»Nár!« Geradezu verzweifelt klingt die Stimme des Königs unter dem Berg, des Herrschers über Erebor und Erbe von Durins Thron, als er nach seinem Gefährten ruft, kaum dass er seine Räume betreten hatte. »Ich habe etwas vergessen!« Seine Worte werden vom krachenden Zuschlagen der Tür unterstrichen, schien den Erebor bis in die tiefsten Stollen und Kavernen zu erschüttern.
Der Gerufene eilt aus dem Nebengemach herbei, auf das Schlimmste gefasst. Stattdessen wird ihm von einem aufgewühlt wirkenden Thror die schwere Krone in einer nachlässigen Bewegung zugeworfen, ungeachtet, ob Nár sie fängt oder nicht. Ohne ein weiteres Wort der Erklärung tritt der König an das hohe Regal mit den kostbaren Büchern heran und zieht aus einem der untersten Fächer einen abgegriffenen Folianten hervor. Der Buchrücken weist feine Risse im Leder auf, spröde vom Alter. Der Goldschnitt ist kaum mehr als eine schwarze Färbung des Papiers und die Prägung auf dem Buchdeckel ist nur noch eine Ahnung unter seinen Fingerspitzen, als er sich einen Moment nimmt, um darüberzustreichen. Schließlich schlägt er das Buch auf und blättert eine Seite nach der anderen um. Immer hektischer werden seine Bewegungen und dabei murmelt er leise vor sich hin, ungehalten.
»Was ist nur los mit dir?«, verlangt Nár zu wissen, während er die Krone an einen herbeigeeilten Bediensteten weiterreicht. »Leg endlich die schwere Robe ab. Setz dich, lehne dich gemütlich zurück und erzähle, was los ist!«, fordert der grauhaarige Zwerg.
Mit einem lauten Knall schließt Thror das Buch und blickt aus geweiteten Augen seinen Gefährten an. »Ich habe ein Versprechen vergessen«, erwidert er mit spröder Stimme, dabei presste er das Buch an seine Brust. »Ich habe vergessen, den Kindern ein Märchen zu schenken. Schon im vergangenen Jahr, hätte ich es fast versäumt. Aber in diesem Jahr ...« Statt den Satz zu beenden, schüttelt er nur hilflos den Kopf.
»Nun, wenn das so ist!«, sagt Nár und tritt näher an den König. Mit ruhigen Bewegungen nimmt er ihm das Buch aus den Händen und klemmt es sich unter den Arm, um mit der anderen Hand nach Thrors Hand zu greifen. »Setz dich, mein Lieber. Es war ein langer Tag und sobald du etwas gegessen hast, überlegen wir, was zu tun ist.«
Ein dienstbarer Zwerg eilt auf Nárs Nicken hin heran. Gemeinsam helfen sie dem König aus der schweren Robe mit dem pelzverbrämten Kragen und dem breiten Gürtel. Die Hände und der volle Bart werden vom Schmuck befreit sowie eine Schüssel mit warmem Wasser und ein angewärmtes Handtuch für eine schnelle Reinigung gereicht. Zu guter Letzt werden dem König die Stiefel von den Füßen gezogen und weiche Pantoffel ihm stattdessen angezogen und als er endlich in seinem Sessel platzgenommen hat, wird ein kleiner Tisch vor ihm aufgebaut. Eilig wird er mit Schüsseln und Schalen gefüllt mit verschiedenen Speisen und einem Krug Bier gefüllt, während im Kamin das Feuer geschürt wird.
»Iss, mein Lieber!«, fordert Nár, der sich einen Schemel herangezogen hat und nun den König beobachtet. »Wir werden eine Lösung finden.«
»Das Gute ist«, beginnt Thror, während er sich ein Stück Fleisch auf den Teller hebt. »Das Gute ist, dass sie noch nicht nachgefragt haben. Die kleine Dís ... Ich verkrafte es nicht, sie traurig zu sehen.«
Nár nickt zustimmend, berührt den König an der Hand, streichelt über die Haut. »Du bist ein zu guter König.«
»Pah!«, stößt Thror aus, während er mit energischen Bewegungen das Fleisch auf dem Teller zerteilt. »Thranduil ist ein guter König und Girion auch – zumindest für einen Menschen und Fürsten. Sie würden niemals ein Versprechen vergessen, das sie gemacht haben!« Ungehalten schüttelt er den Kopf. »Ich versage schon an einem einzigen, meinen Enkeln gegebenen.«
»Warum tust du dir das an?«, fragt Nár mit nachsichtig weicher Stimme. »Warum vergleichst du dich mit diesen beiden Männern? Sie haben nichts mit den Zwergen und deiner Verantwortung gemein. Fast ist es, als würdest du Granit mit einem Diamanten vergleichen wollen.«
»Es ist aber so!«, behauptet der König und schiebt sich ein Stück Fleisch in den Mund, kaut nachdrücklich darauf herum, als müsse er sich damit selbst beweisen, dass es so ist und nicht anders.
»Du bist mit dir selbst uneins und deswegen ungnädig«, stellt Nár grummelnd fest. »Was meinst du wohl, warum der Meister von Esgaroth, Girion und der Elbenkönig ständig hier sind?«, verlangt er zu wissen, lehnt sich leicht vor. Eindringlich blickt er den König an. »Weil sie hier ihre Ruhe finden. Sie suchen Abstand von ihren Pflichten und finden ihn hier im Erebor. Du bist ihr Halt, ihre Zuflucht. Du bist ihr Gewissen. Sieh es, wie es ist: Der Erebor ist der einzige Ort, an dem sich die Hochherrschaftlichen wie die kleinen Kinder streiten dürfen.«
»Du deutest an, dass ich ihre Amme wäre?«, hakt der König nach, wiegt amüsiert das Haupt. »Ich könnte sie ohne Abendessen ins Bett schicken. Oder einen Klapps auf den Allerwertesten geben.«
Nár kichert und bricht schließlich in schallendes Gelächter aus, in welches Thror einfällt. »Der Waldelbenkönig mit blankem Gesäß über deinem Schoß und die Backen rot von deiner Strafe«, sagt er lachend, wischt sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. »Bei Aule! Welch ein herrlicher Anblick muss das sein!«, verkündet er.
»Oh weh! Ich fürchte, ich kann Thranduil nicht mehr in die Augen blicken, ohne das Bild vor Augen«, flüstert Thror, atemlos vom Lachen. Erschöpft lehnt er sich in seinem Sessel zurück, während Nár einen Bediensteten herbeiwinkt, die restlichen Speisen und den Tisch zu entfernen. »Aber was mach ich nun mit den Kindern?«
Nachdenklich streicht Nár durch seinen Bart.
Thror beobachtet seinen Geliebten. Er kennt ihn so gut, wie sich selbst und könnte im Nachhinein den Moment nennen, in dem Nár eine Lösung für sein Problem findet. »Lade sie ein. Mach es ganz offiziell, lass sie sich wichtig fühlen, mit einem König auf gleicher Ebene. Und lasse alles vorbereiten, wie in den vergangenen Jahren. Kissenberg, Plätzchen, Kakao und such ein Märchen aus.«
»Du meinst: Angriff ist die beste Verteidigung?«, hakt Thror nach, doch ist er mehr als zufrieden mit dem Vorschlag. Er ist begeistert. Allein der Gedanke an Dís traurigem Blick im vergangenen Jahr, als sie glaubte, er habe das Märchen vergessen, treibt ihm selbst die Tränen in die Augen.
»Ich weiß, was für ein weiches Herz du hast, besonders, was deine Enkelkinder betrifft. Du kannst nicht abstreiten, dass Dís nur einmal mit dem kleinen Finger winken oder dich anlächeln muss und schon würdest du ihr den Mond vom Himmel holen wollen. Mit Frerin und Thorin ist es das Gleiche. Also: Bau deine Verteidigung aus, bevor die Kinder zum Angriff blasen.« Bekräftigend nickt Nár.
Diese Überlegung kann Thror keineswegs von der Hand weisen. Sie hat Hand und Fuß und das wusste er besser, als jeder andere. »Nun gut«, sagt er und deutet auf das Buch, das auf Nárs Schoß liegt. »Und welches Märchen würdest du vorschlagen?«
Nachdenklich zieht Nár die Stirn kraus, blickt auf das Buch, doch schlägt er es nicht auf, um es zu Rate zu ziehen. »Ich mochte schon immer ein ganz bestimmtes Märchen.«
Interessiert lehnt Thror sich vor. »Ja? Welches?«
Nár zögert, zupft an seinem Bart, als wäre er verschämt und doch ist da etwas, das ihn so sehr beschäftigt, dass er die folgenden Worte nicht zurückhalten kann:
Ein Strauß blühendes Athelas
Wie es sich für einen Geschichtenerzähler geziemt, wartet der König auf seine jungen Gäste. Im Kamin flackert ein lustiges Feuer, davor sind Kissen zu einem Berg aufgetürmt und auf einem Tischchen in der Nähe waren Gebäck, Zuckerwerk und warme Schokolade bereitgestellt worden.
Die Decke, die ihm ein dienstbarer Zwerg über die Beine breiten wollte, hatte Thror mit den Worten kategorisch abgelehnt, dass er kein alter Greis wäre. Jedoch bestand er auf den Becher gewürzten Weines, der aufgewärmt worden war und nun seinen Duft im Raum verbreitet. Der König nimmt einen Schluck und genießt den vollen Geschmack. Wärme breitet sich in seinem Leib aus, welche die Kälte des Alters vertreibt, auch wenn er es nicht recht wahrhaben will. Hinzu kommt, dass Nár das Feuer geschürt hat, so dass die Flammen hoch bis in die Esse schlagen und eine Hitze ausstrahlen, als wären sie Aules Schmiedefeuer. Ein guter Vergleich, wie Thror für sich selbst feststellt. In der Glut geboren, in der Glut wird er seinen letzten Weg antreten. Bald, in nicht zu ferner Zukunft. Womöglich wird er mit Nár an seiner Seite in Mandos Hallen schäumendes Bier trinken, den Gesängen und Erzählungen der Ahnen lauschen.
»Es kann nicht mehr lang dauern. Gleich schlägt die Uhr zur siebenten Stunde«, murmelt Nár. Für einen Moment zieht er die buschigen Augenbrauen zusammen, schien zu zögern, ehe er sich in einen zweiten Sessel setzt, jenem des Königs nicht unähnlich.
»Du zweifelst, ob du in dieser Runde dabei sein darfst«, sagt Thror, spricht damit Nárs Sorge aus. »Deine Zweifel sind unbegründet, mein Lieber. In all den Jahren konntest du sie einfach nicht ablegen. Aber du wirst sehen: Die Kinder lieben dich.«
»Aber ich nehme ihnen die Wahl des Märchens und ...«
»Pah!«, macht der König, fällt seinem Gefährten unwirsch ins Wort. »Du. Wirst. Sehen!«, sagt er, jede einzelne Silbe betonend.
Abwehrend schüttelt Nár den Kopf, deutet auf die Tür, die zu ihrem Gemach führt. »Ich werde do ...«
Wieder wird er unterbrochen, doch dieses Mal durch die geladenen Gäste, die ohne viel Federlesen die Tür öffneten und mit wehenden Schürzen, Rock- und Mantelzipfeln herein toben. Nur Thorin folgt gemächlicher und schließt nachdrücklich die Tür hinter sich.
»Wir sind dahaaaa!«, verkündet Dís, umarmt im nächsten Augenblick den König, der unter dem Ansturm leise ächzt und auch Nár bleibt von einer Umarmung nicht verschont.
Frerin ist zu einem Jungen herangewachsen, den nur noch ein Schritt vom Jüngling trennt. Jeden Morgen blickt er in den Spiegel und hofft, endlich das erste Barthaar entdecken zu können. Doch leider hat er dieses noch nicht gefunden. Dafür strahlt der Schalk aus seinen Augen, kringelt sich lustig in seinen blonden Locken, die sich wie Tag und Nacht von Thorins unterscheiden.
Dieser steht wie ein schwarz-blauer Schatten hinter seinen jüngeren Geschwistern und wartet stumm darauf, den Gastgeber begrüßen zu dürfen. Mit einer Umarmung, die eines Bären würdig ist, begrüßt er seinen Großvater und dessen Gefährten.
