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Kapitel 1

Wütend stürmte Laurin aus der Tür. Krachend fiel sie hinter ihm ins Schloss.
»Dieser Arsch!«, zischte er wütend, während er die Treppe hinunter rannte. »Dieses verfluchte Arschloch!«
Gern wäre er so schnell gerannt, wie er das Gesehene hinter sich lassen wollte. Doch stolperte er, hatte eine Stufe verfehlt. Im letzten Moment griff er nach dem Treppengeländer, fing sich ab, atmete tief durch, bevor er seinen Weg hinunter eilig fortsetzte.
Irgendwo über ihm wurde eine Tür aufgerissen, es polterte und ein verhaltener Fluch war zu hören.
»Laurin!« Es war Justus, der seinen Namen rief. »Wir können darüber reden!«
Atemlos blieb Laurin auf dem nächsten Treppenabsatz stehen. Zögerte, bevor er sich leicht über das Geländer lehnte, um im Treppenhaus nach oben sehen zu können. Zwei Absätze über ihm entdeckte er Justus, der zu ihm herabsah.
»Was willst du mir erzählen?«, spie Laurin wütend. Speichel tropfte ihm von den Lippen, benetzte sein Kinn. Zornig wischte er ihn weg. »Wie willst du mir erklären, dass du deinen Schwanz in einen anderen Arsch geschoben hast? Du bist ein verlogenes Stück Scheiße!«
Trotz der schlechten Treppenhausbeleuchtung konnte Laurin deutlich sehen, wie Justus Wangen sich rot färbten.
»Wie oft hast du dir schon andere ins Bett geholt, während ich arbeiten war? In unser Bett?«
In einer hilflos wirkenden Geste fuhr sich Justus durch das perfekt gestylte Haar und trat einen Schritt vom Geländer zurück, als bräuchte er einen Moment, um sich zu beruhigen. »Komm hoch, Hase«, erwiderte er. »Wir können doch darüber reden.«
»Reden?«, zischte Laurin. »Du hast mich nach Strich und Faden verarscht! Ich frage mich sowieso, warum ich mich mit dir noch unterhalte.«
»Weil wir etwas miteinander teilen.«
Bei Justus weich klingender Stimme krempelten sich Laurins Zehennägel nach oben. Er musste über sich selbst den Kopf schütteln. Warum war ihm nie aufgefallen, was für ein Arsch sein Partner war?
»Wir HATTEN etwas miteinander geteilt«, stellte er richtig. »Aber ich bin mir absolut nicht mehr sicher, ob wir von dem Gleichen reden.« Laurin wandte sich von Justus ab und wieder den Stufen zu.
»Lass es uns noch einmal probieren«, bettelte nun Justus und am liebsten hätte Laurin laut gelacht. Der Macher bettelte.
»Während dein neuester Fick noch immer in UNSEREM Bett liegt und darauf wartet, dass du ihn wieder besteigst?«, höhnte er, stieg die nächste Treppenstufe hinab. Nun langsamer. »Du hast echt Nerven!«
»Nein! Ich werfe ihn raus!« Hoffnung klang in Justus Stimme mit. »Wir reden miteinander, sprechen uns aus.«
»Und danach soll alles wieder gut sein? Denkst du, dass es dann wie zuvor sein wird?« Fassungslos schüttelte Laurin den Kopf, trat aber wieder an das Geländer heran. »Du bist ein absoluter Blödmann, der seinen Schwanz in jedes Loch stecken muss. Und nun kommst du nicht damit klar, dass es irgendwann mal auffliegt? Du bist eine hirnlose Kröte. Es tut mir nur leid, dass ich durch deine Schule gehen musste.«
Auch über die Entfernung konnte Laurin erkennen, wie sich Justus Augen verengten. Die Kiefer presste er so fest aufeinander, dass sich die Wangenmuskeln wölbten. Deutlich sah er den Zorn, den Justus zu beherrschen versuchte.
»Pack deine Sachen«, forderte Laurin. »Wenn ich zurückkomme, will ich dich nicht mehr sehen.«
»Das kannst du nicht machen!«, widersprach Justus. »Ich ...«
»Ich kann das sehr gut machen und das weißt du!«, erwiderte Laurin. »Nutz mal die Zeit sinnvoll und dein Fick kann dir beim Packen helfen. Vier Hände schaffen mehr als zwei.«
Über ihm im Treppenhaus fluchte Justus anhaltend. Erstaunlich, wie viele Schimpfworte er für Laurin hatte und jedes einzelne schnitt in dessen Herz. Es raubte Laurin die Kraft.
Die Hand immer am glatten Holz des Geländers stützte ihn, hielt ihn bei jedem Schritt aufrecht. Sobald er den letzten Absatz erreicht hatte, wurde über ihm die Tür zugeschlagen, dass es durch das ganze Haus dröhnte.
Geblendet von der Nachmittagssonne schloss Laurin für einen Moment die Augen, als er aus dem Haus trat. Irgendwo war die Sirene einer Feuerwehr zu höhren und aus einem offenen Fenster Musik und Kinderlachen. Es war ein schöner Tag. Mitten im März, der warm wie ein Sommertag war. Ein Frühlingstag, voller Leben und die Bäume am Straßenrand zeigten noch zögerlich das erste zarte Grün.
Unschlüssig blieb Laurin einen Moment stehen, bevor er sich nach links wendete, in die Richtung, aus der er gekommen war.
Erst zehn Minuten waren vergangen, wie ihm ein Blick auf sein Handy verriet. So wenig Zeit. Aber ausreichend, um ein ganzes Leben auf den Kopf zu stellen.
Laurin ging die Straße hinunter, die Hände tief in die Jackentaschen vergraben. Am Bäcker vorbei, bei dem er vorhin Kuchen gekauft hatte, und beim Floristen. Dort war er zuvor, hatte eine einzelne Rose erstanden. Nun lag sie auf dem Küchentisch, neben dem Kuchenpaket und einem kleinen würfelförmigen Päckchen mit einer viel zu großen Schleife aus rotem Samt.
Tränen brannten in seinen Augen, verwischten den Blick, doch ihm war es egal, wohin er ging. Nur fort, weit weg.
»Was machst du denn schon wieder hier?«
Erschrocken sah Laurin sich um und fand sich vor der Kleintierpraxis wider, in der er arbeitete. Die Rollläden waren heruntergelassen und der Parkplatz vor dem Haus leer.
Seine Kollegin Emma trat gerade aus dem Seitentor und sah ihn erstaunt an. »Ich dachte, dass du mit Justus im Bett liegst und ihr euer Dreijähriges feiert.«
Für einen Moment schloss Laurin die Augen, nickte dann zustimmend, verhalten. »Ja, so war es geplant.«
Langsam trat Emma näher, sah ihn prüfend an. »Was ist geschehen?«, fragte sie sorgenvoll. »Ist etwas mit Justus?«
»Er hatte es vorgezogen, mit jemand anderem zu feiern.« Spöttisch lachte Laurin auf, überspielte die Träne, die ihm gerade in dem Moment über die Wange lief. »Wer weiß, wie viele er sich bereits ins Bett geholt hatte, während ich arbeiten war.«
»Ach mein Lieber!« Im nächsten Moment wurde er in eine fest Umarmung gezogen. Hände strichen tröstend über seinen Rücken. »Das tut mir leid.«
Beton lässig zuckte Laurin mit einer Schulter und löste sich wieder von Emma. Obwohl er es nicht wollte, rann ihm nun eine weitere Tränen über die Wange. Mit einer ungehaltenen Bewegung wischte er sie weg. »Es muss dir nicht leidtun«, erklärte er. »Es ist vielleicht ganz gut, dass es so gekommen ist. Wer weiß, wie lange er diesen Scheiß schon abgezogen hat.«
»Das war nicht das erste Mal?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ... Aber ich hoffe nicht.« Wieder zuckte Laurin mit den Schultern. »Ich habe ihn rausgeschmissen.«
Nachdenklich sah Emma auf ihre Armbanduhr. Im nächsten Moment griff sie entschlossen nach Laurins Hand. »Erzähl mir alles der Reihe nach«, forderte sie ihn auf. »Ich lade dich zu einem Kaffee ein oder noch besser: Zu einem Eis im Park.«
»Musst du nicht los?«, wendete Laurin ein. »Die Kinder und ...«
»Ich sag Henri Bescheid«, lehnte sie seinen Einwand ab und kramte in der Handtasche, zog schließlich mit einem triumphierenden Lächeln ihr Handy hervor. »Er kann auch mal die beiden Racker aus der Kita holen.«

Der Park war gut besucht, da viele Einwohner der Stadt die warmen Sonnenstrahlen genießen wollten. Das zarte Grün der Bäume leuchtete, schien wie ein feiner Nebel in den Zweigen zu hängen, und Laurin glaubte, den süßen Duft des Frühlings riechen zu können. Es roch nach Sonnenschein auf kühler Erde, erwachendes Leben, Kinderlachen und Vanilleeis. Unmöglich, es riechen zu können, aber er tat es. Es war eine Erinnerung aus seiner Kindheit, die nur in besonderen Momenten wiederbelebt werden konnte. Und gerade einen solchen Augenblick erlebte er, als er neben Emma vor der kleinen Eisdiele stand und sie überlegte, welche der Eissorten sie ausprobieren sollte.
Tief atmete Laurin die Luft ein, hob das Gesicht der Sonne entgegen und für eine kurze Zeit war das Geschehene vergessen. Der Augenblick zählte, das Gefühl der Erinnerung und der Wiederkehr dieses Moments, der sich anfühlte, als gäbe es ihn nur einmal im Leben.
»Ich habe ganz vergessen, wie Erdbeereis schmeckt«, verkündete Emma. »Oder Schoko. Aber Mango ist auch lecker – glaub ich.« Sonnenstrahlen fielen durch die kahlen Zweige der Linde, unter der sie standen, ließen zarte Schatten und helles Licht auf ihrem Gesicht tanzen und Laurin wunderte sich, warum sie den Moment nicht ebenso wie er empfunden hat.
Schließlich entschied sich seine Kollegin für eine Kugel von einem türkis-blauen Eis, das angeblich nach Kaugummi schmecken soll. »Das lieben meine Kinder«, erklärte sie Laurin, den es schon bei der schreienden Farbe schüttelte. Er selbst verzichtete auf das angebotene Eis. Nach dem Erlebten hatte er einfach keinen Appetit. Vermutlich war er ihm bis in das nächste Jahrhundert vergangen.
Entgegen ihrer sonstigen Art drang Emma nicht in ihn, dass er sich etwas aussuchen soll.
»Selber Schuld«, murmelte Emma sie nur. »Das erste Eis im Frühling ist das Beste des ganzen Jahres.«
Zufrieden schleckte Emma an ihrer Kugel, während sie langsam den Sandweg entlang schlenderten. Immer weiter in den Park hinein. Sie folgten zuerst dem Hauptweg und schließlich einem abzweigenden Weg, von dem noch weitere und noch schmalere Wege abgingen. Hier waren nicht mehr so viele Besucher unterwegs, die Parkbänke nicht von Sonnenhungrigen bevölkert. Die Rasenflächen wirkten hier nicht so gepflegt, als im vorderen Bereich des Parks, die Bäume und Büsche weniger gestutzt. Alles mehr naturbelassen.
»Hier gibt es einige schöne Ecken, wo wir es uns gemütlich machen können«, erzählte Emma, die inzwischen ihr Eis verspeist hatte. »Du kannst mir von deinem Pro...«
»Es ist doch keine gute Idee, dass ich dich mit meinen Problemen belaste«, unterbrach Laurin sie und blieb stehen. »Ich sollte gehen.«
»Vergiss es, mein Lieber«, hielt Emma ihn zurück, als er sich gerade abwenden wollte. »Ich kenne dich länger als Justus dich. Ich habe dich erlebt, als du ihn kennengelernt hast und nun will ich wissen, was dieser ›Traum von einem Mann‹ dir angetan hat, dass er dir damit das Herz gebrochen hat.«
Laurin sah die Hand, die ihm Emma entgegen streckte. Offen und einladend war sie. Er muss nur nach ihr greifen und sich Emma anvertrauen. Die Entscheidung lag bei ihm.
»Traum von einem Mann« hatte Emma gesagt. Nur mühsam konnte er ein spöttisches Lachen unterdrücken. Das war Justus nun nicht mehr, aber auch kein Alptraum. Trotzdem zögerte Laurin, sich jemandem anzuvertrauen. Es fühlte sich falsch an, als würde er Justus hintergehen, ihn verraten. Aber dabei war er es doch, der ihn hintergangen hatte.
Laurin schloss für einen Moment die Augen, als Enttäuschung in ihm wie eine Welle hoch schwappte und weitere Tränen in die Augen trieb. Als er sie wieder öffnete, sah er noch immer die Hand, die ihm einladend gereicht wurde.
»Dort drüben, hinter der Ligusterhecke stehen Bänke. Dorthin verirrt sich kaum einer der Parkbesucher. Zu abgelegen und versteckt«, lockte Emma. »Du weißt, dass du mir vertrauen kannst.«
Schließlich gab er dem Wunsch nach Zuversicht nach und legte seine Hand in Emmas. Warme Finger schlossen sich um seine.
Nebeneinander folgten sie dem Weg, der inzwischen kaum mehr als ein Pfad war. Er führte um eine im Halbrund gepflanzte Hecke herum, in deren Zentrum sich eine alte Linde erhob.
»Im Sommer ist es hier wie ein Zimmer im Park«, erzählte Emma und deutete auf den Baum, dessen Zweige weit über die grüne Mauer hinausreichten. »Sein Laub wird zu einem dichten Dach und mit jedem Jahr wird es hier schöner.«
Das Holz der Bank war warm, aufgeheizt von den Sonnenstrahlen, die zwischen den Zweigen hindurchsickerten. »Es ist schön hier«, bestätigte Laurin, hob das Gesicht der Wärme entgegen. »Manchmal ist es komisch, dass man in einer Stadt geboren ist und erst andere Menschen müssen kommen, um auf die schönen Ecken hinzuweisen.«
»Schlimmer wäre, wenn man sie überhaupt nicht entdecken würde«, gab Emma zu bedenken. Bequem hatte sie sich auf der Bank zurückgelehnt. »So lässt es sich aushalten!«, sagte sie mit einem zufriedenen Seufzen. »Keine Kinder und kein Mann in der Nähe. Nichts, was die Ruhe stört - bis auf diese Vögel dort oben.«
Laurin folgte ihrem Blick zu zwei Elstern, die in den Zweigen einer unweit stehenden Eiche hockten und lautstark zeterten. »Streit im Vogelparadies«, murmelte er und deutete auf einige Krähen, die über dem Baum kreisten. »Revierstreitigkeiten vermutlich.«
»Eigentlich schade, dass es überall Streit geben muss«, sagte sie. »Es könnte ein so friedlicher Ort sein, wenn dieses Mein, Dein und Unser nicht wäre.«
»Es war falsch, Justus als MEIN Partner anzusehen?«, hakte Laurin nach.
»Entschuldige, mein Lieber. Ich habe mich blöd ausgedrückt«, sagte Emma erschrocken. Sie hatte eine Hand auf seinen Arm gelegte. »Ich meinte die Vögel dort oben. Aber manchmal ist es schon erschreckend, wie viel ein Mensch von einem Tier in sich hat«, setzte sie hinzu. »Aber das Prinzip der Liebe kennen sie nicht. Wie sollten sie auch?«
»Das ist vielleicht ganz gut so.« Nachdenklich sah Laurin auf seine Hände, die in seinem Schoß lagen. »Ihnen kann nicht das Herz gebrochen werden.«
Tröstend strich Emma über den Stoff seiner Jacke. »Es kommen auch wieder andere Zeiten«, erklärte sie zuversichtlich. »Irgendwann wirst du dich wieder verlieben. Du wirst schon sehen. Irgendwann steht der Richtige vor deiner Tür.«
»Ja. Vielleicht«, stimmte Laurin zu. »Ich muss nur die Tür zum richtigen Zeitpunkt öffnen. Zu doof nur, wenn ich es verpasse. Aber im Moment bleibt sie sowieso zu. Ich habe noch keine Ahnung, wie es weitergehen wird – ob es irgendwie weitergeht.«
»Du bist ein elender Pessimist«, verkündete Emma, knuffte gegen seine Schulter.
»Nein. Ich bin nur realistisch. Ich weiß, dass man die Zeit nicht zurückdrehen kann und doch wünsche ich es mir gerade. Am liebsten würde ich zu der Zeit zurückspringen, in der ich Justus kennengelernt habe, oder, als ich mich dazu entschlossen hatte, heute früher Feierabend zu machen.«
»Was sollte es dir bringen?«, verlangte Emma zu wissen.
Müde ließ Laurin den Kopf hängen. »Vermutlich nichts, da ich vermutlich die gleichen Fehler machen würde. Ich würde mich genauso entscheiden, wie damals. Es liegt halt in meiner Natur.«
»Mit deiner Natur hat es wenig zu tun. Es ist dein Herz. Es ist liebevoll. Umsonst arbeitest du nicht in einer Tierarztpraxis.«
»Es ist weich. Zu weich vielleicht.« Zittrig holte er Luft, den Blick auf seine Hände gerichtet, die Finger fest ineinander verschlungen. »Ich hatte alles richtig schön geplant. Ganz romantisch. Kuchen hatte ich gekauft und eine Rose. Ich wollte alles vorbereiten, mit Kerzen dekorieren ... Justus einen richtig schönen Empfang bereiten, wenn er von der Arbeit kommt. Zu blöd nur, dass er schon längst da war.« Eine Träne fiel, perlte über seine Hände. »Er war mit einem anderen Mann im Bett. In unserem Bett.« Warme Finger umschlossen seine Hände, hielten sie. Trösteten mehr, als es Worte gekonnt hätten. »Ich wollte Justus heute fragen, ob er mich heiraten will«, flüsterte Laurin. »Nach drei Jahren nahm ich an, dass man sich gut genug kennt, um diesen Schritt zu wagen.«
»Liebst du ihn noch immer?«, fragte Emma leise.
»Ich weiß es nicht«, gab er schließlich leise zu. »Ich weiß im Moment überhaupt nichts mehr. So, wie es zum Anfang war, war es schon lange nicht mehr. Aber ich habe gedacht, dass es daran lag, dass man sich aneinander gewöhnt hat. Man kennt sich, weiß die Eigenheiten des anderen. Es gibt wenige Überraschungen oder Neues zu entdecken.«
»Nun hast du eine Überraschung erlebt«, warf Emma ein, verzog die Lippen zu einem ironischen Lächeln.
»Ja, aber auf die hätte ich liebend gern verzichten können.«

