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1. Abend

»Großvater! Ich muss mir dir reden!« Ohne irgendwelche Floskeln tritt Thorin dem Zwergenkönig entgegen, kaum dass dieser endlich aus dem Thronsaal hatte fliehen können. Und eine Flucht ist es tatsächlich.
»Muss das sein, Junge?«, brummt Thror ungehalten, während er den Flur hinunter eilt. Dabei nahm er keine Rücksicht darauf, ob sein erstgeborener Enkel ihm folgt oder nicht. »Nár wartet mit dem Abendessen auf mich und du weißt, wie gereizt er sein kann, wenn ich mich verspäte.«
»Genauso gereizt wie du, wenn du Hunger hast«, erwidert Thorin und erntet dafür einen bösen Seitenblick.
»Was lauerst du mich überhaupt auf?«, verlangt der König unter dem Berg, Herrscher über Erebor und Erbe von Durins Thron zu wissen, ohne im Schritt langsamer zu werden. »Kaum bin ich Thranduil entkommen, springst du mich aus den Schatten an.« Mit einem Schnauben reißt er sich die Krone vom Kopf, die schon schief über einem Ohr sitzt, und rafft mit der freien Hand das schwere Gewand, um freier laufen zu können. »Was bin ich? Sehe ich aus, wie eine fette Beute?«
»Die Kinder fragen sich, ob du sie vergessen hast.« Thorin hat die Worte leise und keinesfalls wie eine Anklage formuliert und doch treffen sie den Zwergenkönig so tief, dass sein Fuß stockt.
In dem einen Augenblick haben ihn Verärgerung über den Elbenkönig und Thorins Überfall vorwärts gejagt. Im nächsten rauben ihn Bestürzung und Trauer die Kraft für jede noch so kleine Bewegung. »Ich habe sie nicht vergessen«, murmelt er. »Und dich auch nicht«, fügt er eilig hinzu, als ein Geräusch ihn aufhorchen lässt. Prüfend blickt er den Flur entlang in die Richtung, in der der Thronsaal liegt. »Aber wir reden nicht hier. Hier werden Worte weit getragen. Zu weit.« Im nächsten Moment ist der Flur vom Rascheln seines wehenden Gewandes, das metallische Klimpern silberner Kettenglieder und die Schritte des Königs erfüllt, sodass sein Enkel Mühe hat, ihm zu folgen.
»Wurde aber auch Zeit!«, wird Thror von Nár empfangen, kaum dass er seine Räume betreten hat. »Und was treibt dich her, Thorin Thraínssohn?«
»Wir müssen reden«, antwortet Thror an seiner statt. Nachlässig wirft er einem dienstbaren Zwerg die Krone zu, während sich zwei weitere auf einen Wink von Nár hin daran machen, den König von der schweren Robe mit dem breiten Pelzkragen und dem Schmuck zu befreien. »Die Kinder sorgen sich. Sie glauben ...«
»... dass du sie vergessen hättest«, setzt Nár den Satz fort, während er dem König eigenhändig die Ringe von den Fingern zieht und sie in eine Schatulle legt. »Ich habe es dir gesagt.«
Thror schnaubt und hebt ergeben die Hände. »Ja, ja. Du hast es gesagt. Du bist mein Gewissen und nun reibst du mir meinen Fehler unter die Nase.«
»Eine hübsche Nase«, stellt Nár mit einem Zwinkern fest, ehe er wieder ernst wird. »Und du reibst es dir selbst drunter.«
Thorin gibt einen Laut von sich, der dem Schnauben seines Großvaters erstaunlich ähnlich ist. »Du lässt die Kinder einfach warten, obwohl du es besser weißt?« Blaue Augen blitzen den König ungehalten an. »Das ganze Jahr über freuen sie sich auf dein Märchen. Seit Wochen erzählen sie von nichts anderem und rätseln, ob du selbst das Märchen aussuchst oder sie und für welches sie sich entscheiden sollen. Ja, sie überlegen sogar, wer der Prinz sein soll. – und du sprichst nicht mit ihnen.« Unübersehbar spiegeln sich die Fassungslosigkeit und die Enttäuschung über dieses Verhalten auf dem Gesicht des jungen Zwergs wider.
Nun in einen bequemen Hausmantel gekleidet, lässt sich Thror in den Sessel sinken. Müde wischt er sich über die Stirn, ehe er sich seinem Enkel zuwendet. Groß und stattlich ist der Junge geworden, wie ihm bewusst wird, als er zu ihm aufsieht. Viel zu selten nimmt man es wahr und dann ist man über eine solche Selbstverständlichkeit mehr als erstaunt. Die schwarzen Locken hat Thorin zu einem dicken Zopf am Hinterkopf zusammengefasst und dieser Umstand betont das zornige Funkeln der blauen Augen. Diese sind nur eine Spur heller als der nachtblaue Rock, den er bevorzugt und dessen Säume mit Stickereien verziert sind, die silbern im Licht der Kerzen und des Kaminfeuers schimmern.
»Es war nicht meine Absicht, euch zu verletzen«, gibt Thror zu. »Ich wollte nur verhindern, dass Thranduil wieder am Märchenabend teilnimmt. Dass ich darauf achten muss, was ich erzähle, weil der Mann ein zu unberechenbares Wesen hat. Ein Mal lasse ich es mir gefallen. Auf ein weiteres Mall kann ich gut verzichten.«
Augenblicke der Stille folgen dem Geständnis. »Warum sprichst du dann nicht mit uns?«, verlangt dann Thorin zu wissen, was sein gutes Recht ist. »Du ahnst nicht, wie traurig Dís und Frin sind. Und auch ich habe mich auf die Abende gefreut.«
»Da hast du den Salat!«, klagt nun Nár seinen Liebsten an. »Die Kinder sind todunglücklich, nur weil du Stiesel nicht die Klappe aufmachst!«
Thror winkt seinen Enkel näher und mit einer simplen Geste fordert er ihn auf, neben seinem Sessel auf die Knie zu gehen. »Es war wirklich keine Absicht, Frin, Dís und dich zu verletzen«, sagt er ein weiteres Mal mit leiser Stimme, sobald Thorin seiner Bitte nachgekommen war. »Ich war im Glauben, ihr hättet es vergessen, da ihr nichts sagtet. Aber ich hatte auch gehofft, dass ich Thranduil schneller abwimmeln könnte. Dass er es scheinbar darauf anlegte, aus nichtigen Gründen länger zu bleiben, hatte ich nicht ahnen können.«
»Hast du auch mal daran gedacht, dass er womöglich auf eine Einladung von dir wartet?«, gibt Thorin zu bedenken. »Vielleicht hatte er die Abende so genossen, dass er auf eine Wiederholung hofft.«
»Nein, daran habe ich für keinen Moment gedacht.« Mit einem traurigen Lächeln schüttelt der König unter dem Berg den Kopf. »Es will mir scheinen, dass ich tatsächlich ein Stiesel bin. Ihr habt vollkommen Recht: Ich hätte mit euch reden sollen.«
Nár kichert. »Egal, wie alt man wird – man lernt nie aus«, lässt er sich vernehmen, was dem König ein glucksendes Lachen entlockt.
»Du meinst wohl eher: Späte Einsicht ist besser als keine.«
Neckend zuckt Nár mit einer Schulter. »Ganz wie du meinst, mein Lieber. Aber das Ergebnis zählt und dass die Kinder endlich zu ihrem Märchen kommen.«
Mahnend hebt der König einen Finger. »Aber erst, wenn das Elbenpack den Erebor verlassen hat.« Im nächsten Augenblick ergreift er Thorins Hand, die auf der Armlehne liegt. »Sag deinen Geschwistern, dass ich sie nicht vergessen habe und ich werde mir etwas Besonderes für sie und für dich einfallen lassen. Aber das ist unser Geheimnis. Hörst du? Die Elben dürfen davon nichts erfahren.« Die Forderung ist nicht nur an Thorin gerichtet, sondern auch an die Zwerge, die still und unbemerkt den Tisch gedeckt und das Abendessen aufgetragen haben.
»Was in deinen Räumen gesagt und getan wird, dringt nicht nach außen«, erwidert der Zwerg, der soeben das Kaminfeuer geschürt hat. »Du kannst auf unsere Verschwiegenheit zählen, so wie in den vergangenen Jahren.«
»Das soll keine Unterstellung sein«, erwidert Thror. »Ich möchte es nur gesagt haben.«
»Thror, mein Liebster!« Nár verdreht die Augen. »In manchen Angelegenheiten erzählst du zu wenig und in anderen zu viel. Lass unsere dienstbaren Geister machen, wie sie es gewohnt sind. Sie wissen, was ihre Pflichten aber auch ihre Rechte sind und sie stehen loyal zu deinem Haus.«
»Oh, du hast so recht, mein Lieber! Ich bin ein alter Narr, der immer das Falsche sagt.« Beschämt wendet Thror sich ab.
»Das wird wohl kaum der Wahrheit entsprechen«, erwidert Thorin und erhebt sich. »Wenn du immer das Falsche sagen würdest, würden weder Thranduil noch Girion oder der Meister von Esgaroth den Erebor Jahr für Jahr als Arena der Eitelkeiten nutzen.«
»Bravo, mein Junge!«, ruft Nár und applaudiert dem Zwergenprinzen. »Das hast du perfekt ausgedrückt. Bessere Worte hätte selbst dein Großvater nicht finden können! Aber nun: Gönne dem alten Herrn den Abend und beruhige deine Geschwister.«
Der junge Zwerg hat noch das Grummeln des Königs im Ohr, als er auf den dunklen Flur tritt und zu seinen und den Räumen seiner Geschwister eilt.