»Ist heute Märchenzeit?«, erkundigt sich Dís atemlos, zupft an Thrors Ärmel, geradezu aufgeregt. »Ja? Und welches Märchen wird es sein? Wie heißt es?«
Beschwichtigend hebt der König die Hände. »Mein lieber Nár hat eines ausgesucht. Welches es ist, werdet ihr gleich erfahren«, sagt er und deutet auf den Kissenberg. »Aber nun nehmt Platz, meine lieben Gäste, damit wir gleich beginnen können.«
Jubelnd lässt sich Dís in die Kissen fallen und Frerin folgt ihr, nicht weniger laut. Nur Thorin steht unschlüssig, zögert, sich zu den Geschwistern zu setzen, während Nár sich erhoben hat und die Gebäckschale sowie die Becher mit dem Kakao in Reichweite der Kinder stellt. Zum Schluss schiebt er einen Schemel dichter an den Kissenberg heran. Dicht genug, dass sich Thorin auch von den Keksen nehmen kann. Jedoch auch weit genug von den Geschwistern entfernt, um seinen Status, dass er nicht mehr zu den Zwerglingen gehört, zu verdeutlichen, auch wenn er bei Weitem noch nicht als erwachsen gilt. In seiner Haltung zeigte sich seine Zerrissenheit, seine Unsicherheit, das Eine nicht mehr sein zu wollen und doch etwas davon sein zu wollen. Ein Zwiespalt, der sich vor ihm öffnet und Nár hat ihm einen Ausweg gezeigt, den er nur zu gern annimmt.
Geduldig wartet Thror bis alle sich mit Gebäck und versorgt haben und auch Nár wieder platzgenommen hat, ehe er das Buch aufschlägt. Geradezu gemächlich blättert er durch die Seiten und dabei weiß er doch ganz genau, welche er sucht. Doch amüsiert er sich über die Ungeduld, die Dís deutlich in das Gesicht geschrieben ist.
»Es ist eine alte Geschichte, die ich euch erzählen möchte«, beginnt er. »Sie ist so alt, dass ihr sie bestimmt noch nie gehört habt.«
»Glaub ich nicht!«, verkündet Frerin, der den bunten Zucker von einem Keks puhlt und nur kurz einen Blick seinem Großvater gönnt. »Wir kennen alle Märchen.«
»So so«, sagt Thror mit erhobenen Augenbrauen. »Kennst du auch das Märchen, in welchem ein Strauß blühendes Athelas eine wichtige Aufgabe hat?«
»Das Königskraut?« Frerin zieht nun seinerseits die Augenbrauen nachdenklich aber auch zweifelnd zusammen. »Gibt es denn davon ein Märchen?«
Dís kichert leise. »Du Dummkopf! Selbstverständlich gibt es eines, wenn Großvater es nun erzählt! Eine Geschichte wird vom Erzähler geboren!«
Ihr Bruder wirft ihr einen bösen Blick zu und Thror glaubt schon, dass zwischen den beiden Streithühnchen mal wieder ein Streit ausbricht, doch überrascht ihn der aufbrausende junge Zwerg. Statt einer ruppigen Antwort, presst Frerin die Lippen für einen Moment fest aufeinander, bevor er sich die große Gebäckschale heranzieht, um sich einen besonders schön verzierten Keks herauszusuchen. »Ich lasse mich von dir gern eines besseren belehren, Großvater«, erklärt er huldvoll, ehe er an dem Gebäck herumzuknabbern beginnt.
Thror amüsiert sich insgeheim sehr über Frerins Wortwahl, und auch Nár und Thorin scheint die Spitze gegen die naseweise Dís nicht verborgen zu bleiben. »Nun gut. Dann wollen wir beginnen.«
Lang vor unserer Zeit, in einem anderen Zeitalter und fern unserer Heimat lebte einst ein Kaufmann ...
»Ein Kaufmann?«, fragt Dís und klingt dabei mehr als nur leicht verschnupft. »Das meinst du nicht ernst. Ein Kaufmann! Tztztz.«
Nachdenklich blickt Thror auf die aufgeschlagene Seite. »Wen würdet ihr vorschlagen? Es müsste jemand sein, der Kinder hat.«
Frerin bläst die Backen und Dís knabbert nun still an einem Keks.
»Bleibt ja nur Vater«, sagt Thorin mit einem ergebenen Seufzen.
»Nein! Nein! Nein!«, verkünden seine jüngeren Geschwister unisono. Zumindest hierbei sind sie endlich einer Meinung.
»Ich will in keinem Märchen auftauchen«, führt Frerin seine Abneigung aus und Dís nickt zustimmend.
»Thranduil!«, wirft Nár ein und zerbricht den Moment voller Verzweiflung.
»Nicht schon wieder!«, stöhnt Thorin abgrundtief. »Außerdem hat er nur einen Sohn.«
»Das wird schon gehen«, tut Thror mit einem Winken ab. »Oder möchtet ihr weiterdiskutieren?« Fragend blickt er in die Runde und wendet sich wieder dem Buch zu, als keine Widerworte laut wurden.
Nun stand eines Tages eine große Reise für den König an. Sie sollte ihn weit in den Süden Mittelerdes führen, bis an die Mündung des großen Anduín. Er wollte die großen Häuser von Gondor und Rohan ebenso bereisen wie Caras Galadhon, die Stadt der Elben im goldenen Wald von Lothlorien.
Absprachen mussten mit den Herrschern getroffen und Bündnisse erneuert werden, auch wenn es bedeutete, dass er sich dafür mit kurzlebigen Menschen an einen Tisch setzen sollte. Denn ihr müsst wissen: Der König Thranduil, der Herr über den Grünwald und über die Waldelben war ein eingebildeter Geck, der sich nur mit seiner eigenen Rasse abgeben wollte. Doch er wusste auch, dass all die verschiedenen Völker ohne Einigkeit gegen den Feind aus Mordor nicht bestehen konnten. Dort herrschte Sauron, der immer wieder seine Horden in den Westen sandte, um dort Tod und Zerstörung zu verbreiten. Wie Späher der Rohirrim berichteten, wurde die Festung Minas Morgul, das Tor nach Mordor, ausgebaut. Die Mauern sind erhöht worden, als würde Sauron einen Blick dahinter verhindern wollen. Zudem wurden Orkhorden gesichtet, die über die Braunen Lande nach Norden zogen, auf den Düsterwald zu – zur alten Festung Dol Guldur.
Kurz: Alles wies darauf hin, dass Sauron einen Angriff plante und dies galt es zu vereiteln.
Auch wenn sich alles in Thranduil gegen diese Reise sträubte, musste er sie doch antreten, da sie ihm angewiesen wurde. Wer so vermessen war, einem König Anweisungen zu erteilen? Gandalf, der Graue, selbstverständlich – oder Tharkûn, wie wir Zwerge ihn nannten. Aber von den Elben wurde er Mithrandir genannt.
Und so schimpfte und zeterte der König der Waldelben auf den weißen Rat, in dessen Auftrag der Zauberer handelte und auf den Zauberer im Besonderen, da dieser als Überbringer der Aufgabe zugleich der Urheber war. Er überwachte die letzten Vorbereitungen für die Abreise, gab immer wieder Befehle, wie er etwas gemacht haben wollte. Als alles zu seiner Zufriedenheit gerichtet war, rief er seinen Sohn zu sich.
Der König stockt und blickt seine Gäste an, insbesondere Frerin und Dís gilt sein Augenmerk. »Seid ihr mit der Geschichte zufrieden?«, erkundigt er sich.
»Bisher ja«, erwidert Frerin und Dís nickt bestätigend, den Mund mit Gebäck vollgestopft. »Mammpf – wupff«, gibt sie nuschelnd von sich, was Thror als ein »Mach weiter« interpretiert.
»Nun gut«, sagt er mit einem Seufzen, das mehr als zufrieden klingt und wendet sich der Geschichte wieder zu.
»Mein Sohn«, sagte Thranduil, als dieser zu ihm trat. »Ich werde in Kürze die Reise gen Süden antreten und monatelang fern der Heimat sein. Dir übergebe ich für diese Zeit die Herrschaft über dieses Reich.«
Ohne eine einzige Gefühlsregung hatte Legolas den Worten seines Vaters gelauscht und neigte nun leicht das Haupt. »Eure Ratgeber, werden mir zur Seite stehen, Vater«, erwiderte, noch immer ohne eine Regung.
Nachdenklich blickte Thranduil seinen Sohn an. Er mochte es sich selbst nicht gegenüber eingestehen, jedoch schmerzte ihn die Gefühlskälte, mit der Legolas ihm begegnete.
»Sage mir, was ich dir von der Reise mitbringen kann. Was ist dein Wunsch?« Thranduil war selbst mehr als erstaunt über die Frage, die ihm entschlüpft war. Nicht weniger als Legolas, dem deutlich die Überraschung ins Gesicht geschrieben stand.
»Ihr wisst, dass ich den Garten liebe, den meine Mutter, Eure Gemahlin, einst anlegte. Der Gärtner sagte mir, dass in diesem Garten alle ihm bekannten Gewächse gedeihen. Nur eine Pflanze hat er nicht gefunden. Athelas, das Königskraut«, erzählte der Elbenprinz, eher er für einige Augenblicke verstummte und seinen Vater ansah. »Ich bitte Euch, dass Ihr mir einen Strauß blühendes Athelas mitbringt.«
Der König war über diese Bitte fast ebenso erstaunt, wie zuvor über seine eigene Frage und dieses Erstaunen nahm ihn für einen Moment das Wort. »Nun«, begann er schließlich. »Wenn es in meiner Macht und meinen Möglichkeiten steht, werde ich dir deinen Wunsch erfüllen.«
»Ich danke Euch, Vater«, murmelte Legolas ergriffen. »Es würde mir sehr viel bedeuten, wenn Ihr ihn wahrmachen könntet. Doch mehr würde es mir das Herz erwärmen, wenn Ihr heil und bei bester Gesundheit nach Hause zurückkehren werdet.«
Ein weiteres Mal war der König überrascht über die Worte seines Sohnes, die mehr von seiner Sorge und Liebe zu ihm zeugten, als Gesten und Mimik es jemals gezeigt hatten.
»Ähm – Großvater?« Die Stimme der jungen Zwergin klingt ungewohnt zögernd und unsicher, als sie den König unterbricht.
»Ja, mein Kind?«, fragt er sofort nach, interessiert, was seine Enkeltochter bekümmern könnte.
Diese wedelt mit einer Hand durch die Luft, als würde sie eine Fliege verscheuchen und rümpft dabei ihre kleine Nase. »Könntest du bitte dieses ganze umständliche Gerede überspringen? Das ist wirklich sehr nervig und man muss viel zu sehr aufpassen, wer gerade wen siezt.«
Nár gibt ein zustimmendes Brummen von sich. »Hört, hört«, sagt er. »Das habe ich dir bereits im vergangenen Jahr gesagt. Viel zu umständlich!«
»Ja, mein Lieber«, stimmt ihm Thror zu und verdreht dabei so gekonnt die Augen, als wäre er bei Frerin in die Lehre gegangen. »Musst du es mir vor den Kindern unter die Nase reiben?«
»Kinder!«, widerspricht Thorin knurrig, wie es einem Zwerg ansteht, der noch nicht erwachsen ist, aber zu den Erwachsenen gezählt werden will. Egal, in welcher Lebenslage. Dís und Frerin hingegen lauschen gebannt dem liebevollen Geplänkel zwischen dem Großvater und dessen Gefährten.
»Ja, selbstverständlich«, erwidert dieser und seine Augen funkeln dabei belustigt. »Schließlich benötige ich Zeugen für das kommende Jahr, da dein Gedächtnis immer schlechter zu werden scheint. Am Ende wirst du mir erzählen wollen, dass ich dir dies nie gesagt hätte.«
»Pah!«, gibt der König von sich. »Ich werde dies niemals vergessen!«
Nár sagt dazu nichts, doch ist ihm deutlich seine Belustigung anzusehen.
Gerührt legte Thranduil seinem eine Hand auf die Schulter, bevor er ihn für einen Augenblick in die Arme zog. Ein intensiver Moment, in welchem die Taten von ihrer Verbundenheit sprach, die sie nie so offen gezeigt hatten.
»In wenigen Monaten werde ich zurück sein und so es mir bestimmt ist, werde ich jeden deiner Wünsche erfüllen.«
Nach diesen Worten schwang er sich in den Sattel seines Reittieres, einem Hirsch mit mächtigem Geweih.