Kapitel 2

 In den Bäumen zeterten die Elstern, Krähen krächzten lautstark, während es auf der Parkbank für einige Minuten still blieb.
»Wie wird es nun mit euch beiden weitergehen?«
»Ich habe keine Ahnung«, gab Laurin zu. »Ich hoffe, dass Justus inzwischen die Wohnung verlassen hat. Ich will ihn nicht mehr sehen.« Ein freudloses Lächeln zuckte um seine Lippen. »Sie gehört mir und fast ... Ich hatte vorgehabt, ihn als Miteigentümer eintragen zu lassen. Ich hatte wirklich vorgehabt, alles mit ihm zu teilen. Ich wollte mein ganzes Leben mit ihm teilen.« Trauer überschwemmte ihn, trieb weitere Tränen in seine Augen.
»Ich weiß, dass es sich in diesem Moment schrecklich anfühlt. Dein Vertrauen wurde missbraucht. Jemand hat deine Zuneigung ausgenutzt«, sagte sie leise, verständnisvoll, wodurch sich nur die Eindringlichkeit ihrer Worte vertiefte. »Ich weiß, dass es dir gerade echt mies geht. Aber es kommen auch wieder andere Zeiten. Außerdem war Justus nicht gut für dich«, setzte sie nach kurzem Zögern hinzu.
»Wie meinst du das?« Erstaunt hob Laurin den Blick, sah Emma aufmerksam an.
»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll«, begann sie und zog nachdenklich die Stirn in Falten. »Ich hatte kein gutes Gefühl bei ihm. Aber ich war glücklich, dich glücklich zu sehen.«
»Warum hast du nie etwas gesagt?«
»Hättest du mir geglaubt?«, entgegnete Emma. »Und außerdem war es nur ein übles Bauchgefühl, sobald ich Justus gesehen hatte. Es hätte genausogut eine schlechte Verdauung oder ein verquerer Pups gewesen sein.«
»Du hast recht. Ich hätte dir nicht geglaubt.«
»Sag ich doch!«, erklärte Emma und tätschelte seine Hände.
»Es schmerzt trotzdem«, sagte er. »So sehr ich versuche, es mir schönzureden. Für einige Augenblicke funktioniert es, aber dann ... dann kommt alles wieder zurückgeschwappt und ich fühle mich nur noch enttäuscht und verzweifelt. Justus war drei Jahre lang ein Teil meines Lebens gewesen und die guten Zeiten haben bei Weitem überwogen. Und die schlechten ... Wir haben uns aneinander gewöhnt, haben uns gegenseitig zu selbstverständlich genommen.«
»Der Kerl betrügt dich und du suchst die Schuld bei dir selbst?«, fragte sie verständnislos. »Du stellst dich gerade mit diesem Kerl auf eine Stufe. Oder nein: Du stellst dich unter ihm. Er ist der Missverstandene, der arme Mann, der sich Zuneigung woanders suchen musste, weil du es ihm ...«
»So war das keinesfalls!«, zischte Laurin.
»Wie war es dann?«, verlangte Emma zu wissen.
»Ich habe ihn geliebt!«
»Und das gibt ihm das Recht, mit jemand anderem ins Bett zu steigen? Wie tief muss ein Mensch sinken, dass er einen solchen Vertrauensmissbrauch zu entschuldigen versucht?«
Für einen Moment wandte Laurin sich ab. Er fühlte sich von Emmas Worten angegriffen und wusste zugleich, dass sie Recht hatte. Am liebsten würde er aufspringen, schreien, vielleicht sogar mit den Fäusten auf den Baumstamm einschlagen, um seiner Wut freien Lauf zu lassen. Stattdessen suchte er nach Worten, nach Entschuldigen. Für sich. »Ich hatte das Gefühl, ihm nicht gerecht zu werden«, brachte er schließlich hervor.
Emma sagte dazu nichts, sondern stieß die Luft aus. »Du hast dir wegen diesem Kerl extreme Minderwertigkeitsgefühle eingeredet?«, hakte sie schließlich ungläubig nach, schüttelt dann jedoch in Unverständnis den Kopf. »Dir ist echt nicht zu helfen. Aber eines kann ich dir sagen: Sei froh, dass du diesen Kerl los bist.«
»Ich weiß es«, erwiderte Laurin leise. »Vielleicht ist es wirklich am besten so, wie es gelaufen ist.« Seine Worte waren kaum über das Gezeter, Gekrächze und Gekreische der Vögel zu hören, so dass Emma dicht an ihn heranrutschen musste, um ihn zu verstehen.
»Viele Mütter haben hübsche und sogar liebe Söhne«, stimmte sie ihm zu. »Da wird sich auch einer für dich finden.«
»Meinst du?«
Wie unglaublich verzweifelt und zugleich hoffnungsvoll das klang, so dass Emma unwillkürlich die Arme um Laurins Schultern schlang. »Davon bin ich felsenfest überzeugt!«, erklärte sie und fühlte, wie Laurin die Umarmung erwiderte. Für einige Minuten saßen sie so, bevor sich Emma aus Laurins Armen löste. »Es wird Zeit«, sagte sie entschuldigend. »Henri wird sonst eine Vermisstenanzeige aufgeben.«
»Kein Problem«, erwiderte Laurin. »Und vielen Dank, dass du mir zugehört hast.«
»Unter Freunden sollte ein offenes Ohr immer vorhanden sein. Es tut mir nur leid, dass ich dich verlassen muss ...« Emma zögerte. »Begleitest du mich zurück? Mein Auto steht noch bei der Praxis.«
Lautes Zetern über ihnen lenkt Laurin ab, dem das Geräusch von knackenden Ästen folgte. Beunruhigt sahen Emma und er nach oben, wo sich ihnen ein seltsames Bild bot. Aufgeregt flatterten die Elstern, sprangen von Ast zu Ast, während sich mehrere Raben und Krähen balgten. Mit Schnäbel, Krallen und Flügel schlugen sie aufeinander ein und hin und wieder schienen sogar die weiß-schwarzen Vögel einzugreifen. Ein Knäuel aus schwarzem Gefieder bewegte sich in der Baumkrone, fiel herab und stieg wieder hinauf. Sie schien um ein Zentrum zu kreisen, dessen Mitte Laurin nicht erkennen konnte, da sie so schwarz war, wie das Außen.
Um besser sehen zu können, traten Emma und er unter dem Baum hervor, gingen auf Abstand, um so mehr erkennen zu können.
»Das ist kein Revierkampf mehr«, stellte Emma fest. »Egal, was es ist: Aber irgendetwas wird angegriffen.«
In der Sekunde lösten sich drei Krähen aus dem Kampf, standen für mehrere Flügelschläge über dem Getümmel in der Luft, bevor sie sich wieder hineinstürzten. Schwarze Federn segelten zu Boden.
»Es ist ein Rabe, den sie angreifen«, stellte Laurin fest. »Ein Kolkrabe.«
»Woher willst du das wissen?«, wollte Emma wissen, die die Augen gegen die tiefstehende Sonne beschattet hatte. »Ich sehe nur Schwarz.«
»Er ist größer als die anderen.«
Ungläubig starrte Emma ihn an. »Und das kannst du erkennen?«
Unbestimmt zuckte Laurin mit den Schultern. »Ja.« In dem Moment ließ ihn ein metallisches Kreischen zusammenzucken und er wandte den Blick dem Kampf wieder zu. Ein großes Federbündel hatte sich aus dem Knäuel gelöst, fiel, wurde von den biegsameren Ästen und Zweigen der Linde abgefangen, bis es mit einem dumpfen Ton auf dem Rasen aufschlug. Über ihnen standen die Krähen und Elstern flügelschlagend in der Luft, schienen den Fall ihres Gegners zu beobachten. Ein einzelner krächzender Schrei war zu hören und Laurin hätte darauf schwören können, dass es in gewisser Weise zufrieden klang.
»Ohgottohgottohgott!«, hörte Laurin Emma murmeln, während sie zurück zur Linde rannten.
Vor dem bewegungslosen Vogel blieb er kurz stehen, sah unschlüssig auf ihn herab. Er lag auf dem Rücken, die Flügel in einem seltsamen Winkel ausgebreitet und der kräftige Schnabel war leicht geöffnet. Wie vermutet, war es ein Rabe. Blutverklebte Federn an den Krallen bewiesen, wie sehr er sich gegen seine Angreifer gewehrt haben muss.
»Ist er tot?«, fragte Emma, zögernd trat sie näher.
Laurin ging er vor dem Raben in die Hocke, betrachtete ihn prüfend aus der Nähe. »Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Sie haben aber das arme Tier ganz schön zerrupft!« Er streckte eine Hand aus, um über das blauschwarz schimmernde Gefieder an der Brust des Vogels zu streichen.
Erschrocken sprang er auf, als plötzlich Leben und Bewegung in das Tier kam. Wild schlug der Rabe mit den Flügeln um sich, kam dabei auf die Füße. Doch taumelte er und gleichzeitig versuchte er, mit dem Schnabel nach dem Mann zu hacken.
»Fang ihn!«, hörte Laurin Emma sagen. »Sieh dir nur die Flügel an! Gebrochen! Er wird damit die Nacht nicht überleben.«
Laurin hatte schon den Reißverschluss seiner Jacke geöffnet, zog sie eilig aus, bemüht, so ruhige Bewegungen wie nur möglich zu machen. Dabei ließ er den Vogel keinen Moment aus den Augen.
Mit beiden Händen hielt er die Jacke ausgebreitet vor sich, näherte sich dem Raben vorsichtig einen Schritt. Laut krächzend wich das Tier daraufhin zurück.
»Langsam!«, flüsterte Emma hinter ihm.
»Er beobachtet mich«, erwiderte Laurin ebenso leise. »Er weiß genau, dass ich ihn fangen will.«
Eine Berührung an der Schulter ließ Laurin vom Raben aufblicken und sich zu Emma umwenden. »Sieh nur!«, sagte sie, sah auf den Rasen, jenseits der Linde hinaus. »Sie beobachten uns.«
Ungläubig folgte Laurin ihrem Blick und entdeckte fünf Krähen, die in ihrem grau-schwarzen Gewand auf dem Gras hockten. Schwarze Augen schienen jede Bewegung von Laurin und Emma zu beobachten.
»Wir sollten hier so schnell wie möglich verschwinden«, murmelte Laurin, dem ein eisiger Schauer den Rücken hinab jagte. »Das ist unheimlich.«
»Wie bei Hitchcock«, stimmte Emma zu. »Das macht mir Angst.«
 Der Rabe schien sich keinen Millimeter bewegt zu haben. Die Flügel hatte er an den Körper gelegt, doch lagen sie nicht dicht an und die Federspitzen strichen über den Boden. Den Kopf hatte er abgewandt und schien seinerseits die Saatkrähen zu beobachten. Ein Geräusch im Geäst über ihnen ließ den Vogel zusammenzucken, sich ducken.
Die beiden Elstern saßen im Baum über ihnen, blickten auf sie herab. Schienen sie zu belauern.
Laurin hob wieder seine Jacke, zugleich neigte er sich leicht herab, wollte nicht, dass der Rabe ihn als Bedrohung ansah und die Flucht ergriff. »Schhhhh...«, machte er dabei leise, beruhigend. »Ganz ruhig ...«
Im nächsten Moment warf er die Jacke über den Vogel, der aufgeschreckt mit den Flügeln schlug. »Ganz ruhig, mein Schöner!«, murmelte Laurin, als er mit dem Stoff der Jacke auch den Vogel ergriff. Eilig wickelte er ihn in den Stoff, versuchte darauf zu achten, dass die Flügel am Vogelkörper anlagen.
Über ihnen kreischten die Elstern aufgeregt, zeterten, als würden sie darüber schimpfen, dass Laurin ihren Gegner entführen würde. Zugleich hatten sich die Krähen erhoben, kreisten über den Wipfeln der Bäume.
»Wir sollten hier so schnell wie möglich verschwinden!«, drängte Emma, warf dabei einen Blick auf die Vögel. »Die Sache wird immer unheimlicher.« Angstvoll, zupfte an Laurins Ärmel.
Das Bündel fest an seinen Körper gepresst, folgte Laurin seiner Kollegin den Weg zurück. Bis zum Hauptweg kamen sie unbehelligt, erst dann schien die Hölle über sie hereinzubrechen. Fast gleichzeitig stießen die Krähen auf sie herab, hackten nach ihnen, schlugen mit Flügel und Krallen nach ihnen. Es war schmerzhaft und fast augenblicklich spürte Laurin, wie es ihm warm an der Schläfe herabrann.
Emma neben ihm schrie schmerzerfüllt auf, hatte die Arme schützend um den Kopf geschlungen. Auch sie blutete aus einer Wunde an der Wange. Ihre Hände waren zerkratzt, die Ärmel ihrer wattierten Jacke fast schon zerfetzt.
Das einzige, das Laurin machen konnte, war, den Kopf so tief wie möglich zwischen die Schultern zu ziehen, den Vögeln nur seine Schultern als Angriffsziel zu bieten. Das konnte heilen, ausgehackte Augen nicht.
Und das Bündel in seinen Armen wog mit jedem Schritt immer schwerer.
Von irgendwoher waren plötzlich Stimmen zu hören, übertönten das Krächzen und Kreischen der Vögel. Nur nebenbei bemerkte Laurin, dass jemand mit einem Stock oder Ast nach den Krähen schlug. Normalerweise war er dagegen, dass Tiere so behandelt wurden, doch in dem Moment war er mehr als glücklich. Endlich ließen die Vögel von ihnen ab. Ihr Schimpfen und Zetern wurde leiser, zugleich wurden die Fragen und geäußerten Sorgen der Menschen um sie herum immer drängender.
»Wie konnte das nur geschehen?«
»Das war noch nie gewesen!«
»Was mag nur in die Vögel gefahren sein, dass sie einfache Spaziergänger angriffen?«
»Das war ja wie bei Hitchcock!«
Sirenen näherten sich, Blaulicht auf dem Hauptweg. Weiß-rot gekleidete Sanitäter schoben sich durch den Menschenring, der sich um Laurin und Emma gebildet hatte.
Hände griffen nach ihnen und führten sie fort von den Fragen, dem Mitleid und den Sorgen.
Endlich war Ruhe um Laurin, nur noch die Hände, die ihn untersuchen und ihm das Bündel aus den Armen nehmen wollten.
»Nein!«, sagte er, schüttelte geradezu verzweifelt den Kopf. »Sie wollten ihn haben. Ich habe ihn beschützt.«
»Schock«, murmelte der Sanitäter, stellte es mehr für sich selbst fest. »Wir müssen Sie untersuchen, falls Sie schlimmere Verletzungen als die Wunde am Kopf haben sollten«, sagte er nun mit einer Spur Anteilnahme oder guter Professionalität, mit der man verletzten Personen begegnet. »Sie können das Bündel hier hinlegen.« Mit der Hand deutete auf den Platz neben Laurin, auf den Papierbezug der Liege, der leise raschelte. »Niemand wird Ihnen das Bündel wegnehmen.«
Wieder schüttelte Laurin den Kopf. »Es geht nicht. Es ist ein Vogel. Er würde sich hier noch mehr verletzen.«
Prüfend blickte der Sanitäter ihn an. »Sie wollten ihn zum Tierarzt bringen?«
Ja. Nein. Ich wollte ihm helfen. »Ich arbeite beim Tierarzt, nur fünf Minuten von hier entfernt.«
Verständnisvolles Nicken. Der Mann öffnete die rückwärtige Tür des Krankenwagens, winkte nach jemanden, der in der Nähe stand. Ein Polizist erschien kurz danach in der Tür und sah den Sanitäter fragend an.
Dieser wandte sich wieder Laurin zu. »Geben Sie ihm den Vogel. Er wird auf ihn achten, während ich Ihre Wunden versorge.«
Alles in Laurin wehrte sich dagegen, den Raben diesem Mann auszuhändigen - überhaupt den Raben irgendjemandem auszuhändigen. Schließlich nickte er zustimmend, zögernd, während es von einer Sekunde zur anderen in seinem Kopf hämmerte, als wäre dort eine Schar Krähen gefangen.
»Seien sie vorsichtig«, bat er den Polizisten, der in den Wagen gestiegen war und hinter sich die Tür geschlossen hatte. »Er soll sich so wenig wie möglich bewegen. Seine Flügel sind gebrochen und vielleicht noch mehr.«
Vorsichtig wurde Laurin das Bündel abgenommen, aus dem ein leises Krächzen zu hören war. Aufmerksam folgte er den Bewegungen des Polizisten, seinem Griff, mit dem er das Bündel hielt. »Keine Sorge«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln. »Er ist bei mir sicher.«
»Können Sie uns erzählen, was geschehen ist?«, fragte nun der Sanitäter. Er hatte eine kleine Stablampe hervorgezogen, leuchtete prüfend in Laurins Augen.
»Emma und ich waren spazieren. Wir fanden den Raben und fingen ihn ein. Auf dem Rückweg sind wir von den Vögeln angegriffen worden«, berichtete Laurin, während Finger mit geübten Bewegungen Kopf und Nacken abtasten, sein Hemd öffneten und es ihm von den Schultern schoben. Kühle Luft traf auf gereizte Haut, ließ ihn erschauern.
»Wir werden Sie ins Krankenhaus mitnehmen müssen«, stellte der Sanitäter nach einigen Minuten fest, in denen er damit beschäftigt war, das gesamte Ausmaß der Verletzungen zu begutachten. »Die Vögel haben Sie schlimm erwischt und es sind leider Wunden dabei, die sich der Chirurg ansehen muss.«
»Das geht nicht!«, widersprach Laurin und griff nach seinem Hemd, wollte es sich wieder überstreifen. Doch allein schon die Bewegung ließ ihn schmerzerfüllt aufstöhnen. »Der Vogel muss zum Tierarzt.«
»Der Kollege kümmert sich darum«, erklärte der Sanitäter, legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm.
Laurin zögerte, fühlte sich von den Ereignissen überrannt und zudem wurden die Kopfschmerzen unerträglich, strahlten bis in die Schultern hinab, so dass er kaum wusste, ob die Schmerzen von den Wunden herrührten. »In Ordnung«, stimmte er leise zu. »Können Sie mir sagen, wie es Emma geht?«
»Ihre Freundin?«, hakte der Sanitäter nach.
»Meine Kollegin«, korrigierte Laurin. Einer Eingebung folgend sah er den Polizisten an. »Wenden Sie sich an sie. Die Praxis ist nur fünf Minuten entfernt.«
»Ich werde nachschauen, wie weit die Sanis mit ihr sind«, stimmte der Polizist zu. Augenblicke später fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Vorsichtig hatte der Sanitäter die Wunden mit einem Tuch abgedeckt und nötigte Laurin gerade, sich auf der Liege auszustrecken, als die Tür wieder geöffnet wurde. Emma schaute herein, sah sich besorgt um und lächelte erleichtert, als sie ihn entdeckte. »Na? Wie geht es dir?«, fragte sie und stieg in das Auto. Ihre Jacke hatte sie locker über die Schultern zu hängen. Laurin sah, dass ihre Hände bis zu den Ellenbogen hinauf verbunden waren. »Es tut mir leid«, flüsterte Laurin. »Es tut mir leid, dass du wegen mir Schmerzen hast.«
»Du bist ein Spinner. Ich hatte dir gesagt, dass du den Raben fangen sollst und das weißt du sehr genau«, murrte sie und griff in einer liebevollen Geste nach seiner Hand, um sie zu drücken. »Der Polizist sagte, dass du ins Krankenhaus musst. Melde dich, dann bringe ich dir etwas.«
Abwehrend schüttelte Laurin den Kopf und verfluchte sie dafür, weil der Kopfschmerz sich dadurch nur noch verstärkt. »Kümmere dich um den Vogel. Vielleicht kann Chefchen auf ihn gucken und vor allem: Kümmere dich um dich selbst. Ich komme schon zurecht.«
Skeptisch zog Emma eine Augenbraue hoch. »Dein Handy hast du dabei?«, fragte sie.
Laurin verdrehte die Augen. »Ja, Mama. Taschentücher auch und ne saubere Schlipper hab ich auch an.«
Der Sanitäter gab ein amüsiert klingendes Schnauben von sich, während er an irgendwelchen Geräten hantierte, die an der Wand zum Fahrerhaus befestigt waren.
»So genau wollte ich es nicht wissen«, erklärte Emma, überspielte die Sorge mit ihrer Flapsigkeit.
Laurin erwiderte den Druck ihrer Finger. »Es ist alles in Ordnung. Und es wird nicht schlimm sein, wenn ich eine Nacht im Krankenhaus bleiben sollte. Dann muss ich Justus wenigstens heute nicht mehr sehen.«
»Unverbesserlicher Optimist!«, sagte sie. »Okay. Ich schnapp mir den Herrn Polizisten und werde zusehen, dass ich unseren Patienten dem Doktor vorstellen kann.«
»Danke!«, flüsterte Laurin.