2. Abend

 Auch eine Woche später hält sich der König der Waldelben noch immer im Erebor auf und macht keine Anstalten, die Rückreise anzutreten. Sogar Fürst Girion und der Meister von Esgaroth waren abgereist, nicht ohne einen letzten erstaunten Blick auf Thranduil zu werfen. Nun, mit dem Wissen, auf was Thranduil hofft, ist Thror geradezu amüsiert und bemitleidet die Kuriere, die zwischen den Gästequartieren in den Hallen des Erebos und dem Palast des Königs der Waldlandelben hin und her eilen.
»Mir tun die Reittiere leid«, murmelt Thror und blickt einem Boten hinterher, der auf die Straße von Thal zuhält. »Kein Tier sollte darunter leiden, wenn sein Herr schlecht geschlafen hat.«
»Das gilt nicht nur für Tiere.«
Erstaunt wendet sich der Zwergenkönig zu Thorin um und von den Zinnen ab. Von hier hat er einen vorzüglichen Blick auf die vorgelagerte Stadt und dem Fürstenpalast und bei klarer Luft auch die Stadt auf dem langen See. »Musst du dich so an mich heranschleichen?« Grummelnd rafft er den Umhang und bedeutet seinem Enkel ihm in den Thronsaal zurück zu folgen.
»Der wievielte Bote war es heute?«, fragt der junge Zwerg, ohne auf die Beschwerde einzugehen.
»Der Vierte!«, verkündet Thror und gar nicht mehr so grummelig zwinkert er Thorin zu. »Gestern waren es noch drei und in der Woche zuvor zwei. Es wird nicht mehr lange dauern, bis er die Sachen packen muss, weil in seinem Reich alles drunter und drüber geht.«
Thorin bläst die glattrasierten Wangen, wirft einen Blick zurück auf den Kurier, von dem nur noch eine Staubwolke zu sehen ist. »Also, du hast nicht ...«
»Also was bringt dich her?«, wird er von seinem Großvater unterbrochen. »Sind es deine Geschwister? Du kannst ihnen sagen, dass ich sie nicht vergessen habe.«
»Du kennst die Kinder gut«, stellt Thorin fest, während er neben dem König auf den Thron zuschreitet, über welchem der Arkenstein leuchtet. »Du weißt, wie mürrisch Dís wird, wenn sie glaubt, ihren Willen nicht zu bekommen.«
In gespieltem Erstaunen hebt Thror die buschigen Augenbrauen. »Ich kann mich an einen kleinen Zwergenprinzen erinnern, der sehr ungehalten werden konnte, wenn es nicht nach seiner Nase ging.«
Ein weiteres Mal bläst Thorin die Wangen. »Du übertreibst, Großvater! Ich bin immer ausgeglichen.«
»Habe ich einen Namen genannt?«, fragte Thror belustigt. »Vielleicht habe ich von deinem Bruder gesprochen. Oder deinem Vater.«
»Und nun nimmst du mich auf den Arm!«, klagt Thorin, woraufhin der König schallend lacht.
»Junge! Frin ist genauso ungeduldig wie du. Wie euer Vater seid ihr so hibbelig wie ein Sack voller Flöhe. Nur weil du einige Jahre mehr zählst als deine Geschwister, ändert das nichts daran, dass du noch immer gern Geschichten hörst. Dass es ein Märchen ist, nimmst du dabei gern in Kauf: Hauptsache, du fühlst dich gut unterhalten.«
Genervt seufzt der Prinz. »Was ist nun mit der Märchenstunde?«, lenkt er ab und deutlich ist dabei seine Ungeduld zu hören.
»Komm heute nach dem Abendessen mit Dís und Frerin in meine Gemächer«, fordert der König Thorin auf, zugleich ziehen sich seine Augenbrauen nachdenklich zusammen. »Es könnte knapp werden, aber bis dahin wird Nár es wohl schaffen, alles für euch vorzubereiten. Aber: Kein Wort in der Nähe von Elbenohren! Auf einen oder zwei bestimmte spitzohrige Schönlinge kann ich gut verzichten.«
»Als würde ich jemals ...!«, beginnt Thorin zu schimpfen, verstummt jedoch, als sich Thrors Augenbrauen beredt heben. »Schon gut, Großvater: Weder ich noch die Kinder werden etwas verraten.«

*

»Großvater!« Dís stürmt in das Gemach und gerade noch rechtzeitig kann der Bedienstete einen Schritt zur Seite machen, um nicht von der aufschwingenden Tür getroffen zu werden. »Ich freue mich riesig! Endlich! Endlich! Endlich!« Aufgeregt hüpft sie vor dem König auf und ab, der soeben das alte Märchenbuch aus dem Regal gezogen hatte. Mit geradezu liebevollen Berührungen streicht er über den Einband und den Goldschnitt, der im Laufe der Zeit schwarz geworden war.
»Ja, ich freue mich auch. Aber nun begrüße auch Nár und dann machen wir es uns bequem.« Einladend deutet er auf den Berg aus Fellen, Decken und Kissen, der bestimmt noch größer ist, als der im vergangenen Jahr.
Dís Augen glänzen begeistert von dem Anblick: dem Kissenberg, den übervollen Schalen mit Gebäck und Zuckerwerk, den Krügen mit warmer Schokolade und dem prasselnden Feuer im Kamin. Trotzdem macht sie artig einen Knicks, geradezu hoheitsvoll, ehe sie sich zu Nár umwendet und ihn mit einer Umarmung begrüßt.
Währenddessen sind Frerin und Thorin eingetreten, zwei junge Männer, auf die jedes Haus stolz sein kann, wie Thror feststellt. Höflich verneigen sie sich vor dem König, ehe sie mit einem ungeduldigen Winken von ihm zu seinen Gefährten geschickt werden. »Nicht so viele Formalitäten«, grummelt er und wendet sich dem Sessel zu, in dem er Platz nimmt. »Das ganze Jahr über freue ich mich auf die Märchenstunden. Da will ich mich nicht von so etwas aufhalten lassen.«
»Wir halten dich ganz bestimmt nicht auf«, verkündet Frerin, lässt sich in den Kissenberg fallen und stößt einen tiefen Seufzer aus. »Ach, ist das schön, wieder hier sein zu können.«
Unwillig schnalzt Nár mit der Zunge. »Die Tür steht dir jederzeit offen«, schimpft er ungehalten.
»Verzeih, mein lieber Nár«, lenkt Frerin sofort ein. »Ich weiß, dass ich jederzeit zu dir und Großvater kommen kann. Aber ich habe diese Abende vermisst. Die Gemütlichkeit, die Heimeligkeit und auch Heimlichkeit.«
»Nun gut«, gibt Thrors Gefährte ernst nach, ehe ein Funken Belustigung über seine Züge huscht. »Aber Heimlichkeit? Ich glaube, im vergangenen Jahr war es alles andere als heimlich.«
»Eine Ausnahme.« Frerin winkt ab und stibitzt sich einen Keks aus einer Gebäckschale. »Ein Mal ist kein Mal.«
»Sei lieb, mein Liebster«, bittet Thror und ergreift Nárs Hand. »Frin hat Recht. Eine gewisse Heimlichkeit ist stets vorhanden«, fügt er mit einem Zwinkern hin, was die Ohren und Wangen seines Gefährten zum Glühen bringt.
»Nun«, sagt der nach einem Räuspern. »Dann sollten wir hier nicht länger herumstehen, sondern es uns endlich bequem machen und einer schönen Geschichte lauschen.« Der Vorschlag wird mit viel Begeisterung aufgenommen, der große Eile folgt. Das Feuer wird noch einmal von einem dienstbaren Zwerg geschürt, dass die Funken bis hoch in die Essen stieben, Kissen werden zurechtgerückt und Schalen und Becher so hin und her geschoben, dass jeder sich bedienen kann.
Aber sobald der alte Foliant aufgeschlagen wird, ist nur noch das Knistern des Feuers zu hören.

