespielter Unschuld schüttelt Frerin den Kopf und deutet auf Thorin. »Er war das.«
Dieser sieht seine jüngeren Geschwister nur mit hochgezogener Augenbraue an. »Fertig mit euren Anschuldigungen?« Im nächsten Moment zuckt ein verschmitztes Lächeln um seinen Mund. »Wer’s als erster gerochen, dem ist’s aus dem ... Poppsch gekrochen.«
Obwohl er ein Lachen kaum unterdrücken kann, ruft Nár sie mit einem schlichten »Kinder« zur Ordnung.
Und in dem Berg schien Leben zu existieren. Er bebte leicht und leise Geräusche waren zu hören.
Langsam ging der Wolf um das Bett herum, bis er einen besseren Blick hatte.
Er entdeckte den Holzfäller, der ihn aus müden und glasigen Augen entgegensah. Seine Haut war bleich und seine schönen Lippen wirkten spröde und aufgerissen, so wie der Boden im Garten. Als hätte die Sonne ihn ausgedörrt.
»Wolf!«, hörte er ihn flüstern und eine Hand streckte sich nach ihm aus. »Ich hätte dich nicht gehen lassen dürfen. Du ...« Die Stimme versagte ihm, doch der Wolf verstand ihn, und ein Winseln entkam seiner Kehle.
Du bist ein Teil von mir.
Zu gern wäre er auf das Bett gesprungen, um sich zum Holzfäller zu legen. Er wollte ihn trösten und ihn spüren lassen, dass er wusste, was er hatte sagen wollen. Aber der Jäger hatte es verboten. Kein Tier kommt mir ins Bett, hatte er gesagt. Kein Tier mit Fell! Dem Wolf blieb daher nichts anderes, als den Kopf den ausgestreckten Fingern entgegenzurecken.
»Du blutest«, stellte der Holzfäller müde fest. »Tomasz will dich holen«, erzählte er mit leiser Stimme weiter. »Am Morgen ist er losgegangen, ehe auch ihn die Kräfte verlassen. Wir wissen nicht, was mit uns geschieht, aber wir wussten, dass du bei uns sein musst.«
Er selbst verspürte auch diese Dringlichkeit. Nachdenklich legte er das Haupt auf dem Laken ab, wo die kühlen Finger weiterhin über sein Fell streicheln konnten.
»Komm her«, flüsterte Rune lockend. »Ich brauch deine Wärme, deine Nähe. Ich brauche dich, Wolf.«
Unwillkürlich wich er zurück, schüttelte den Kopf und ein Grollen entrang sich ihm. Der Jäger hatte es untersagt. Womöglich zöge er ihm eigenhändig das Fell ab, wenn er sich erdreisten sollte, sich zu seinem Liebsten zu legen. Aber zugleich wollte er alle Warnungen und Vorsicht in den Wind schlagen. Was ist ein Leben, ohne jemals gelebt zu haben? Was ist Leben, ohne seine Sehnsucht zu stillen? Gleichzeitig wusste er, dass er liebend gern bis in alle Ewigkeit in den Schatten der Liebe zwischen den beiden Männern leben wollte, wenn sie ihn nur in ihrer Mitte akzeptieren würden. Dann wäre er der glücklichste Wolf auf Erden. Das Eine wäre Sterben für einen Augenblick und das Andere ein Vegetieren.
Plötzlich glitt ein seltsames Flimmern durch seinen Leib, dem ein Schmerz folgte, als würde sein Körper entzweigerissen und falsch zusammengefügt werden. Knochen brachen, wurden lang, andere wurden kurz, verschoben sich. Er fühlte sich schwach und ein unwirkliches Heulen entsprang seiner Kehle, das nicht seines sein konnte. Es klang fremd und fremd fühlte sich sein Körper an. Kälte rann über seine Haut, über die er strich – mit Händen.
»Wolf?« Ungläubigkeit färbte die Stimme des Holzfällers, der sich schwach unter der Decke aufgerichtet hatte. »Bist du es wirklich? Wie?«
Staunend blickte der Wolf auf seine Hände, bewegte die Finger, schloss sie zu Fäusten und öffnete sie wieder, ehe er aufsah. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander, doch er konnte sie nicht fassen. Sie waren so flüchtig wie ein Traum. War es tatsächlich nur ein Traum?
Prüfend strich er über seine Arme, seine Brust, seine Beine und Füße, berührte die Zehen.
»Du bist ein Mensch!« Von ihm unbemerkt war der Holzfäller von der Matratze geglitten und hockte nun neben ihm auf dem Fußboden. Die Hand des Mannes zitterte, als er sie nach ihm ausstreckte und Wolfs Arm berührte. Sanft strich sie über dessen Haut, hinterließ eine Spur aus Kühle. »Du bist es wirklich. Aber wie kann es sein?« Im nächsten Moment lehnte der Holzfälle sich gegen den Wolf, die Stirn an dessen Schulter geborgen. »Ich habe dich vermisst. Wir haben dich vermisst. Ich hätte dich nicht gehen lassen dürfen«, wiederholte er. »Aber nun bist du hier.« Ein Arm schlang sich um die Brust des Wolfes. »Halt mich fest, Wolf.«
Er wollte es gern tun, aber nicht hier. Nicht auf dem harten Boden und in der kühlen Luft. Nur mühsam kam der Wolf mit den neuen Gliedmaßen zurecht. Sie waren sperrig und zu lang.