Kapitel 3

 Bis auf eine langgezogene Wunde, die sich vom Nacken bis fast zum rechten Schulterblatt hinzog, waren es zum Glück nur leichtere Schnittwunden. Die Kopfverletzung, die Laurin vermutlich von einem Schnabelhieb erhalten hatte, wurde nur geklebt, wogegen die Verletzung auf der Schulter genäht werden musste. »Vorsorglich«, hatte der Arzt gesagt. »Außerdem heilt sie dann schneller.«
Als Laurin von den Kopfschmerzen berichtete, wiegte der Arzt den Kopf. »Vermutlich Gehirnerschütterung.« Im nächsten Moment gab er Anweisungen, dass Laurin zur Beobachtung auf die Station kommt. Vorsorglich.
»Geben Sie mir nur etwas gegen die Schmerzen«, hatte Laurin widersprochen. »Es sind doch nur Kopfschmerzen.«
»Eine Nacht tut Ihnen nicht weh«, erklärte der Arzt, womit für ihn die Diskussion erledigt war.
»Na super!«, murrte Laurin.
»Das passiert, wenn man Held spielt«, sagte die Schwester mit einem Augenzwinkern, die dem Arzt gerade einige Unterlagen zum Unterschreiben reichte.
»Ja, Held der Tiere.«

