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»Max, nun geh endlich mit den Kleinen!« Die Stimme meiner Mutter klag genervt. Kein Wunder, da es mal wieder an der Haustür schellte und sie gerade in der Küche mit dem Vorbereiten des Abendessens beschäftigt war.
Ich hörte es leise Klappern und wusste, dass sie die Schüssel genommen hatte, die im Flur auf dem Schuhschrank stand, bereit, die kleinen Bettelgeister mit Süßigkeiten zu versorgen. Bestimmt wird sich ihre mürrische Miene zu einem freundlichen Strahlen gewandelt haben. Im nächsten Moment tönte ihr übertrieben erstaunt klingendes »Oh!« und »Ihr seht aber echt gruselig aus!« bis in das Wohnzimmer.
Ich verdrehte die Augen und griff nach der Fernbedienung, um den Ton des Fernsehers lauter zu machen. Halloween war nichts für mich, genauso wenig wie Fasching. Cosplay ist was für Spinner und Nerds, die kein vernünftiges Hobby haben. Meine Meinung. Und mal ehrlich: Mit fast neunzehn Jahren war ich sowieso zu alt für sowas.
»Maximilian Horst Schönhausen! Wann endlich gehst du mit Tommy und Marian?«, verlangte meine Mutter zu wissen. »Du hast es ihnen versprochen.«
Wieder verdrehte ich die Augen. »Jaaa«, murrte ich. »Das war vor einem Monat oder so gewesen.« Zugesagt, weil mir die beiden Gören auf die Nerven gegangen waren. Im Nachhinein weiß ich gar nicht mehr, warum ich zu dem Zeitpunkt meine Ruhe haben wollte. Ach ja. Ich hatte mir ein neues PC-Spiel besorgt. Lange ist es her und leider haben es sich meine Geschwister gemerkt. Man soll halt die Gedächtnis- und Merkleistungen eines Sechsjährigen und seiner fünfjährigen Schwester nicht unterschätzen.
»Gib mir zwei Minuten«, sagte ich und quälte mich regelrecht aus dem Sessel, der heute irgendwie mit meinem Arsch verwachsen war. Wer bitte wollte schon freiwillig bei diesem nasskalten Wetter freiwillig rausgehen? Das einzig Gute war, dass es dunkel war. Niemand würde mich sehen, wenn ich mit den Gören die Häuser abklappern würde.
Aus dem Kinderzimmer hörte ich meine Geschwister jubeln und gleich darauf ihr fröhliches Plappern und Vermutungen darüber anstellen, wie viel sie sammeln könnten. »Bestimmt den ganzen Beutel voll!«, behauptete Tommy, der mit rotem Kopftuch, Augenklappe und Plastesäbel an der Seite einen waschechten Piraten darstellte. In der Hand hielt er eine Aldi-Tüte, die er wohl der Küche mitgebracht hatte.
Marian, unsere kleine Prinzessin, war als kugelrunder Kürbis verkleidet. Sie schielte auf das Riesentütenteil und schien zu überlegen, ob sie sich auch so eine holen soll. Zum Glück kam unsere Mutter, nahm dem Kurzen die Tüte ab und reichte beiden einen orangefarbenen Eimer. »Da passt nicht sehr viel rein«, murrte Tommy-Pirat.
Im Stillen gab ich ihm recht.
Meine Schwester mit ihrem ausgepolsterten Bauch in die Jacke zu bekommen, war gar nicht so einfach und kostete uns einige Tropfen Schweiß. Mutter hatte Tommy endlich davon überzeugen können, dass es für seinen Kunststoffpapagei besser wäre, ihn über der Jacke zu tragen, anstatt drunter, da er dort besser auf seiner Schulter hocken und auch mehr Luft bekommen könnte.
Ich war in der Zwischenzeit in Stiefel und Mantel geschlüpft und hatte gewohnheitsgemäß einen kurzen Blick in den Flurspiegel geworfen. Gerade zupfte ich eine Strähne meines Haares zurecht, die mir immer wieder in die Stirn fiel, als es schon wieder läutete. Da ich der Tür sowieso am nächsten stand, riss ich sie mit Schwung auf.
»Trick or Treat!«, tönte es mir entgegen. Mehrere Kinder standen vor dem Haus. Bettelgeister, Darth Vader, Prinzessinnen, eine Mumie und irgendetwas, das wohl ein Zombie darstellen sollte, aber so niedlich, dass man sich davon bestimmt gern zerfleischen lassen würde. Unwillkürlich musste ich lächeln und erhielt dafür ein Zahnlückenlächeln zurück.
»Ah! Sind wir etwa in der Zentrale von Torchwood gelandet?« Die Stimme kam von einem hellen Schatten, der sich in der Dunkelheit hinter den Kindern versteckt gehalten hatte und nun in den Lichtkreis der Hofbeleuchtung trat.
Für einen Moment blieb mir echt die Spucke weg. Da hatte sich jemand tatsächlich bei dieser Kälte getraut, ein Balletttrikot anzuziehen. In weiß, geradezu feenhaft, genau wie der Typ, der in den Klamotten steckte. Blondes Strubbelhaar, das stachelig nach allen Seiten abstand, schmales Gesicht, Augen, die mir interessiert entgegenblickten und ein viel zu breiter Mund, der sich zu einem Lächeln verzog. Zur Vervollständigung seines Outfits hielt er einen Feenstab mit Glitzerstern und bunten Bändern in der Hand und trug tatsächlich Flügel auf dem Rücken. Ein Feenrich oder wie die männlichen Feen heißen mögen. Das einzige Zugeständnis an das Wetter waren schwere Boots, die viel zu klobig wirkten.
»Captain Jack Harkness«, stellte ich mich vor und hoffte, den Tonfall von Captain Jack zu treffen. Die Wirkung meines Auftritts wurde leider nur dadurch zerstört, dass meine Mutter sich auf einer Seite vehement an mir vorbei drängelte, um die Kinder mit Süßigkeiten zu versorgen, und sich auf der anderen Seite Marian und Tommy vorbei schoben.
»Ich bin Oberon, der Elfenkönig«, erwiderte der Typ und verneigte sich sogar. Was bei anderen mit den Flügeln und dem Feenstab albern aussehen würde, passte irgendwie. Er wirkte überhaupt nicht fehl am Platz, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, in hautengen Klamotten bei Temperaturen um die zehn Grad durch die Nacht zu wandern. Aber er hatte etwas an sich, dass mich interessierte.
 »Dürfen wir uns Euch anschließen, Herr König?«, fragte ich – wohlerzogen, wie ich manchmal sein konnte. Meine Mutter gab neben mir einen Ton von sich, der verdächtig wie ein Kichern klang.