»Ganz meine Meinung«, murmelt Nár in seinen Bart hinein und genehmigt sich einen weiteren Schluck von seinem Wein. Angewidert verzieht er den Mund. »Bäh! Kalter Gewürzwein! Schreckliches Zeug.«
»Dann mach ihn heiß, mein Liebster.«
Nun ist es ein geradezu seliges Lächeln, das die Lippen des Gefährten des Königs unter dem Berg formt. »Das machst du schon.«
Und tatsächlich werden die Ohrspitzen des Königs etwas rot.
Mit einigen Mühen hatte sich der Wolf aufrichten und den Holzfäller zurück auf die Matratze heben können. Nun lagen sie aneinandergeschmiegt der Bettdecke und in der Wärme, die nach seinem Menschen und dessen Mann duftete. Nur noch ein leichter Hauch erinnerte an den üblen Geruch, aber auch dieser verflog, während er für einen Moment die Augen schloss und dem Gefühl der Nähe zu Rune nachspürte. Haut an Haut. Es war berauschend. Wie ein Traum.
Aus nächster Nähe sah der Wolf in das Gesicht seines Menschen. Noch immer lagen dunkle Schatten unter seinen Augen, doch wirkten sie nicht mehr müde. Eher neugierig und staunend. »Du lächelst«, flüsterte er. »Das ist schön.«
Ich lächle?, wollte der Wolf fragen, doch hatte er Mühe, die Worte zu formen. Ungeübte Zunge, steife Lippen. Er versuchte, den Mund zu bewegen, aber mehr als ein leises Ah entkam ihm nicht.
»Du bist schön«, erzählte Rune weiter und hob eine Hand. Mit den Fingerspitzen strich er über die nutzlosen Lippen, die glatte Haut seines Gesichts. »Wunderschön.« Zugleich schien er sich mit Fühlen und Sehen jede kleine Einzelheit einzuprägen. »Tomasz wird sich die Augen an dir ausgucken.«
Wieder versuchte der Wolf zu sprechen, harte Töne mit Zunge und Rachen. »Kein Tier«, brachte er schließlich hervor.
Unbändiges Staunen erhellte Runes Gesicht. »Nein, kein Tier«, stimmte er ihm zu. »Ein Mensch, ein Mann, mit wundervollen Augen, die mich an die des Wolfs erinnern. Golden wie eine Kerzenflamme. Und mit ihnen blickst du mir in die Seele.« Mit einem tiefen Seufzen schloss er die Lider. »Ich spüre die Verbindung zwischen dir und mir und Tomasz. Wir gehören zusammen und jetzt, wo du zurückgefunden hast, fühle ich eine seltsame Lebendigkeit, die mich durchströmt. Ich kann wieder freier atmen. Es ist wie ein Band, das uns aneinanderbindet.«
Der Wolf verstand. »Herz«, hauchte er. »Nun heil.«
»So ist es.« Rune neigte sich leicht vor und sanft strichen seine Lippen über die des Wolfs. »Mit Tomasz an unserer Seite werden wir endlich ein Ganzes sein.«
Eilige Schritte erklangen auf dem Kiesweg und dann im Haus. Glas knirschte unter festen Sohlen. »Rune?« Sorge färbte die Stimme des Jägers, dann polterte etwas und scharrte, als würde es in Eile zur Seite gestoßen. Nur einen Moment später stand der Mann in der Kammertür und sein Blick huschte prüfend durch den Raum. »Rune?«, fragte er ein weiteres Mal, ehe er um das Bett herumtrat.
Mit versteinerter Miene blieb er stehen und sah auf das Bild hinab, das sich ihm bot. Plötzlich riss er mit einem lauten Brüllen sein Jagdmesser aus der Scheide, während er mit der anderen nach einem Fuß des Wolfs griff und begann, ihn aus dem Bett zu zerren.
»Ich gehe los, um den Wolf zu suchen und ihn heimzubringen«, rief er aufgebracht mit erhobenem Messer, bereit zuzustechen. Verzweiflung verzerrte sein Gesicht, als er den Blick zu seinem Liebsten hob. Voller Anklage. »Und du holst dir einen Anderen ins Bett. Wie oft hast du schon so falsch mit mir gespielt, Rune?«
Mit erhobenen Händen warf sich Rune ihm entgegen. »Halt ein, Tomasz!«, beschwor er ihn. »Nimm dir die Zeit und sieh ihn dir an! Es ist der Wolf!«
»Was willst du mir weismachen?« Aber trotz seiner Wut verharrte der Jäger, sah auf den am Boden liegenden nieder. »Was ist das für eine Teufelei?«
»Keine Teufelei, mein Liebster. Er ist es wirklich. Plötzlich war er ein Mann«, versicherte der Holzfäller und half dem Wolf zurück auf die Matratze. »Noch ist er etwas wackelig auf den Beinen und das Sprechen fällt ihm schwer. Aber er ist es tatsächlich. Mit eigenen Augen habe ich die Wandlung gesehen.«
»Aber warum?«, hakte Tomasz nach.