Emma war vorhin kurz bei ihm gewesen, nachdem er sie über den derzeitigen Stand seiner Dinge informiert hatte. Das hatte sie sich nicht nehmen lassen.
»Du hast es ja richtig gemütlich hier!«, stellte sie fest, als sie das Zimmer betrat und sich umsah. Dabei fiel ihr Blick auf das andere Bett, das leer und mit einer Folie abgedeckt war. »Bist du Privatpatient?«, fragte sie amüsiert. »Naja, zumindest musst du kein Schnarchen ertragen oder wer weiß, was für Macken der Bettgenosse sonst hätte.« Gleich darauf stellte sie eine Sporttasche auf Laurins Bett ab.
»Als Erstes: Ich habe nicht viel Zeit, da Henri im Parkverbot steht«, sagte sie, während sie die Tasche öffnete und begann, den Inhalt einen der schmalen Patientenschränke einzusortieren. Zuerst wanderte Laurins Jacke, mit der er den Vogel gefangen hatte auf einen Kleiderbügel. »Dem Raben geht es soweit gut. Der Chef hatte sich gleich um ihn gekümmert«, berichtete sie. »Beide Flügel sind gebrochen. Am linken der Oberarmknochen und am rechten die Speiche. Aber der Doktor hat es stabilisiert und fixiert. Zwei bis drei Wochen sagte er, dann müssten sie zusammengewachsen sein.«
»So schnell?«, hakte Laurin erstaunt nach.
»Jupp«, machte Emma und verschwand im Bad, in einer Hand eine schwarze Waschtasche, in der anderen ein Handtuch. »Heilt schnell bei Vögeln, sagt er.«
»Was wird mit dem Raben passieren?«
Emma schloss die Badtür hinter sich, zuckte unbestimmt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vermutlich muss er in eine Auffangstation. Aber das muss der Chef entscheiden.«
Wieder trat sie an die Tasche, nahm Weiteres daraus. »Ganz wichtig: Ladekabel für dein Handy«, verkündete sie.
»Überlebenswichtig!«, stimmte Laurin grinsend zu.
»Die Sachen, wie T-Shirts, Socken und Unterhosen sind von Henri, aber alles noch ungetragen«, betonte Emma. »Vermutlich werden dir die Sachen etwas zu groß sein. Und sag Bescheid, wenn du noch irgendetwas benötigst oder wir dich abholen können.«
»Am liebsten würde ich sofort mitfahren«, hatte Laurin erwidert und nach Emmas Hand gegriffen, auf deren Rücken nur noch ein großes Pflaster zu sehen war. Behutsam nahm er sie in seine. »Ich danke dir. Für alles.«
Emma winkte ab. »Nicht der Rede wert.« Dann war sie gegangen, hatte ihn mit seinen Gedanken allein gelassen, wie es schön hieß.
Seufzend lehnte sich Laurin in das Kissen zurück, das ihn mehr an einen Stein erinnerte, weil es viel zu fest war. Das beste wäre, wenn er den Tag aus dem Kalender und auch aus seinem Gedächtnis streichen würde. Alles war schief gelaufen. Das einzig Positive war, dass er nun nicht mehr auf Justus treffen konnte. Zumindest nicht an diesem Abend, in dieser Nacht. Er hatte Zeit, Abstand zu dem Mann zu nehmen. Abstand zu dem Geschehenen, dem innerlichen Schmerz.
Irgendwann hatte Laurin das Licht gelöscht und war eingeschlafen. Der Tag hatte ihm Einiges abverlangt, doch trotzdem schlief er unruhig. Immer wieder wachte er auf, was er auf die ungewohnte Umgebung schob und auch darauf, dass hin und wieder eine Schwester hereinkam, um zu prüfen, ob mit ihm alles in Ordnung wäre. Aber kaum dass er sich auf die andere Seite gedreht und die Augen geschlossen hatte, schlief er auch schon wieder.
Der Schlaf war von Träumen durchzogen, nicht mehr als kurze Sequenzen. Schwarze Flügel, die nach ihm schlugen, blutbenetzte Krallen. Eine einzelne Feder, die der Wind davon trieb. Augen wie schwarze Perlen verfolgten ihn, ein heiserer Schrei, der ihn ein weiteres Mal aufschreckte.
Die Nacht war die Hölle. Auf eine weitere konnte er sehr gut verzichten.
Dazu kam es zum Glück auch nicht, da der Arzt bei der Visite der Entlassung zustimmte. Laurin musste nur noch auf die fertigen Unterlagen warten.
»Oh, Gott!«, meldete sich Emma sofort am Telefon. »Ich dachte schon, dass du doch noch in den OP geschoben wurdest oder bereits im Koma liegst. Hättest du dich nicht früher melden können?«
»Gerade war Visite«, erklärte Laurin entschuldigend. »Der Arzt macht noch die Entlassungsunterlagen fertig und dann darf ich von hier verschwinden. Ich hocke quasi auf gepackten Koffern. Und nun ist meine Frage, ob du mich abholen kannst? Oder Henri? Die lassen mich nur mit einer Aufsichtsperson raus, wie sie sagen. Wie im Kindergarten. Es reicht, bis vors Tor, von dort aus fahre ich mit den Öffentlichen nach Hause.«
Für einige Sekunden war Stille am anderen Ende der Leitung. »Ich frage mich gerade, was du inhaliert hast. Oder phantasierst du? Am liebsten würde ich dir gerade die Hammelbeine langziehen. Dein Glück, dass du so weit weg bist und ich es wegen der verbundenen Hände nicht machen kann. Übrigens: Henri macht sich gerade fertig.«
»Danke«, erwiderte Laurin schlicht.
Keine halbe Stunde später erschien Henri auf der Station. »Startklar?«, fragte er. »Alles zusammengepackt?«
Laurin nickte. »Ja und gerade habe ich die Entlassungspapiere erhalten. Am Montag muss ich zum Hausarzt.«
Henri nahm die Tasche, die auf einem Stuhl stand, während Laurin in seine Jacke schlüpfte.
Tief atmete Laurin durch, als er vor die Tür des Krankenhauses trat und sie leise hinter ihm zuschwang. »Bin ich froh, wieder raus zu sein!«, murmelte er. »Ich weiß gar nicht, warum die so ein Theater veranstalten. Eigentlich sollten sie froh sein, wenn die Patienten auf eigenen Füßen die Klinik verlassen und sich nicht auch noch darum kümmern, wie. Als hätten sie nicht ausreichend zu tun.«
»Nun bist du ja draußen!«, stellte Henri lakonisch fest.
»Ja. Zum Glück«, stimmte Laurin zu. »Danke, dass du mich herausgeholt hast. Dort drüben hält der Bus. In fünf Minuten müsste der nächste fahren, den ich nehmen kann.«
»Vergiss es, Laurin!«, widersprach Emmas Mann, ergriff Laurin am Arm. »Ich musste heute mit Emmas pinkfarbener Knutschkugel fahren, weil meiner in der Werkstatt ist. Wenn ich wegen dir leiden muss, dann wirst du gefälligst mit mir leiden. Verstanden? Außerdem haut mir Emma das Fett von den Ohren, wenn ich dich nicht nach Hause fahren sollte.«
Wie konnte sich Laurin einer solchen Bekanntgabe entziehen? Gar nicht. Im Grund war er zufrieden, dass er nicht mit den Öffentlichen fahren musste. Trotz eines Schmerzmittels dröhnte ihm schon wieder der Kopf und in der Schulter ziepte es.
Müde lehnte er sich in den Sitz, schloss für einen Moment die Augen. »Ich freu mich auf zu Hause«, murmelte er.
Als Laurin sie wieder aufschlug, fand er sich vor dem Haus wieder, in dem er eine gemütliche Drei-Raum-Wohnung hatte. Sie war ihm vor einigen Jahren günstig angeboten worden und mit Hilfe seiner Eltern und der Großeltern hatte er sie gekauft.
»Na, Schlafmütze«, grinste Henri und stieß die Fahrertür auf. Kalte Luft schwappte ins Innere des Autos.
»Ja, die Schwestern haben mich nicht schlafen lassen«, erwiderte er mit einem schiefen lächeln und stieg ebenfalls aus.
Für einen Moment blieb er stehen, sah die Fassade hoch zu den Fenstern, die zu seiner Wohnung gehörten.
»Soll ich mit hinauf kommen?« Henri war neben ihn getreten und Laurins Blick gefolgt.
»Hat dir Emma davon erzählt?«, fragte er statt einer Antwort, deutete mit dem Kinn nach oben.
»Ja.« Schlüssel klapperten und gleich darauf schnappte die Autoverriegelung des grellfarbenen Autos zu. »Wir schauen nach. Notfalls haben wir eine sehr bequeme Couch in der Stube zu stehen.«
Stumm nickte Laurin, zögerte. »Ich habe Angst«, flüsterte er. »Ich habe Angst davor, was er gemacht haben könnte.«
»Ich bin bei dir. Schlimmer als das, was du gestern alles erlebt hast, kann es nicht mehr werden. Denke ich.«
Laurin stieß zitternd die Luft aus. Er tat den ersten Schritt.
Aus vier Stockwerken, wurden gefühlte zehn. Die Treppen dehnten sich aus, wurden immer länger und jede weitere Stufe wurde beschwerlicher zu ersteigen, als die vorherige. Neben sich spürte Laurin den Mann seiner besten Freundin. Er gab ihm in dem Moment den Rückhalt, den er benötigte, um den nächsten Schritt zu machen.
Endlich langten sie vor Laurins Wohnungstür an. Seine Finger zitterten so sehr, dass ihm das Schlüsselbund entglitt. Beim dritten Mal nahm Henri es ihm aus der Hand und öffnete die Tür.
Auf dem Flur lagen Laurins Schuhe durcheinander, als hätte jemand sie weggekickt.
Vorsichtig stieß Laurin die Küchentür auf, ungewiss, was er erwarten sollte. Doch alles war unauffällig. »Ich habe erwartet, dass er ausrasten würde«, murmelte er.
Henri war Laurin in die Küche gefolgt. »Du solltest nachschauen, ob er tatsächlich nur seine Sachen mitgenommen hat.«
Laurin wandte sich um, unsicher sah er sich um, ungewiss, wo er anfangen sollte und was ihn noch erwarten könnte. »Es ist seltsam, jemanden zu kontrollieren, dem man über Jahre hinweg vertraut hat.«
»Es geht nicht um Kontrolle. Es geht darum, dass es einen Unterschied zwischen Eigentum und Eigentum gibt. Und das weißt du sehr gut. Außerdem weißt du gleich, woran du bist«, widersprach Henri, trat an Laurin vorbei in die Küche. Auf dem Tisch lag noch immer die Rose, welk. Daneben das Kuchenpaket, unberührt. Nur das kleine Päckchen mit der viel zu großen Schleife war berührt worden. Die Schleife lag daneben, das Papier war entfernt und die würfelförmige Schachtel geöffnet worden. Der Deckel stand offen und erlaubte einen Blick auf den goldenen Ring, der dort eingebettet war. Das eingravierte Muster schimmerte im Licht wie Diamantensplitter, blendete Laurin, trieb ihm die Tränen in die Augen.
Eilige trat er einen Schritt vor, schlug den Deckel zu, schloss das Gleißen ein.
»Wir gucken, wie es in den Zimmern aussieht, dann suchst du einige Sachen zusammen und kommst mit zu uns«, sagte Henri, berührte ihn leicht am Arm.
Laurin schüttelte den Kopf. »Es wäre gut, wenn du dabei bist, wenn ich durch die Zimmer gehe. Aber ich werde hier bleiben«, erklärte er, straffte die Schultern. »Ich kann mich nicht von Justus aus meiner eigenen Wohnung vertreiben lassen.«
»Okay«, stimmte Henri zu, doch war überdeutlich die Skepsis zu hören. »Dann lass es uns gemeinsam angehen. Je eher, umso schneller hast du es hinter dich gebracht.«
Im Bad waren sämtliche Artikel von Justus entfernt worden. Nichts wies darauf hin, dass er jemals hier gelebt hatte. Auch in der Wohnstube war alles dort, wo es sein sollte. »Erstaunlich, wie wenig er hier hatte«, stellte Laurin mehr für sich selbst fest.
In der Schlafzimmertür blieb er stehen, betrachtete das Chaos, das hier herrschte. Es war falsch, ebenso wie das Bild, das sich ihm wieder vor Augen schob, die Geräusche, der Geruch, der auch jetzt noch in der Luft zu hängen schien. Die Türen des großen Kleiderschrankes standen weit offen, Fächer und Schübe waren geleert worden, vereinzelte Kleidungsstücke lagen auf dem Fußboden, die Laurin als seine eigenen erkannte.
Das war eine Seite, die er überhaupt nicht von Justus kannte. Diese Rücksichtslosigkeit. Aber vielleicht hatte er nur immer die Augen davor verschließen wollen?
Seine Beine drohten nachzugeben. Gerade noch rechtzeitig erreicht er einen Hocker, der in einer Ecke stand und den er für das Ablegen von Sachen nutzte, die er am nächsten Tag wieder anzuziehen gedachte. Ordentlich. Nun wischte er die Kleidung mit der Hand zur Seite.
»Viel hatte dein Freund ja nicht hier gehabt«, stellte Henri fest. »Nach drei Jahren hätte ich gedacht, dass er den halben Hausrat mitnehmen würde.«
»Ja. Er hatte einen großen Teil meines Lebens bestimmt und doch so wenig Raum eingenommen«, erwiderte Laurin, spürte, wie ihn die Trauer wieder überrennen wollte.
Henri trat näher an den Schrank heran, schloss die Türen und Schubfächer. »Es gibt halt Menschen, die nicht viel benötigen. Ihnen reichen die Sachen, die sie besitzen. Mehr brauchen sie nicht.«
»Du hast Recht«, erwiderte Laurin nach einigen Sekunden. »Er hatte damals nicht viel, als er eingezogen war. Und so war es wohl geblieben.«
»Warum sollte er sich etwas anschaffen, wenn er doch eigentlich in ein gemachtes Bett gefallen war?« Wie zur Bestätigung breitete Henri die Arme aus, als wolle er die gesamte Wohnung umfassen. »Etwas Besseres konnte ihn doch kaum passieren.«
Nachdenklich kaute Laurin auf seiner Unterlippe herum. »Hatte dir Emma erzählt, dass ich ihn als Miteigentümer eintragen lassen wollte?«
»Als Miteigentümer der Wohnung?«, hakte Henri nach, ungläubig.
Traurig lächelnd nickte Laurin. »Ja. Da kannst du mal sehen, was für ein Trottel ich bin.«
»Nein. Das bist du nicht, Laurin. Justus ist ein Trottel. Du hast ihn geliebt und er hätte alles haben können. Er hat es verspielt. Sieh es so: Er ist selbst daran Schuld, dass er sich nun eine neue Bleibe suchen muss.«
»Der Kerl ist so gut, dass er wahrscheinlich schon heute Nacht wieder in einem warmen Bett schlafen kann«, erwiderte Laurin mit einem schiefen Grinsen, obwohl ihm die Tränen in den Augen brannten.
»Ja, vermutlich«, stimmte Henri zu. »Solche Leute kommen immer mit dem Arsch an die Wand. – Aber nun zu etwas Anderem: Ich vermute, dass der Arzt angeordnet hat, dass du ausreichend Ruhe hast und die Schmerztabletten nimmst. Also zieh dir etwas Bequemes an und mach dir den Fernseher an. Schalte einfach ab und ich mach dir erst einmal eine schöne Tasse Kaffee.«
Wenig später war aus der Küche leises Klappern zu hören und das Rauschen von Wasser, das in ein Gefäß gefüllt wird. Vermutlich die Kanne der Kaffeemaschine.
Müde barg Laurin das Gesicht in den Händen, aber nur für eine kurze Zeit, bevor er sich wieder aufrichtete. Irgendwie hatte er das Gefühl, sich gerade jetzt der Welt zeigen zu müssen und »Welt« bedeutete in dem Moment sich selbst. Die Welt bestand nur noch aus ihm ...
»Was magst du auf deine Brote haben?«
... und aus Henri, der in der Küche werkelte ...
»Vergiss nicht, Emma anzurufen!«
... und Emma, die wegen ihm verletzt war ...
»Sie wird mir sonst die Haut vom Leib reißen!«
... und einer Liebe, die Justus heute zerstört hatte.
Seufzend stand Laurin auf und trat an den Kleiderschrank heran. Er öffnete die Tür, hinter der seine Fächer und Schübe waren. Aus einem zog er eine Jogginghose und aus einem anderen ein frisches Shirt.
Als er mit den Sachen in der Hand auf den kleinen Flur trat, wehte ihm der Duft von aufgebrühtem Kaffee entgegen.
»Beeil dich!«, forderte Henri, der Laurin wohl bemerkt haben musste. »Ich habe dir ein paar Brote gemacht und der Kaffee ist auch gleich fertig.«
Ein großer Teller mit belegten Broten, sauren Gürkchen und geschnittenem Obst erwartete Laurin auf dem Couchtisch. Daneben eine dampfende Tasse und ein Glas Wasser.
»Ich denke, dass du nach dem Krankenhausfraß Hunger hast«, vermutete Henri, der neben Laurin getreten war, ihn prüfend ansah.
»Es ist perfekt«, erwiderte er. »Vielen Dank.«
»Wo hast du die Tabletten gelassen, die du vom Arzt erhalten hattest?«
»In meiner Jackentaschen«, erwiderte Laurin, bereits mit vollem Mund. Er hätte nach diesem Tag nicht gedacht, dass er einen solchen Hunger hätte. Doch schmeckte das Brot vorzüglich und nicht so, als wäre es bereits zwei Tage alt. »Vorne, an der Garderobe«, fügte er hinzu.
Henri legte die Tabletten neben das Wasserglas. »Vergiss die nicht und auch nicht, Emma anzurufen. Sie wird dir sonst die Hölle heiß machen, weil du dich nicht meldest.«
»Ich werde sie anrufen«, versprach Laurin. »Sobald du losfährst, werde ich mich bei ihr melden.«
Skeptisch zog Henri eine Augenbraue hoch. »Okay«, stimmte er gedehnt zu, noch immer zweifelnd.
Genervt stieß Laurin die Luft aus. »Nun fahre endlich«, sagte er und stand auf. »Du kannst mir ruhig glauben. Ich begleite dich zur Tür und dann rufe ich Emma gleich an. Versprochen.«
Endlich gab sich Henri mit der Aussage zufrieden, schlüpfte in Schuhe und Jacke. Grüßend hob er die Hand, bevor er die Tür hinter sich zuzog.

»Hallo, mein Lieber!« Emmas Begrüßung war überschwänglich, als hätten sie sich nicht erst vor einigen Stunden voneinander verabschiedet, sondern in der vergangenen Woche oder im vergangenen Monat oder Jahr. »Wie geht es dir?«
Laurin erzählte, versuchte, sich kurz zu halten, was bei Emmas Fragen gar nicht so einfach war. Sie wollte alles ganz genau wissen. Anzahl der Wunden, Anzahl der Stiche, Anzahl der Pfleger und Ärzte, die Laurin attraktiv fand. Enttäuschung von ihrer Seite, dass da niemand war. Als würde sie annehmen, er könnte sich sofort wieder für einen anderen Mann interessieren!
Laurin wusste nicht, ob er über so viel »Anteilnahme« an seinem Leben erfreut oder verärgert sein soll. Zumindest war es ihm unangenehm.
»War Justus weg?«
Emmas gefürchtete Frage, die auch seine war. Deren Beantwortung war schlicht. Ja.
»Soweit ich festgestellt habe, hatte er nur seine Sachen mitgenommen«, berichtete Laurin, als wäre es etwas Alltägliches, von dem er erzählte.
»Wirst du das Schloss auswechseln lassen?«
»Vielleicht. Ich weiß noch nicht. Ich muss erstmal gucken, ob er mir seinen Schlüssel in den Briefkasten geworfen hat.«
Stille in der Leitung. »Der Chef lässt dich übrigens grüßen und erwartet, dass du am Montag deinen Krankenschein vorbeibringst und ihm erzählst, was passiert ist.«
»Ich wollte sowieso mal nach dem Raben gucken«, sagte er. »Dann ist es ein Abwasch. Der arme Kerl hat ganz schön etwas abbekommen, was du mir erzählt hast. Aber nun erzähle mal, wie es dir geht«, forderte Laurin, lehnte sich bequem im Polster zurück.
Er hatte direkt ein Bild von Emma vor Augen, wie sie abwertend mit einer Schulter zuckte. »Nicht weiter wild. Die Schnitte und Kratzer heilen und die Jacke wird sowieso nicht mehr benötigt. Schließlich ist bald Sommer.«
»Es hätte aber auch ins Auge gehen können.«
Laurin hörte Emma leise lachen. »Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.«
»Das ist nicht lustig!«, erklärte er.
»Nein, das ist es nicht«, stimmte Emma zu. Im Hintergrund waren Geräusche zu hören. »Ah, Henri kommt gerade zurück. Wir sehen uns dann am Montag!«
»Ja, bis Montag!«
»Und vergiss die Medis nicht!«
»Nein, Mama!« Dann war nur noch Stille in der Leitung, kein statisches Rauschen und Knacken, wie es manchmal in den alten Leitungen zu hören war. Nur Stille.
Laurin deckte die restlichen Brote mit Folie ab, stellte sie in den Kühlschrank und füllte Kaffee nach.
Mit der Tasse in der Hand blieb er auf dem kleinen Flur stehen. Unschlüssig sah er sich um. Henri war so nett gewesen und hatte die Schuhe wieder ordentlich unter der Garderobe aufgereiht.
Es war ein seltsames Gefühl hier zu stehen und zu wissen, dass nichts mehr so war, wie vor 24 Stunden. Zu dem Zeitpunkt hatte er sich noch gefreut, hatte sich ausgemalt, wie er Justus überraschen würde. Schmetterlinge hatten sich in seinem Magen breit gemacht und vor Nervosität war er kaum in der Lage, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Emma hatte ihn schon genervt angeschaut, weil er mit seiner Aufgeregtheit auch die tierischen Pfleglinge aufscheuchte. Wie gern würde Laurin jetzt die Zeit bis zu diesem Moment zurückdrehen, als er sich von Emma verabschiedet hatte und sie ihm mit einem frechen Zwinkern ein schönes Wochenende und eine noch schönere Nacht gewünscht hatte.
Das war nun alles Geschichte. Alles vorbei. Nun musste er nach vorn schauen, auf jeden neuen Tag. Aber wie sollte er es machen, wenn ihn fast alles an Justus erinnerte? Er hatte zwar nicht viel mitgebracht, aber trotzdem hing seine Präsenz noch immer in den Räumen.
Zurück in der Wohnstube stellte er die Tasse auf den Tisch ab und trat an das Fenster, öffnete es weit. Eine Schar Tauben flog gerade über das Nachbarhaus hinweg, zog einen weiten Bogen. Nachdenklich verfolgte er ihren Flug. Es wäre schön, so frei wie ein Vogel zu sein. Ungebunden.
Okay. »Ungebunden« war er, aber gebunden an die Erde.
Seufzend schloss er wieder das Fenster. Es war wieder kalt geworden. Über Nacht hatte sich das Wetter leicht geändert und vom blauen Himmel war heute nichts mehr zu sehen. Nur graue Wolken und kühler Wind. Keine Sonne, die ihn erwärmten.
Im Nachhinein könnte er nicht mehr sagen, wie er eigentlich den Rest des Wochenendes überstanden hatte. Irgendwie waren die Stunden verstrichen, auch wenn es langsam war. Zum Ausgehen hatte er keine Lust. Wohin auch? Dort, wo er vielleicht hätte hingehen wolle, wäre ihm  Justus über den Weg gerannt und darauf konnte er  sehr gut verzichten. Außerdem würde er sich sowieso nur überlegen, mit wem der Kerle er schon alles gefickt hatte. Vielleicht sogar in seinem eigenen Bett.
Immer wieder kochte die Erinnerung in Laurin hoch, scharf wie Galle, machte ihm das Atmen schwer und trieb ihm Tränen in die Augen. Seine eigene Reaktion machte ihn wütend. Er schimpfte auf sich selbst, was für ein Waschlappen er sei. Etwas half es, dass er bei seinen Eltern anrief, ihnen davon erzählte, dass er sich von Justus getrennt hätte.
Seine Mutter schien es mit Erleichterung aufzunehmen. »Er hatte dir nicht gutgetan, mein Junge«, hatte sie gesagt. »Er war von sich zu sehr überzeugt.«
Laurin wusste nicht genau, was er davon halten sollte. Emma hatte Ähnliches wie seine Mutter über Justus gesagt. War etwa seine Menschenkenntnis so miserabel? Vermutlich. Sonst wäre er nicht auf den Mann hereingefallen.
»Komm nach Hause, Laurin«, hatte seine Mutter gesagt und im Hintergrund stimmte sein Vater ihren Worten zu. »Nimm dir einige Tage frei. Hier kommst du bestimmt auf andere Gedanken.«
»Ich muss am Montag zum Arzt«, sagte er und obwohl er es nicht wollte, musste er nun seinen Eltern den Vorfall im Park erzählen.
»Oh Gott!«, murmelte seine Mutter. »Das klingt ja wie bei Hitchcock!«
Unwillkürlich musste Laurin grinsen. »Ja, das habe gestern des Öfteren gehört.«
»Dann melde dich sofort, wenn du Näheres weißt«, verlangte seine Mutter.
Sie war erst zufrieden, als er mit einem ergebenen Seufzen ihrem Drängen mit einem »Ja, Mama« nachgab. Mütter können manchmal sehr anstrengend sein, auch wenn sie hundert Kilometer entfernt sind.
Mit der schlimmste Moment an diesem Tag war für Laurin, als er schlafen gehen wollte.
Aus reiner Gewohnheit war er ins Schlafzimmer gegangen, das im Licht der Nachttischlampe genauso wirkte, wie die Monate und Jahre zuvor. Heimelig und gemütlich. Nur das Wissen machte das Gefühl absurd.
Es war seltsam auf die Seite, auf der immer Justus geschlafen hatte, zu sehen. Das Bett war zerwühlt, wie am Morgen, wenn sie zusammen aufgestanden waren ... Aber nein. Es war anders. Ein anderer hatte in diesem Bett gelegen, in seinem Bett.
Laurin wünschte sich aus tiefstem Herzen, wieder den Zorn spüren zu können wie gestern, als er Justus gesehen hatte und am Nachmittag. Stattdessen hatte er wieder das Bild vor Augen, als Justus hinter dem anderen gekniet hatte. Er hatte dessen Haut gestreichelt und irgendetwas davon gefaselt, wie gut er wäre, wie süß und zart ...
Die gleichen Worte, die Justus auch zu ihm gesagt hatte, während er sich in ihm bewegte. Genau die gleichen Worte, der gleiche samtige Tonfall.
Und Laurin hatte ihm jedes Wort geglaubt.
Zufrieden spürte Laurin, wie die Wut wieder in ihm zu brodeln begann. Das war besser, als die Enttäuschung und Trauer zu spüren. Wesentlich besser als Verzweiflung.
Ohne einen Blick zurück drehte sich Laurin um, verließ das Zimmer, das er mit einem anderen Justus geteilt hatte, einem Justus, den er nicht mehr kannte. Er gehörte der Vergangenheit an. Dem Gestern.
Er schloss die Tür hinter sich, ging zurück in die Wohnstube und machte es sich so gut wie möglich auf dem Sofa bequem. Es dauerte eine Weile, bis er die richtige Position gefunden hatte, in der ihm Schultern und Rücken nicht schmerzten, er nicht das Gefühl hatte, als würden die Wunden unter Spannung stehen und sich wieder öffnen.
Flügelschlag schwarzer Federn in der Nacht, Augen wie Obsidian, und ein Schnabel, öffnete sich zum Schrei ...
Erschrocken setzte sich Laurin auf. Sein Herzschlag jagte genauso wie gestern im Park, als die Vögel Emma und ihn angegriffen hatten und noch immer schien der Schrei im Raum zu hängen, herüber genommen aus dem Traum.
»Verfluchte Krähen!«, murmelte er, während er sich durch die dunkle Stube tastete. Mussten die ihn sogar bis in den Schlaf verfolgen? Schon wieder.
Im Bad spritzte er sich etwas Wasser ins Gesicht, was die letzten Fetzen des Traumes vertrieb.
Es war gerade drei Uhr, wie ihm ein Blick auf seine Uhr verriet. Zu früh, um wach zu bleiben.