»Viel Spaß!«, hörte ich sie sagen. »Und sei bis Sieben zurück.« Im nächsten Moment fiel die Haustür hinter mir ins Schloss und traf mich fast noch im Rücken.
Marian und Tommy mischten sich unter die Kinderhorde, während ich zu Oberon trat. »Sind das alles deine?«, fragte ich das erste, was mir in den Sinn kam, auf die Kids deutend.
Der König lachte, wobei sich Grübchen bildeten und das Elfenhafte verstärkten. »Nein, ich habe sie mir nur ausgeliehen«, lachte er, amüsiert über meine sinnfreie Annahme. »Sie haben mir dafür den Zehnten zu zahlen.«
Aus der Nähe konnte ich nun erkennen, dass er geschminkt war, was seine Augen im Hoflicht nur noch mehr betonte und Glitzerstaub ließ seine Arme, Hals und Schultern glänzen. Er war schön. Ich sah ihn nur an und fühlte mich berauscht, als hätte ich die Hausbar geplündert und dabei hatte ich vorhin nur einen Radler getrunken.
Die Kinderbande war schon beim nächsten Haus angelangt und ihr »Trick or Treat« schallte durch die Straße.
»Wir sollten hinterher, Captain«, sagte Oberon und tippte mir mit dem Feenstab auf den Arm. »Sonst verschwinden meine Untertanen und ich sehe nichts von meinem Anteil.«
»Und das wollen wir keinesfalls riskieren«, stimmte ich zu.
Es war süß, wie er mein Grinsen erwiderte. Frech, elfenhaft. Und als er sich abwandte, um den Zwergen zu folgen, gewährte er mir einen Blick auf einen Hintern, der mich seufzen ließ. Allein nur wegen des Anblicks hatte es sich gelohnt, aus dem Sessel aufzustehen.

Langsam folgten wir den Kindern. Seite an Seite wanderten wir die dunkle Straße hinab, bewunderten die Vorgärten, die mit leuchtenden Kürbissen und schwebenden Gespenstern geschmückt war und die sich bei genauerem Hinsehen als Bettlaken entpuppten. Ab und zu blieben wir stehen, wenn wir auf die Horde warteten. Nach jedem Geisterbettelüberfall zeigten uns die Knirpse ihre Beute. Wir mussten sie ausgiebig bewundern und ich bestaunte den Elfenkönig, seine Begeisterung zu zeigen. Er hatte eine überschwängliche Art, die mich mitriss. Bezaubernd war er, nahm mich in seinen Bann. Er strahlte eine Lebendigkeit, um die ich ihn beneidete.
Immer wieder wendete ich mich ihm zu, bekam einfach nicht genug von seinem Anblick, dem Glitzern seiner Haut im Licht vereinzelter Straßenlaternen oder der Hauseinfahrten. Ich wollte mich mit ihm unterhalten, am liebsten bis zum Morgen, doch dummerweise wollte mir einfach nichts einfallen.
»Hat Captain Jack schon seinen Ianto gefunden?«
Die keck gestellte Frage überraschte mich. »Nein, noch nicht«, murmelte ich. »Und hast du schon deine Elfenkönigin gefunden?« Ich ahnte, dass die Frage unsinnig war und Oberons helles Lachen, das nur Sekunden später durch die Straße klang, bestätigte dies.
»Sieh mich an, Jack!«, rief er übermütig und drehte sich mit ausgestreckten Armen vor mir im Kreis. Die Bänder am Feenstab flatterten und die Flügel hingen dabei schief auf seinem Rücken. »Ich bin nicht gerade das, nachdem sich die Mädchen umsehen würden.«
»Ich würde mich nach dir umsehen«, sagte ich ernst, regelrecht zaghaft vortastend, wie er auf die Worte reagieren würde.
Das Lachen verschwand von Oberons Lippen, teilten sich wie in einem erstaunten Ausruf. »Das würdest du?« Stille war plötzlich dort, wo zuvor noch Leben war. »Du würdest dich nach mir umdrehen?«
Ja, selbstverständlich. »Ich habe Ianto noch nicht gefunden, aber ...«, begann ich, wurde jedoch von einem heftigen Kopfschütteln unterbrochen.
»In der nächsten Straße wohne ich«, sagte Oberon, die Straße hinabdeutend. Im nächsten Moment ergriff er meine Hand und zog mich mit sich.
»Was ist mit den Kindern?«, wandte ich ein, hielt ihn auf. »Meine Geschwister wissen nicht, wo ich bin, wenn ich einfach mit dir gehe.« Es widerstrebte mir, Oberon zurückzuhalten. Ich wollte mit ihm gehen, wollte sehen, wo er wohnte, wie er lebte und ob seine Bude genauso durchgeknallt aussah wie er selbst.
Seine erstaunlich warmen Finger hielten meine Hand umschlossen, als hätte er Angst, dass ich plötzlich verschwinden könnte.
Über meine Schulter warf ich einen Blick auf die Einfahrt, in der bereits die ersten Kinder unserer kleinen Bande wieder auftauchten. Marian und Tommy folgten ihnen. Begeistert blickten sie in ihre Eimer, lachten.
»Ich geh schon vor!«, rief ich ihnen zu und deutete in die Richtung, in die er auch vorhin gewiesen hatte. »Zu Oberon.«
»Das ist das Haus mit der großen Eiche vor dem Haus«, setzte der Elfenkönig hinzu. »Haltet euch an die anderen Kinder! Sie wissen, wo ich wohne.«
Tommy winkte ab und zog seine kleine Schwester hinter sich her. »Bis später!«, rief er mir zu, bevor er in der nächsten Einfahrt verschwand.

Ich war noch nie in dieser Straße, das muss ich ehrlich zugeben. Wir wohnten zwar bereits seit ungefähr fünf Jahren in dieser Siedlung, doch bestand für mich nie die Veranlassung, dass ich die Straßen erkundete. Es gab dort nichts, was mich interessiert hätte.
Nun stand ich vor einer Einfahrt, die auf ein größeres Anwesen führte. Wie Oberon gesagt hatte, stand dort eine Eiche im Vorgarten, die das zweistöckige Haus weit überragte und von deren Ästen ein Skelett und mehrere Bettlakengespenster herabhingen. Auf einer Bank saß eine lebensgroße Puppe ohne Kopf. Der lag zu dessen Füßen. Überall im Garten waren Kürbisse, in denen Kerzen flackerten und auch die Einfahrt beleuchteten, in der mehrere Autos standen.
»Komm!«, forderte mich Oberon auf und zog an meiner Hand, die er noch immer hielt.
»Ihr habt Besuch«, erwiderte ich und wies auf die erleuchteten Fenster. »Ich will nicht stören.«
»Captain Jack Harkness fürchtet sich?« Süß, wie sich Oberons Lippen zu einem ungläubigen Lächeln verzogen.