Der Hasenhüter

Es hatte ein reicher König eine sehr schöne Tochter. Als diese sich verheiraten wollte, mussten sich alle Freier, die sich eingefunden hatten auf einer grünen Wiese versammeln ...

Mit einem lauten Schnaufen sieht König Thror von dem Buch auf. »Was ist los?«, herrscht er die Enkelkinder ungehalten an. »Sonst bin ich nicht über die ersten Worte hinweggekommen, da habt ihr euch schon mokiert und Änderungen gefordert, und nun lasst ihr mich einfach die Geschichte vorlesen?« Fassungslos und im Unverständnis schüttelt er den Kopf. »Ihr seid mir zu brav geworden.« Aufmerksam sieht er seine Besucher an und wartet auf eine Antwort. Frerin lutscht an einer Zuckerstange, als hätte er nie etwas Köstlicheres genascht. Aber Thror bleibt nicht der Blick verborgen, den er seiner Schwester zuwirft, die ihn nicht zu bemerken scheint. Auch auf den auffordernden Knuff, den sie von der anderen Seite von Thorin erhält, reagiert sie nicht. Stattdessen knabbert sie ungewöhnlich still an einem Keks herum. »Will mir nun jemand sagen, was los ist?«
Stille – noch immer, was der König von seinen Enkelkindern noch gar nicht kannte.
»Ich möchte ein Märchen für mich.« Dís Stimme ist leise und klingt zögerlich. Sie ist in diesem Augenblick das ganze Gegenteil von dem Moment, in dem sie das Zimmer betreten hatte.
Und unwillkürlich macht sich König Thror Sorgen. »Aber Kind! Jedes Märchen ist doch für dich und deine Brüder!«
»Ich wünsche mir ein Mädchen-Märchen.«
Leicht neigt sich Thror vor. »Ein Mädchen-Märchen?«
»Ja, ein Märchen mit Mädchen.« Nár klingt ungeduldig. »So, wie du bisher Männer in die Märchen eingebaut hast, wünscht sich deine Enkeltochter eines mit Mädchen.«
»Ich bin noch nicht vertrottelt«, mokiert sich der König. »Ich wollte halt nur sicher sein, dass ich es richtig verstanden habe.«
»Dann sprich gefälligst vernünftig mit dem Kind und nicht, als wäre es ein unbelehrbarer Zwergling.« Wie um zu unterstreichen, dass für ihn nun alle Fragen geklärt und somit das Thema erledigt sei, schiebt sich Nár einen Keks mit grünem Zuckerguss in den Mund. »Fo! Unf nu lief weifer.«
Amüsiert gluckst Thror und auch die Kinder kichern, aber ein böser Blick des Lebensgefährten ihres Großvaters lässt sie eilig verstummen, auch wenn die vielen Lachfältchen um die gutmütig blickenden Augen Nár keinesfalls böse wirken lassen.

In einem fernen Lande, weit im Süden, in ...

»Rohan!«, schlägt Thorin vor und Frerin und Dís nicken zustimmend.

Rohan lebte einst eine Schildmaid im Hause von Théoden, König der Rohirrim. Ihr Name war Éowyn und sie war die Nichte des Königs. Mit dem Bogen konnte sie so gut umgehen wie die Leibwache Théodens und ebenso mit dem Schwert. Sie liebte das Leben auf dem Rücken der Pferde, wofür das Reitervolk von Rohan bekannt war. Doch war Éowyn an das Haus gebunden, denn der König war krank und siechte bereits seit Wochen dahin. Im Kopf war er wirr und hatte seinen einzigen Sohn Theodred aus dem Palast jagen lassen. Grund war ein falscher Ratgeber, Gríma Schlangenzunge mit Namen, der dem König Lügen einflüsterte und zugleich nach dem Schoß der schönen Éowyn trachtete. Eines Tages wurde Schlangenzunge so zudringlich, dass sie den kranken Oheim in der Obhut ihres Bruders Éomer zurücklassen musste. Verkleidet als junger Mann machte sie sich auf den Weg in den Norden, folgte dem Verlauf des Anduin durch unwegsames Gelände bis zum Schwertelfluss und dann durch das Nebelgebirge. Immer weiter trugen sie ihre Füße nach Norden. So gelangte sie schlussendlich an den Lautwasser und folgte auch dessen Verlauf bis zu einem Tal, in welchem er auf das Letzte heimelige Haus traf. Es war Bruchtal und Herr Elrond war der Herr des Hauses.

»Oh, ich ahne, in welche Richtung es geht!«, flüstert Thorin zufrieden.
Fragend hebt Frerin die Augenbrauen. »Was?«
»Das heißt Wie bitte?«, wird er von Dís mit erhobenem Zeigefinger zurechtgewiesen. »Oder meinst du wohin?«
»Warum?« Frerin scheint erschüttert und hilflos. »Wieso?«
»Was wolltest du denn wissen, Frin?«, meldet sich nun auch Nár zu Wort.
Unbestimmt zuckt der junge Zwerg mit den Schultern. »Wenn Thorin nicht so nuscheln würde, hätte ich ihn verstanden.«
»Also doch: Wie bitte.« Dís scheint überaus zufrieden mit dieser Feststellung.
»Ich nuschel überhaupt nicht!«
Bevor die Situation eskalieren kann, nutzt Thror diesen Moment und schlägt das Märchenbuch zu. »Ich denke, wir machen für heute Schluss. Es war ein langer Tag und uns fehlt die Aufmerksamkeit, um die Geschichte zu genießen.« Selbstverständlich wird diese Aussage nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen.
»Morgen Abend zur gleichen Stunde«, legt Nár fest und erhebt sich mit einem Ächzen aus seinem Sessel. »Vorausgesetzt, uns macht ein spitzohriger Herr keinen Strich durch die Rechnung.«
»Unsere Lippen sind verschlossen«, sagt Frerin. Zudem macht er an seinem Mund eine Bewegung, als würde er einen Schlüssel umdrehen und ihn wegschmeißen. »Die Elben werden kein Wort von uns hören.«
»So ist es recht, Kinder, und so soll es auch sein«, stimmt der König seinem Liebsten zu und begleitet seine jungen Gäste zur Tür.