Mit einem lauten Knall schlägt Thror das Buch zu, was seine Zuhörer erschrocken zusammenzucken ließ. »Schluss für heute«, verkündet er, woraufhin ein mehrstimmiges Murren zu hören ist.
»Aber morgen geht es weiter?«, erkundigt sich Dís sofort und stibitzt sich noch eine Hand voll Gebäck, das sie eilig in die Tasche ihres Rockes gleiten lässt.
»Selbstverständlich!«, erklärt Frerin, der sich ebenfalls ein letztes Mal aus der Schale bedient.
»Morgen, zur gleichen Zeit.« Nár hat sich aus seinem Sessel erhoben und begleitet die jungen Gäste zur Tür. »Es werden wieder ausreichend Kekse und Kakao bereitstehen. Wie immer.«
Alles ist wieder vorbereitet, wie am Abend zuvor und ebenso wie in den vergangenen Jahren: Im Kamin lodert ein Feuer und verbreitet wohlige Wärme. Der Kissenberg ist mit weichen Decken und Fellen aufgeschichtet und in der Nähe stehen Schalen, randvoll mit Gebäck und Zuckerwerk. Ein dienstbarer Zwerg stellt gerade einen Krug mit warmer Schokolade dazu, als mit Schwung die Tür aufgestoßen wird.
Wie zwei Wirbelwinde stürmen Frerin und Dís herein, langsamer folgt Thorin, gemessener, und schließt die Tür hinter sich.
»Großvater!«, verkündet das Zwergenmädchen. »Wir sind schon da!«
»So, so«, sagt er, die Augenbrauen erstaunt hochgezogen und schelmisch lächelnd. »Wie du siehst, habe ich bereits auf euch gewartet.« Bei den Worten deutet er auf das Buch, das auf dem Tischchen neben ihm liegt, sowie auf den Kissenberg und das lodernde Feuer und die Gebäckschalen und dem Krug voll dampfender Schokolade und schließlich auf Nár, der soeben aus dem Nebengemach tritt, angetan mit einem bequemen Hausmantel und Fellpantoffeln.
»Wie schön! Nun kann es ja endlich weitergehen!«, sagt dieser und winkt einladend den Zwerglingen, es sich bequem zu machen.
Sie lassen sich nicht zweimal bitten. Frerin und Dís thronen auf der Kuppe des Berges aus Kissen, erstaunlich friedlich dicht nebeneinander, während es sich Thorin nun an der Flanke des Hügels bequem macht.
Als die Zwerglinge versorgt sind und sich Nár in seinen Sessel zurücklehnt, hat der König das Märchenbuch bereits auf seinen Schoß gehoben und es aufgeschlagen.
Viele Monate war der König unterwegs. Er folgte dem Anduin hinab gen Süd, machte Station in Lothlorien, eilte am Fangoldwald vorbei zu den Clans der Pferdemenschen, um nach Minas Tirith zu gelangen. Im Haus des Truchsessen verbrachte er fast einen ganzen Monat, um die Feindesbewegungen vor Minas Morgul zu beobachten und den Truchsess von der Wichtigkeit der Wehrfähigkeit der Feste zu überzeugen. Genau, wie Mithrandir es ihm aufgetragen hatte.
Auch wenn Thranduil sich zum Beginn der Reise gegen diese Aufgabe gesträubt hatte, hatte er schnell die Dringlichkeit eingesehen. Es war seine Pflicht, die Welt der freien Völker vor der dunklen Bedrohung zu schützen. Doch verlor er auch das Versprechen, das er seinem Sohn gegeben hatte, nicht aus den Augen. Überall, wohin er kam, suchte er nach dem Königskraut. In manchen Gegenden war es nur nach dem Hörensagen bekannt, aber gesehen hatte es niemand. In anderen Gegenden war es bekannt, aber weil es bereits Herbst war, war seine Suche nach dem blühenden Kraut vergebene Liebesmühe.
Seine letzte Hoffnung war Elrond, der Herr von Imladris, der einen ausgesucht edlen Garten in Bruchtal besitzen sollte. Zudem sollte sein Gärtner ein Gelehrter auf seinem Gebiet sein, jemand ...
»Mit einem grünen Daumen!«, ruft Frerin dazwischen und angelt zugleich einen Keks mit besonders viel buntem Zuckerguss aus der Gebäckschale.
... mit einem grünen Daumen, dem sämtliche Gewächse gut gerieten und selbst die anspruchsvollsten wuchsen und gediehen. Aber auch dieser konnte ihm nicht helfen. »Selbst hier, im verborgenen Tal, verfolgen uns die Jahreszeiten«, sagte ihm der Gärtner mit einem Augenzwinkern. »Kommt im Frühjahr wieder. Dann kann ich Euch ein blühendes Athelas präsentieren. Aber im Moment ... Verzeiht, wenn es nicht in meiner Macht steht, Euch damit dienen zu können.«
Enttäuscht darüber, seinem Sohn nicht diesen simplen Wunsch erfüllen zu können, ließ Thranduil seine Sachen packen und machte sich zur Abreise bereit. Zudem waren seine Aufgaben erfüllt, denn er hatte dem weißen Rat Bericht erstattet. Nichts stand mehr seiner Heimreise entgegen.
Gerade, als er in den Sattel seines Hirsches steigen wollte, wurde er vom Gärtner aufgehalten, der ihn zur Seite in eine kleine stille Nische zog, abseits der Elben, die sich im Hof befanden.
»Mein Herr«, flüsterte der Gärtner, sah sich noch einmal um, um sicher zu gehen, dass ihn niemand belauschen kann. »Eine Lösung wüsste ich für Euer Problem. Es ist aber gefährlich. Euer Leben könnte in Gefahr geraten ...«
»Nun sprich schon!«, unterbrach Thranduil den guten Mann. »Ich werde jedes Wagnis in Kauf nehmen, um meinem Sohn diesen Wunsch zu erfüllen!«
»Wirklich?«, hakte der Gärtner ungläubig nach, eher er die Schultern straffte. »Nun gut: Es heißt, dass in Beorns Garten selbst im tiefsten Winter Frühling herrsche. Versucht es dort, aber ...«
Hoffnung flammte im Herzen des Königs auf und er achtete nicht mehr auf die Warnung, die ihm der Gärtner geben wollte. Unwirsch schüttelte er dessen Hand ab, die nach seinem Arm gegriffen hatte, um ihn zurückzuhalten.
»Mein Herr!«, flehte er. »Wenn ich gewusst hätte, dass Ihr so kopflos voranstürmt, hätte ich Euch nicht davon erzählt! Es wird Euer Tod sein.«
»Nein, ich bin keineswegs kopflos, guter Mann«, erwiderte Thranduil. »Und ich danke Euch, dass Ihr mir von diesem Garten erzählt habt. Ihr versetzt mich mit dieser Auskunft der Möglichkeit aus, meinen Sohn glücklich zu sehen.«
»Meint Ihr nicht, dass er allein schon deswegen glücklich wäre, Euch bei bester Gesundheit zu sehen?«
Leise lachte der König. »Um wie vieles mag er sich dann freuen, wenn ich ihm das blühende Athelas präsentieren kann?«
Für einen Moment zog der Gärtner die Augenbrauen zusammen, doch schüttelte er dann nur das Haupt und wandte sich zum Gehen.
»Es ist Eure Haut, die Ihr zum Markte tragt«, glaubte Thranduil, den Mann sagen zu hören.
Ja, es war seine Entscheidung und in diese wollte er sich nicht hineinreden lassen. Weder von dem Gärtner, von dem er den Ratschlag erhalten hatte, noch von Elrod, der soeben auf ihn zuschritt, einen wissenden Funken im Blick.
Eilig schwang sich der König der Waldelben in den Sattel und ehe der Herr von Bruchtal bei ihm war, um ein letztes Wort mit ihm zu wechseln, wendete er den Hirsch und ritt zum Tor hinaus.
Thror verstummt und greift nach dem Becher, der neben ihm auf dem Tischchen steht, auf dem auch zuvor das Buch gelegen hatte. Genüsslich nimmt er einen tiefen Schluck und genießt zugleich die ungeduldige Unruhe, die die Kinder zu unterdrücken suchen.
»Großvater!«, drängelt dann auch schon Frerin und wird prompt mit einem gezischten »Frin!« Von Thorin zurechtgewiesen.
»Darf ein alter Mann nicht seine trockene Kehle anfeuchten?«, erkundigt er sich gutmütig, zutiefst amüsiert über die noch kindliche Ungeduld.
»Doch, selbstverständlich darfst du das«, erwidert Dís großmütig und wirft ihrem Bruder einen bösen Blick zu. »Alte Zwerge müssen viel trinken, sonst vertrocknen sie und zerfallen irgendwann zu Staub.«
»Hört, hört!«, murmelt Nár voll unterdrücktem Lachen. »Nun lasst den König etwas trinken, bevor er nur noch eine Staubwolke ist.«
Thranduil ließ das Tal von Imladris schnell hinter sich zurück und eilte durch das Nebelgebirge. Ein schwerer Sturm und ein Felsschlag hielten ihn auf, jedoch nur kurzzeitig. Erst am Fuß des Gebirges, dem Zugang zur weiten Flussebene des Anduin, zügelte er den Hirsch.
Hier begann das Reich von Beorn, dem Pelzwechsler. Die weite Ebene zwischen dem Nebelgebirge und dem Düsterwald war das Gebiet, in welchem er auf die Jagd nach Trollen und Orks ging, und allen Wesen, die den freien Völkern schaden wollten.
Aus Erzählungen wusste der König, dass Beorn seine Behausung in einem alten Eichenwald östlich des Anduins haben soll. Mehr war ihm aber nicht bekannt und soweit er gehört hatte, hatte noch nie jemand berichten können, ob die Geschichten über Beorn wahr wären.
Wie man weiß, wird stets mehr als genug erzählt, wenn der Tag lang ist – und es ist dabei vollkommen egal, ob Menschen, Elben oder Zwerge die Reden schwingen.
»Wie wahr!«, murmelt Nár zustimmend. Thror hebt kurz seinen Blick, schenkt seinem Gefährten ein leichtes Lächeln, ehe er sich wieder der aufgeschlagenen Seite zuwendet.
Wie Thranduil zu diesem Eichwald gelangen soll, wusste er nicht. Ihm fehlte jeglicher Anhaltspunkt, nach welchem er sich richten könnte. Das einzige, an das er sich halten konnte, war tatsächlich nur das Wissen, in welcher Richtung der Wald ungefähr zu finden sei.
So machte er sich nach einer kurzen Rast auf den Weg, folgte der Straße und durchritt am Vorabend des nächsten Tages die Furt des Anduins. Noch färbte die Sonne mit ihren letzten Strahlen den Himmel und so entschloss er sich, unweit der Straße sein Nachtlager aufzuschlagen. Der König versorgte den Hirsch, ließ ihn vom Gras fressen, das hier am Ufer des breiten Flusses saftig war und nicht so störrisch und spröde wie das in der Ebene. Unweit der Straße schlug er sein Nachtlager auf und bettete sich schließlich zur Ruhe.
So müde der König auch war, konnte er trotzdem keine Ruhe finden. Selbst das Äsen des Hirschs, das ihm sonst ein willkommenes und vertrautes Geräusch war, störte ihn. Unruhig warf er sich von einer Seite auf die andere, verfluchte zum Einen das Steinchen, das ihn am königlichen Gesäß drückte, zum Anderen das Stöckchen, das ihm durch die Unterlage und die Kleidung in die Seite stach.
Was ihm endgültig den Schlaf raubte, war das Brüllen eines Bären und wegen der Weite des Graslandes fiel es Thranduil schwer, die Entfernung abzuschätzen. Doch reagierte der Hirsch verängstigt, als würde das Tier in unmittelbarer Nähe sein.
Eilig packte der König seine Habseligkeiten zusammen, sattelte den Hirsch und schwang sich auf dessen Rücken. Kaum dass er im Sattel saß, jagte das Tier die Straße entlang in Richtung Düsterwald. Verzweifelt klammerte sich der König an dem Sattel fest. Angst erfüllte ihn so sehr, dass es ihm egal war, dass er möglicherweise an dem Eichenwald vorbeireiten und somit den Wunsch seines Sohnes nicht erfüllen könnte.