Nein, natürlich nicht! Eine solche Unterstellung konnte ich nicht auf mich sitzen lassen.
Fünf Minuten später stand ich in einer Eingangshalle. Irgendjemand nahm mir den Mantel von den Schultern, während ich mich interessiert umsah. Echt hochherrschaftlich. Allein schon der Fußboden, der wie Marmor aussah und bestimmt auch welcher war. Oder die Treppe, die in einem Bogen in den zweiten Stock hinaufführte. Wow!
»Und Sie sind?« Eine Frau in einem bodenlangen schwarzen Kleid, das mich an Mortitia aus »Adams Family« erinnerte, blickte mich prüfend an.
»Max Schönhausen«, stellte ich mich vor.
In dem Moment spürte ich Oberons Hand, die mich an der Hüfte sanft zur Seite schob. »Mama, die Kids kommen gleich und Jacks Geschwister sind mit dabei«, erzählte er, während er mich in Richtung der Treppe drängte. »Gib uns ein paar Minuten, okay?«
Oberons Zimmer war bestimmt doppelt so groß wie meines, wenn nicht sogar noch größer. Man stieß sich nicht die Knie, wenn man ums Bett gehen musste, um an den Schrank zu gelangen oder an den Schreibtisch. »Wow!«, entfuhr es mir dann auch.
»Was?«, hörte ich Oberon fragen, der in einen Nebenraum verschwunden war. Wasser rauschte kurzzeitig und einige Sekunden später blickte er mich an, ein Handtuch in der Hand.
»Hübsches Zimmerchen«, meinte ich nur und deutete ganz allgemein in den Raum hinein.
Mit dem Tuch in der Hand trat Oberon auf mich zu. Nachdenklich waren seine Augenbrauen zusammengezogen. »Meintest du das wirklich, was du vorhin gesagt hattest? Dass du dich nach mir umdrehen würdest, meine ich.«
Statt einer Antwort hob ich eine Hand, strich mit den Fingerspitzen über seine Wange. »Wie ist dein wirklicher Name, Elfenkönig?«
»Nenn mich einfach Oberon«, erwiderte er leise.
»Ja, ich meinte es so, wie ich es gesagt hatte«, erklärte ich. »Ich mag dich.«
Zittrig stieß er die Luft aus und ebenso zittrig lächelte er mich an. »Ich ecke häufig mit meiner Art an. Menschen kommen damit nicht zurecht, besonders Männer nicht. Sie mögen es nicht, nennen es tuntig und Schlimmeres.« Für einen Moment schloss er die Augen und ich war versucht, meine Finger über seine Lippen gleiten zu lassen. Tat es jedoch nicht. War Captain Jack doch feige? »Ich mag dich auch, Max«, sagte er leise. »Wenn du nichts dagegen hast, würde ich dich gern näher kennenlernen.«
»Es ...« Verzweifelt versuchte ich den Kloß hinunterzuwürgen, der mich daran hinderte, einen vollständigen Satz zu formulieren. »Es würde mich freuen.«
Wieder lächelte er mich an, geradezu unsicher. »Wenn es dir lieber ist, können wir auch hinuntergehen und dort auf die Kids warten.«
»Wer ist nun feige?«, fragte ich herausfordernd und ließ nun meine Fingerspitzen doch über Oberons Lippen gleiten, zeichnete die Unterlippe nach. »Wie alt bist du?« Ich weiß nicht, woher die Frage gekommen war, doch war sie gestellt. »Du wirkst, als würdest du noch in die Schule gehen.«
»Warum willst du es wissen?«, verlangte er zu wissen. »Was ist daran so interessant, wie alt ich bin?«
»Weil ich das Gefühl habe, dass ich meinen Ianto gefunden habe«, gab ich zu. »Dich. Und ich möchte nicht, dass mir deine Eltern aufs Dach steigen, wenn ich ...«
Amüsiert verzogen sich seine Lippen. »Du hast Angst, dass du mit einem Minderjährigen Sex haben könntest«, stellte er fest. Seine Hand legte sich auf meine Brust, strich über das Shirt. »Ich bin älter, als ich aussehe.«
»Du siehst aus wie eine Elfe«, murmelte ich.
Oberon zuckte mit einer Schulter. »Elfen können sehr alt werden.«
Ich spürte, dass ich unwillig darauf reagierte. Dieses Hin und Her, dieses Ausweichen der Fragen, begann mich zu nerven. Keine direkten Antworten zu erhalten war frustrierend.
»Höre auf zu grübeln«, forderte er mich auf und trat dich an mich heran. Sein Duft umwehte mich, irgendwie süß, unbeschreiblich. Bezaubernd, genauso, wie er selbst war. Seine Arme schlangen sich um meinen Körper, Hände legten sich warm auf meinen Rücken und mit einem leisen Seufzen lehnte er seine Stirn gegen meine Schulter. Wie von selbst schlangen sich meine Arme um Oberons schmaleren Körper.
»Du berauschst mich«, hörte ich ihn flüstern. »Du strahlst Geborgenheit aus, Sicherheit.«
Die Vorstellung, das gerade ich eine solche Ausstrahlung auf ihn haben sollte, amüsierte mich und zugleich verunsicherte sie mich. Was absolut paradox war. »Meine Mutter würde dir extremst widersprechen«, gab ich denn auch zu.
»Sie ist deine Mutter«, flüsterte Oberon. »Sie sieht die Seite, die behütet werden will. Ich sehe die andere.«
Gerade wollte ich darauf antworten, als es an der Tür klopfte und auf Oberons Wort hin, wurde sie geöffnet. Sein Mutter-Mortitia-Verschnitt sah herein. »Die Kinder sind da, schwer beladen.«
Der Griff um meinen Leib verstärkte sich für einen Moment, bevor er sich löste. Ich wollte ihn noch nicht gehen lassen, zog ihn noch einmal an mich, legte für einen Augenblick meine Lippen auf sein. In einer anderen Zeit würde der Kuss als keusch bezeichnet werden. Für mich war er in dem Moment mehr. Ein mehr an Gefühl, das ich mich kaum zu verkraften getraute.

Mutter musste wohl schon auf uns gewartet haben, da sie schon die Tür öffnete, als wir noch in der Einfahrt waren. Sofort stürmten Pirat und Kürbis auf sie ein, berichteten haargenau, welche Süßigkeit von wem in welchem Haus sie bekommen hatten. Sie konnten sogar noch sagen, ob ein Kürbis im Vorgarten war, ein Skelett oder ein Gespenst. Es dauerte bald eine ganze Stunde, bis sich die beiden Zwerge soweit beruhigt hatten, dass sie schlafen konnten. Endlich kehrte Ruhe im Haus ein.
Ich saß wieder im Sessel, der Fernseher lief, ich sah aber nichts.