3. Abend

»König Thror!«
Verzweifelt verdreht der Angesprochene die Augen und kann nur schlecht ein Schnaufen unterdrücken, ehe er sich zum Sprecher umwendet. Dabei zwingt er ein süffisantes Lächeln auf die Lippen. »Was kann ich für Euch tun, König Thranduil?«
Der Elb muss das Haifischlächeln bemerkt haben, denn unwillkürlich macht er einen Schritt zurück. »Ich habe in einer persönlichen Angelegenheit mit Euch zu sprechen.«
»Wollt Ihr nun endlich mit der Wahrheit herausrücken, warum Ihr noch nicht in Euer Heim gereist seid?« Auch wenn er unhöflich ist, kann er die Worte nicht zurückhalten: »Eure ständige Anwesenheit zerrt an den Nerven und ist vollkommen unangebracht.«
Der Elbenkönig scheint für einen Augenblick sprachlos und bläst die glatten Wangen. Eine Geste, die den Zwergenkönig unwillkürlich an seinen Enkel erinnert und ein Verdacht formt sich, den er nicht so einfach von sich schieben kann.
Von einem Moment zum anderen drängt es ihn, ein ernstes Wort mit Thorin zu wechseln – ein sehr ernstes. Aber zuvor muss ein anderes Problem aus dem Weg geräumt werden.
»Ihr haltet mich hin«, wird er von Thranduil angeklagt. »Ich wollte Euch nicht gerade mit Eurer Knollnase darauf stoßen, aber ich hatte auf eine Einladung zu den Märchenabenden gehofft.«
König Thror strafft die Schultern und blickt seinem Gegenüber in das ebenmäßige Gesicht. »Ihr habt Recht. Ich habe Euch hingehalten und es war mehr als unhöflich von mir gewesen. Ich hätte ehrlich zu Euch sein sollen. Aber Ihr hättet mich auch schon früher darauf ansprechen können, dann hättet Ihr bereits meine Antwort erhalten.«
»Und wie wäre diese gewesen?«
»Dass Ihr in diesem Jahr keine Einladung erhalten werdet.« Thror gratuliert sich im Stillen selbst für die sehr diplomatische Formulierung, aber die Zufriedenheit wird bereits hinfällig, als er Hoffnung in den Augen des Elben funkeln sieht. Er wird wohl stärkere Geschütze auffahren müssen. »Auch im nächsten Jahr nicht, da es eine zu private und familiäre Angelegenheit ist, um sie mit Außenstehenden zu teilen. Das vergangene Jahr war eine Ausnahme und eine Ausnahme soll es auch bleiben und keine Gewohnheit.«
Der Funken Hoffnung erlischt. »Das betrübt mich, da ich die Stunden sehr genossen hatte. Ihr wisst bestimmt, dass wir Elben Geschichten lieben und Eure Erzählung war – außergewöhnlich.«
»Ihr könnt mir so viel Honig ums Maul schmieren, wie Ihr wollt, Herr Thranduil, aber Ihr werdet keine Einladung erhalten.« Mit einer Geste betonte er die Endgültigkeit seiner Entscheidung. »Kehrt in Euer Heim zurück und lauscht den Geschichten, die in Euren Hallen erzählt werden. Und wer weiß? Vielleicht werdet Ihr eines Tages selbst zum Märchenerzähler?«
König Thranuil, König unter Eiche und Buche, Herrscher über die Düsterwaldelben scheint sich nicht mit den Worten zufrieden geben zu wollen, besinnt sich dann jedoch. Er strafft die Schultern und sein ebenmäßiges Gesicht erstarrt in der gewohnt hoheitsvollen Maske. »Ich danke Euch für Eure offenen Worte, König Thror, und ich werde noch in dieser Stunde abreisen.«
Auch wenn es sein gutes Recht ist, Thranduil eine Absage zu erteilen, zwickt Thror das schlechte Gewissen. »Ich hoffe, ich habe Euch nicht verprellt«, kann er sich nicht zurückhalten zu sagen. »Aber wie Ihr bereits mehrmals festgestellt und mir auch oft genug an den Kopf geworfen habt: Wir Zwerge sind ein stures Volk – wie die Elben auch. Und ebenso wie die Elben lassen wir uns nicht zu etwas drängen und zwingen, was unserer Einstellung widerspricht.«
Ein Hauch Erstaunen huscht über Thranduils Gesicht. »Eine Entschuldigung für meinen Hinauswurf?«
Unbestimmt hob Thror die Schultern. »Wenn Ihr so wollt. Schließlich soll etwas Privates nicht die geschäftlichen Belange der Völker am und auf dem Langen See beeinflussen.«
»Ich gehe davon aus, dass wir alt genug sind, um über eine solche Kleinigkeit zu stehen.« Auch wenn Thranduil höflich den Kopf neigt, ehe er sich zum Gehen abwendet, kann sich Thror der Annahme nicht entziehen, dass dem Elben diese »Kleinigkeit« gehörig auf den Magen schlägt. Zumindest ihm selbst drückt es die Stimmung und nur die Aussicht, den Abend mit seinen jungen Gästen zu verbringen, hebt sie etwas.

*

Geradezu stürmisch wird Thror in seinen Gemächern empfangen. »Tritt er endlich die Heimreise an?«, ist die wichtigste Frage, die er beantworten muss, ebenso wie die von Dís, ob er erst das Abendmahl einnehmen muss oder dies auch während dem Erzählen machen kann.
»Der König hatte einen langen Tag«, wird sie von Nár zurechtgewiesen und auch ihr niedliches Schmollen kann ihn nicht davon abbringen. »Gönne deinem Großvater einen Augenblick der Ruhe. Außerdem braucht er seine Kraft, wenn Morgen wieder die Audienzen anstehen.«
»Ja, aber ...«
»Nichts Aber!«, eilt Thorin Thrors Liebsten zur Seite. »Lass Großvater einige Momente zum Durchschnaufen und wir verkosten schon die heiße Schokolade«, setzt er mit einem Augenzwinkern hinzu, während er einem Bediensteten dabei hilft, die Kissen und Decken zu einem Berg aufzuschichten. Dass Frerin vom Teller des Königs ein Würstchen stibitzt hat und es nun aufgespießt auf einem Schürhaken über dem Kaminfeuer röstet, nimmt er mit einem ungehaltenen Kopfschütteln zur Kenntnis.
In der Zwischenzeit wird Thror von Nár und den dienstbaren Zwergen von der Krone, der schweren Königsrobe und sämtlichem Schmuck befreit. In seinem Hausmantel und den Pantoffeln gekleidet, setzt er sich an den gedeckten Tisch und verschlingt geradezu heißhungrig das Abendmahl.
»Langsam, mein Lieber«, wird er von Nár ermahnt, woraufhin er nur abwinkt.
»Ich liebe die Ungeduld der Kinder«, gibt er zwischen zwei Bissen Brot und Fleisch zu. »Sie lässt mich wieder so voller Elan und Leben fühlen, wie nur selten in den letzten Monaten.«
Eine sanfte Berührung an seiner Wange lässt ihn vom Teller aufblicken. »Ich weiß, was du meinst. Auch ich spüre es und genieße die Zeit mit den Kindern«, murmelt Nár und streichelt ein weiteres Mal über seine Haut.
Entschlossen schiebt Thror den geleerten Teller mit der einen Hand von sich und langt zugleich mit der anderen nach seinem Geliebten. Die Finger in den Haaren Nárs vergraben, zieht er ihn an sich und küsst ihn. Wobei es nicht bei einem keuschen Kuss bleibt, wie sie ihn gelegentlich in Gegenwart von anderen Zwergen tauschen. Sondern es ist einer jener, der Nár den Atem raubt und Thror den Körper erhitzt. Beide lassen sich in die Berührung sinken, vergessen die Umgebung und die Blicke der Zwerglinge. Der Moment gehört ihnen mit zarter Sinnlichkeit und aufwallender Lust.
»Großvater!«, ist aus gleich drei Kehlen zu hören. Dís klingt pikiert, vermutlich weil sie glaubt, dass sich der Märchenabend verzögern könnte, wie Thror annimmt. Frerin klingt gedämpft, da er gerade die geröstete Wurst verspeist und Thorin ist geradezu erschrocken.
»Was habt ihr denn?«, verlangt Thror zu wissen. »Darf ich nicht meinen Liebsten herzen?«
Frerin schiebt sich den letzten Wurstzipfel in den Mund. »Herzen ja, aber nicht vor unseren unschuldigen Augen zu Boden knutschen.«
Nár kichert und Thror schüttelt amüsiert den Kopf. Aber statt noch weiter darauf einzugehen, erhebt er sich vom Tisch, der eilig abgeräumt wird. »Wo ist nun das Märchenbuch?«, verlangt er zu wissen. »Steht es etwa noch immer im Regal? Und ist alles vorbereitet? Alles fertig?«
»Wir warten nur auf dich!« Anklagend deutet Dís auf ihn und dann auf das Tischchen neben seinem Sessel. »Buch, Schokolade, Gebäck und Zuckerwerk«, zählt sie auf.
»Aber keine Würstchen.« Bedrückt hockt Frerin in den Kissen, aber schnell entspannt er sich und seine Traurigkeit ist vergessen, sobald König Thror zu erzählen beginnt.