Kapitel 4

 Sein Chef, Doktor Klaus, ein hochgewachsener Mann mittleren Alters, mit kurzem Haar und grauen Schläfen, erwartete Laurin bereits. Mit einem entschuldigenden Blick händigte Laurin ihm den Krankenschein aus. »In zehn Tagen werden die Fäden gezogen«, sagte er. »So lange bin ich krankgeschrieben, eventuell sogar länger, wenn es noch zu Komplikationen kommen sollte.«
»Das lässt sich nun einmal nicht ändern«, erklärte Doktor Klaus. Im Grunde war er absolut nicht begeistert über die Entwicklung der Dinge. »Emma wird auch für einige Tage ausfallen. Mit den Verletzungen an beiden Händen kann ich sie nicht arbeiten lassen«, setzte er mit einem schweren Seufzen hinzu. »Ich werde die Praxis für die Zeit schließen müssen.«
»Das tut mir leid«, sagte Laurin.
»Ach, Quatsch!«, erwiderte der Doktor abwinkend. »Das Tier war verletzt. Jeder hätte versucht, ihm zu helfen. Und dass ihr angegriffen werdet, konnte niemand voraussehen.«
Nachdenklich blickte Laurin auf seine Hände. Sollte er von dem seltsamen Verhalten der Vögel erzählen?
»Du willst bestimmt dem Verursacher des ganzen Desasters einen Besuch abstatten«, vermutete der Tierarzt, nahm ihm damit die Wahl ab, etwas zu sagen. Er wartete keine Zustimmung ab, sondern erhob sich von seinem Stuhl. »Ich musste den Raben isolieren, da er mitten in der Nacht einen solchen verdammten Lärm veranstaltet hatte, dass er damit die anderen Tiere aufgeweckt und verschreckt hatte«, erzählte Doktor Klaus, während er voraus in den Hinterhof ging. »In der Nacht zuvor war er schon sehr unruhig, aber was er gestern veranstaltet hatte, ging auf keine Kuhhaut. Er hat alles zusammen geschrien. Ich musste ihn von den anderen Tieren isolieren.«
Der Tierarzt öffnete die Tür zu einem Nebengebäude und ließ Laurin in den gefliesten Vorraum eintreten. Ein Arbeitstisch an der einen Längsseite sowie eine Reihe verschlossener Schränke an der anderen Seite waren zu sehen. Von hier aus kam man in einen größeren Raum, den der Tierarzt zur Isolation nutzte. In der Mitte des Raumes stand ein Behandlungstisch, daneben ein fahrbarer Käfig, in dem der Rabe auf einer Stange hockte. Den Kopf hatte der Vogel zwischen die Schultern gezogen, rührte sich nicht, sondern blinzelte nur, als die Männer den Raum betraten.
»Sieh dir den Lümmel an! Nun tut er so, als könnte ihn kein Wässerchen trüben«, sagte der Tierarzt, dessen Stimme hohl im gefliesten Raum widerhallte. »Und dabei schreit er alles zusammen. Antibiotika und Schmerzmittel hat er bekommen. Die ganze Zeit war er erstaunlich ruhig. Aber er zeigte keine Anzeichen, dass er einen Schock hätte. Wäre er ein Mensch, dann würde ich ihn als voll zurechnungsfähig und ansprechbar einschätzen. Er ließ alles mit sich machen, als wüsste er, dass ihm geholfen wird.« Der Arzt seufzte unzufrieden. »Ich werde gucken müssen, dass ich ihn in eine Auffangstation geben kann, wo er seine Wunden ausheilen lassen kann.«
Laurin war neben ihn getreten, betrachtete den Vogel, dessen Flügel mit einer breiten weißen Bandage am Körper fixiert worden waren. Weiß auf schwarz.
»Kann man ihn nicht hier pflegen, bis er geheilt ist?«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Er benötigt Hilfe von jemandem, der sich mit Wildvögeln auskennt. Ich weiß, wie er behandelt werden kann, aber ich weiß nicht, wie sich ein solcher Vogel am wohlsten fühlt. Das wissen nur Leute vom Fach.«
Dicht trat Laurin an den Käfig heran, glaubte, sein Abbild im Schwarz der Augen erkennen zu können.
»Es ist ein schönes Tier«, sagte der Arzt leise neben ihm. »Und das erste Mal, dass ich einen Raben in Behandlung habe.«
»Ich möchte ihn in Pflege nehmen. Es gibt für mich nichts zu tun. Ich hätte viel Zeit, mich um ihn zu kümmern.« Laurin zuckte mit den Schultern und spürte augenblicklich, dass die saloppe Bewegung im Grunde zu viel für die verletzte Schulter war. Ein stechender Schmerz schoss durch die Schulter. Es fühlte sich an, als würde die genähte Wunde zerrissen. Im gleichen Moment hob der Vogel den Kopf, streckte den Hals und stieß einen spitzen Schrei aus. Das feine Gefieder an Kopf und Hals waren gesträubt, ebenso wie der Rabenbart an der Kehle des Vogels.
Es war nur dieser eine Ton, den der Rabe ausgestoßen hatte und der noch Sekunden später im Raum widerhallte. Als wäre nichts geschehen, sank wieder sein Kopf herab. Der Vogel schien wieder in sich zusammenzusinken.
»Ungefähr so hatte er in der Nacht auch geschrien«, berichtete der Doktor mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Nur war es wesentlich ausdauernder.«
»Ich nehme ihn in Pflege«, wiederholte Laurin seine Worte. »Bevor ich mich langweile ...«
»Du sollst dich ausruhen und dich nicht um den Vogel kümmern müssen«, unterbrach ihn sein Chef brummig.
»Wegen mir müssen Sie die Praxis für eine Woche schließen«, wandte Laurin ein. »Außerdem habe ich nichts weiter zu tun.«
»Was ist mit deinem Freund? Wird er nichts dagegen haben, dass du einen Raben anschleppst? Der Vogel wird kein ruhiger Zeitgenosse sein und vielleicht sogar das ganze Haus zusammen schreien, wie er es hier versucht hat.«
»Es wird niemanden stören, wenn er Krach macht. Justus ist weg.« Fast körperlich spürte Laurin den Blick seines Chefs. Sorgenvoll. »Ich habe ihn rausgeschmissen«, setzte er hinzu, weil er das Mitleid nicht fühlen wollte, das der andere ihm mit offenen Armen offerieren wollte. »Er hatte seine Sachen packen müssen und ist nun verschwunden.«
Es fühlte sich gut an, die Worte zu sagen, nicht wie eine Entschuldigung für sein eigenes Versagen. Wahrscheinlich würde Emma ihm den Kopf dafür abreißen, dass er die Schuld für Justus Handeln schon wieder bei sich selbst suchte, eine Entschuldigung für ihn finden wollte.
Aber im Moment kämpfte er komischerweise nicht damit, sondern eher mit der Vorfreude, dass der Vogel bei ihm einziehen könnte. Er fühlte sich von einem Augenblick zum anderen irgendwie voller Tatendrang. Zuversichtlich. Das musste am Sonnenschein liegen, der durchs Fenster fiel und sich auf dem Fliesenboden brach.
Frühling bedeutete Neuanfang. Vielleicht auch für ihn? Bestimmt.
Die Hände auf die Hüften gestützt, sah Laurin auf den Raben. Ruhig erwiderte der seinen Blick, den Kopf schräg gelegt, interessiert und neugierig.
»Ich bräuchte nur einen Käfig«, sagte er.
»Das wäre kein Problem. Das würden wir schon irgendwie hinkriegen. Und alles andere würde ich dir auch zur Verfügung stellen«, stimmte der Arzt nach kurzem Überlegen zu. »Aber das eigentliche Problem ist, dass ich ihn noch nicht zum Fressen hatte bringen können«, sagte er und deutete auf einen Napf mit Futter und einen weiteren mit Wasser. »So lange der Rabe nichts frisst, bleibt er hier.«
Dicht trat Laurin an den Käfig heran. Vorsichtig legte er eine Hand an die Stäbe des Vogelkäfigs. »Hast du gehört? Du musst fressen, damit ich dich mitnehmen kann«, flüsterte er.
Der schwarze Rabenkopf bewegte sich, der Schnabel hob sich. Nachtschwarze Augen schienen Laurins Finger skeptisch zu betrachten, bevor der Vogel langsam, geradezu zögernd den Hals streckte, bis er mit der Schnabelspitze durch die Stäbe reichte und über Laurins Handfläche strich.
Es war ein seltsames Gefühl, die Härte des Schnabels an der Hand zu spüren, kühl und glatt, dem Laurin nachspürte, als er langsam die Finger zurückzog.
»Mach das nicht noch einmal!«, forderte der Tierarzt neben ihm leise. »Ich dachte schon, dass der Vogel dir in die Hand hacken will. Dann hättest du gleich wieder zum Arzt fahren können.«
»Ich will es versuchen«, sagte Laurin eindringlich, ging nicht weiter auf die Forderung des Arztes ein, als hätte er sie nicht gehört. »Ich habe das Gefühl, dass ich es schaffe, ihn zum Fressen zu bewegen.«
Doktor Klaus sah zwischen Laurin und dem Raben hin und her, war unschlüssig. »Dann versuche dein Glück. Weniger als jetzt kann er nicht fressen«, gab er schließlich nach und deutete mit einem Nicken in Richtung des Vorraumes. »Im vorderen Schrank findest du Beofutter und frische Mehlwürmer. Bedien dich! Wenn du es schaffst, dass er frisst, kannst du ihn am Ende der Woche mitnehmen.«
»Und wenn nicht?«
»Dann tut es mir leid. Wenn er das Futter verweigert, muss er auf jeden Fall so schnell wie möglich in eine Auffangstation. Dort kann man sich richtig um ihn kümmern und wird er seiner Art entsprechend gehalten.«
Am liebsten hätte Laurin zornig mit dem Fuß aufgestampft, wie er es manchmal als kleiner Junge getan hatte, wenn man ihm etwas nicht zutrauen wollte. »Ich werde mich gut um ihn kümmern! Versprochen!«, sagte er stattdessen ruhig, bestimmt, voller Vertrauen.
Der Tierarzt zog für einen Moment die Augenbrauen zusammen. »Das streitet niemand ab. Aber er ist ein Wildtier. Auch wenn er munter ist und auf äußere Reize reagiert, muss das nicht viel heißen.«
»Ich weiß.«
Mehr sagte Laurin nicht. Ruhig erwiderte er den Blick des Arztes, bis der Ältere mit einem leichten Nicken seine endgültige Zustimmung gab. »Ich will nur nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst«, setzte er noch hinzu. »Dass du  enttäuscht bist.«
»Ich denke nicht, dass man von einem Tier enttäuscht werden kann. Sie lügen nicht, spielen dir nichts vor. Anders als die Menschen.«
Der Arzt legte Laurin kurz eine Hand auf den Arm. »Ich werde euch beiden nun allein lassen. Ich habe Termine, die ich einhalten muss, auch wenn weder Emma noch du mir zur Hand gehen können. Die Arbeit muss gemacht werden.« An der Tür blieb er noch einmal stehen. »Wegen des Käfigs oder einer Voliere reden wir später, wenn ...«
»Wenn er etwas gefressen hat«, setzte Laurin den Satz fort. »Schon verstanden.«