Zudem schien das Brüllen des Bären immer näher zu kommen. Der Hirsch schwang verängstigt den Kopf mit dem mächtigen Geweih von einer Seite auf die andere und Schaum stand ihm vor dem Maul. Plötzlich erscholl das Brüllen dicht neben ihnen. Ein schwarzer Schatten jagte neben dem Hirsch durch die Dunkelheit und trieb das Tier von der Straße. Durch das herbsttrockene Gras jagte der Hirsch, über Stock und Stein. Auch als der Schatten verschwand und sich das Brüllen wieder entfernte, rannte der Hirsch weiter.
Als der Morgen graute, entdeckte der König in der Ferne ein schmales Band und er vermutete, den Düsterwald vor sich zu haben. Wenig später tauchte er in die dunklen Schatten von Eichenbäumen ein. Herbstlaub bewegte sich sanft in einer leichten Brise und schien einen sanften Hauch von Frühling mit sich zu bringen.
Thranduil folgte dem Duft, bis die Bäume so dicht standen, dass der Hirsch nicht mehr hindurch kam, ohne mit dem Geweih zwischen den Stämmen hängen zu bleiben. Er ließ sich aus dem Sattel gleiten und folgte zu Fuß dem süßen Geruch bis er zu einer weiten Lichtung kam.
Warm schien die Sonne von einem Himmel, über dessen Blau vereinzelte Wolken zogen. Bienen erfüllten die Luft mit einem steten Summen, flogen von Blüte zu Blüte, die sich den Sonnenstrahlen entgegen reckten. Sonnenblumen leuchteten gelb, während sie mit ihren Blättern den Krokussen Schatten spendeten und Rosenknospen sich zu vielblätterige Blüten öffneten. Jenseits der Lichtung schimmerte golden das Getreide und zugleich an anderer Stelle, saftig grün. Und in der Mitte der Lichtung, auf einer sanften Anhöhe, stand eine schlichte Hütte, mit Stroh gedeckt, Blumenkästen vor den Fenstern und einigen Hühnern, die gackernd im Sand scharrten.
Thranduil blickte auf den Garten, der ein Wunder war, wie er es noch nie gesehen hatte. Das erste Grün entdeckte er hier neben Sträucher voller Nüsse. Sträucher und Bäume blühten, während Beeren, Äpfel und Kirschen am gleichen Zweig wuchsen.
Es war ein Zauber und dieser Zauber wurde von dem Hausherrn gewoben.
Dieser trat gerade aus der Hütte und entgegen den Erzählungen, die er bisher gehört hatte, war Beorn keineswegs so groß wie ein Troll. Er trug ein schlichtes Leinenhemd, das ihm bis zu den Knien reichte und Arme unbedeckt ließ. Bart und Haar waren lang und schwarz und sein Blick war wild, als er sich umsah, als könne er den ungeladenen Besucher spüren.
Eilig trat der König in die Schatten zurück und verbarg sich hinter einem Baum.
»Ich will warten, bis Beorn auf die Jagd geht«, sagte sich der König. »Sobald er die Lichtung verlässt, kann ich nach dem Athelas suchen.«
Gesagt, getan.
Sobald der Mond über dem Zaubergarten aufging, trat der Herr der Lichtung vor seine Hütte und entledigte sich des Leinenhemdes. Für einen Augenblick stand er im Licht des Mondes, ehe er sich veränderte. Die Schultern wurden breiter und die zuvor schon mächtigen Muskeln wurden noch mächtiger. Haut wurde von so schwarzem Fell bedeckt, wie der Mann Haar und Bart hatte. Der Mund formte sich zu einer Schnauze, in welchem die Zähne weiß schimmerten und schließlich erschütterte ein tiefes Brüllen die Lichtung und ließ sogar die Blätter über Thranduil erzittern.
Noch einmal schwang der Bär seinen Kopf hin und her, als würde er etwas prüfen, bevor er davonstürmte und jenseits der Lichtung zwischen den Bäumen verschwand.
Thranduil lauschte auf die Geräusche des Bären und dessen Brüllen und erst, als nur noch die nächtlichen Stimmen des Waldes zu vernehmen waren, wagte er sich aus seinem Versteck.
Er eilte über helle Kieswege, schritt an Beet um Beet vorbei und war der Verzweiflung nahe, als die Nacht voranschritt und er das Gesuchte nicht entdeckte. Schließlich fand er das Königskraut, spürte deren Kraft in der Luft, da es die Müdigkeit vertrieb und ihm neue Kraft schenkte und überaus groß war seine Freude, da das Kraut in voller Blüte stand.
Ungeachtet seiner Beinkleider kniete er sich nieder und begann mit den Fingern die Pflanze auszugraben. Schließlich hielt er sie in den Händen und wandte sich, zufrieden, den Wunsch seines Sohnes erfüllen zu können, zum Gehen.
»Was machst du hier?!«
Erschrocken wirbelte der König herum und stand dem Bären gegenüber. Dieser hatte sich auf die Hinterbeine gestellt und erhob sich wie ein Berg vor ihm. Ein bedrohlicher Schatten. »Du bist in meinen Garten eingedrungen und stiehlst meine Pflanzen!«
Die Anklage konnte Thranduil nicht von der Hand weisen. »Ja, Herr«, gab er zu. »Doch war es in guter Absicht geschehen! Mein Sohn hat sich sehnlichst diese Pflanze gewünscht. Ein blühendes Athelas. Das war sein einziger Wunsch, den ich ihm zu gern erfüllen wollte.«
»Und dafür nimmst du deinen Tod in Kauf?«, grollte der Bär und kam langsam auf ihn zu. »Für diesen Frevel könnte ich dich in Stücke reißen!«
»Ja, das könntet Ihr«, stimmte Thranduil leise zu. Zugleich verspürte er Hoffnung. »Doch habt Ihr es nicht getan, obschon es Euer gutes Recht ist. Nun frage ich mich, was ich Euch anbieten könnte. Als Gegenleistung. Der Garten meiner verstorbenen Gemahlin ist von ausgesuchter Schönheit und beherbergt so manche kostbare Pflanze, die Euch womöglich noch fehlen könnte.«
Beorn verharrte. »Ein Gewächs mag ich nicht. Wie du siehst, habe ich sie selbst in ausreichendem Maße.« In einer nachdenklichen Geste den Kopf schief. »Was mir jedoch fehlt, ist ein Gefährt an der Seite. Darum wünsche ich mir das erste Lebewesen, das dir begegnet, sobald du dein Heim betrittst.«
Thranduil war mit diesem Wunsch zufrieden, da das erste Lebewesen, was ihm begegnen würde, einer der Jagdhunde wäre, die auf dem Hof häufig frei herumliefen. Im schlimmsten Fall könnte es eine Wache sein, die ihren Dienst verrichtete oder der Stalljunge. Aber kommt Zeit, kommt Rat, und nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Und so schob der König seine Bedenken zur Seite und stimmte Beorns Wunsch zu.
Für einige Augenblicke ist es still im Raum. Nichts ist zu hören, bis Dís ungehalten die Luft ausstößt. »Das kannst du nicht machen, Großvater!«, beschwert sie sich. »Gerade an der interessantesten Stelle machst du Schluss? Unfassbar!«, zetert sie, während sie sich vom Kissenberg gleiten lässt. Die Hände in die Seiten gestützt, baut sie sich vor dem König unter dem Berg auf und blickt ihn erzürnt an. »Du willst uns wirklich bis morgen warten lassen?«
Gerade in dem Moment beginnt tief im Berg eine Glocke zu schlagen. »Wie du selbst hörst, ist es schon spät und am Morgen hast du wieder bei Balin Unterricht. Er wird mit mir schimpfen, wenn ihr wegen mir verschlafen solltet«, wendet er ein und erhält dafür ein beleidigtes Naserümpfen seiner Enkeltochter. »Und die Amme? Sie wird euch wieder Vorhaltungen machen.«
Frerin zupft an einem Barthaar herum, als wäre er nachdenklich, während sich Thorin Kekskrümel mit der Hand vom Hemd fegt. »Morgen, zur gleichen Zeit?«, erkundigt er sich, wobei sich Thror gar nicht so sicher ist, ob es nun eine Frage ist oder eine Festlegung.
»So wird es sein«, sagt er daher nur und beobachtet seinen Gefährten, der die jungen Gäste zur Tür begleitet und sie für die Nacht verabschiedet.
Mit wehendem Umhang flitzt der König unter dem Berg durch die langen Flure des Erebors. Die Krone, die ihm schon drohte vom Kopf zu rutschen, reißt er sich im letzten Moment herunter und trägt sie in der Hand. Mit der anderen hält er seinen prächtigen Bartschmuck, da ihn das leise Klirren der Glieder an ein Glockenspiel erinnert. »Dieser verfluchte ... Mensch!«, zetert er dabei ungehalten. »Girion!«, zischt er, weil ihm gerade kein Schimpfwort einfallen will, das auf den Fürsten von Thal zutrifft.
Gerade, als er nach weiteren Worten sucht, wird am Ende des Ganges eine Tür geöffnet und unwillkürlich wird er langsamer, als das warme Licht von Kerzen das Dunkel des Flurs zerschneidet. Er liebt diesen Anblick und ein warmes Gefühl, dem Versprechen von Geborgenheit und Halt, macht ihm das Herz leicht.
»Dich hört man schon seit einer guten halben Stunde durch die Flure und Hallen des Berges klimpern«, erklingt die Stimme seines Gefährten aus der Wärme und nur Augenblicke später verdunkelt dessen Schatten das warme Licht.
»Wenn es nur so wäre!«, brummt der König. Im nächsten Moment wedelt er mit der Hand, in der er die Krone hält, aufgebracht in die Richtung, in der er den Thronsaal weiß. »Dieser eingebildete Jüngling von Fürst ...«, beginnt er zu zetern, doch bevor er mehr sagen kann, wird er von Nár in die warme Stube gezogen. Die Tür sperrt die kalte Dunkelheit aus.
»Was ist los?«, verlangt er zu wissen. »Spielen die Kinder wieder verrückt?« Und wir wissen, wen er mit »Kinder« meint.
Mit einer gereizten Bewegung übergibt Thror einem Bediensteten die Krone, während er sich von Nár und einem weiteren Zwerg aus der Robe helfen lässt. »Schlimmer als Zwerglinge!«, zetert er weiter. »Kinderstube kennt das Bübchen überhaupt nicht – hat sie nie kennengelernt!«
»So so«, sagt Nár nachsichtig und gibt einem weiteren Zwerg ein Zeichen, woraufhin dieser das Abendmahl für den König auftischt. »Worüber regst du dich eigentlich so auf?«, verlangt er zu wissen, erwartet aber im Grunde keine Antwort, da er Thror zum gedeckten Tisch schiebt und ihn zum Setzen drängt. »Nun lass das alles hinter dir. Genieße das gute Essen und die Ruhe.«
»Aber die Kinder werden gleich kommen!«, wendet der König abwehrend ein. »Und warum ist noch nicht alles vorbereitet?« Fragend hat er die Augenbrauen hochgezogen und deutet auf den Kamin, in welchem das Feuer noch nicht so hoch lodert, wie am Abend zuvor. Der Kissenberg ist zwar schon aufgeschichtet, aber die Kleinigkeiten wie gefüllte Gebäckschalen und die Kanne mit warmer Schokolade fehlen.
Begütigend legt Nár Thror eine Hand auf den Arm. »Die Kinder kommen eine Stunde später. Morgen können sie ausschlafen. Das ist alles schon mit der Amme und mit Balin geklärt.«
»Nun. Wenn das so ist«, murmelt der König und sinkt geradezu kraftlos auf den Stuhl, der für ihn zurecht geschoben wurde. Gleich darauf wird ihm ein Messer in die eine Hand gedrückt, eine Gabel in die andere. Ein Teller mit Fleisch und Brot wird ihm vorgesetzt sowie ein Becher schäumenden Bieres.
Während er nun sein Abendmahl in aller Ruhe genießen kann, beobachtet er seinen Gefährten, der die Vorbereitungen und letzten Handgriffe für den Abend überwacht, Anweisungen erteilt. Als es dann endlich an der Tür klopft, ist alles bereit und ohne langes Federlesen kann der König unter dem Berg das Märchen weitererzählen.