Viele Geschichten hatte Éowyn bereits von Imladris, wie Bruchtal in der Sprache der Elben heißt, gehört. Aber kaum etwas hatte sie auf die Schönheit und Eleganz des Ortes und dessen Bewohner vorbereiten können. Sie war verzaubert und ebenso erschien ihr der Ort.

»Ist das nicht ein bisschen sehr dick aufgetragen?« Abschätzig schnalzt Thorin mit der Zunge.
»Es passt schon so«, wird er von seiner kleinen Schwester zurechtgewiesen und mit einer großmütig wirkenden Geste fordert sie ihren Großvater zum Fortfahren auf.

Überwältigt von all der Schönheit und der Freundlichkeit, mit der man ihr begegnete, war Éowyn mehr als glücklich, in den weitläufigen Gärten von Bruchtal arbeiten zu dürfen. Hier schien an jedem Morgen der Frühling zu regieren und ab Mittag der Sommer. Des morgens blühten die Kirsch- und Apfelbäume und sobald die Sonne den Zenit überschritten hatte, reiften die Früchte. Es war eine arbeitsreiche Zeit. Morgens säen, abends ernten. Aber Éowyn beklagte sich nicht, denn trotz allem war das Leben in Bruchtal geruhsam und nur die Sorgen um König Theoden und ihren Bruder machte es bitter.
Nun begab es sich, dass Arwen, Tochter des Herrn Elrond, sich einen Gemahl suchen sollte. Aus allen Teilen Mittelerdes reisten die Freier an und fanden sich auf einer großen Wiese ein.
»Wer von Euch diesen Apfel fängt und drei Aufgaben löst, mit dem will ich Hochzeit halten.« Dabei hielt sie einen goldenen Apfel hoch, den sie dann in die Luft warf. Welch ein Gerempel und Gestoße begann! Jeder der hohen Herren - egal, ob nun Sindar, Noldor oder Mensch - versuchte, an das glänzende und funkelnde Obst zu gelangen.
Amüsiert beobachtete Éowyn, wie sich die erwachsenen Männer wie die kleinen Kinder um einen Ball balgten. So mancher von ihnen ging mit einem blauen Auge oder gar blutiger Nase aus der Prügelei hervor. Schlussendlich gab es doch einen Gewinner, der den Apfel in die Höhe hielt. Doch er war nicht in der Lage, die erste Aufgabe zu lösen, und daher warf Arwen am nächsten Tag den goldenen Apfel ein weiteres Mal hoch in die Luft und ein weiterer Freier versuchte sein Glück.
Éowyn war Zeugin jeder weiteren Balgerei und jedes Mal konnte die Aufgabe nicht gelöst werden.
Inzwischen war fast ein ganzer Monat ins Land gezogen, als sie mit dem Mähen der Wiese beschäftigt war. Gleichmäßig schwang sie die Sense. Schwung um Schwung legte sie das Gras um, als sich die verbliebenen Freier einfanden, die sie nicht beachteten. Auch Arwen nahm keine Notiz von dem Gärtner, der nur seine Arbeit tat, und warf den Apfel in die Luft. Doch statt in die Reichweite der Männer landete er weitab auf dem Gras, kullerte weiter und blieb schließlich vor Éowyns Füßen liegen. Verdutzt sah sie auf den Apfel, ehe sie sich herab neigte und ihn aufhob, um ihn der Tochter des Hausherrn zurückzugeben.
»Mit einem Gärtner als Freier habe ich nicht gerechnet«, gab Arwen erstaunt zu, als sie den Apfel entgegennahm. »Aber auch dir will ich die Möglichkeit geben, um mich zu freien.«
»Dazu besteht keine Notwendigkeit, Herrin«, wehrte Éowyn mit verstellter Stimme ab. »Ich bin kein Bewerber um Eure Hand und auch weit unter Eurem Stand.«
Doch Arwen winkte nur ab. »Du stehst wie die Freier auf dieser Wiese und hattest mir den Apfel ausgehändigt. So wie es die anderen Bewerber auch getan haben. Es ist nur recht und billig, dass ich dich wie diese behandle.«
»Wenn Ihr es so wollt«, stimmte Èowyn schließlich zu, da sie keine andere Möglichkeit sah, ohne zu viel Aufmerksamkeit zu erregen, aus der Angelegenheit herauszukommen. »Dann will ich es versuchen. Nennt mir Eure erste Aufgabe.« Zugleich dachte sie: Wenn es so viele Männer nicht geschafft haben, werde ich als Frau erst recht versagen. Trotzdem regte sich ein kleiner Funken Hoffnung und sie war immer bereit, eine Herausforderung einzugehen.
»In unserem Stall sind einhundert Hasen. Treibe sie auf die Weide, hüte sie und am Abend bringe sie vollzählig wieder zurück. Wenn du das schaffst, hast du die erste Aufgabe erfüllt.«
»Das ist vollkommen unmöglich zu bewältigen!«, murmelte Éowyn, während sie langsam in Richtung der Ställe ging. »Es gibt nichts, was mir helfen könnte.«
»Urteile nicht so vorschnell«, wurde ihr gesagt und als sie aufblickte, entdeckte sie einen Zauberer im grauen Gewand und mit hohem, spitzen Hut. »Sage dein Anliegen und vielleicht kann ich dir helfen.«
Da erzählte Éowyn von der Aufgabe und auch, dass sie selbst eine Frau ist und daher wohl kaum in der Lage, um eine andere Frau zu ehelichen.
»Was denkst du wohl, warum sich Arwen eine solch unmögliche Aufgabe ausgedacht hat?«, fragte der Zauberer und zwinkerte Èowyn zu. »Es ist der Wunsch des Vaters, dass sie sich vermählt, nicht ihr eigener.«
»Wollt Ihr mir damit sagen, dass sie nicht an Männern interessiert ist?«
Wieder zwinkerte der Zauberer.

»Kann es sein, dass die Geschichte etwas seeehr schmalzig wird?«, fragt Frerin und schiebt sich einen mit Zuckerperlen verzierten Keks in den Mund.
»Es ist ein Mädchen-Märchen und da darf es so schmalzig sein, wie es will«, erklärt Dís und lässt ihre Zöpfe dabei missmutig wippen. »Wenn es dir nicht gefällt, dann geh.«
»Hmpf«, macht der Gescholtene, bleibt aber in den Kissen liegen.

Aus dem Ärmel zog er ein Pfeifchen ...

»Soll sie jetzt rauchen?« Nár wirkt verwirrt.
»Ein Pfeifchen in Ehren kann niemand verwehren.«
»Der Spruch ist nicht gerade hilfreich, Thorin«, wird der junge Zwerg zurechtgewiesen.