Nur Sekunden später klappte die Tür hinter dem Tierarzt zu und Laurin war mit dem Vogel allein.
Interessiert beobachteten sie sich gegenseitig, zumindest hatte Laurin den Eindruck, als würde der Rabe ihn prüfend betrachten.
»Hallo, mein hübscher Schwarzer«, sagte er leise, bemühte sich um einen ruhigen Ton, was in der hallenden und sterilen Umgebung gar nicht so einfach war. »Ich nehme das alte Futter heraus und auch das Wasser«, redete immer weiter, während er die Schälchen aus den Halterungen nahm. Er umschrieb jede Bewegung, die er machte mit seinen ruhigen Worten. Auch als er in den Vorraum ging, um Schalen mit frischem Futter zu befüllen, plapperte er. Ob der Vogel zuhörte, wusste Laurin nicht. Aber zumindest saß er entspannter auf der Stange. Der Kopf war nicht mehr zwischen die Schultern gezogen und die schwarzen Augen schienen jeder Bewegungen von Laurin zu folgen. Neugierde glaubte Laurin in ihnen zu erkennen.
Den Napf, in den er schon frisches Futter gefüllt hatte, stellte Laurin auf den Untersuchungstisch ab, daneben eine kleine Schale mit einigen Mehlwürmern. Dies ließ er dort stehen und füllte einen Napf mit frischem Wasser, den er als erstes in die Halterung des Käfigs schob.
Mit dem Futter ließ er sich mehr Zeit, nutzte die Neugierde des Tieres aus, mit der er ihn beobachtete. Übertrieben langsam ließ er die sich windenden Mehlwürmer in die Futterschale gleiten. »Na, mein Schöner? Das sieht doch wirklich lecker aus. Mehlwürmer und süßer Honig und Obst ...« Ebenso langsam und ruhig zählte er auf, was Rabenvögel mochten. Auch wenn sie als Aasfresser verschrien waren, waren sie zugleich regelrechte Leckermäulchen, wie Laurin wusste. Süßes Obst, Nüsse, Honig und Insekten.
Mit ruhigen Bewegungen stellte Laurin auch diesen Napf in die Halterung, so dass der Vogel sich bequem davon nehmen konnte und trat vom Käfig zurück.
Bis zur Tür zum Vorraum wich er zurück, lehnte sich dort gegen den Türrahmen. Leise zischte er auf, als wiederholt Schmerz durch seinen Körper schoss. Wie konnte er nur immer wieder vergessen, dass er verletzt war?
Als wäre er durch Laurins Ton beunruhigt oder aufgeschreckt, reckte sich der Rabe, öffnete den Schnabel, doch statt eines Schreis wie zuvor, war nur ein leises Krächzen zu hören. Irgendwie fragend, wie Laurin empfand.
»Es ist alles gut«, beruhigte er den Vogel. »Es tut schon nicht mehr so sehr weh. Alles in Ordnung.«
Skeptisch schien der Rabe den Kopf zu wiegen.
Du hast echt eine Meise, Laurin. Du stehst hier und unterhältst dich mit einem Vogel, der darauf auch noch zu antworten scheint!
Über sich selbst schüttelte er den Kopf, lachte leise in sich hinein.
Seltsame Situation, obwohl er es ja eigentlich gewohnt war, mit Tieren zu sprechen. Egal, ob er die Käfige reinigte oder die tierischen Patienten fütterte. Es war ihm schon in Fleisch und Blut übergegangen, ihnen etwas zu erzählen. Selbstverständlich reagierten die Tiere auch auf ihn, jedoch nur auf seine Hände und meistens war es mit Interesse, häufig auch mit Angst. Es tat Laurin weh, wenn sie sich vor ihm fürchteten, aber im Grund war nicht er es, sondern das, was er vertrat, das sie ängstigte: Der Schmerz, die fremde Umgebung, das Fehlen eines vertrauten Geruchs.
Aber dieser Vogel war anders. Er war neugierig, aufgeweckt, nahm seine Umgebung wahr. So weit es ihm möglich war, bewegte er sich und rutschte auf der Stange ganz dicht an das Käfiggitter heran. Aufmerksam wandte er den Kopf hin und her, schien Laurin mal mit dem einen dann mit dem anderen Auge prüfend zu beobachten.
»Willst du nichts essen?«, fragte Laurin den Raben leise, halb amüsiert über dessen Gehabe. »Leckere Mehlwürmer. Hmmmm. Ganz frisch«, erzählte er ruhig weiter. Dabei wandte er den Blick zum großen Fenster, wollte dem Vogel das Gefühl geben, nicht ständig unter Beobachtung zu stehen. »Wenn du frisst, darf ich dich bald mitnehmen. Du hast es gehört. Der Arzt hat es gesagt. Du bekommst einen großen Käfig und wenn deine Flügel geheilt ist, kannst du auch wieder fliegen. Aber ...«
Ein leises Scharren und Knuspern ließ Laurin verstummen, nur einen Moment, bevor ein leichtes Lächeln um seine Lippen spielte. »Aber dafür musst du viel fressen«, erzählte er ruhig weiter, während er einen Blick zum Käfig wagte. Nur aus den Augenwinkel und am liebsten hätte er vor Freude gejubelt. Tatsächlich hockte der Rabe vor dem Napf mit dem Futter, stocherte mit dem Schnabel darin herum. »Ja, friss nur! Viele leckere Sachen sind dabei, die Raben wie du gern mögen!«
Laurin hielt den Atem an, als der Vogel den Kopf hob und eine Nuss im Schnabel hielt. Mit einer schnellen Bewegung verschwand sie in seinem Rachen.
Wieder legte der Rabe den Kopf schief, schien Laurin anzusehen, irgendwie herausfordernd.
»Du bist ein Schlingel!«, murmelte Laurin grinsend.

»Na? Wie geht es mit unserem Sorgenkind?«
Erschrocken zuckte Laurin zusammen. Er hatte weder das Öffnen noch das Schließen der Tür gehört und auch nicht die wenigen Schritte, mit denen Doktor Klaus an ihn herangetreten war. Vermutlich war er zu sehr im Anblick versunken, wie der Vogel sich an dem Futter bediente und dabei in keiner Weise zögerlich oder ängstlich wirkte.
»Er frisst!«, erwiderte er, wandte den Kopf zum Tierarzt, der nun an Laurin vorbei in den Raum trat. »Ich hatte das Futter erneuert und frisches Wasser eingefüllt und keine fünf Minuten später hat er in dem Napf herumgepickt.«
Der Arzt war neben Laurin stehen geblieben. Die Arme vor der Brust verschränkt, sah aus der Entfernung auf den Käfig. Skeptisch hatte er die Lippen verzogen. »Entschuldige, Laurin, aber das glaube ich erst, wenn ich es sehe«, sagte der Arzt. »Für mich sieht es eher aus, als hätte er sich überhaupt nicht bewegt. Er hockt noch immer an der gleichen Stelle wie zuvor.«
Irritiert sah Laurin zum Vogel und musste feststellen, dass der Arzt recht hatte. Der Rabe saß wieder auf der gleichen Stelle wie zuvor. Nichts schien sich verändert zu haben.
»Ich habe deutlich gesehen, dass ...«, begann er ungläubig und trat er auf den Käfig zu. »Das kann keine Einbildung gewesen sein!«, murmelte er. Im nächsten Moment dreht er sich zum Doktor um, der ihm gefolgt war. »Ich spinne nicht«, murmelte er. »Und ich habe auch nicht geträumt. Der Rabe hat wirklich gefressen!«
»Das will ich dir gern glauben«, erklärte der Tierarzt, machte zugleich den Eindruck, nicht mit sich handeln zu lassen. »Der Rabe hockt genauso auf der Stange wie zuvor, als ich euch verlassen hatte.« Wieder schüttelte er den Kopf. »Tut mir leid. Aber im Moment habe ich das Gefühl, dass du alles dafür tun würdest, den Vogel mitnehmen zu können und das kann ich nicht zulassen.«
Eine Hand legte sich schwer auf Laurins Schulter, drückte sie leicht in einer tröstenden Geste.
»Er hatte gefressen«, murmelte er, seufzte dann unzufrieden und strich sich durch die Haare. »Aber du hast Recht. Ich kann nicht beweisen, dass er gefressen hat«, stimmte er zu. »Deine Einwände sind berechtigt.«
»Es tut mir wirklich leid, aber ich muss objektiv bleiben, auch wenn ich weiß, dass der Rabe bei dir in den besten Händen ist.« Noch einmal wurde Laurins Schulter leicht gedrückt, dann wandte sich der Arzt ab. »Wenn sich etwas Neues ergibt, dann sag sofort Bescheid.«
Sekunden später klappt die Eingangstür leise zu.
»Nun siehst du, was du angestellt hast«, beschwerte sich Laurin bei dem Vogel, der nur wieder den Kopf schief legte. Sein Rabenbart sträubte sich leicht und auch die Nackenfedern. »Wenn du nicht angefangenen hättest, so ein Theater zu veranstalten, könntest du vielleicht sogar morgen schon bei mir einziehen. Nun hast du den Salat!«
Der Rabe streckte sich, versuchte sich zu schütteln, soweit es die fixierten Flügel zuließen. Die gesträubten Kopffedern legten sich wieder an und mit ungelenken Bewegungen hopste er auf den Rand des Futternapfes. Demonstrativ pickte der Vogel im Napf herum, als würde er etwas suchen und hob schließlich einen sich windenden Mehlwurm heraus.
»Du willst mich wohl auf den Arm nehmen?«, flüsterte Laurin ungläubig, beobachtete, wie der Vogel mit einer nachlässig wirkenden Bewegung den Kopf nach hinten warf und dabei den Wurm in seinen Rachen gleiten ließ. Als wäre es selbstverständlich, suchte er nach einem weiteren Wurm im Napf.
Fassungslos beobachtete Laurin den Raben. Er hatte gehört, dass die Tiere schlau sind, dass sie schnell lernen und sich ausgezeichnet an veränderte Lebensbedingen anpassen können. Aber davon, dass ein Vogel sich ... Was? Dumm stellt? Einen Menschen verulkt? ... hatte er noch nie gehört. Er wusste nicht, ob er sich über das Tier amüsieren oder es verfluchen soll.
Mit vor Aufregung zitternden Fingern zog er sein Handy aus der Hosentasche, wählte die Nummer des Tierarztes.
»Er frisst«, sagte er, als sich Doktor Klaus meldete. »Sobald du den Raum verlassen hattest, hat er wieder gefressen.«
Für einige Sekunden war es still in der Leitung. »Ich kann hier nicht weg«, hörte er den Arzt sagen. »Und irgendwie habe ich das Gefühl, als würde das Spiel von neuem beginnen, wenn ich dabei bin.«
»Das Gleiche befürchte ich auch«, stimmte Laurin zu. »Und nun?«
»Hmm ... Mach ein Video«, schlug der Arzt vor. »Und schick es mir.«
»Okay«, sagte Laurin, doch am liebsten hätte er sich gegen die Stirn geschlagen. »Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?«
»Weil Männer nie auf die einfachsten Ideen kommen«, hörte er Emma sagen. Vermutlich hatte der Arzt die Freisprechfunktion seines Handys aktiviert. »Ich komme gleich mal rüber und probiere aus, ob sich der Vogel auch bei mir verstellt oder nur beim Doc.«
»Bring Kaffee mit!«, konnte Laurin noch sagen, dann war die Verbindung getrennt. »Hoffentlich hat sie es gehört«, murmelte er, während er mit seinem Telefon hantierte. Entgegen Freunden und Bekannten, nutzte er nur selten die Möglichkeit, Bilder und Videos mit dem Handy zu machen. Entsprechend lange musste er erstmal die App suchen, da er sie vom Startbildschirm entfernt hatte. Schließlich hatte er sie gefunden und aktiviert und glücklicherweise war der Rabe noch immer mit fressen beschäftigt. Interessiert neigte er den Kopf, bevor er sich wieder dem Napf widmete und etwas in seinem Schlund verschwand.
Schritte waren vor dem Fenster zu hören. Deutlich konnte Laurin sehen, wann der Vogel auf das Geräusch reagierte. Er verharrte. Als die Tür geöffnet wurde, hopste er vom Rand der Schale und tat einige weitere ungelenke Sprünge bis er wieder auf der Stange war, auf der er zuvor gehockt hatte.
»Der Kaffee ist da!«, verkündete Emma hinter Laurin und der Duft des Getränks wehte ihm entgegen.
Mit einem Seufzen beendete er die Videoaufnahme. »Ich hoffe, dass es geklappt hat«, sagte er mehr zu sich selbst.
»Ach, wird schon«, erwiderte Emma zuversichtlich. Den Kaffeebecher für Laurin stellte sie auf den Arbeitstisch ab und trat an den Vogelkäfig heran. »Und? Wie ist es gelaufen?«
Mehr zur Antwort hob Laurin sein Handy. »Du kannst es dir ansehen. Er hatte dich kommen hören und hat mit dem Fressen aufgehört.«
»Cool!«, sagte Emma. »Ein schlaues Vögelchen!«
»Gar nicht so ›cool‹«, erwiderte Laurin brummig. »Hat dir der Doktor gesagt, dass ich ihn gern in Pflege nehmen würde? Wenn er weiterhin solche Zicken macht, geht er in die Auffangstation. Aber das Doofe ist, dass er wirklich sehr intelligent ist. Er reagiert darauf, was ich sage oder tue.«
Nachdenklich sah Emma erst auf den Vogel, bevor sie sich Laurin wieder zuwandte. »Wenn er es darauf angelegt hat, andere zu ärgern, dann war wohl die Abreibung von den Krähen verdient gewesen.«
»Man kann nicht von Menschen auf Tiere schließen«, hielt Laurin dagegen und griff nach seinem Kaffeebecher.
»Ja«, seufzte Emma. »Das wäre auch viel zu einfach gewesen.«
»Und wie geht es dir?« Mit dem Kinn deutete Laurin auf ihre Hände, die aussahen, als hätte sie fingerlose Handschuhe übergezogen.
»Ich habe einen Fingernagel verloren!«, kündete sie und streckte Laurin eine Hand entgegen, an der einer der blau-weiß-silber designten künstlichen Fingernägel fehlte. »Ansonsten sieht alles gut aus. Die Jacke hatte das Meiste abgefangen und mein Arzt ist zufrieden.«
»Schick mir ne Rechnung für die Jacke«, sagte Laurin. »Ich ersetze sie dir.«
Einen Moment schien Emma irritiert. »Du hast tatsächlich eine Macke!«, stellte sie schließlich fest. »Der Chef hatte schon angedeutet, dass du dich für das Desaster schuldig fühlst. Aber dass du mir auch noch die Jacke ersetzen willst ...« Fassungslos schüttelte sie den Kopf. »Du bist echt ein Blödmann, der sich für alles verantwortlich fühlt!«
Laurin spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen schoss. Emmas Worte waren ehrlich und offen und mehr als einmal hatte sie ihm vorgeworfen, ein zu weiches Herz zu haben. »Ich meinte den Fingernagel«, sagte er, versuchte damit, sein Angebot ins Lächerliche zu ziehen. Das einzige, das er damit erreichte, war, dass Emma ihn skeptisch ansah, eine Augenbraue spöttisch hochgezogen.
Ebenso kritisch schien ihn auch der Vogel zu betrachten.
»Haha!«, machte Emma. »Wer’s glaubt, wird selig.«
Inzwischen war Laurin genervt und kurz davor, sein Handy gegen die Fliesenwand zu schmeißen. Er spürte, wie sich ein Grollen in ihm aufbaute, wie ein Vulkan kurz vor der Eruption. »Ich kriege es mit dem Video einfach nicht hin!«, grummelte er.
»Wir sollten hinausgehen«, sagte in dem Moment Emma. »Du bist kurz vor dem Explodieren und das ist nicht gut für deinen Patienten.«
»Oh«, machte Laurin, verwirrt, wusste im ersten Moment nicht, was Emma meinte. Dann ging sein Blick zum Käfig, in dem der Vogel ihn aufmerksam beobachtete. Er schien keineswegs durch Laurins Verärgerung beunruhigt. Auch seine nicht gerade ruhigen Bewegungen, zu denen er neigte, wenn er sich über etwas aufregte, schreckten ihn nicht auf.
Mit einem tiefen Atemzug zwang Laurin sich zur Ruhe und hielt Emma sein Handy entgegen. »Hier, vielleicht kriegst du es hin, unserem Chef das Video zu schicken. Ich bin eindeutig zu bescheuert dafür.«
»Männer und Technik!«, murmelte seine Kollegin kopfschüttelnd und griff nach dem Smartphone. »Erledigt!«, verkündete sie nach einigen Sekunden und reichte das Gerät zurück. »Ich drücke ganz fest die Daumen, dass du ihn bald mitnehmen kannst.«