Thranduil eilte zum Hirsch, der sich glücklicherweise nicht von der Stelle bewegt hatte und barg das Athelas in der Satteltasche.
Es war seltsam, wie schnell er zurück zur Straße fand, doch tat er es als Zufall ab. Noch am gleichen Abend überschritt er die Grenze zu seinem Reich und mit den ersten Sonnenstrahlen erreichte er sein Schloss.
Auf dem Hof war alles ruhig. Still und verlassen lag er vor ihm, ebenso wie der Sattelplatz, auf dem er seit Reittier zurückließ. Keine Seele war zu sehen. Sogar die Hunde und Katzen, die sonst auf dem weitläufigen Gehöft umher stromerten waren nicht zu sehen.
Mit einem unzufrieden Seufzen nahm er das Königskraut aus der Satteltasche, das noch immer in voller Blüte stand und seinen frischen Duft verströmte, sobald er über die Blätter strich.
Das Waldschloss betrat Thranduil durch einen Seiteneingang, der ihn an der Küche und den Gesindestuben vorbeiführte. Nirgends begegnete er einem Lebewesen. Doch war ihm, als würde er etwas hören und er folgte einer leisen Melodie bis er vor der Tür zu den Räumen von Legolas stand.
Zögernd klopfte er an, unsicher, ob er so früh am Morgen willkommen wäre, doch zogen ihn die sanften Töne magisch an.
Als die Tür geöffnet wurde, verklang die Melodie und mit einem Schlag fiel ihm das Versprechen ein, das er dem Pelzwechsler gegeben hatte. Legolas war das erste Lebewesen, welches er begegnet war und sollte nun der Gefährte des Bären sein.
»Ich habe es gewusst!«, verkündet Dís zufrieden und erntet dafür von Frerin ein Zupfen an einem Zopf, das sie schmerzerfüllt Quietschen lässt.
»Nicht so doll, Frin!«, wird er von seinem älteren Bruder ermahnt. Doch erstaunlicherweise brechen die jüngeren Geschwister nicht in einem lautstarken Streit aus, wie er in letzter Zeit zwischen ihnen Gang und gäbe ist.
Thror zieht darüber erstaunt die Augenbrauen hoch und nimmt sich im Stillen vor, dieses Phänomen weiter zu beobachten.
Voller Gram sank der König auf der Schwelle zusammen. Unter Tränen verfluchte er das Königskraut, das ihm den Sohn nehmen wollte.
»Was ist geschehen, Vater?«, verlangte der Elbenprinz zu wissen und so musste der König es ihm berichten.
»Grämt Euch nicht, Vater«, sagte Legolas, als er geendet hatte. »Womöglich findet sich ein Ausweg.«
»Doppelzüngiges Elbengezücht!«, murmelt der schwarzhaarige Erbe.
Wieder wandern Thrors Augenbrauen nach oben und er wirft seinem Gefährten einen fragenden Blick zu. Auch dieser wirkt erstaunt über die Wortwahl Thorins. Doch ist dies kein Thema, um es zum jetzigen Zeitpunkt zu klären.
»Ich habe ein Versprechen gegeben!«, wandte der König ein. »Willst du mir jetzt Hoffnung machen, wo ich keine erkennen kann?«
Legolas hat nach dem Athelas gegriffen, barg es sanft wie eine Kostbarkeit in den Händen. »Wir werden das Königskraut in den Garten pflanzen. Wenn es anwächst und neue Blüten treibt, werde ich tun, was getan werden muss.«
»Du wirst gehen, mein Sohn«, flüsterte der König, doch Legolas zuckte nur mit den Schultern.
»Kommt Zeit, kommt Rat. – Aber nun möchte ich mich von Herzen bei Euch dafür bedanken, dass Ihr mir das blühende Athelas gebracht habt. Vermutlich wird es welken und eingehen, was Euer Versprechen, das Ihr gegeben habt, mehr als tragisch machen könnte. Aber, Vater, Ihr sollt wissen, dass mir Eure Rückkehr sehr am Herzen liegt. Wenn Ihr mit leeren Händen nach Hause gekommen wärt, wäre es nicht schlimm. Wichtig ist für mich, dass Ihr zurück seid.«
Der König war sehr erfreut und zugleich erstaunt über die Worte seines Sohnes, da er nie gedacht hatte, eine solch tiefe Liebe von ihm zu empfangen. Zugleich verspürte er eine gleiche tiefe Liebe zu seinem Sohn.
Gemeinsamt pflanzten sie das Königskraut in den Garten. Wie Legolas gesagt hatte, welkte es, wurde grau und unansehnlich. Doch im Frühjahr zeigten sich viele grüne Blättchen. Wenn man es berührte, zog kurz darauf sanfter Duft über die Beete, machte das Herz desjenigen leicht, der es roch. Selbst solche schwere Gedanken, dass ein Versprechen gemacht worden und einzuhalten war, vertrieb es. Aber neue Blüten zeigte es nicht, was Legolas sehr betrübte.
Eines Abends, kurz nachdem die Sonne untergegangen war, stand ein schwarzer Bär vor dem Schloss. »Gebt mir, was mir zugesagt worden war«, verlangte er vom König, der zum Tor geeilt war.
Auf Thranduils Befehl hin wurde sein liebster Jagdhund gebracht, der ihn stets als erster begrüßte, wenn er den Hof betrat. »Dieser begegnete mir auf dem Hof«, log er.
Doch ablehnend warf der Bär den mächtigen Kopf hin und her, brummte tief. »Dies ist nicht der Gefährte, den Ihr mir versprochen habt.«
Als nächstes ließ der König den Bediensteten bringen, der ihm jeden Morgen die warme Schokolade brachte.
Noch bevor Thranduil etwas sagen konnte, schüttelte der Bär ein weiteres Mal den Kopf. »Auch dies ist nicht der Gefährte, den Ihr mir versprochen hattet. Wollt Ihr mich verspotten?«
»Nein, das will er keineswegs!«, sagte in dem Moment Legolas und trat vor. »Er liebt mich und will mich schützen.«
»Wenn er Euch schützen wollte, hätte er nicht in fremden Gärten eindringen und unerlaubt Pflanzen rauben dürfen«, wandte der Bär brummig ein und trat näher an das Tor heran. »Und nun kommt.«
»Nein!«, widersprach Thranduil. »Legolas wird Euch nicht begleiten, Bär. Die Absprache ist hinfällig.«
»Ihr habt es versprochen!«, grollte das Tier. »Seit wann steht ein Elbenkönig nicht zu seinem Wort?« Das eiserne Tor erbebte unter seinem wütenden Ansturm. »Lügengezücht! Ich verfluche Euch und Euer Haus, wenn Ihr bis Mitternacht nicht Euer Wort haltet!«
Thror blickt fragend seine Zuhörer an. »Was meint ihr wohl, was geschehen wird?«
»Ich habe gewusst, dass das Spitzohr Beorn linken will!«, verkündet Frerin, ohne auf die Frage seines Großvaters einzugehen.
»Frin!«, wird er von Thorin zurechtgewiesen. »Jeder würde versuchen, aus einem solchen Versprechen herauszukommen.«
»Ich nicht!«, erwidert der junge Zwerg im vollsten Brustton der Überzeugung, die überhaupt möglich war. »Ich werde niemals jemanden aufs Kreuz legen.«
Skeptisch verzieht Thorin die Lippen, sagt jedoch nichts, wofür Thror ihm mehr wie dankbar ist.
»Er wird sich neue Ausflüchte einfallen lassen«, wirft Dís ein.
Nachdenklich zieht Thorin die Stirn kraus. »Welcher Vater, der seine Kinder liebt, wird seine Kinder einem ... Monster ausliefern?«
Frerin lehnt sich vor, um seinen Bruder in die Augen blicken zu können. »Er hat sein königliches Wort gegeben. Wenn Thranduil sein Versprechen bricht, wird er seine Ehre verlieren.«
»Wohl wahr«, stimmt ihm Nár zu und wendet sich Thror wieder zu. »Nun will ich aber wissen, wie es weitergeht.«
»Eine Frist wird nicht notwendig sein«, sagte Legolas und wandte sich dem König zu. »Ihr habt Euer Wort gegeben, Vater. Ihr habt mir meinen Wunsch erfüllt und dafür danke ich Euch. Nun ist es an mir, Eure Ehre zu bewahren und mit dem Bären zu gehen.«
»Er wird dich fressen, Sohn!«, wandte Thranduil besorgt ein. »Er ist ein Monster!«
»Wir wären nicht besser, wenn wir davon ausgehen würden, Vater«, erwiderte Legolas, berührte den König am Arm. »Er hätte Euch schon zerreißen können, als Ihr in seinem Garten ward. Er hätte einfach in das Schloss eindringen können, um zu holen, was ihm versprochen worden war. Es wäre sein gutes Recht gewesen.«
Der König musste einsehen, dass sein Sohn recht hatte, doch schmerzte es ihn sehr, ihn gehen lassen zu müssen.
Auf dem Rücken des Bären wurde Legolas durch den Düsterwald getragen und bald stand er vor seinem neuen Heim.
»Mit dem ersten Sonnenstrahl werde ich zurückkehren. Drinnen findet Ihr alles, was Ihr benötigt«, sagte der Bär und wandte sich zum Gehen.
»Warum verlasst Ihr mich?«, verlangte Legolas zu wissen. »Erst besteht Ihr auf meine Anwesenheit und nun lasst Ihr mich hier zurück.«
»Es ist die Pflicht, die mich forttreibt«, erwiderte der Bär. »Ich muss Orks jagen und anderes Übel vernichten, um die Freiheit der Völker zu bewahren.«
»Das ist ein hehres Ziel«, sagte der Elbenprinz. »Ich werde auf Eure Rückkehr warten.«
Als der Bär zwischen den Bäumen verschwunden war, betrat Legolas die Hütte und sah sich um. Auf dem Tisch stand ein Krug mit frischer Milch, neben frischem Brot und goldgelben Honig, als wäre es für ihn bereitgestellt worden. Er nahm sich davon und wartete dann auf der Bank vor der Hütte, dass der Bär zurückkehrte.
Mit dem ersten Sonnenstrahl trat der Bär zwischen den Bäumen hervor und mit jedem Schritt, den er aus dem schattendunklen Wald tat, wurde er mehr zu einem Menschen. Legolas beobachtete den Mann, der nun langsam näher trat und der ungeachtet seiner Nacktheit offen seinen Blick erwiderte. Keinerlei verschämtes Gebaren entdeckte der Elb. Der Mann versuchte nicht, seine Blöße zu bedecken, schien eher die Sonne und Legolas Blick auf sich zu genießen. Haar und Bart waren von einem tiefen Schwarz und reichten ihm bis auf die Brust. Die Schultern waren breit, die Hüften schmal und die Muskeln an Armen und Beinen schienen bei jedem Schritt unter der gebräunten Haut zu tanzen.
»Männer!«, flüstert Dís mit einem Naserümpfen und schielt dabei zu Frerin. »Angeber.«
»Mein Vater hat mir von Eurem Zauber berichtet«, sagte Legolas schlicht, woraufhin Beorn leicht das Haupt neigte.
»Er ist kein Geheimnis, Prinz, und es ist auch nur der eine. Ich bin ein Mensch.«
»Ihr seid ein Nordmensch«, erwiderte Legolas. »Sie können Zauber wirken.«
»Naturzauber. Mehr nicht.« Beorn machte eine nachlässige Geste und wandte sich der Hütte zu. »Nun kommt, Prinz. Ein Tagwerk ist zu schaffen.«
»Legolas«, rief der Prinz dem Bärenmenschen hinterher. »Mein Name ist Legolas!« Doch Beorn schien ihn nicht zu hören.