»Und was ist mit dir?« Aufmerksam blickte mich meine Mutter an. »Etwas ist passiert, was dich durcheinander bringt.«
Ich wollte nicht darüber reden. Es war noch immer zu frisch. Vielleicht sollte ich erst noch einmal mit Oberon sprechen? Morgen. Gleich am frühen Morgen, nahm ich mir vor. Bei Tage wollte ich ihn sehen, wollte fühlen, ob er auch dann noch so bezaubernd sein kann, wie am Abend. »Es ist nichts, Mama«, sagte ich. »Es war nur ein langer Abend. Die frische Luft hat mich müde gemacht.« Ausreden.
Gleich nach dem Frühstück schlüpfte ich in meinen Mantel und stiefelte die Straße hinunter. Alles sah anders aus. Der Morgen hatte den Zauber des Vorabends verdorben. Er wirkte nicht nach. Ausgehöhlte Kürbisse waren keine leuchtenden Fratzen mehr, sondern nur noch orangefarbene Deko.
Noch zwei Querstraßen. Dort drüben hatten wir gestanden, dort hatte er nach meiner Hand gegriffen. Die letzte Ecke, in die letzte Straße einbiegen. Die Eiche im Vorgarten ...  
Ich stand vor der Einfahrt. Das Rolltor war geschlossen.
Was noch am Abend voller Leben war, schien nun verlassen. Die Rollläden waren in der unteren Etage heruntergelassen. Unter der Eiche stand noch immer die Bank, doch saß dort keine Puppe. Nur Laub bedeckte das Holz und den Rasen. Keine Kürbisse, keine Kerzen, die noch vom Vorabend übrig waren.
Nichts deutete darauf hin, dass noch gestern jemand hier war. Stattdessen prangte ein Immobilienschild am Zaun, kündigte den Verkauf zu günstigen Konditionen an.
Fassungslos fuhr ich mir durch die Haare. Was war geschehen? Es konnte nicht sein. Sollte ich vielleicht alles nur geträumt haben?
»Geht es Ihnen nicht gut?« Ein älterer Herr war neben mir stehen geblieben, sah mich besorgt an, während sein Hund interessiert an meinem Hosenbein schnupperte.
»Doch, doch, es geht mir gut«, sagte ich. Als der Mann weitergehen wollte, hielt ich ihn am Arm zurück. »Wo ... Seit wann steht dieses Haus leer?«
Nachdenklich zog er die buschigen Augenbrauen zusammen. »Das müsste nun schon sieben Jahre her sein. Es gehen Gerüchte um, die das Haus betreffen. Schönes Haus, großes Anwesen, doch niemand, der es haben will.« Er schien nicht bereit, mehr erzählen zu wollen. Ich ließ ihn gehen, wandte mich dem Haus wieder zu.
Es war ein Traum. Mehr nicht.

2. Abend

 


Es war Halloween. Mal wieder. Tommy war schon seit dem Morgen als Pirat im Haus unterwegs. Es war dasselbe Kostüm, das er bereits im vergangenen Jahr getragen hatte. Nur die Hosen waren nun etwas kürzer, reichten nur noch bis knapp unter die Knie.
Marian hatte sich in eine Prinzessin verwandelt. Pinkes Glitzer. Gerade richtig für kleine Mädchen.
Und ich lümmelte mal wieder im Sessel herum, zappte durchs Fernsehprogramm und in der Küche werkelte meine Mutter. Genau wie im vergangenen Jahr.
Ich weiß nicht, wie oft Marian in der letzten Stunde schon rumgejammert hatte, dass sie endlich losgehen wollte. Bestimmt zum hundertsten Mal beschwerte sie sich darüber, dass ihr großer Bruder sie begleiten müsste. Tommy wäre ja auch noch dabei und auch groß – größer als sie. Und überhaupt ...
Erstaunlich, wie geduldig meine Mutter auf das Quengeln reagierte. »In einer halben Stunde ist es erst vollständig dunkel«, erklärte sie. »Jetzt scheint doch noch die Sonne.«
»Nur kleine Kinder gehen, wenn es noch hell ist, weil sie Angst haben«, hörte ich Tommy sagen. Und ein kleines Kind wollte Marian nicht sein, auch wenn sie es mit fünf Jahren noch war.
Die große Schüssel mit den Süßigkeiten stand bereits auf dem Schrank im Flur, daneben hatte Tommy schon zwei große Einkaufstüten für ihre eigene Tour gelegt. Nur zur Sicherheit – falls Mutter wieder auf die Idee kommen sollte, die kleineren hervorzukramen.
Im Grunde war der Abend wie der im vergangenen Jahr, nur dass zwischen diesen ein ereignisreiches Jahr lag. Mutter hatte sich von unserem Vater getrennt. Tommy war eingeschult worden und ich habe eine Ausbildung zum Tischler begonnen. Marian war noch genauso süß wie vor 12 Monaten mit ihren Zöpfen und der Stupsnase, aber leider passte sie nicht mehr in das Kürbiskostüm, was sie mit ausreichend Herumzicken und Bockigsein quittierte.
Ich selbst hatte mich nicht verkleidet. Warum sollte ich? Ich hatte keinen Grund dafür. Seit mindestens fünf Jahren kostümierte ich mich nicht mehr, warum also sollte ich wieder damit anfangen. Außerdem erwartete ich nichts und niemanden. Es war ein ganz normaler Halloweenabend mit viel Geklingel und »Treak or Treat«-Rufen. Kleine Geister, süße Monster, sichtbare Gespenster und Prinzessinnen mit Krönchen und dickem Wintermantel gegen die Kälte und Laternen. Kerzen im Vorgarten und Lakengespenster an den alten Bäumen. An dem Baum im Vorgarten des großen Hauses.
Für einen Moment schloss ich die Augen, wollte das Bild mit der Dunkelheit aus meinen Erinnerungen verbannen. Stattdessen sah ich ein Gesicht vor mir, lachende Augen, auf den Wangen Glitzer, ebenso wie in den Haaren. Oberon. Aber er war weg. Er war ein Mysterium. Die Erinnerung an ihm war geblieben, ebenso wie an den Kuss und sein Lachen, seine Finger, die nach meiner Hand gegriffen hatten. Mehr nicht.
Sogar Marian und Tommy schienen sich nicht mehr an ihn zu erinnern. Aber warum sollten sie auch? Schließlich hatten sie ihn kaum zur Kenntnis genommen, waren mit den anderen Kids durch die Straßen gezogen. Süßigkeiten waren wichtiger gewesen.