Kapitel 5

 Doktor Klaus gab die Erlaubnis. Wie erhofft. »Obwohl das Video komplett verschwommen ist und ich darauf nichts erkennen konnte«, betonte er mit erhobenem Zeigefinger. »Aber: Bis zum Freitag wird der Rabe noch hierbleiben. Sicherheitshalber. Zur Beobachtung. Sollte sich seine Verfassung verschlechtern, bleibt er hier und wird so schnell wie möglich an eine Auffangstation übergeben.«
Laurin nahm an, dass sich sein Chef zu sehr genervt fühlte und deswegen seinem Drängen nachgegeben hatte. Selbstschutz, wie er vermutete, da wahrscheinlich Emma ebenfalls auf ihn eingeredet hatte. Oder der Doktor wollte endlich einfach seine Ruhe haben.
Eigentlich konnte Laurin sich für die Entwicklung nur beglückwünschen, da der Doktor schon einen Pflegeplatz für den Vogel gefunden hatte. Wie er selbst wusste, wäre der Rabe dort wesentlich besser aufgehoben und doch hatte der Arzt anders entschieden. Für den Moment.
Was ihn so sehr an dem Vogel reizte, konnte Laurin nicht sagen. Wahrscheinlich nur die Hoffnung, dass dessen Anwesenheit die unerträgliche Stille und das Alleinsein verdrängen würde. Er fühlte sich einsam. Justus Gegenwart fehlte ihm. Ebenso das Wissen, dass jemand auf ihn zu Hause wartete.
In der Stille des Abends fiel ihm die Decke auf den Kopf und am liebsten würde er Justus anrufen. Mehr als einmal hatte Laurin bereits sein Handy in der Hand und die Nummer aufgerufen. Nur den Button mit dem grünen Symbol hatte er nicht betätigt. Noch nicht. Aber was sollte er ihm sagen? »Bitte komm zurück! Es war gar nicht so gemeint. Ich verzeih dir, wenn du mir auch verzeihst. Ich vermisse dich.« Auch wenn das Letzte zutraf, zumindest in den einsamsten Minuten des Tages, kurz vor dem Einschlafen, wenn eine schlichte Umarmung den ruhigsten Schlaf versprach. Stattdessen nahmen ihm Tränen die Luft zum Atmen, schnürten ihm die Kehle zu und er presste so fest das Kissen gegen seine Brust, dass es in den Schultern schmerzte und der scharfe Stich der überspannten Verletzung ihn wieder aus der Verzweiflung riss.
Wollte er Justus eigentlich zurückhaben? Wenn der Mann vor der Tür stehen würde, würde er ihm erlauben, wieder einzuziehen? Nein, definitiv nicht. Aber dann kam das schmerzende Gefühl der Einsamkeit zurück und er hätte allem zugestimmt, nur um sich nicht mehr einsam zu fühlen.
Es war wie eine Achterbahnfahrt. Auf und Ab ging es mit seinen Emotionen und nur die Besuche in dem kleinen Gebäude auf dem Hinterhof der Tierarztpraxis gaben ihn so etwas wie Zuversicht. Bei weitem keine Hoffnung, aber zumindest die Gewissheit, etwas Sinnvolleres mit seinem gegenwärtigen Leben anzustellen, als sich nur im Mitleid suhlen zu müssen.

Am Freitag war es dann endlich soweit: Sein Untermieter sollte bei ihm einziehen. Einen Tag zuvor hatte Doktor Klaus einen Käfig gebracht, den er mit Hilfe eines Bekannten die vier Etagen hochgeschleppt und in Laurins Wohnzimmer aufgebaut hatte.
Da Laurin über kein Auto verfügte und er den unhandlichen Transportkäfig schlecht auf das Fahrrad schnallen konnte, musste Henri einspringen. Er war einfach von Emma dazu abkommandiert worden, Fahrdienst zu leisten. Sein Kombi war wieder aus der Werkstatt zurück und bot für den Transportkäfig ausreichend Platz.
»Bei Emmas Knutschkugel hätte der Kleine auf dem Dach mitfahren müssen«, erklärte Henri, als er den Käfig in den geräumigen Kofferraum stellte. Dazu kam noch eine Tasche mit allem, was Doktor Klaus als wichtig für den Raben erachtet hatte.
Der Rabe selbst hockte still in einer Ecke des Tranportkäfigs und bewegte sich nur dann, sobald es notwendig war, wenn er das Gleichgewicht halten musste. Ansonsten hatte er den Kopf wieder zwischen die Schultern gezogen und wirkte nicht so, als würde ihn überhaupt irgendetwas interessieren. Doch zuckte er leicht zusammen und gab ein misstönendes Krächzen von sich, als Henri die Heckklappe schloss.
Laurin hatte auf der Rückbank Platz genommen und sich soweit im Sitz herumgedreht, dass er den Vogel sehen konnte. »Nicht mehr lange, meine Junge, dann sind wir zu Hause«, erzählte er ihm leise.
Zu Hause. Wie seltsam das klang! Und dabei würde dieses »zu Hause« nicht mehr als eine Pflegestelle sein. Kurzzeitig.
Die Fahrertür klappte, das Auto sprang an und Henri lenkte es vom kleinen Parkplatz vor der Tierarztpraxis in den fließenden Verkehr hinein.
»Hat der Rabe überhaupt einen Namen?«
Laurin löste den Blick vom Vogel und sah nach vorn, begegnete Henris im Rückspiegel. »Nein«, erwiderte er erstaunt. »Ich bin ehrlich gesagt gar nicht auf die Idee gekommen und ich wüsste auch nicht, welcher auf ihn passen könnte.«
»Es war ja auch nur eine Frage, weil ich irgendwie das Gefühl habe, dass jedes Haustier einen Namen haben muss.«
»Er ist kein Haustier«, erwiderte Laurin. »Ein wildes Tier.«
»Nun. Aber so sieht er überhaupt nicht aus.« Henri setzte den Blinker, um in die Einfahrt für Laurins Haus anzuzeigen.
»Wir werden ihn wieder freilassen, sobald seine Flügel abgeheilt sind.« Das Auto fuhr wieder an, brachte den Vogel im Käfig leicht zum Schwanken. Leise krächzte er seinen Unmut hinaus. Laurin grinste, amüsiert über die Launenhaftigkeit seines neuen Mitbewohners. »Wir sind gleich da«, stellte er fest. »Gleich ist die Schaukelei vorbei.«
»Was ist, wenn er wieder von anderen Vögeln angegriffen und verletzt wird?«
»Das wird kaum passieren«, erwiderte Laurin und wandte sich Henri zu. »Der Doc sagt, dass er noch ein junger Vogel ist. Vermutlich haben die anderen ihn zurechtgewiesen, weil er in ihr Revier eingedrungen war. Oder er hatte ein totes Tier gefunden, auf das sie selbst es abgesehen hatten.«
Das Auto hielt an, der Motor verstummte. Henri schnallte sich ab und stieß die Tür auf. Laurin tat es ihm gleich. »Raben sind schlau«, erklärte er weiter. »Sie sind sehr gelehrig.«
»Und nun hoffst du, dass er aus seinem Fehler gelernt hat, wenn er wieder frei ist?« Henri öffnete die Heckklappe und hob den schweren Beutel mit den Utensilien heraus, während Laurin nach dem Käfig griff.
»Ich hoffe es«, erwiderte er.
Henri folgte ihm ins Haus und die Treppe hinauf. Auf dem letzten Treppenabsatz blieb er stehen. »Such dir gefälligst eine Wohnung, die weiter unten liegt!«, forderte er schnaufend. »Das ist ja eine Qual!«
»Vorzugsweise ebenerdig?«, erkundigte sich Laurin grinsend, der gerade die Wohnungstür aufschloss. »Das Gleiche hatte mein Chef auch gesagt, als er den Käfig hochgeschleppt hatte.«
»Oder such dir wenigstens eine Wohnung, die man mit einem Fahrstuhl erreichen kann«, stöhnte der Mann und tat so, als würde er nur noch mit Mühe die Füße auf die letzte Stufe heben können.
»Das sind die Häuschenbesitzer!«, stellte Laurin lachend fest. Er bedeutete Henri, voran in die Wohnstube zu gehen, während er die Wohnungstür hinter ihnen schloss und sich eilig die Schuhe von den Füßen trat.
»So, mein Hübscher. Nun sind wir zu Hause«, stellte er an den Raben gewandt, zufrieden fest.
»Was nun?«, erkundigte sich Henri, der sich ebenfalls die Schuhe ausgezogen und seine Jacke über die Sessellehne gelegt hatte. »Muss noch irgendetwas vorbereitet werden, bevor der Vogel umziehen kann?«
Laurin verzog nachdenklich die Stirn. »Nur Futter und Wasser müssen eingefüllt werden«, sagte er. »Sand ist schon drin.«
»Kein Spielzeug? Kein Spiegel?«, erkundigte sich Henri.
»Er ist ein Rabe, kein Wellensittich!«, erwiderte Laurin kopfschüttelnd und mit ernster Miene.
»Emma würde genauso ausrasten wie du«, stellte er lachend fest und auch Laurin konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
»Danke für deine Hilfe, aber ich mach das nun alles allein fertig«, sagte Laurin.
»Dir ist bewusst, dass Emma mir die Haut abziehen wird, wenn sie hört, dass ich dir nicht geholfen habe? Sie ist der festen Meinung, dass du welche benötigst«, wandte Henri ein.
»Und dabei hast du eine so schöne Haut«, erwiderte Laurin amüsiert und drückte Henri seine Jacke in den Arm. »Du kannst ihr sagen, dass ich dich hinausgeworfen habe. Ich bin euch unglaublich dankbar, dass ihr mir geholfen habt. Bei mir hätte es eine halbe Ewigkeit gedauert, bis ich alles hergeschafft hätte. Aber das, was nun kommt, muss ich allein machen. Der Vogel muss sich sowieso erst einmal beruhigen, bevor ich ihn umsetzen kann. Die Umgebung ist fremd, alles riecht anders, die Geräusche sind ungewohnt. Er braucht erst etwas Zeit. Und ich ...«, seufzend strich er sich durch die Haare. »Ich muss mich auch erst wieder zurechtfinden. Ich habe zwar alles und weiß, wie ich den Raben zu behandeln habe, aber trotzdem ...«
»Ist schon klar: Ein neuer Mitbewohner beeinflusst das Leben.«
»Ja, so ist es«, bestätigte Laurin, froh über Henris einfache Erklärung, das er selbst nicht in der Lage war, den Grund zu sagen, warum er allein sein wollte.
»Dann verschwinde ich mal«, sagte der andere und schlüpfte wieder in seine Jacke und die Schuhe. »Wenn du doch noch Hilfe brauchst, dann melde dich einfach.«
»Ja, selbstverständlich«, stimmte Laurin lächelnd zu. Mit einem zufriedenen Seufzen schloss er schließlich die Tür hinter Henri.
Nach einem kurzen Blick in die Wohnstube zum Vogel, der noch immer still in dem kleineren Käfig hockte, befüllte Laurin die Kaffeemaschine und schaltete sie an. Während sich der Kaffeeduft in der Wohnung ausbreitete, räumte er den Beutel aus, den ihn sein Chef mitgegeben hatte. Etwas Trockenfutter füllte er in einen Napf und in einem weiteren Wasser, das er aus der Küche geholt hatte. Zum Wasser gab er noch einige Tropfen Traumeel, bevor er den Napf in die Haltevorrichtung des großen Käfigs stellte.
Langsam schien der Rabe aufzutauen. Er wirkte nicht mehr zusammengesunken, sondern verfolgte jede von Laurins Bewegungen aufmerksam. Dabei hatte er wieder den Kopf leicht schräg gelegt. »Du hast wohl Durst?«, fragte er den Vogel, erwartete keine Antwort. Wäre auch zu komisch, wenn er eine erhielte. »Ich mache noch den Käfig fertig und dann darfst du umziehen«, erzählte er weiter, während er den Napf mit dem Trockenfutter ebenfalls in die Halterung des Käfigs schob.
Tja, über das Umsetzen des Vogels hatte sich Laurin schon Gedanken gemacht und sich dafür bereits zwei Latexhandschuhe zurechtgelegt. Trotzdem zögerte er. Was wäre, wenn er den Raben falsch zu fassen bekommen und ihm Schmerzen zufügen würde? Zweifel. Nun, wo er allein war.
Mit einem tiefen Atemzug schob er die Überlegungen weit von sich und beschloss, sich zuerst einen frisch aufgebrühten Kaffee zu holen. In der einen Hand einen Apfel, in der anderen den Kaffeepott, setzte er sich vor dem Transportkäfig auf das Sofa. Nachdenklich sah er den Raben an, während er vom Kaffee nippte und die Tasse schließlich auf den Tisch abstellte. Er musste sich eingestehen, dass er sich nicht sicher war, ob er das Richtige machte. Doktor Klaus hatte zwar gesagt, dass er es langsam angehen sollte, aber das könnte im Grunde alles Mögliche bedeuten. Laurin nahm sich vor, einfach auf sein Gefühl zu vertrauen und das sagte ihm, dass er auf dem richtigen Weg war. Zumindest beobachtete der Vogel ihn interessiert. Noch zögernd, wandte er den Kopf hin und her. Der Rabenbart und das Nackengefieder waren leicht gesträubt, als wäre der Vogel wegen irgendetwas nervös oder beunruhigt, doch konnte Laurin nicht feststellen, was dafür der Grund wäre.
Als er dann in den Apfel biss und ihm der Saft das Kinn herablief, gab der Rabe ein leises Krächzen von sich und bewegte sich leicht. Nur ein kleines Stückchen rückte er auf der Stange näher zu Laurin, beäugte ihn mit einem Auge. »Magst du etwa auch ein Stück Apfel?«, fragte Laurin leise, wischte sich den Saft vom Kinn. Wieder ein Krächzen, das irgendwie wie eine Zustimmung klang.
Im ersten Moment wusste Laurin nicht, wie er darauf reagieren sollte. Hatte er es sich nur eingebildet? Wahrscheinlich. Wahrscheinlich nicht, denn noch immer sah der Vogel ihn auf eine Weise an, als würde er ihn auffordern, den Apfel mit ihm zu teilen.
»Also gut!«, erklärte Laurin und biss ein Stück vom Apfel ab, das er sich auf die Hand legte. Mit der anderen Hand öffnete er die Käfigtür.
Neugierig reckte der Rabe den Hals, neigte sich vor und verdrehte sich fast den Hals, um nicht nur die Hand mit dem Apfelstück sondern, auch die andere im Blick zu behalten.
»Du magst Apfel?«, flüsterte Laurin und hielt dem Vogel das Stück entgegen. »Nimm es ruhig!«, forderte er. »Es ist süß und saftig.«
Ein ungelenker Hüpfer des Raben ließ Laurin leicht zurückzucken und reagierte mit einem erleichterten Grinsen, als er feststellte, dass sein neuer Mitbewohner sogar noch näher gekommen war. Vorsichtig streckte er den Hals, beäugte mit den schwarzen Augen das Obst.
»Nimm es ruhig«, flüsterte Laurin ein weiteres Mal und unwillkürlich hielt er den Atem an, als sich der große Schnabel seiner Hand näherte. Sanft glitt er über die Innenfläche seiner Hand, hinterließ ein seltsam kühles Gefühl. Es fühlte sich unwirklich an und es war unwirklich, als das Apfelstück von seiner Hand gehoben wurde und mit einer schnellen Bewegung im Schnabel verschwand.
Laurin war fassungslos und glücklich. Es war das erste Mal, dass er dem Vogel direkt etwas aus der Hand angeboten und es sogar genommen hatte. Es war das erste Mal, dass der Rabe auf ihn zugekommen und nicht gewartet hatte, bis Laurin vom Käfig zurückgetreten war.
Aus einer Ahnung heraus streckte er die Hand, auf der das Apfelstück gelegen hatte nach dem raben aus, der ruhig auf der Stange saß. Nur leicht nahm er den Kopf zurück, beäugte eher skeptisch als ängstlich die Finger, die sich ihm immer mehr näherten. Doch ließ er es geschehen, dass Laurin ihn an der Brust berührte. Noch immer war sie bandagiert, nahm dem Vogel die Bewegungsfreiheit und machte jede Bewegung ungelenk, seine Schritte holperig.
Mehrmals strich er mit den Fingerkuppen über den Verband, bevor Laurin die Hand soweit senkte, dass sie unmittelbar vor den Krallen des Raben war. »Nun komm, mein Süßer!«, lockte er ihn. »Nur einen kleinen Schritt.«
Unruhig bewegte sich der Vogel, reckte sich, sträubte das Gefieder, blinzelte. Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen, während Laurin weiterhin die Hand still vor ihm hielt.
Schließlich trat er auf die dargebotene Hand. Die Krallen bohrten sich in die Haut und das Gewicht des großen Vogels raubte Laurin für einen Moment den Atem. Er hatte gewusst, dass Raben schwer sein können und hatte es auch gemerkt, als er den Käfig getragen hatte. Tausendsiebenhundertfünfundfünfzig Gramm hatte Doktor Klaus erst gestern festgestellt. Dieses Gewicht nun auf der Hand zu spüren, brachte sie zum Schwanken.
»Oh!«, entfuhr es Laurin. Er war sprachlos und zugleich fühlte er sich unsicher. Das Tier schien ihm zu vertrauen und dabei könnte er gar nicht sagen, womit er dieses Vertrauen verdient hatte. Mit einem Stück Apfel?
Vorsichtig hob er den Raben aus dem Käfig. Dabei schien seine zitternde Hand das Schwanken des Vogels noch zu verstärken. Tief gruben sich seine Krallen in die Haut, auf der Suche nach Halt. »Ganz ruhig!«, murmelte Laurin, während er langsam aufstand, um an den großen Käfig heranzutreten. »Hier ist dein neues Heim. Hier hast du ausreichend Platz.«
Im Grunde war es Blödsinn, was Laurin dem Vogel erzählte. Hin und wieder schien er auf das zu reagieren, das er sagte. Aber war es wirklich so? Laurin wusste, dass Raben sehr gelehrige Vögel waren. Hieß das aber auch, dass sie in der Lage waren, die Worte zu verstehen? Vermutlich reagierten sie mehr auf die Stimmlage und die Bewegungen. Mehr nicht.
Dass der Rabe schlau war, wollte Laurin keineswegs abstreiten. Wie klug er wirklich war, blieb abzuwarten und möglicherweise fand er im Internet einige Tests, die er anwenden konnte, um es herauszufinden. Aber nun galt es erst einmal, dass sich der Vogel in sein neues Heim eingewöhnen sollte. Für alles andere war später auch noch Zeit.