»Willst du etwa schon Schluss machen?«, fragt Dís sorgenvoll. Doch seufzt sie im nächsten Moment zufrieden, als sie bemerkt, dass der König unter dem Berg nach dem Becher greift. »Trink nur, Großvater, so viel du willst. Wir wollen ja nicht, dass du zu Staub zerfällst.«
Frerin scheint ausnahmsweise der gleichen Meinung zu sein. Mit einem frechen Grinsen lehnt er sich etwas vor, um dem alten König ins Gesicht blicken zu können. »Stimmt. Deine Falten müssen wieder aufgefüllt werden.«
Thorin prustet lachend los und Nár verschluckt sich an einem Stück Gebäck. Der König selbst kann den Becher gerade noch rechtzeitig abstellen, bevor er selbst in schallendes Lachen ausbricht und fast Bierflecken auf dem Papier hinterlassen hätte. »Du bist ein Frechdachs, Frin!«, bestätigt er diesem, noch immer lachend. »Aber nein. Mein lieber Nár hat mir schon mitgeteilt, dass ihr morgen ausschlafen dürft.«
Als Legolas die Hütte betrat, hatte Beorn sich ein leinernes Hemd übergezogen, das ihn bis zu den Knien reichte, jedoch die Arme unbedeckt ließ.
»Warum bin ich hier?«, fragte der Prinz und setzte sich an den Tisch.
»Als mein Gefährte«, sagte der andere. »Es ist einsam hier und manchmal benötige ich einige Worte, um Mensch zu bleiben.«
»Wo ist Eure Gemahlin? Eure Kinder?« Kaum, dass Legolas die Frage gestellt hatte, bereute er sie, da sich das Gesicht des Bärenmenschen verdunkelte. Ein schrecklicher Schmerz verzerrte seine Mine.
»Tod«, glaubte er ihn flüstern hören. »In den Kerkern von Dol Guldur.«
»Und ich soll nun Eure Leiden lindern?« Die Vermutung war nicht von der Hand zu weisen. »Ich soll Euch den Haushalt führen und das Bett wärmen?«
»Ihr sollt mein Gefährte sein«, erwiderte Beorn mit harter Stimme. »Damit ich weiß, warum ich Mensch sein möchte und nicht der Bär, der jedes lebende Wesen zerreißen will.«
Für einige Momente blieb der Elb stumm. »Sagt mir, was Ihr von mir erwartet.«
»Seid bei Tag an meiner Seite. Geht mir zur Hand. Im Haus, im Garten, bei den Tieren. Redet mit mir. Zeigt mir, warum ich ein Mensch bleiben möchte. Das ist alles, was ich von Euch verlange.«
Wieder blieb Legolas stumm. »Es ist ein Wunsch, den ich Euch leicht erfüllen kann«, sagte er schließlich nach einem tiefen Seufzen, ehe er sein Gegenüber fest in die Augen blickt. »Ich werde bleiben.«
So kam es, dass der Prinz der Waldelben beim Pelzwechsler blieb.
Bei Tag versorgten sie Seite an Seite die Tiere. Misteten die Ställe aus, melkten die Ziegen und füllten goldgelben Honig in tönerne Krüge ab. Oder Legolas pflegte den Garten, während Beorn im Eichenwald Holz schlug.
Beim letzten Sonnenstrahl begleitete er Beorn bis zum Waldrand, um ihm eine gute Jagd zu wünschen, und am Morgen wartete auf der Bank auf die Rückkehr des Bären.
Die Zeit verging, doch da an jedem Tag gleichermaßen Frühling, Sommer und Herbst herrschte, fühlte er die Zeit nicht wie jenseits des Waldes vergehen. Sie verging eintönig und war es doch nicht. Vertrautheit schlich sich zwischen ihnen ein und von Legolas Seite die Sorge, dass Beorn irgendwann nicht mehr den Feinden gewachsen sein könnte. Doch jeden Morgen trat der Bär aus dem nachtschwarz der Schatten in das Licht des beginnenden Tages und wurde zu dem Mann, der Legolas inzwischen so vertraut wie er selbst war. Er mochte den Menschen, der seinen eigenen Zauber um die Hütte, den Garten und den Eichenwald ebenso gewoben hatte, wie um ihn.
»So, ihr Lieben, hier ist nun Schluss für heute«, verkündet Thror und schlägt das Buch zu, woraufhin ein mehrstimmiges Flehen und Betteln zu hören ist.
»Warum nun so plötzlich?«, fragt Frerin flehend.
»Weil es nicht mehr viel zu erzählen gibt und bestimmt wollt ihr morgen abend nochmal zu uns kommen.«
Frerin scheint dem widersprechen zu wollen, öffnet schon den Mund. Aber bevor er etwas sagen kann, erhält er einen Knuff von Dís in die Seite und Thorin gibt ihm eine Kopfnuss.
»Wir kommen gern morgen wieder«, sagte der schwarzhaarige Prinz und erhob sich von dem Kissenberg, auf dem er neben den jüngeren Geschwistern gelegen hatte. Dís nickte so heftig, dass ihre Zöpfe wieder das Wippen lernten und nur Frerin schien unzufrieden.
»Dann machen wir es so«, stimmte Nár zu und begleitete die jungen Gäste zur Tür.
»Thror, mein Liebster, ich glaube nicht, dass das Ende der Geschichte, wie du sie erzählst, etwas für die Kinder sein wird.«
Überrascht hebt der König den Blick, Nár hat sich ihm gegenüber an den Tisch gesetzt, die Arme auf die Tischplatte gelehnt und die Augenbrauen sorgenvoll zusammengezogen.
»Du vertraust mir nicht und glaubst, dass ich etwas erzähle, was die Kinder nicht hören sollen?« Beleidigt schiebt Thror die Unterlippe vor und Nár muss ihm zugestehen, dass der König gut bei der kleinen Dís gelernt hat.
»Das hat damit nichts zu tun«, erwidert er und kann nur schwer ein Schmunzeln unterdrücken. »Aber die Kinder werden enttäuscht sein, wenn du ihnen heute nur ein kleines Stückchen erzählst, weil du ...«
»Weil ich manches verschweigen muss«, sagt Thror mit einem nachsichtigen Lächeln. Im nächsten Moment schiebt er den Teller von sich, der noch vom Abendessen vor ihm steht und lehnt sich über den Tisch, kommt seinem Gefährten ganz nah. »Oder hoffst du auf eine eigene kleine Geschichte? Nur für dich allein«, fragt er leise und erkennt die Wahrheit in Nárs Augen und in der Röte seiner Wangen. »Nur für deine Ohren bestimmt.«
»Du weißt genau, dass ich deine Geschichten liebe«, erwidert Nár brummig. »Und diese kleinen ... Begebenheiten, die du einfügst, sind die Würze in der Suppe.«
Thror lacht. »Du Schlingel! Du hoffst auf eine kräftig gewürzte Suppe. Mit viel Fleisch. Kein Gemüseeintopf.«
»Bewahre Aule mich davor!«, fleht Nár, hebt theatralisch die Hände. »Kein labberiges Gemüse!«
Wieder lacht Thror, erhebt sich vom Stuhl und hebt eine Hand zu Nár, als wolle er ihn über den Tisch hinweg an sich ziehen. Dabei funkeln seine Augen übermütig. In dem Augenblick schlägt eine Uhr irgendwo in den Tiefen des Erebos. Beide Zwerge verharren und lauschen. Die siebente Stunde wird verkündet. »Es ist an der Zeit. Die Kinder werden gleich hier sein«, sagt der König nun wieder ernst und winkt eilig einen Bediensteten herbei, um ihm Anweisungen zu geben.
»Es ist alles bereit«, sagt Nár mit ruhiger Stimme. Er ist ebenfalls aufgestanden und bedeutet einem zweiten Bediensteten, die Reste des Abendmahls zu entfernen sowie warmen Kakao für die Zwerglinge als auch Krüge mit Bier zu bringen. »Es fehlt nur noch der Märchenerzähler.«
Mit viel Schwung wird die Tür aufgestoßen und Dís wirbelt herein, gefolgt von ihren älteren Brüdern. »Großvater, wir sind dahaaa!«, verkündet sie auch noch zusätzlich.
Thror lächelt nachsichtig seine jungen Gäste an, deutet einladend auf den Kissenberg. »Nár hat alles wieder wunderbar vorbereiten lassen. Macht es euch gemütlich, dann kann es schon mit der Geschichte weitergehen.«
Legolas neues Leben war so ganz anders als sein bisheriges und doch fühlte er sich schnell heimelig in der kleinen Hütte. Möglicherweise lag es daran, dass er mit Beorn bald wesentlich vertrauter war, als jemals mit einem anderen Wesen. Er wusste, wie seine Haut im ersten Licht der Sonne schimmerte, wie sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen, wenn er ihn ansah und wie sich seine Augen manchmal mit Traurigkeit füllten, wenn er glaubte, nicht beobachtet zu werden.
Aber das tat er: Legolas beobachtete ihn, bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit. Im Garten, bei den Tieren, im Haus, wenn sie die täglichen Arbeiten verrichteten. Nur wenn Beorn am Abend als Bär zwischen den Bäumen verschwand, war es ihm nicht möglich.
Doch am Morgen, wenn Beorn wieder als Mensch in die Sonne trat, lag Legolas gesamte Aufmerksamkeit auf ihm. So blieb es ihm an jenem Morgen nicht verborgen, dass etwas anders war, als an anderen Tagen. Sorge breitete sich in seiner Brust aus und machte ihm das Atmen schwer.
»Was ist geschehen?«, verlangte er zu wissen, als Beorn vor ihm stand. Er sah einen seltsamen Schimmer in den Augen des Pelzwandlers. »Was ist mit Euch?« In dem Moment begann der Mensch zu schwanken und sank zu Füßen des Elben zusammen.
Eilig untersuchte Legolas den Mann, seine Beine, Arme und Hände. Bauch und Rücken überprüfte er, ob er irgendwo eine Wunde oder etwas Ähnliches finden würde. Doch nichts.
Schließlich fand er einen kleinen Kratzer am Hals, unter dem dichten Haar und Bart verborgen. Schwärze breitete sich von der Wunde her aus, kroch wie Würmer unter der Haut.
»Morgulschwert«, flüsterte Beorn mit schwacher Stimme und noch leiser: »Königskraut.«
Legolas hob den Bärenwandler auf die Arme ...
Kurz blickt der König vom Buch auf, weil leises Kichern ihn unterbricht. »Ich habe mal ein Bild von Beorn gesehen und weiß, wie groß Legolas ist«, flüstert Thorin seinen Geschwistern zu. »Der Elb misst bestimmt nur die Hälfte vom Bären. Das wäre ungefähr so, wie wenn du, Frin, mich tragen würdest.«
»Wir können es gern ausprobieren. Ich kann dich bestimmt hochheben«, erwidert Frerin zuversichtlich.
Dís wiegt skeptisch den Kopf. »Deine Füße würden über den Boden schleifen.«
Frerin grunzt beleidigt, Thorin lacht leise, Nár schmunzelt und der König wendet sich dem Buch wieder zu.
Legolas hob sich den großen Menschen auf die Arme und trug ihn in die Hütte, ehe er sich auf die Suche nach dem Athelas im Garten machte. Schnell hatte er das Kraut gefunden und pflückte ein großes Bund. Er spülte es im klaren Brunnenwasser, bevor er das Kraut auf die schwarze Wunde presste und mit den alten Worten der Heilung dessen Kraft anrief.
Aber inzwischen war Beorn nicht mehr bei Sinnen. Der Schmerz des Morgulgifts hielt seinen Geist und seinen Körper gefangen und ließ ihn sich gegen Legolas Berührung wehren. Er schlug um sich, traf den Elben mehrmals mit der schweren Faust, schleuderte ihn von sich. Doch der Prinz gab nicht nach, hielt den Pelzwechsler mit seinem eigenen Körper nieder, bis das Königskraut endlich seine Wirkung entfaltete. Beorn fand seine Ruhe, schlief ein.
Auch Legolas fielen die Augen zu und als er erwachte, war es bereits später Nachmittag.
Mit einem unzufriedenen Seufzen hebt der König den Blick. »Ich kann das nicht!«, grummelt er. »Ich kann euch Kindern nicht davon erzählen!«
»Sie verlieben sich ineinander«, sagt Thorin mit einem Schulterzucken und Dís Zöpfe wippen zustimmend auf und ab. »Wo ist das Problem?«
»Ja, wo?«, verlangt nun auch noch Frerin zu wissen, während Nár fragend die Augenbrauen erhoben hat.
In einer verzweifelten Geste wischt sich Thror über die Stirn und kratzt sich an der Nase. »Sie verlieben sich, ja. Und sie liegen im Bett. Sie halten sich.«
»Du meinst: Sie machen Liebe«, wirft Dís hilfreich ein.