Ich hatte versucht, etwas über Oberon in Erfahrung zu bringen, aber bis darauf, was mir der alte Mann gesagt hatte, hatte ich nichts erreicht. Wie auch? Er war wie vom Erdboden verschwunden und das einzige, das ich von ihm wusste, war sein Name und mit dem hatte ich nur märchenhaftes finden können. So, wie Oberon selbst. Glaubte ich, eine Spur gefunden zu haben, verlor sie sich, weil es doch nur eine Erzählung oder eine Sage war. Über die Eigentümer des alten Hauses hatte ich auch nichts herausbekommen. Ich erfuhr nur, dass es einem älteren Ehepaar gehört hatte, das ohne Erben verstorben war. Wieder eine Sackgasse.
Der Einzige, der mir näheres dazu sagen könnte, wäre Oberon. Der Elfenkönig.
Nun hoffte ich und wusste nicht zu sagen, warum ich gerade so sehr auf den Abend von Halloween fixiert war und mir gleichzeitig versagte, zu viel Hoffnung zu haben.
Warum sollte er ausgerechnet an diesem Abend wieder vor der Tür stehen?, fragte ich mich mehr als einmal und jedes Mal gab ich mir selbst die Antwort. Weil es dafür keinen Grund gab.
Ich verbot mir, zu viel zu hoffen, aber jedes Mal begann mein Herz zu hämmern, wenn es an der Tür läutete. Auch jetzt, wo die Sonne noch nicht untergegangen war und die Straßenlaternen noch nicht leuchteten.
Mein Herz hämmerte in der Brust, voller Hoffnung und schließlich voller Trauer. Ich machte mir nicht die Mühe, mich aus dem Sessel zu erheben. Es wäre doch nur eine Quälerei gewesen.
Ich verbot mir die Hoffnung und hoffte trotzdem. Es ging nicht anders. Wie sollte ich dagegen ankommen?
Ich erhöhte die Lautstärke des Fernsehers, um die Türglocke nicht mehr hören zu müssen.

Marian tanzte fröhlich im Flur, winkte mit ihrem Prinzessinnenstab, der mich mit dem Glitzer, den Bändern und dem Stern an der Spitze an den von Oberon erinnerte.
»Mama! Ich will Flügel!«, verkündete sie plötzlich. »Ich will eine Elfin sein!«
»Woher soll ich sie nehmen?«, fragte Mutter und half meiner Schwester, den Reißverschluss ihrer Jacke zu schließen. Zum Schluss zupfte sie den Rock zurecht und prüfte den Sitz von Marians Krönchen. Tommy schlüpfte gerade in seine Schuhe.
»Mama, das sind keine Piratenstiefel«, stellte er kritisch fest. Dabei wippte der Papagei auf seiner Schulter lustig, als wolle er ihm zustimmen.
»Piraten haben Holzbeine«, erklärte Marian naseweis, mit dem Wissen eines Kindergartenkindes. »Die brauchen gar keine Stiefel. Nur Krücken.«
Mutter seufzte, wischte sich in einer müden Geste über die Stirn, bevor sie sich lächelnd zu Tommy umdrehte. »Wir machen für das nächste Halloween eine Liste, auf der wir alles schreiben, was wir benötigen. Was haltet ihr davon?«
»Ich kann nicht schreiben«, beschwerte sich Marian und schob die Unterlippe trotzig vor.
»Dann schreibe ich für dich alles auf«, sagte ich und bekam dafür ein strahlendes Prinzessinnenlächeln geschenkt.
Ich griff nach meinem Mantel und schlüpfte hinein, als es mal wieder an der Haustür läutete. Bevor Mutter etwas sagen konnte, hatte Tommy die Tür schon aufgerissen. Zusammen mit einem Schwall kalter Luft wehte uns ein vielstimmiges »Trick or Treat« entgegen.
Lachend versorgte Mutter die Kinderhorde mit Süßigkeiten, während ich Tommy half, seine Jacke zu schließen, weil er mal wieder nicht mit dem Reißverschluss zurechtkam. Zum Schluss drückte ich meinen Geschwistern die großen Tüten in die Hände und gemeinsam schoben wir uns an der Bettelbande vorbei, die die Tür belagerten.
Als wir uns an der Rasselbande vorbei gekämpft hatten, verharrte ich für einige Sekunden, weil uns gerade weitere Geister, Ritter und Mumien entgegenkamen, um unsere Einfahrt mit ihren Forderungen zu belagern. Aber eigentlich nutzte ich den Moment, um die Dunkelheit jenseits des Hoflichts abzusuchen und hoffte, dort einen hellen Schatten zu sehen. Wie im vergangenen Jahr. Dumme Hoffnung.
»Komm, Tommy«, forderte ich meinen Bruder auf und griff gleichzeitig nach Marians kleiner Hand. Wir folgten der davon trappelnden Zuckermeute, die Mutter bereits abgespeist hatte.
»Gehen wir bei denen wieder mit?«, fragte Tommy, auf die Kinder deutend.
»Wir gehen heute allein«, erwiderte ich. Auf die überschwängliche Truppe hatte ich keinen Bock und mir fehlten die Nerven, um mich allein dem Lärmen zu stellen. »Dann bleiben mehr Süßigkeiten für euch, Zuckerschnuten.« Marian kicherte über das Wort und Tommy zog eine Schnute.
Wir wollten gerade aus der Einfahrt auf den Gehweg hinaustreten, als meine kleine Prinzessin an meiner Hand zerrte, sodass ich mich zu ihr umwandte. »Ich will solche Flügel haben!«, verkündete sie und deutete in die Schatten der Hecke, direkt neben der Einfahrt. Nur Minuten zuvor hatte ich sie abgesucht.
Mir stockte der Atem, der Schritt, der Herzschlag. »Oberon«, flüsterte ich. Ich träumte, musste träumen. Nur drei Schritte stand er von mir entfernt.
»Hi, Captain Jack!« Die leise Stimme war kein Traum, kein Hirngespinst.
Marians Hand entglitt mir, ich ließ meine Schwester zurück, als ich langsam auf Oberon zuging. Unsicher, ob er Wirklichkeit war.
Wieder trug er ein Balletttrikot, doch schimmerte es im Licht der nahen Straßenlaterne rosa, und dazu ein Tutu, übersät mit kleinen Sternen. Auf dem Rücken waren wieder die Flügel befestigt und in den Händen hielt er den Feenstab mit den Bändern und dem großen Stern. Und an den Füßen trug er wieder die schweren Boots, die meinen nicht ganz unähnlich waren.
Ich habe dich vermisst, wollte ich ihm sagen und brachte keinen Ton heraus. Tränen brannten mir in den Augen. Tränen der Erleichterung, der erfüllten Hoffnung.
Ich wollte ihn berühren und neigte doch nur den Kopf, um ihm in die Augen blicken zu können.
»Wo warst du?«, flüsterte ich.
Unbestimmt hob Oberon die Schultern. Eine Träne löste sich von seinen Wimpern, rann über seine Wange. »Ich musste gehen«, sagte er schlicht.