»Du sag, kein Tier im Bett.« Goldene Augen sahen den Jäger an. »Ich kein Tier. Spüre Schmerz hier.« Mit einer harten Geste hieb er sich auf die Brust. »Ich musste kommen.«
Tomasz sank vor ihm auf die Knie. Das Messer war vergessen und entglitt seinen Fingern. »Du hast gut daran getan«, flüsterte er. »Auch ich spürte den Schmerz, aber mein Rune litt besonders.« Zögernd hob er eine Hand, doch berührte er ihn nicht. »Ich weiß nicht, wie es sein kann, aber du gehörst zu uns.«
»Mein Rudel«, flüsterte der Wolf und neigte sich unwillkürlich dem Jäger zu. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen.
»Es wird mehr sein«, versprach Tomasz. »Ich werde dich genauso verehren und lieben wie Rune. Schon jetzt spüre ich, wie es mich zu dich zieht. Und ich sehe in deinen Augen, dass es dir ebenso ergeht.« Warme Hände strichen über seine Beine und Atem traf auf nackte Haut. Schauer rannen durch den Körper des Wolfs, unbekannte Regungen, die ihn verzückt seufzen ließen.
»Lass dich fallen.« Runes kühle Finger strichen über seine Schultern, forderten ihn auf, sich auf dem Laken zurückzulehnen. »Spüre, wie du zu uns gehören wirst. Fühle das Band, das sich jetzt schon festigt.« Lippen legt sich auf seine, zuerst so zart wie die Finger, die über seine Haut strichen. Doch schnell wurden sie fordernd und Hände schoben ihn weiter auf das Bett hinauf. Augenblicklich war Rune über ihm, küsste und berührte jeden Flecken seines Körpers. Bald war auch Tomasz bei ihm, kostete von seinen Lippen, tauchte mit seiner Zunge zwischen ihnen.
Der Wolf fühlte sich überwältigt, hoch in den Himmel gerissen und von Wellen aus Lava überspült. Nie hatte er Ähnliches erfahren, wie mit diesen Männern. Alles, was er sich seit jener ersten Nacht in diesem Haus erträumt hatte, schien nun wahr zu werden. Er fühlte, wie aller Schmerz und alle Sehnsucht aus seinem Körper floss. Die Leere wurde mit Nähe, Liebe und Vertrauen gefüllt bis er sich bersten fühlte.
Für einige Sekunden herrscht Stille im Gemach. Das Feuer im Kamin ist bereits weit heruntergebrannt und die Gebäckschalen sind geleert. Schließlich geht ein tiefes Seufzen durch den Raum.
»Ist etwa schon Schluss?«, fragt Dís erstaunt.
Grübelnd schiebt der König die Unterlippe vor. »Nein, das war ausreichend«, stellt er schließlich fest. »Was ich noch erzählen könnte, ist nicht für Zwerlingenohren gedacht.«
Frerín schnaubt amüsiert. »Du meinst wohl eher für Prinzessinnenohren.«
»Also gilt das für dich auch.« Auch Thorin klingt belustigt.
»Kinder! Es reicht«, ruft Nár sie ein weiteres Mal zur Ordnung. »Wenn euer Großvater sagt, es ist Schluss, dann ist auch Schluss. Im nächsten Winter wird es eine neue Geschichte geben.«
Schmollend steigt Dís vom Kissenberg herab. »Aber da fehlt doch noch was!«
Wieder blickt der König grübelnd.
Tag für Tag schmiedeten sie das Band aus Dreien von Neuem und wenn sie nicht gestorben sind, werden sie es wohl heute noch tun.
»Recht so?« Fragend sieht Thror sein jüngstes Enkelkind an.
Diese neigt leicht den Kopf zur Seite. »Ja«, sagt sie schließlich. »Das ist ein würdiger Abschluss.«
Trotz der Zustimmung der Prinzessin scheinen die Prinzen nicht ganz so zufrieden. »Viel zu kurzes Märchen«, mault Frerín leise Thorin zu, der ihm mit einem Nicken beipflichtet.
»Bald ist wieder Märchenstunde«, versucht Nár, die Zwerglinge zu trösten, doch blicken sie daraufhin nur noch trübseliger.
Thorin, der schwarzhaarige Zwergenprinz mit den blauen Augen, der Erbe von Durins Thron, fasst es mit einem traurigen Lächeln gekonnt in Worte.
»Leider erst im nächsten Winter.«
Tag der Veröffentlichung: 15.12.2021
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