Aus dem Ärmel zog der Zauberer ein Pfeifchen und sagte: »Hebe es gut auf. Es wird dir nützen.«
Noch ehe sich Éowyn bedanken konnte, war er verschwunden. Noch für einen Moment blieb sie stehen, ehe sie entschlossen das Pfeifchen in die Tasche schob und den Stall betrat. Weit öffnete sie das Tor und sofort flohen die Hasen ins Freie. Aber  sobald das letzte Tier den Stall verlassen hatte, war von dem ersten schon nichts mehr zu sehen. Der war schon über alle Berge.
Éowyn versuchte, den Hasen zu folgen, aber das war einfach nicht möglich. Schließlich setzte sie sich auf einen grünen Hügel und dachte: »Was fang ich nur an?« Das Pfeifchen fiel ihr ein. Sie zog es hervor und pfiff. Da kamen die hundert Hasen alle wieder gesprungen, hüpften um den Hügel, grasten und spielten.

König Thror hebt den Blick vom Buch und sieht seine jungen Gäste an.
»Was soll das werden?«, fragt Dís keck. »Willst du etwa schon Schluss machen?«
Gerade in dem Augenblick hallt in den Gängen des Erebors der Glockschlag der großen Standuhr wider, die im Flur zum Thronsaal steht und jedem die Zeit verkündet. Gerade schlägt sie die neunte Stunde.
Still rappeln sich Thrors Enkel auf, stellen die geleerten Gebäckschalen und Becher auf den Tisch und legen die Decken zusammen.
»Gute Nacht, Großvater und lieber Nár. Danke für den schönen Abend«, sagt die zuvor so freche Dís, macht einen Knicks und tritt dann zur Seite, um Platz für ihre Brüder zu machen. Auch diese bedanken sich, wünschen dem Paar gute Nacht und verbeugen sich höflich.
»Morgen, zur selben Stunde wie heute«, werden sie von Nár erinnert, der sie zur Tür begleitet.

Ende 3. Abend 

4. Abend

 

»Komm herein, Junge!« Bereits im Hausmantel und Pantoffeln sitzt Thror am Tisch und widmet sich seinem Abendmahl, das überreichlich aufgefahren worden war. Mit der einen Hand winkt er Thorin näher, während er nach dem Bierkelch greift und einen Schluck nimmt. Noch huschen die Bediensteten durch den Raum. Sie schüren das Feuer und richten das Gemach für die jungen Besucher her.
»Du hast nach mir schicken lassen?« Anspannung bestimmt die Mimik des jungen Zwergs und wird noch durch dessen Zögern beim Eintreten bezeugt.
»Setz dich zu mir und greif zu«, lädt Thror seinen Enkel ein. »Nár glaubt wohl, ich würde verhungern und hat auffahren lassen, was Kammer und Keller hergibt.«
»Du hast mich aber nicht zum Abendessen herbestellt.«
»Nein, das habe ich nicht«, stimmt der König Thorin zu und lehnt sich zurück. Aufmerksam sieht er sein Gegenüber an. Dessen Wangen sind glatt rasiert und ein dünnes Lederband hält die schwarzen Haare in einem schweren Zopf zusammen. »Ich mache mir Gedanken. Um dich.« Für einige Augenblicke verstummt Thror und wartet auf eine Reaktion seines Gastes. Jedoch mehr als ein erstaunt wirkendes Hochziehen der Augenbrauen erhält er nicht. »Womöglich ist es nur eine Periode, in der du dich befindest, aber ich finde es schon befremdlich, dass du dich rasierst. Willst du uns damit irgendwas sagen? Ist es eine Auflehnung? Willst du damit gegen etwas aufbegehren?«
»Großvater!« Fassungslos schüttelt der junge Zwerg den Kopf. »Statt dass du dir deswegen irgendwelche Gedanken machst, hättest du einfach mit mir reden können. Dann hätte ich dir gesagt, dass ich mich rasiere, weil es sich einfach nur gut anfühlt.« Wie um seine Worte zu bestätigen, streicht er über die glatt rasierte Haut.
»Wie sollte ich nicht auf seltsame Gedanken kommen?«, mokiert sich der König und deutet anklagend auf das elbisch glatte Gesicht und den dicken Zopf im Nacken seines Enkels. »Du hast mehr von einem Elben als von einem Zwerg.«
»Ein Zwerg hat wie ein Zwerg auszusehen.« Wieder schüttelt Thorin den Kopf. »Du klingst wie Vater. Solche Ansichten hätte ich nie von dir erwartet.«
Das Geschirr klirrt und klappert misstönend, als Thror mit der flachen Hand auf den Tisch schlägt. »Ich lasse mir nicht von dir solche Worte in den Mund legen«, zischt er aufgebracht. »Ich habe mich um dich gesorgt und ich weiß, wie Thraín sein kann. Ist das nun der Dank dafür?«
Thorins Mimik ist verschlossen, lässt keine Regung erahnen. Umso offenkundiger ist Verunsicherung darin abzulesen, wie sich seine Hände öffnen und schließen. Es sind fahrige Bewegungen, obwohl sie kontrolliert sind. Zu kontrolliert für einen so jungen Zwerg, wie Thror meint. Aber der Junge muss erwachsen werden und lernen, wie er seine Gefühle im Zaum hält, insbesondere, wenn er sich verletzt glaubt.
»Verzeih, wenn ich deinen Beweggrund falsch eingeschätzt habe.« Leicht neigt Thorin den Kopf, eine Geste der Demut. Aber Thror weiß, dass wenig demütiges in seinem Enkel schlummert. Eher ist es Gut-Wetter-machen, was er dem Jungen nicht verdenken kann.
»Nun gut«, murmelt der König, ehe er sich räuspert und wieder nach dem Becher greift. »Nichts gegen die Elben, aber ... Du würdest es doch sagen, wenn eines dieser glattgesichtigen Dämchen in unsere Familie ...«
»Großvater!«, wird er rechtzeitig von Thorin unterbrochen, bevor er auch noch den abwegigsten Gedanken in Worte fassen kann. »Du machst es gerade überhaupt nicht besser. Unterstellst mir, ich würde mich mit einer Elbin einlassen!«
In gespieltem Entsetzen verdreht Thror die Augen. »Du ...«
Diesen Moment nutzen Dís und Frerin und stürmen in das Gemach. »Großvater! Wir sind dahaaa!«, verkündet Dís das Offensichtliche, ehe sie sich zurücknimmt und vor dem König einen Knicks andeutet. Dabei scheint sie vor Aufregung zu vibrieren, was man deutlich an den wippenden Zöpfen erkennt. Frerin dagegen ist die reinste Zurückhaltung. Nur einen Knuff in Dís Rippen kann er nicht unterlassen, ebenso wenig, wie sie den bitterbösen Blick. Aber die Rempeleien sind schnell vergessen, als sie Thorin entdecken, der sich einen Hähnchenschlegel von der Fleischplatte genommen hat und nun daran herumknabbert.
»Was machst du denn schon hier?«, fasst Frerin ihre Überraschung in Worte. Dem scheint plötzlich ein beängstigender Gedanke zu kommen. »Sind wir etwa zu spät? Haben wir das Märchen verpasst? Und wo ist Nár?« Die Fäuste auf die Hüften gestemmt, verlangt er Antworten.
»Thorin hatte hier zu tun«, erwidert Thror, »und Nár wird auch gleich zurück sein. Er wird sich keinen Augenblick entgehen lassen – und bis er kommt, machen wir es uns gemütlich.«
»Ja! Dann kannst du auch gleich mit dem Vorlesen beginnen, sobald er da ist!«, ruft Dís und hüpft zum Regal, um das schwere Märchenbuch herauszuziehen.
Nur wenig später hat es sich der König im Sessel bequem gemacht und die Kinder auf dem Berg aus Kissen und Decken, in dem sie fast zu versinken drohen. Das Holz knackt und knistert und Funken fliegen hoch in den Kaminschlot hinauf. Es ist eine wundervolle Gemütlichkeit, die nicht nur den Körper entspannt, sondern auch den Geist.
In einem solchen Augenblick betritt Nár das Gemach, in den Händen ein voll beladenes Tablett mit Schüsselchen und Schälchen. »Überraschung!«, kündigt er an und stellt es mit einem Ächzen auf einem Tischchen ab. »Ich habe heute etwas ganz Besonderes für euch«, erzählt er. »Ihr dürft raten. Aber ich kann euch verraten, dass es eine süße Leckerei aus dem Keller des Erebors ist. Genauer gesagt: aus dem Eiskeller.«
Was sollte es schon sein?, scheinen die Gesichter der Kinder auszusagen.
»Eiszapfen«, versucht Frerin sein Glück und wirkt dabei überhaupt nicht begeistert. »Aber die sind nicht süß.«
Nár winkt ab. »Ach, ihr kommt bestimmt nicht drauf: Es ist ganz cremiges Eis, aus Milch und ganz süß und sogar mit süßen Früchten«, schwärmt er und reicht Dís ein Schälchen.
Skeptisch blickt sie in das Gefäß und rümpft die Nase. »Sieht nicht sehr appetitlich aus.« Trotzdem greift sie auch nach den Löffel, der ihr gereicht wird. Augenblick später ist ein Seufzen zu hören. »Bei Aules weißem Barte!«, murmelt sie, verdreht genussvoll die Augen und füllt den Löffel erneut mit dem kalten Dessert. »Das ist unglaublich.«
Bestärkt durch die begeisterte Reaktion ihrer Schwester, greifen nun auch Frerin und Thorin zu. Auch dem König wird eine großzügige Kostprobe gereicht, ehe sich Nár in seinen Sessel fallen lässt. Genussvolle Stille füllt den Raum, die schließlich von mehrfachen Geräusch des Kratzens der Löffel auf Steingut beendet wird.
»Das war lecker!«, verkündet Frerin und tätschelt sich den Bauch. »Warum kannten wir es noch nicht?«
»Weil ihr nicht alles kennen müsst«, erwidert Thror ruppig, aber mit einem lustigen Zwinkern, was dem Ton die Schärfe nimmt.
Thorin beugt sich vor, um das geleerte Schälchen auf dem Tablett abzustellen und sieht zum Großvater auf. »Wir müssen aber endlich wissen, wie das Märchen weitergeht.«
»Recht hast du«, stimmt der König ihm zu, greift nach dem Märchenbuch und schlägt es auf. »Wo waren wir denn? Ah – hier ...«