Kapitel 6

 Laurin fühlte sich beobachtet. Egal, was er machte. Ob er nun in der Küche werkelte und das Essen für den Raben vorbereitete oder einfach nur auf dem Sofa lag und las. In den ersten Tagen war es noch schlimm, aber dann hatte er sich daran gewöhnt. Hin und wieder war es nur nervig, dass der Rabe anfing, nervtötend zu kreischen, wenn er im Bad oder im Schlafzimmer war und die Tür geschlossen hatte. Solange der Vogel sah, wo Laurin sich in der Wohnung aufhielt, war er ruhig.
»Was ist, wenn du einkaufen bist?«, hatte Emma gefragt. Sie stand am Mittwochnachmittag vor seiner Tür, in der Hand ein Kuchenpaket und hatte sich einfach zum Kaffee bei ihm eingeladen. Nun saßen sie gemütlich im Wohnzimmer, tranken Kaffee, während der Rabe still im Käfig auf der Stange hockte und nur leicht den Kopf neigte, um die Besucherin zu beäugen.
»Das ist ja das Seltsame!«, erwiderte Laurin hilflos. »Dann ist er nämlich ruhig.«
»Das klingt doch super«, stellte Emma mit einem Schulterzucken fest. »Das heißt, dass du arbeiten gehen kannst, ohne dir wegen Lärmbelästigung der Nachbarn Gedanken zu machen.«
»Ja, das stimmt schon. Aber ist es überhaupt möglich, dass ein Vogel so auf einen Menschen geprägt sein kann?«
Nachdenklich hatte Emma die Stirn in Falten gelegt. »Enten fallen mir spontan ein. Oder Adler und Papageien, die von Hand aufgezogen wurden.«
»Aber keine Vögel, die ausgewachsen sind. Sie alle wurden als Schlüpfling oder als Küken auf den Menschen geprägt.«
»Vielleicht hat er einige Gene von einem Hündchen?«, warf Emma amüsiert ein. »Manche von den kläffenden Fußhupen können auch lieb und leise sein, wenn sie allein sind und erst, wenn Herrchen nach Hause kommt, drehen sie auf und rücken ihm nicht mehr von der Pelle.«
Mit gespielter Ernsthaftigkeit überdachte Laurin Emmas Anmerkung, schließlich schüttelte er den Kopf. »Er wedelt nicht mit dem Schwanz«, erwiderte er mit der gleichen Ernsthaftigkeit wie seine Kollegin. »Und er bellt nicht.«
»Dann bring es ihm bei!«, forderte Emma lachend, wandte sich zum Käfig um, um einen Blick auf den Raben zu werfen. »Hast du gehört, Schwarzfeder? Gib Laut fürs Herrchen!«
»Ich werde ihm beibringen, wie er dir einen Vogel zeigen kann«, sagte Laurin. »Oder einen Rabenfuß mit Stinkefinger.«
Lachend wischte sich Emma Tränen aus den Augenwinkeln. »Das muss ein Bild für Götter sein«, vermutete sie. »Das würde ich wirklich gern sehen.« Kurz schnaufte sie, wohl um sich von ihrem Lachanfall zu erholen. »Und nun erzähle, wie es dir geht.«
»Mir fällt die Decke auf den Kopf«, sagte er und verdrehte genervt die Augen. »Morgen früh muss ich noch einmal zum Arzt. Dann werden die Fäden gezogen und wenn alles klappt, bin ich ab Montag wieder in der Praxis.«
Emma nickte verständnisvoll. »Und der Vogel? Bringst du ihn?«
»Doktor Klaus kommt am Freitag nach der Sprechstunde vorbei und guckt ihn sich an«, erwiderte Laurin. »Wenn alles klappt, dann wird in der nächsten Woche die Bandage entfernt.«
»Vogel müsste man sein. Dann würden Knochenbrüche ebenso schnell heilen«, murmelte Emma. Dem konnte sich Laurin nur anschließen. Doch blieb er stumm.
Stattdessen überlegte er, ob er von dem kleinen Vorfall erzählen sollte, den er zwei Tage zuvor mit dem Raben erlebt hatte. Aber das klang einfach zu albern, wenn er seiner Kollegin erzählen würde, dass er glaubte, den Vogel mit seinen Schmerzen aufgeschreckt zu haben. Er war zu dem Zeitpunkt im Bad, hatte gerade die Duschkabine geputzt, als er mit der Schulter gegen die Abtrennung gestoßen war. Blendend grell war der Schmerz durch seinen Körper geschossen, nahm ihn für Augenblicke den Atem. Zugleich hörte er den Raben im Nebenzimmer laut kreischen, dass es in der kleinen Wohnung widerhallte. Vermutlich hatte der Vogel nur auf den Wehlaut reagiert, den er ausgestoßen hatte. Genau konnte er es nicht mehr nachvollziehen. Eigentlich war es ein seltsamer Zufall, doch erinnerte er ihn an einen ähnlichen Vorfall in der Praxis.
»Der Vogel frisst mir aus der Hand«, erzählte Laurin stattdessen und schob die Überlegungen weit von sich. »Ich biete ihm jeden Tag Leckerbissen an. Nach der kurzen Zeit hat er sich schon so sehr an mich gewöhnt, dass er es mir ohne Zögern von der Hand nimmt.«
Erstaunt hoben sich Emmas Augenbrauen, bevor sie sich in Besorgnis zusammenzogen. »Ich hoffe nur, dass du dein Herz nicht zu sehr an das Tier hängst.«
»Ich weiß!«, stieß Laurin hervor, was ungehaltener klang, als er beabsichtigt hatte. »Es freut mich nur so sehr, dass er sich wohl zu fühlen scheint«, setzte er gemäßigter hinzu.
»Es ist verständlich. Ich mache mir nur Sorgen um dich«, erwiderte Emma und streckte die Hand aus, um Laurin zu berühren. Es war keine tröstende Geste, sondern nur verständnisvoll. »Ich will nicht, dass du zu sehr leidest, wenn er in seine eigene Welt zurückkehren muss.«
Für einen Moment schloss Laurin die Augen. »Du spielst auf die Sache mit Justus an«, stellte er fest. »Der Kerl ist Geschichte. Nichts erinnert mich mehr an ihn.«
»Wirklich alles?«
»Ja«, sagte Laurin, nickte bekräftigend. »Sogar die Schlüssel hatte er mir in den Briefkasten geworfen, ohne dass ich ihn deswegen hätte ansprechen müssen.«
»Du hast nun absolut keinen Kontakt mehr zu ihm?«, erkundigte sich Emma, lehnte sich zufrieden in das Sofapolster zurück, als Laurin zustimmend nickte. »Das ist gut. Nichts ist schlimmer, als wenn der Kerl dir weiterhin auf die Pelle rücken würde.«
»Ich habe zwar noch seine Telefonnummer, aber ansonsten: Nein, ic habe absolut keinen Kontakt mehr zu ihm. Er ist aber auch nicht der Typ, der plötzlich vor meiner Tür stehen oder mir das Leben zur Hölle machen würde.«
»Bist du dir da vollkommen sicher?«, fragte Emma und schnalzte abwertend mit der Zunge. »Alle Menschen sind Schauspieler. Manche sind nur bessere Darsteller als andere. Und dann gibt es Schafe, die sogar auf die mieseste Maske hereinfallen.«
»Mähhh!«, machte Laurin, lächelte traurig, erhielt dafür eine weitere tröstende Berührung. »Du hast Recht!«, stellte er fest. »Ich bin ein blödes Schaf.«
»Ja, das bist du, wenn du weiterhin deinem Verflossenen hinterher heulst.« Emma hatte sich wieder etwas vorgeneigt. »Ich befürchte, dass du dein Leben auf diesen Raben ausrichtest.«
»Ich komme bald wieder zur Arbeit«, erwiderte er ausweichend.
»Und du bist der Meinung, dass es ausreichend ist«, vermutete sein Gegenüber, sah ihn eindringlich an. »Ich will nur nicht, dass du dich zu sehr zurückziehst und dabei das Leben an dir vorbeirennt. Das kann viel zu schnell passieren und du bist in einem Altern, in dem du ausnutzen solltest, dass du Single bist!«
»Er ist erst vor zwei Wochen ausgezogen!«, erwiderte Laurin, uneins mit sich selbst, ob er über Emmas Worte ungehalten oder amüsiert sein sollte. »Gib mir etwas Zeit, mich von ihm zu erholen, bevor ich mich in jemand anderen verliebe.«
»Oh, Laurin, mein wundes Herzchen!«, seufzte Emma mitfühlend.
»Du wirst mich nicht ändern können.«
»Nein, das will ich auch nicht wollen. Definitiv nicht. Ich vergesse nur immer wieder, wie sehr du an dem Kerl gehangen hattest«, sagte sie entschuldigend. »Aber andere Mütter haben auch hübsche Jungs, die garantiert besser zu dir passen, als dieser ...«
»Arsch«, half Laurin aus, als Emma nach dem richtigen Wort suchte.
»Ja, genau.«
Emma war nach dem Gespräch bald aufgebrochen. Angeblich wäre ihr Mann nicht in der Lage, für sich selbst das Abendessen zuzubereiten, wie sie schmunzelnd sagte.
»Es war schön, dass du vorbei gekommen warst«, sagte Laurin, als er sie zur Tür brachte. Den Dank wischte Emma mit einer lockeren Handbewegung fort.
»So hatte ich wenigstens die Gelegenheit, dir meine Meinung unter die Nase zu reiben«, sagte sie, während sie in ihre Jacke und ihre Schuhe schlüpfte. »Im Moment vergräbst du dich in deinen vier Wänden und das gefällt mir nicht. Henri und ich würden ja gern mit dir um die Häuser ziehen, aber ich fürchte, dass du etwas dagegen hättest, wenn wir dir das Händchen halten.«
Die Arme vor der Brust verschränkt beobachtete Laurin, wie seine Besucherin ihre Jacke schloss und sich nach einem kurzen Blick in den schmalen Flurspiegel, die Haare richtete. »Nein, Mama. Darauf kann ich sehr gut verzichten.«
Amüsiert kicherte Emma. »Brav, mein Junge.« Sekunden später war er allein und nur ein leises Krächzen war zu hören.

Der Rest der Woche verlief ereignislos, wenn man von den Besuchen beim Hausarzt und vom Tierarzt absah.
Wie bereits erwartet, war der Arzt sehr zufrieden mit der Heilung von Laurins Wunde an der Schulter und hatte die Fäden gezogen. Nun erinnerte nur noch ein großes Pflaster an den Vogelangriff sowie ein leichtes Jucken, das angeblich die gute Heilung bewies. Zumindest meinte das der Hausarzt.
Doktor Klaus war ebenfalls sehr zufrieden, als er den Raben begutachtete. »Eigentlich habe ich ja damit gerechnet, dass er wieder in seine übliche Starre verfällt, sobald er mich sieht«, sagte er amüsiert. »Verdenken kann ich es ihm nicht. Schließlich hatte ich ihm bei unserem ersten Aufeinandertreffen Schmerzen zugefügt.«
»Er ist nicht nachtragend«, erwiderte Laurin, woraufhin Doktor Klaus eine Augenbraue hochzog.
»Darauf möchte ich mich nicht verlassen«, sagte er, neigte sich herab, um dem Raben in die Augen blicken zu können.
»Ich kann ihn herausnehmen«, bot Laurin an. »Ich kann ihn einfach auf meine Hand nehmen und dann kannst du ihn untersuchen.«
Doktor Klaus wandte sich ihm zu, blickte ihn erstaunt an, bevor er wieder den Vogel ansah und wieder zurück. »Du kannst ihn so ganz einfach herausnehmen?«
»Ja«, sagte Laurin gedehnt, unsicher, ob er etwas Falsches gesagt hätte.
»Erstaunlich«, murmelte der Tierarzt. Einen Moment später trat er vom Käfig zurück. »Hebe ihn heraus.«
Seit der vergangenen Woche hatte Laurin den Vogel immer wieder berührt, ihn gestreichelt, nachdem er ihm Leckerbissen angeboten hatte, die er einfach von seiner Hand nahm. Auf der Hand hatte er ihn aber bisher nur einmal. Vor einer Woche.
Zuversichtlich trat er an den Käfig, öffnete die Tür und streckte die Hand nach dem Raben aus. Ruhig hielt er sie vor den Rumpf des Vogels, ganz still, so dass er nur einen Schritt von der Stange machen musste.
Statt auf die Hand zu achten, sah der Rabe zu Laurin. »Nun komm!«, lockte er und seufzte erleichtert, als das Gewicht des großen Vogels seinen Arm belastete, ihn leicht zum Schwanken brachte.
»Erstaunlich«, hörte er den Arzt neben sich flüstern.
»Er hat Vertrauen zu mir gefasst«, erklärte Laurin, den Vogel aus dem Käfig hebend.
»Nein«, sagte Doktor Klaus, schüttelt leicht den Kopf. »Das ist es nicht nur. Da ist noch mehr.«

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Tag der Veröffentlichung: 21.04.2018

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