Ich hob die Hand und wischte die Feuchtigkeit fort. »Nun bist du hier.«
Eine weitere Träne löste sich. »Ich werde wieder gehen.«
»Und ich werde wieder nach dir suchen.«
Oberons Augen weiteten sich, wie im Erstaunen und auch sein Mund formt ein perfektes O.
»Glaubst du mir etwa nicht?«, hakte ich nach, amüsiert über seine ungläubige Miene. »Ich wusste nur nicht, wo ich mit der Suche beginnen musste«, fügte ich hinzu, leiser, betrübt.
»Oh, Jack!«, flüsterte Oberon mit einer Stimme, in der ich das Wissen zu finden glaubte, wie sehr er von meiner Hilflosigkeit wusste. »Ich wollte nicht, dass du leidest.«
Ich habe nicht gelitten, wollte ich seine Sorge abtun. »Nun bist du hier«, stellte ich stattdessen fest und zog ihn in meine Arme. Kühle Hände glitten unter meinen offenen Mantel, legten sich auf meinen Rücken, hielten mich, als wollten sie nie wieder loslassen. »Dein Feenstab pikt mich«, flüsterte ich in die blonden Stachelhaare, in denen auch Glitzersterne klebten. Unter meinen Händen fühlte ich sein Lachen, die Flügel bebten und Sternenstaub rieselt aus ihnen auf das Pflaster der Hofeinfahrt hinab.
»Max?« Mutter stand in der Haustür, sah aufmerksam zu mir herüber. »Willst du deinen Freund nicht zum Abendessen einladen?«
Fragend blickte ich den Elfenkönig an, doch seine Miene wirkte unschlüssig. »Vielleicht – vielleicht auch nicht«, erwiderte ich. Ich war mir selbst nicht sicher, wie der weitere Abend verlaufen wird. Wie sollte ich dann eine solche Frage beantworten können?
Mutter lächelte verstehend. »Denke daran, Marian und Tommy rechtzeitig nach Hause zu bringen.«
»Ich werde daran denken«, versprach ich und sah mich nach den beiden um.
Die standen bereits auf dem Gehweg vor der Einfahrt, hüpften aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. »Dort hinten haben wir im letzten Jahr die meisten Süßigkeiten bekommen«, verkündete mein kleiner Bruder und deutete die Straße hinauf, in die Richtung, in der Oberon wohnte. Wo das Haus stand, in das er mich vor einem Jahr geführt hatte.
Ob ich es wollte oder nicht, musste ich den Elfenkönig für einen Moment loslassen, doch griff ich sofort nach seiner Hand, schob meine Finger zwischen seine.
»Na, dann los!«, forderte ich den Piraten und die Prinzessin auf, die daraufhin losstürmten und in der nächsten Hauseinfahrt verschwanden.
Wie im vergangenen Jahr folgten Oberon und ich langsamer. Wir schlenderten den Gehweg entlang, genossen still den Moment und irgendwie fühlte sich der Augenblick vollkommen an.
Immer wieder blickte ich den König an, konnte es einfach nicht fassen, dass er neben mir ging, dabei seinen Glitzerstab schwang, sodass die Bänder flatterten – und fast wäre ich sogar gegen einen Laternenpfahl gerannt.
Sein Lachen war hell und schön und ich konnte nicht anders, als ihm dieses von den Lippen zu küssen. Nicht mehr als ein einziger unschuldiger Kuss. Dass eine Zuckerjagdmeute mit Wolfsgeheul an uns vorbeizog, nahm ich kaum wahr.
»Ihr habt mich in Euren Bann gezogen, Herr König Oberon«, flüsterte ich.
Und was tat der König? Er kicherte. »Du glitzerst«, erwiderte er. »Und zwar hier, hier und hier.« Auf Nasenspitze, Kinn und Wange tippte er mir mit einem Finger.
»Und du glitzerst überall«, hielt ich dagegen, woraufhin Oberon geradezu kokett mit den Wimpern klimperte und am rosa Stoff des Ballettrockes zupfte.
»Wer weiß?« Er lachte wieder, doch dieses Mal ließ ich es ihm.
»Kommt ihr nun endlich?« Tommy klang genervt und ich glaubte, von Marian ein »alberne Erwachsene« zu hören.

Die Ausbeute an Zuckerzeug war gut, auch wenn meine Geschwister nicht zufrieden waren. Besonders Tommy zeterte herum, weil sein Beutel nicht bis zum Rand gefüllt war. Am Ende war er dann doch zufrieden, als Mutter beide Tüten in die inzwischen geleerte Süßigkeitenschüssel füllte.
»Hoffentlich kommt nun niemand und will davon etwas haben!«, verkündete er und trug die Schüssel in die Stube, wo er sie auf dem Couchtisch in Sicherheit brachte.
Oberon blieb zum Essen, versprühte seinen glitzernden Charme am Esstisch und brachte auch meine Mutter immer wieder zum Lachen, besonders als er erzählte, wie ich fast gegen den Pfahl gerannt wäre. Sie sah mich immer wieder an, irgendwie prüfend, häufig mit einem leichten Schmunzeln, aber im Grunde zufrieden.
»Ein netter junger Mann«, sagte sie mir später, als wir den Tisch abräumten und für einige Sekunden allein in der Küche waren. »Aber Oberon ist nicht sein richtiger Name«, stellte sie fest und doch klang es irgendwie unsicher.
»Für mich ist er es«, tat ich ihre ungestellte Frage ab.
Für eine Sekunde sah sie mich an, nickte schließlich. »Er ist bezaubernd.« Die Worte aus Mutters Mund ließen mich schlucken und irrwitzigerweise wich ich ihrem Blick aus. Verrückt. Sie wusste, dass ich schwul bin. Sie wusste es, weil das der Grund war, wegen dem sie sich von Vater getrennt hatte und sie zu mir stand. Der Alte hatte Forderungen an sie gestellt, denen sie nicht nachkommen wollte. Ich sollte gehen und schließlich war er handgreiflich geworden. Dann war er gegangen.
Und nun benahm ich mich so, als würde ich vor ihr verstecken wollen, für das sie ihr Leben verändert hatte. Ich war nicht der Typ dafür, das Herz auf der Zunge zu tragen und werde es nie sein. Was ich zu sagen hatte, sagte ich. Für Gefühle gab es andere Möglichkeiten, sie zu zeigen. Aber was ist, wenn man einem Dritten sagen will, was einem beschäftigt? Das war mein Knackpunkt: Vor meiner Mutter einzugestehen, was ich empfand.
Sie hatte mir den Rücken zugewandt, um die benutzten Teller in die Spülmaschine zu räumen.