»Ja!« Von einem Augenblick auf den anderen weiß Thror gar nicht mehr, warum er so um diesen Moment herumgestrichen war. »Sie könnten Liebe machen – wenn sie nicht krank und zu müde dafür wären.«
Beorn hielt ihn umschlungen, hatte sich im Schlaf gegen ihn gelehnt, wie es nur Liebende tun. Und diese Nähe berührte etwas in Legolas, tief in ihm. Es füllte ihn wie ein Echo aus und fand einen Widerhall im Schlag seines Herzens. Sehnsucht nach Mehr verspürte er. Er sehnte sich nach der Berührung eines Wesens, das ihn liebt, aber keineswegs wie die eines Vaters.
Eilig wandte sich Legolas aus der Umarmung des Bären, ehe die Sehnsucht zu stark wurde und er sich ihr hingeben wollte.
Für einige Augenblicke blickte er auf Beorn hinab, der noch immer friedlich schlief. Sanft strich er ihm über das Gesicht, spürte der Vertrautheit nach, die mit der Berührung einherging und wandte sich schließlich ab. Schnell schnürte er seine wenigen Habseligkeiten zusammen, warf einen letzten Blick auf den Schlafenden.
»Er geht?«, fragt Frerin geradezu entsetzt. »Erst erzählst du uns etwas von Liebemachen und nun lässt du ihn einfach gehen? Das kannst du doch nicht so einfach machen!«
»Doch. Ich bin der Erzähler. Ich darf alles.«
Frerin schüttelt aufgebracht den Kopf und will schon den Mund öffnen, um etwas zu entgegnen, bekommt aber im letzten Moment einen Knuff von seiner Schwester in die Seite. »Hör auf rumzumeckern, sonst hört Großvater auf und wir erfahren heute überhaupt nicht, wie das Märchen zu ende geht.«
Hörbar klappt Frerins Mund zu und Thror widmet sich wieder der Geschichte.
Thranduil ließ sofort ein großes Fest ausrichten, als sein verloren geglaubter Sohn zurückkehrte. Über ein Jahr und einen Tag hatte er nach ihm und Beorns Eichenwald gesucht. Doch hatte er nicht den Weg wiedergefunden und so blieb Legolas wie vom Erdboden verschwunden. Sogar Gandalf, den großen Zauberer hatte der König um Hilfe gebeten, ebenso wie Herrn Elrond in Bruchtal. Jedoch niemand konnte ihm helfen.
Aber nun war der Elbenprinz zurück und schien glücklich, wieder zu Hause zu sein. In den ersten Wochen genoss Legolas das Altbekannte, alles, was ihm seit der Kindheit vertraut war. Aber wie er nach und nach feststellen musste, fehlte ihm etwas.
Zum Beginn konnte er es nicht recht benennen und schob es auf die tägliche Einförmigkeit in Beorns Heim. Sie hatte sich ihm in Fleisch und Blut eingeschlichen. So gewöhnte er es sich an, neben seinen Pflichten als Erben des Elbenthrones, Arbeiten zu übernehmen, die keineswegs die eines Prinzen waren.
Thranduil beobachtete dies mit Sorge, insbesondere als Legolas sich eines Tages daranmachte, den Pferdestall auszumisten.
»Warum verrichtest du solche niederen Arbeiten, mein Sohn?«, verlangte er von ihm zu wissen.
»Weil es mich befriedigt«, antwortete Legolas darauf schlicht. Doch was er nicht sagte, war, dass es ihn so sehr beschäftigte, dass er nicht mehr an Beorn denken musste. Um ihn sorgte er sich, fragte sich, ob er von seiner Wunde vollkommen genesen war. Vor allem vermisste er die Vertrautheit, das Verstehen, die Geborgenheit.
Als er an einem Sommermorgen in den Garten trat, wehte ihm ein lieblicher Duft entgegen. Das Athelas blühte und brachte ihm eine Erinnerung mit, die er zu verdrängen gesucht hatte. Der Duft erinnerte ihn an jeden einzelnen Morgen, wenn er auf Beorn gewartet hatte und erst zufrieden war, wenn er aus dem Wald trat. Das Herz wurde dem Prinzen schwer und Traurigkeit schlich sich ein. Er verzehrte sich nach dem Pelzwechsler.
Was Legolas nicht wusste, war, dass der Bär am Abend zuvor im Schlosshof erschienen war und nach seinem Gefährten verlangt hatte. Doch der König hatte ihn als Tier verhöhnt und ihm gesagt, dass Legolas nie wieder etwas mit ihm zu tun haben wolle. Thranduil wählte harsche Worte, verspottete den Pelzwechsler, machte ihn vor dem versammelten Hof lächerlich und er war erst zufrieden, als er die Zuversicht in den Augen des Bären brechen sah. »Geh! Bleib bei deinesgleichen!«, rief er ihm nach, als der Bär gebrochen vom Hof schritt.
So saß der Prinz nun im Garten, spürte die Sehnsucht nach dem Bären in seinem Herzen wachsen und einen Entschluss, der für ihn unumkehrbar war.
»Ich kehre zu Beorn zurück!«, verkündete er noch am selben Abend dem König und ließ kein Wort des Widerspruchs gelten.
Schließlich lenkte Thranduil ein: »Dann bleibe noch diese eine Nacht und am Morgen werde ich dich ein Stück des Weges begleiten.«
Legolas war mit diesem Vorschlag mehr als zufrieden. Glaubte er doch, dass sein Vater es so machen würde, wie er gesagt hatte. Am Morgen jedoch war seine Tür versperrt und als er versuchte, aus den Fenstern zu fliehen, fand er Wachen davor, die ihn mit allen Mitteln aufhalten sollten.
»Du wirst mich irgendwann gehen lassen müssen!«, sagte der Prinz zornbebend. Doch Thranduil lachte nur darüber.
Das Lachen verging dem König, als er seinen Sohn am nächsten Tag und den darauf folgenden sah. Seine Haut wurde immer blasser, das schöne Haar wurde stumpf. Die Augen blickten traurig und verloren.
»Lasst mich gehen, Vater«, flehte Legolas. »Ich muss zu Beorn. Ich brauch ihn!«
»Wer braucht schon einen Bären?«, pflegte der König zu erwidern und verschloss wieder die Tür.
Ein zweites Mal erschien der Bär im Schloss. »Gebt mir, was mein ist! Ihr hattet mir einen Gefährten versprochen. Nun steht zu Eurem Wort!«, forderte er. Doch wieder verhöhnte Thranduil ihn. »Legolas hat es mir selbst gesagt: Er will nie wieder etwas mit dir zu tun haben, Bär!«
»Er soll es mir selbst sagen!«
»Euer Anblick ist ihm so widerwärtig, dass er dich nicht sehen mag.«
Wieder ging Beorn, noch enttäuschter als nach dem ersten Mal, aber Zweifel nagten an den Worten, die Thranduil ihm entgegengeschleudert hatte.
»Ich muss es aus Legolas Mund hören!«, sagte er zu sich selbst und noch in der gleichen Nacht drang er in den Garten ein und von dort gelangte er in das Schloss. Die Wachen versuchten, ihn aufzuhalten, es war ihnen aber nicht möglich. Schließlich zerschmetterte Beorn die Tür und stand in dem Zimmer des Prinzen.
Dieser lag in seinem Bett, die Lider schwer, die Haut blass, das Herz schwer.
»Ich träumte von Euch, Beorn«, flüsterte er schwach.
»Ihr wollt mich nicht mehr sehen?«, fragte der Bär mit brummender Stimme.
»Ihr seid mein Herz«, erwiderte der Prinz. »Ich muss Euch nicht sehen. Ich muss Euch nur fühlen.«
Nach diesen Worten hieß Beorn Legolas sich auf seinen Rücken zu setzen und auf ging es durch das gesamte Schloss, über die Brücke und durch den Düsterwald zum Eichenwald.
Mit den ersten Sonnenstrahlen trafen sie vor der Hütte ein.
Beorn ließ den Prinzen in das weiche Gras gleiten, ehe er zum Menschen wurde und ihn in die Geborgenheit der Hütte trug. Auf das weiche Bett legte er ihn ab und eilte dann hinaus in den Garten, um Athelas zu pflücken. Um den Ruhenden herum verteilte er die feinen Zweiglein, so dass Legolas von dem Duft umgeben war.
Hoffnung breitete sich wie ein Funken in Beorns Brust aus, als der Atem des Prinzen leichter ging. Seine Wangen und seine Lippen färbten sich zart und als er nach einiger Zeit die Augen aufschlug, blickten sie nicht mehr verzagt.
Beorn entdeckte die gleiche Zuversicht in ihnen, die auch ihn erfüllte.
»Ihr habt mich errettet«, flüsterte Legolas.
»So, wie Ihr mich gerettet hattet«, erwiderte Beorn ebenso leise. »Ihr habt mir gezeigt, warum ich Mensch bleiben will, habt es mich fühlen lassen. Ihr habt mir Hoffnung gegeben, Zuversicht – und meine Welt brach zusammen, als Ihr gegangen seid. Mein Herz ist mit Euch gegangen. Ihr hattet es mich Euch genommen.«
»Mein Herz war die ganze Zeit über hier bei Euch.« Legolas Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Die Augen fielen ihm wieder zu und besorgt beobachtete Beorn ihn. Doch es war ein Schlaf der Genesung, in den der Prinz gefallen war.
In aller Eile versorgte der Pelzwechsler Haus und Hof, ehe er sich erschöpft zum Schlafenden legte.
»Waschen die sich denn überhaupt nicht?«, fragt Dís und schüttelt geradezu angewidert den Kopf. »Bestimmt hat er die Ställe ausgemistet und legt sich nun ins Bett. So ein Ferkel.«
»Das ist ein Mähääärchen!«, singt Frerin und knufft seiner Schwester spielerisch in die Seite.
»Trotzdem können sie sich wenigstens mal waschen. Was ist daran so schlimm? Und es dauert nicht lange.«
Thorin lacht leise. »Das sag ich deiner Amme, Schwesterlein.«
»Untersteh dich!«
Beschwichtigend hebt Thror die Hände. »Nun mal sachte: Dís hat recht. Reinlichkeit ist wichtig, vor allem, wenn man jeden Tag eine schmutzige Arbeit verrichten muss. Aber es ist auch in einer Geschichte schwierig, jeden Handgriff zu erzählen, solange er nicht zur Handlung gehört.« Leicht neigte er den Kopf in Dís Richtung. »Aber wenn du es wünschst, werde ich es tun.«
Großmütig winkt das Zwergenmädchen ab. »Nicht notwendig. Mach nur ruhig weiter, wie du es für besser hältst.«
Als Legolas erwachte, fühlte er sich erfrischt. Der süße Duft des Athelas umwehte ihn, zugleich hielten ihn Arme umschlungen. Er spürte warme Haut an seiner und als er aufblickte, sah er in Beorns Augen.
»Euch geht es wieder gut?«, fragte er.
»Ich bin bei Euch«, erwiderte Legolas schlicht. »Ja, mir geht es wieder gut.«
Beorn zog ihn fest in seine Arme, streichelte über den schlanken Körper des Elben. »Ich liebe Euch, Legolas«, sagte er. »Bleibt bei mir. Für immer.«
»Ohne Euch kann ich nicht leben«, flüsterte der Prinz. »Ohne Euch wäre ich vergangen, verweht. Ich bin Euer Gefährte, stets an Eurer Seite, so wie Ihr es Euch gewünscht habt.«
»Seid mehr«, bat Beorn leise. »Seid mein Gemahl.«
Und Prinz Legolas stimmte der Bitte von Herzen zu.
»Nein, nein, nein! Warum hörst du gerade jetzt auf? Das ist nicht gerecht!«, ereifert sich Dís. Dabei wippen ihre Zöpfe aufgeregt auf und ab und auch Frerin ist unzufrieden.
»Auch wenn dieses Mal übermäßig viel Schmalz drin ist, kannst du ruhig weitererzählen, Großvater. Wir haben doch das mit dem Liebemachen schon geklärt.«
»Da hat der Junge recht«, wirft Nár nicht gerade hilfreich ein und erhält dafür prompt einen bösen Blick von seinem Gefährten.