 

Dem Herrn von Bruchtal war es überhaupt nicht recht, dass der Hasenhüter die Aufgabe löst. Eigentlich wollte er, dass überhaupt niemand eine Lösung findet. Nichts lag ihm ferner, als seine geliebte Tochter einem Mann zur Gemahlin zu geben, der sie nach der Vermählung mit sich nahm – und auch Arwen wollte das nicht. Sie verspürte keinen Wunsch, das Bett mit einem Mann zu teilen, weswegen jeder Bewerber um ihre Hand in Ungnade gefallen war und da machte der unwillige Freier keine Ausnahme.
Das war der Grund, aus dem sich Herr Elrond und seine Tochter solch eine Aufgabe ausgedacht hatten und die Aussicht, dass doch jemand das Rätsel lösen könnte, machte die beiden Ränkeschmiede überhaupt nicht glücklich. Daher verkleidete sich Arwen und veränderte ihr Gesicht, sodass sie nicht erkannt werden konnte, als sie zum Hasenhüter ging.
»Kann man einen Hasen von dir kaufen?«, fragte sie mit verstellter Stimme.
Éowyn hatte die schöne Tochter des Hauses sofort erkannt und erwiderte frech: »Nein, zu verkaufen gibt es hier keinen, aber zu verdienen.«
»Wie ist das zu verstehen?«, fragte Arwen weiter.
»Nun«, murmelte Éowyn und trat näher. »Sei für ein Schäferstündchen mein Liebchen.«
Energisch wollte Arwen ablehnen ...

 

»Ja, ja! Immer diese prüden Elben!«, sagt Thorin und schiebt sich einen mit buntem Zucker dekorierten Keks in den Mund. Aber er sagt es mit so giftiger Stimme, dass sich Thror unwillkürlich fragt, ob ihm der Junge die Wahrheit gesagt oder ihm etwas verschwiegen hatte.

 

... aber da sie einen Hasen brauchte, stimmte sie zu.
Èowyn führte die verkleidete Arwen um den Hügel herum zu einigen Büschen, wo sie sich in das weiche Gras legten. Sie herzten und küssten sich und Arwen schien überhaupt nicht aufzufallen, dass sie neben einer Frau lag.

 

»Prüde«, murmelt Thorin ein weiteres Mal und: »Hinterwäldler.«
Thror sieht kurz vom Buch auf und wechselt einen Blick mit Nár, der wiederum nachdenklich wirkt.

 

Es war wirklich nur ein Stündchen vergangen, als Éowyn einen Hasen fing, ihn in Arwens Korb steckte und beobachtete, wie die Elbin davonging. Sobald sie sie nicht mehr sehen konnte, zog sie das Pfeifchen hervor und pfiff. Geschwind drückte der Hase den Deckel des Korbes auf, sprang heraus und kam wieder zu Éowyn gesprungen.
Nicht lange danach kam Herr Elrond, der sich auch verkleidet hatte, aber Éowyn erkannte ihn trotzdem. Er kam auf einen Esel geritten und der auf jeder Seite einen Korb zu hängen hatte.
»Hast du einen Hasen zu verkaufen?«, fragte er.
»Verkauft wird keiner. Aber abverdienen kann man ihn!«, antwortete dreist der vermeintliche Hasenhüter.
Da fragte der Herr von Bruchtal: »Wie ist das zu verstehen?«
Èowyn deutete auf das graue Reittier: »Wenn Ihr dem Esel hier unter den Schwanz küsst, sollt Ihr einen Hasen haben.«
Das wollte Herr Elrond aber nicht tun und bot dem Hasenhüter viel Gold und Geschmeide, wenn er ihm einen Hasen verkaufen würde. Das wollte aber der vermeintliche Bursche nicht. Da nun der Herr von Bruchtal sah, dass er keinen Hasen kaufen konnte, musste er schließlich nachgeben und gab dem Esel einen tüchtigen Schmatz unter den Schwanz ...«

 

Die Stimme des Königs geht in einem mehrstimmigen und herzhaften »Ihhhh!« unter.

 

... Éowyn fing geschwind einen Hasen und steckte ihn in einen Korb am Esel. Dann sah sie Herrn Elrond hinterher, wie er davonzog, ehe sie pfiff und der Hase wieder aus dem Korb sprang.
Darauf kam Herr Elrond nach Hause und sagte: »Er ist ein loser Bursche. Ich konnte keinen Hasen bekommen!« Was er machen musste, sagte er nicht.
»Ja«, stimmte Arwen zu. »So erging es mir auch.« Was sie aber getrieben hatte, verschwieg auch sie.
Als es Abend wurde, kam Éowyn mit den Hasen und zählte Herrn Elrond und Arwen alle hundert zum Stall hinein.
»Die erste Aufgabe hast du gelöst und nun geht es an die zweite«, sprach der Herr von Bruchtal: »Hundert Maß Erbsen und hundert Maß Linsen liegen auf dem Boden. Diese habe ich untereinander schütten und gut vermengen lassen. Wenn du diese in einer Nacht ohne Licht auseinander sonderst, dann hast du die zweite Aufgabe vollbracht.«
»Das kann ich«, sagte Éowyn und wurde dann auf den Boden gesperrt. Die Tür wurde fest verschlossen und da es bald ruhig im Haus war, holte sie das Pfeifchen heraus und pfiff. Da kamen viele tausende Ameisen und Käfer angekrochen. Sie wimmelten und krabbelten so lange, bis die Erbsen auf einem Haufen lagen und die Linsen auf einem anderen.
Als nun am Morgen der Herr von Bruchtal die Tür aufsperrte, war er voll der Verwunderung, dass auch die zweite Aufgabe gelöst worden war und er benötigte einige Augenblicke, um sich zu fassen. »Nun«, begann er schließlich, »dann will ich dir auch die dritte Aufgabe sagen: Wenn du in der kommenden Nacht dich durch eine große Kammer voller Brot hindurchisst, sodass nichts mehr übrig bleibt, dann hast du die dritte Aufgabe vollbracht. Dann sollst du meine Tochter haben.« Das schafft der Bursche nie!, sagte sich Herr Elrond im Stillen.
Als es nun dunkel war, wurde Éowyn in eine Kammer gesperrt, die so voller Brot war, dass an der Tür nur ein kleiner Platz zum Treten war. Wie aber alles im Haus ruhig wurde, zog sie wieder das Pfeifchen hervor und blies hinein. Auf den Pfiff hin kamen so viele Mäuse, dass es ihr schon unheimlich wurde. Aber als es tagte, war das gesamte Brot aufgefressen. Nicht das kleinste Krümchen war mehr übrig.
Da klopfte Éowyn gegen die verschlossene Tür und rief: »Macht auf! Ich habe Hunger!« Und der Herr des Hauses stellte fest, dass auch die dritte Aufgabe gelöst war.
»Nun erzähle uns zum Spaß noch einen Sack voll Lügen, dann sollst du meine Tochter haben«, sagte er.