»Er hat mich verzaubert.«
Mutter drehte sich zu mir um, während sie sich die Finger an einem Geschirrtuch abwischte. Sie lächelte warm. Ich sah ihre Freude und zugleich ihre Trauer in den Augen. »Mein Sohn hat sein Herz verloren.« Keine Frage, nur eine schlichte Feststellung.
Ich sah ihr an, dass sie noch mehr sagen wollte, doch nahm sie sich zurück, nickte nur zustimmend, als wäre sie mit meiner Wahl zufrieden oder als hinge eine Frage im Raum, die ich nicht kannte, die sie aber beantwortet hatte.
»Macht euch einen schönen Abend«, sagte sie und drängte mich regelrecht aus der Küchentür. »Aber denk dran: Ich will keine Klagen hören. Egal von wem und ... wir reden morgen früh.«
Ich war perplex, wusste gar nicht genau, wie ich mit der Situation umgehen sollte.
Plötzlich stand Oberon vor mir, grinste mich breit an. »Können wir?«, fragte er und wirkte fast so zappelig wie Tommy und Marian vorhin, als die Sonne noch nicht ganz untergegangen war.
»Nun macht euch davon!«, forderte Mutter hinter mir. »Dann kann ich die Kleinen endlich ins Bett stecken, damit sie zur Ruhe kommen.«
»Vielen Dank für die Einladung, Frau Schönhausen«, sagte Oberon förmlich und streckte die Hand aus, um sich von meiner Mutter zu verabschieden.
Sie ergriff sie. Sie lächelte und ich sah den Schalk, der in ihren Augen tanzte. »Vielen Dank für Eure Gegenwart, Herr Oberon«, erwiderte sie und ich vermutete, dass sie knicksen wollte, es dann doch nicht tat.
Oberon grinste. »Nennt mich einfach Kevin.« Perplex sah ich den Elfenkönig an, doch er beachtete mich nicht. »Kevin von Stahl.«

Zwei Minuten später standen wir in der dunklen Einfahrt. »Kevin von Stahl?«, fragte ich ungläubig und amüsiert.
Er war nicht mehr als ein heller Schatten. »Ja. Aber für dich bleibe ich Oberon«, sagte er. Es war ein ungewohntes Zögern in seiner Stimme zu hören, Unsicherheit. »Wenn du es willst.«
»Wenn ich es will?«, fragte ich. Mit einem Schritt war ich bei ihm. So dicht, dass ich das Glitzern auf seiner Haut erkennen konnte. »Du bist immer mein Oberon. Ich hatte geahnt, dass es nicht dein richtiger Name ist. Aber Kevin ... mit einem so alltäglichen Namen habe ich nicht gerechnet.«
»Ich hoffe nicht, dass ich nun deine Träume vom Elfenkönig zerstört habe?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber ich habe an mir gezweifelt, ob du nur ein Traum bist.« Mit beiden Händen umfasste ich sein Gesicht. »Aber das bist du nicht. Du bist wie ich.«
Im nächsten Moment pressten sich Lippen schmerzhaft auf meine und Arme schlangen sich um meinen Hals, bevor der Schmerz zu einem Streicheln wurde. »Du bist mein Captain Jack, Max«, flüsterte er drängend. »Du bist der Weltenretter.«
Ein zu großes Wort. »Das bin ich nicht«, erwiderte ich ebenso leise. »Ich will nur, dass du bei mir bleibst. Ich will dich nicht wieder verlieren.«
»Das lässt sich nicht ändern«, sagte er und im nächsten Augenblick huschte ein freches Grinsen um seine Lippen. »Aber nun bin ich hier und wir sollten die Zeit sinnvoll nutzen.« Er küsste mich und die Zeit schien um mich still zu stehen. Ich wusste, dass ich Fragen stellen sollte, doch trat alles in den Hintergrund, sobald ich seine Lippen fühlte. Es war sein Zauber, der mich gefangen hielt.
»Komm mit mir!«, lockte er an meiner Haut.
Ich ging mit.

3. Abend

Man wurde schief angeschaut, wenn man mit 21 an Sex nicht interessiert war, wie ich feststellen musste. »Bist du schwul?«, war eine beliebte Frage von Leuten, die nicht wussten, dass ich es tatsächlich war. Als könnte Schwulsein der Grund dafür sein, keinen Sex haben zu wollen. Klar, ich schaute anderen Kerlen gern hinterher und manchmal auch einem Mädel, wenn es elfenhaft zart wirkte. Aber das war es auch schon gewesen. Mehr war nicht, weil ich nur mit einem Sex haben wollte und den Würde ich erst heute Abend wiedersehen. Kevin, mein Oberon.
Vor genau einem Jahr hatte er mich verlassen. Nach einer langen Nacht, in der ich nicht einschlafen wollte und dann doch auf dem nackten Fußboden aufgewacht war. Das weiche Bett, in dem wir aneinandergekuschelt gelegen hatten, war fort. Ebenso die schweren Vorhänge an den Fenstern, der breite Kleiderschrank in Ecke und die Kommode gegenüber. Statt des weichen Teppichs bedeckten dicke Staubflusen und trockenes Laub, das durch ein zerbrochenes Fenster hereingeweht war den Boden. In der offenen Tür zum Badezimmer war das Waschbecken zu sehen, an dem sich Kevin den Glitzer abgewaschen hatte. Nun hatte es einen Sprung, der selbst aus der Entfernung zu sehen war. Von den Wänden hatte sich die Tapete gelöst und hing bis auf den ungepflegten Dielenboden herab. Auch der Stuhl war fort, auf dem ich meine Sachen abgelegt hatte, um zu Kevin unter die Bettdecke zu kriechen.
Vor Kälte schlotternd hatte ich die Klamotten aufgehoben, mich eilig angezogen und mich auf den Weg in die Eingangshalle gemacht. Durch die staubblinden Fenster war ausreichend Licht gefallen, dass ich die geschwungene Treppe nicht hinunter stolperte. Staub hatte auf dem Geländer gelegen und auch auf den Stufen. Deswegen waren mir nicht die Spuren entgangen. Abdrücke von schweren Stiefeln, scharf und klar, die die Treppe hinaufführten und daneben meine, die ich gerade gemacht hatte. Weitere waren zu sehen gewesen, fast von den neuen verborgen, schwächere, wie verblasst oder verweht. Und ich war mir sicher, dass es die Abdrücke vom Vorjahr waren.
Aber mehr war nicht zu sehen gewesen. Keine weiteren Spuren, obwohl Oberon neben mir die Treppe hinaufgegangen war. Ich konnte mich ganz genau daran erinnern: Seine Hand hatte ich gehalten, meine Finger zwischen seine geschoben und er hatte mich dabei angelächelt. Von unten war Musik zu hören gewesen und Kevins Mutter im Mortitia-Kostüm, das sie zu lieben schien, hatte dazu gesummt. Von der Straße waren Kinder zu hören und durch eines der Flurfenster konnte ich die mächtige Eiche mit dem Bettlakengeist sehen, der in einer Böe heftig hin und her schwang.