»Es war ein langer Tag und wir haben morgen wieder bei Balin Unterricht«, kommt Thorin seinem Großvater zu Hilfe. »Er wird keine kleinen Schläfchen dulden, Frin.«
Dieser mault und brummelt, doch steigt er aus dem Kissenberg. Nur Dís bewegt sich nicht. »Ich meutere!«, verkündet sie, die Arme vor der Brust verschränkt und das Näschen in die Höhe gereckt. »Ich will, dass du das Märchen vollständig erzählst!«
»Aber es ist doch vollständig!«
»Nein, es fehlt noch etwas.« Böse schaut Dís auf den König herab. »Das ist kein richtiges Märchenende.«
Thror kommt endlich eine Idee, was noch fehlen könnte.
Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende in der kleinen Hütte auf einer Lichtung im Eichenwald. Gemeinsam gingen sie auf Orkjagd und an König Thranduil haben sie nie wieder gedacht.
»So«, sagt Nár. »Das wäre erledigt.« Die Hände in die Hüften gestemmt, steht er vor dem König, der noch immer das schwere Märchenbuch mit den ehemals goldenen Schnittkanten auf dem Schoß hält. In der Ferne der hallenden Flure des Erebos sind noch die Stimmen der Kinder zu hören: Das aufgeregte Zwitschern von Dís, das unzufriedene Mosern von Frerin und das Brummen von Thorin, der seine Geschwister zur Ruhe mahnt.
Es war ein schöner Abend und Thror ist keineswegs bereit, ihn jetzt enden zu lassen.
»Wenn du es dir gemütlich machst, erzähle ich dir den Rest der Geschichte«, sagt er und zwinkert seinem Gefährten zu.
Ein Lächeln huscht über Nárs Gesicht. »Bin ich etwa so durchschaubar? Aber ich gebe zu, dass ich sehr darauf gehofft habe und ich verstehe die Enttäuschung der Kinder, als du so abrupt geendet hast.«
Unwillig verzieht Thror die Lippen. »Ich mag diese Märchen sehr, die von Liebe handeln. Es bereitet mir Freude, sie zu erzählen und abzuwandeln und etwas ganz Neues daraus zu machen. Aber wenn es um den Akt der Liebe geht ...« Mit einem schweren Seufzen lehnt er sich tiefer in das Polster des Sessels. »Ich gebe zu, dass ich zwar große Töne spucke, aber wenn es darauf ankommt, möchte ich mich gern verkriechen.«
»Das Gefühl ist mir nur zu vertraut. Man möchte die Tür schließen, weil es etwas Persönliches ist, was man ungern teilen will und niemand anderem angeht.« Mitfühlend tätschelt Nár seine Hand. »Wenn du möchtest, können wir hinüber in unsere Kammer gehen«, setzt er mit einem Augenzwinkern hinzu. »Wir schließen die Tür, verkriechen uns unter der Decke und nur ich höre und sehe dich. Und kein anderer Lauscher wird dabei sein.«
»Du bist mir ein echter Schlingel, mein lieber Nár! Du forderst dein Recht ein und du sollst es erhalten.«
In den folgenden Tagen ruhten sich Legolas und Beorn aus, genossen die Gegenwart und die Nähe des anderen. Sie taten nur das Notwendigste, versorgten die Tiere und den blühenden Garten und wenn der Pelzwechsler sich am Abend auf die Jagd begab, tat er es mit einem widerwilligen Grollen. Er wollte sich für keinen Augenblick von Legolas trennen, doch als dieser wünschte, ihn auf seiner Jagd zu begleiten, lehnte er strikt ab. »Euch könnte etwas geschehen. Ihr könntet verletzt werden.«
»Ihr könntet ebenso verletzt werden«, wandte Legolas ein, doch ließ der Bär nicht mit sich verhandeln.
So wartete der Prinz an jedem Morgen darauf, dass der Bär aus dem Wald trat und zum Menschen wurde. Und mit jedem Morgen, an welchem Beorn gesund und unversehrt zurückkehrte, schwoll sein Herz mehr vor Glück an und spiegelte sich in seinen Augen.
»Ihm schwoll wohl eher etwas anderes an.«
»Pscht!«
»Ihm würde bestimmt auch dann etwas anschwellen, wenn der Bär versehrt wäre.«
»Nár! Du bist schlimmer wie die Kinder!«
An jenem Morgen trat der Pelzwechsler ganz dicht an den Elben heran. In den ersten Tagen nach Legolas Rückkehr hatte er es noch zögernd getan, als wäre er unsicher, wie er sich dem Prinzen nähern könne. Doch nun war er ihm so nah, dass sich ihre Körper fast berührten. Er konnte seine Wärme auf der Haut spüren, seine Blicke, die ihn zum Glühen brachten.
»Ich habe auf Euch gewartet«, sagte Legolas mit einer Stimme, die mit wachsender Vertrautheit immer weicher geworden war.
»Er will ihn verführen«, wirft Nár ein.
»Ja, selbstverständlich will er das!« Grollend sieht Thror seinen Gefährten an. »Wenn es dir nicht passt, dass ein Elb und ein Pelzwechsler im Bett landen, dann sag es. Dann kann ich mir die Mühe sparen und gehe gleich schlafen.«
Amüsiert funkelte es in Nárs Augen und um seinem Mund zuckte es, als wolle er gleich lauthals loslachen. Doch erkennt er die Verärgerung in Thrors Blick. So nickt er nur als Zeichen, dass er ihn verstanden hat.
Doch in diesem Moment war sie so samtig wie Honig, golden wie der Sonnenschein und so sanft wie der Frühlingswind, der über die Blumen und die Ähren strich.
»Warum habt Ihr gewartet?«, fragte Beorn mit ebensolcher Stimme.
»Weil ich meinen Gefährten begrüßen will«, erwiderte Legolas. »Weil ich den Moment liebe, wenn er wieder zum Menschen wird. Weil ich es liebe, ihn nur anzusehen und mir dabei vorstelle, wie es ist, ihn zu berühren.«
»Halt, Halt, Halt!«, unterbricht Nár die Geschichte ein weiteres Mal und entlockt dem König damit ein genervt klingendes Stöhnen. »Willst du damit etwa sagen, dass die beiden bisher noch nicht ...«
»Ich will damit gar nichts sagen, mein Lieber. Ich will damit nur andeuten, dass die beiden noch nicht das Bett miteinander geteilt haben und nein: Knutscherei war auch nicht.«
Nár bläst die Backen. »Nun wirst du aber krötig, mein Liebster.«
Thror massiert sich die Nasenwurzel. »Darf ich nun weitermachen?«
»Berührt mich«, forderte Beorn. »Wenn Ihr es wünscht, berührt mich, soviel Ihr wollt.«
Zögernd hob Legolas eine Hand, doch wagte er es nicht, über auf Beorns Haut zu streichen. »Was ist, wenn es Euch nicht gefällt, wie ich Euch berühren möchte?«
»Versucht es! Findet es heraus!«
Legolas folgte der Aufforderung und als seine Finger über Beorns Arm strichen, rann ein Schauer über dessen Haut, über seinen gesamten Körper und im nächsten Augenblick fühlte sich Legolas an eine Brust gezogen. Lippen pressten sich auf seine und raubten ihm den Atem.
»Ich habe mich nach einer Berührung von Euch gesehnt, einem Streicheln, das Ihr aus freien Stücken mir angedeihen lasst«, flüsterte Beorn zwischen den Küssen.
»Ihr seid mein Herz. Ihr haltet es, so wie ich Eures. Ich verfüge über dieses Wissen, aber nicht über das Wissen, wie ich es mit Gesten zeigen kann.«
»Versucht es. Es ist ganz einfach.«
»Liebt mich«, forderte Legolas, während seine Lippen immer wieder über Beorns strichen, seine Finger sich in dessen Haut zu graben schienen. »Zeigt mir, wie es möglich ist.«
Mit einem tiefen Grollen hob Beorn sich den Elben auf die Arme, wie er es bereits zu einer anderen Zeit getan hatte, trug ihn in die Hütte und legte ihn auf das Bett nieder. Mit wenigen Handgriffen hatte er seinen Liebsten von der Kleidung befreit und huldigte ihm nun mit Händen, Lippen und Zunge. Er erkundete dessen Körper und genoss die ersten zarten Berührung durch Legolas Hände. Seine Finger strichen über die Haut des Pelzwechslers, erkundeten seinerseits. Es wurde zum Geben und Nehmen. Sehnsucht trieb sie voran, die Lobpreisung des Geliebten. Verlangen erhitzte sie, jagte wie Glut durch ihre Glieder.
Legolas seufzte in die Küsse, atmete das Stöhnen von Beorn. Sie machten sich den Leib des anderen zu eigen, bis sie nicht mehr wussten, wo der eine begann und der andere endete. Die Grenzen zwischen ihren Wesen waren verwischt. Der eine konnte nicht mehr ohne den anderen leben. Nun war es besiegelt. Mit jedem einzelnen Herzschlag wurde es verkündet. Als sich Beorn in Legolas versenkte, wurde ihr Bund geschlossen. Untrennbar. Unzerstörbar.
»Du bist Mein!«, grollte Beorn, ehe eine Verwandlung einsetzte, die ihn zum Bären werden ließ, während er noch immer mit seinem Gemächt Legolas Körper füllte. Doch war der Zauber langsam. Das Fell bildete sich nur zaghaft auf der Haut, die Glieder veränderten sich gemächlich, ebenso schoben sich lange Krallen aus Händen, die zu Tatzen wurden.
Legolas umfasste den mächtigen Bärenkopf, krallte die Finger in das schwarze Fell, das ihn an Beorns Haar erinnerte.
»Du bist Mein, so wie ich der Deine bin!«, erwiderte er mit ernster Stimme, ehe er seine Lippen auf die Schnauze des Bären presste.
Dann geschah etwas Seltsames: So schleichend wie Beorn zum Bären geworden war, so langsam wurde er wieder zum Menschen. Mit jedem einzelnen Stoß, mit dem er sich tief in Legolas Leib trieb, verschwand das Fell und die Zähne bildeten sich zurück. Der Kopf war nicht mehr der eines zottigen Tieres, sondern der seines Geliebten.
»Ich liebe dich«, flüsterte Beorn, nahm ein weiteres Mal die Lippen des Prinzen gefangen, bevor er sich immer schneller in dessen Körper versenkte, ihn in einem Sturm der Lust und des Verlangens fliegen ließ.
Als sich die Sonne im Westen dem Horizont zuneigte, standen sie vor der Hütte und erwarteten das Unumgängliche.
Die Schatten des Eichenwaldes wurden immer länger, streckten sich schon über den Frühlingsgarten aus und berührten Beorn. Die Verwandlung setzte ein und eilig gab Legolas ihm einen letzten Kuss, ehe er einen Schritt zurücktrat und den Zauber wirken ließ.
Doch als er in den dunkler werdenden Schatten stand, geschah etwas Wunderliches. Legolas veränderte sich ebenfalls. Ein silbern schimmerndes Fell bildete sich auf seinem Körper, die Glieder veränderten sich, aus Händen wurden Tatzen mit langen schwarzen Krallen. Der Mund und die Lippen wurden zu einer Schnauze, die Zähne lang und spitzen.
Verwundert sah er sich um und tappte schließlich zu einem Eimer, mit dem er Wasser geschöpft hatte. Das Gesicht eines weißen Bären blickte ihm entgegen, mit Augen, schwarz wie die Nacht.
»Lass uns jagen!«, hörte er Beorn brummen und ein spielerischer Knuff gegen die Schulter forderte ihn auf, ihm zu folgen. »Sei nun auch mein Gefährte auf der Orkjagd, Geliebter.«
Es herrscht Stille im Zimmer. Nur das Feuer prasselt. Funken stieben auf, als Holz zusammensackt, und verglühen in der Esse.
»Nun?« Unruhig wartet Thror auf das Urteil seines Geliebten.
Dieser sah ihn mit einem seltsamen Blick an. »Ein schönes Märchen mit einem bewundernswerten Ende«, sagt er schließlich mit verhaltener Stimme. »Ein Zauber, der nicht gebrochen wird, sondern den sich Liebende teilen. Vielen Dank, dass du es mir erzählt hast.«
Statt einer Antwort schließt Thror das Buch und legt es neben sich auf dem Tischchen ab. Mit einem Seufzen erhebt er sich aus dem Sessel. »Lass uns zu Bett gehen, Geliebter – dort kannst du mir deine Dankbarkeit zeigen«, setzt er mit einem Augenzwinkern hinzu.
Ende
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2018
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