 

»Versucht der Kerl etwa die arme Éowyn hinzuhalten?« Zornig sind Dís Augenbrauen zusammengezogen. »Der soll sich hüten!«, droht sie und nur der Umstand, dass sie sich gerade ein Stück Trockenobst in den Mund schiebt, verhindert, dass sie wütend mit den Zähnen knirscht.

 

Da fing der vermeintliche Bursche an und sagte schreckliche Lügen einen halben Tag lang. Aber der Sack wollte einfach nicht voll werden. Da erzählte sie endlich: »Ich habe mit Eurer allerliebsten Tochter, meiner Braut, schon ein Schäferstündchen gehalten.«
Bei diesen Worten wurde Arwen ganz rot. Herr Elrond sah sie an, und obwohl es Lügen sein sollten, so glaube er es doch und fragte sich, wie und wo es geschehen sei. »Der Sack ist aber noch nicht voll!«, rief er.
»Ich bin eine Frau und werde Eurer Tochter eine liebevolle Braut sein«, sagte da Éowyn. Da begannen Arwens Wangen feuerrot zu glühen und ihr Herr Vater war sich sicher, dass auch dies keine Lüge war, denn nun bemerkte er Anzeichen ihrer Weiblichkeit, die ihm zuvor entgangen waren.

 

Frerin kichert. »Und da heißt es immer, dass Elben ein aufmerksames Volk wäre.«
»Aufmerksam sind sie vielleicht«, wirft Thorin ein und es klingt wieder bissig. »Aber das beschränkt sich wohl auf andere Gebiete.«
Nicht nur Thror ist die Bissigkeit des jungen Zwergs aufgefallen, sondern auch seinem jüngeren Bruder, der sonst immer eher unaufmerksam ist. Frerin sieht Thorin überrascht an, zuckt dann mit den Schultern. Aber als er nach dem Becher mit der heißen Schokolade greift, scheint das Geschehene bereits wieder vergessen.

 

Da sagte Éowyn: »Der Herr Elrond hat auch den Esel ...«
»Er ist voll, er ist voll! Bindet den Sack zu!«, rief der Herr des Hauses, denn er schämte sich und wollte niemanden wissen lassen, welche Ehre dem Esel durch seinen elbischen Mund zuteil geworden war. Nun gab es keine weiteren Verzögerungen mehr und die Hochzeit wurde gefeiert. Ganze vierzehn Tage lang ging es hoch her und lustig zu.

 

Langsam schließt König Thror das Märchenbuch. »Das wars«, flüstert er in die ungläubige Stille.
»Schon?« Nein, es ist weder Dís noch Frerin, die sich beschweren, sondern Thorin, was Thror erstaunlich findet, nachdem er so zornig reagiert hatte. »Da fehlt doch bestimmt noch so Einiges!«
»Ja? Und was?«, hakt nun Nár nach. »Was fehlt noch?«
Unbestimmt zuckt Thorin mit den Schultern. »Die ganze Knutscherei und das Süßholzgeraspel und irgendwie habe ich das Gefühl, als wäre es nicht die große Liebe zwischen den beiden.«
Nachdenklich schiebt Thror die Unterlippe vor. »Ich fürchte, dafür habe ich das falsche Märchen ausgesucht«, sagt er entschuldigend. »Um eine solche Liebesentwicklung plausibel zu erklären, müssten sich die beiden Helden auf Augenhöhe begegnen, ohne das Versteckspielen. Und das war hier nicht möglich.«
Dís rümpft die Nase, was noch immer ganz zauberhaft niedlich bei ihr aussieht. »Also, wenn Éowyn sich nicht verkleidet hätte, wäre die Liebe auf den ersten Blick pausibel?« Ein weiteres Mal rümpft sie das Näschen, ehe sich ihr Gesicht erhellt. »Mir ist vollkommen egal, ob es pausiii... ist oder nicht. Ich finde das Märchen sehr schön und weil es ein Mädchen-Märchen ist, gehört es mir. Mir hat es gefallen.« Bekräftigend nickt sie und springt dann auf, um den Großvater zu umarmen. »Vielen lieben Dank! Du hast mir ein schönes Geschenk gemacht.« Auch Nár erhält eine feste Umarmung und einen Kuss auf die bärtige Wange. »Gute Nacht!«, wünscht Dís, dann eilt oder eher hüpft sie aus dem Gemach.
»Dann werde ich mich auch verabschieden«, verkündet Frerin etwas steif. »Vielen Dank für das Märchen, Großvater, und die Gastfreundschaft, lieber Nár. Ich wünsche euch eine gute Nacht.« Statt Umarmungen, wie er es als kleinerer Zwergling gemacht hat, verneigt er sich vor dem König und seinem Gefährten, um dann seiner Schwester zu folgen.
»Ich habe noch mit dir zu reden«, hält Thror den Ältesten der Geschwister auf, der Frerins Beispiel folgen wollte. »Hast du mir etwas verschwiegen?«, fragt er gerade heraus. »Ich habe den Eindruck, als hättest du dich über die Elben geärgert. Zumindest lassen das einige Äußerungen von dir vermuten.«
Es wirkt geradezu genervt wie Thorin die Augen verdreht. »Ich möchte nicht darüber reden.«
Das Interesse oder wohl eher die Neugier des Königs ist geweckt. Aber er verbirgt es und nur für seinen Gefährten ist es offensichtlich. »Nun gut«, sagt Thror. »Wenn du nicht darüber reden möchtest, werde ich nicht in dich dringen. Aber wenn du jemanden zum Reden brauchst ... Hier wirst du immer ein offenes Ohr finden.«
»Das weiß ich, Großvater, und dafür danke ich dir und auch dir, lieber Nár.« Leicht neigt er den Kopf. »Aber nun ein weiteres Mal: Vielen Dank für die schönen Abende auch in diesem Jahr.«
Augenblicke später schließt sich die Tür leise hinter dem schwarzhaarigen Zwerg.
»Was glaubst du, verbirgt der Junge?« Der König kann es einfach nicht lassen und stellt schon Vermutungen an. »Eine Liebelei mit einem Elben? Dame oder Herr? Vielleicht sogar Thranduils Sprößling?«
»Thror, mein Lieber!«, wird er von seinem Gefährten lachend unterbrochen. »Lass das Spekulieren sein! Wenn der Junge reden will und wenn ihn etwas bedrückt, wird er es sagen.«
»Wie immer hast du Recht, mein Liebster«, stimmt Thror ihm zu. »Lass mich das Buch weglegen und dann lass uns schlafen gehen. Ich bin müde.«
Nár zwinkert ihm zu. »Ich ahne, wie müde du bist. Andere würden das ›munter‹ nennen.«
»Ich bin kein ›Anderer‹ und ich bin ›müde‹. Basta.«


An dieser Stelle verlassen wir den König und seinen Liebsten, ziehen uns zurück. Und ich hoffe auf ein weiteres Wiedersehen – im nächsten Jahr.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.01.2021

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