Das war am Abend zuvor gewesen. Der Morgen war ernüchternd.
Aber da war noch mehr: So sehr sich mein Oberon im Nachhinein wie eine Vision anfühlte, so real waren die Erinnerungen an unsere gemeinsamen Stunden. Nein, nicht so sehr seine Berührungen und seine Küsse. Es war das, was er mir erzählt hatte. Das hatte sich mir ins Hirn gebrannt, obwohl es so fantastisch klang, als wäre es aus einem Märchenbuch und doch war es für mich so real wie die kühle Fensterscheibe, gegen die ich meine Stirn lehnte.
»Ich bin verflucht«, hatte er gesagt. »Sobald am Abend vor Allerheiligen die Sonne untergeht, dürfen wir für wenige Stunden die Freiheit genießen.«
»Bis zum Sonnenaufgang.« Es war nur eine Vermutung. »Aber Flüche können gebrochen werden.«
Oberon hatte gelächelt und mir eine Strähne aus der Stirn gestrichen. Eine nachsichtige und tröstende Geste. »Ich bin zu alt, um daran zu glauben.«
»Woran glauben?« Die Worte waren heraus, bevor ich sie zurückhalten konnte und gleichzeitig hatte ich eine Ahnung davon, was Kevin meinen könnte. »Die Liebe?« In der Wärme seines Blickes hatte ich es erkannt.
»Die wahre Liebe«, hatte er präzisiert und traurig gelächelt. »Die gibt es nur in Märchen.«
»Erzähl mir mehr!«, hatte ich verlangt und Oberon war meiner Forderung nachgekommen. Im Dunkel des Zimmers, den warmen Körper dicht an meinem, hatte ich gelauscht. Mit geflüsterten Worten wob er ein Geflecht wie ein Märchenerzähler. Er nahm mich damit gefangen, wie er mich mit seinem Lächeln und seinem süßen Wesen eingenommen hatte:
Einst beherrschte Magie die Erde, sie war allgegenwärtig, auch wenn sie von den Menschen nicht bemerkt wurde. Sie war in der Luft, im Wasser, in der Erde. Alles durchdrang sie, war in jeder Zelle und jedem Molekül zu finden. Aber wichtiger waren die magischen Flüsse, die die Welt wie ein Netz umspannten. Aus ihnen sog die Natur ihre Kraft, nährte Pflanzen und Tiere gleichermaßen und berührte auch die Menschen. Es war ein Gespinst des Lebens, das von Schamanen und dem schönen Volk gepflegt wurde. Elfen und Trolle. Ihre Arbeit war der Garant dafür, dass die Magie gleichmäßig floss.
Aber die Zeitalter änderten sich. Die Natur wurde zurückgedrängt. Der Mensch eroberte die Welt, besiedelte die verborgensten Winkel und machte sich die Wissenschaften zu eigen. Fabriken wurden errichtet, die Erde wurde ausgebeutet. Ihr wurden tiefe Narben zugefügt.
Eines für sich hätte keinen Einfluss auf die Magie gehabt. Alles zusammen kam einer Katastrophe gleich: Die magischen Ströme wurden gestört, das Netz konnte nicht mehr halten, riss an manchen Stellen, wo am Ende nur noch Ödnis übrig blieb. Selbst die Weisheit der Elfen und die Stärke der Trolle hatte dem nichts entgegenzusetzen. So geschah, was nicht aufzuhalten war: Die Magie wurde schwächer und im gleichen Maße, wie sie verging, ging auch das Wissen um ihre Erhaltung verloren. Schamanen verloren ihre Kräfte, wurden zu Schatten ihrer selbst, und die schönen Völker wurden zu Wesen aus Märchen und Sagen. Die Verbindung zwischen ihnen und den Menschen war zerstört und nichts schien sie wieder herstellen zu können.
Einzig die Síde blieben zurück, die an Orten erbaut worden waren, an denen zwei Magieflüsse aufeinandertrafen oder sich kreuzten. Elfenhügel. Sie hatten in der alten Zeit als Pforte zwischen den Welten gedient und waren die Heimstatt der Feen. Diese kleinen zarten Wesen waren die Hüter und Wächter der Portale. Doch nun blieben sie verschlossen und niemand wusste, wie sie zu öffnen waren. Viele Síde wurden zerstört, dem Erdboden gleich gemacht und unwissende Menschen errichteten Häuser darauf.
»Was dieses Haus zu etwas Besonderem macht, ist, dass sich hier drei Ströme kreuzen. Über das Jahr werden sie schwach, aber zum Samhain erreichen sie ihre volle Stärke und werden zu reißenden Flüssen.« Mein Oberon hatte stolz geklungen und zufrieden, doch lag auch eine seltsame Traurigkeit in seiner Stimme. »Nur zu dieser Zeit können wir das Portal öffnen.«
Ich war verwirrt und musste mich aus der Umarmung lösen, um besser nachdenken zu können. »Du hattest gerade gesagt, dass die Portale nicht mehr geöffnet werden können und man nicht mehr weiß, wo diese ... Síde zu finden sind und dass die Flüsse nicht mehr fließen«, zählte ich auf und benutzte dabei wie in der Grundschule die Finger. Weil sie handfest waren und nicht wie Märchen klangen. »Wie können sich hier dann drei Flüsse kreuzen? Ineinander fließen ja. Aber kreuzen?« Ich war mehr als skeptisch. »Schamanen gibt es nur noch als durchgeknallte Esoteriker und Elfen nur in Kinofilmen. Einen Troll hab ich in meiner Arbeit ... und Magie ist nur ein Trick. Die gibt es nicht wirklich.«
»Du bist kleingläubig.« Kevin hatte gelacht und wieder die Arme um mich geschlungen. »Selbstverständlich gibt es Magie. Gerade jetzt. Zwischen uns. Spürst du es?« Sein Körper schmiegte sich gegen meinen. Wunderbar zarte Haut, die einen süßen Duft verströmte und mich einlullte.
»Du sprichst von dir«, beschuldigte ich ihn, intensivierte zugleich die Nähe. »Aber ja: Da ist Magie zwischen uns.«
»Ich spreche von uns«, hatte Oberon präzisiert und einen Kuss auf meine Schulter gehaucht. »Du bist etwas besonderes für mich, Jack, mein Weltenretter. Du bist mein Leben, auch wenn ich nur für wenige Stunden bei dir sein darf.«
Nein, ich bin kein Weltenretter. »Der Fluch«, erinnerte ich ihn. »Was hat es mit ihm auf sich?« Ich wollte mich nicht damit befassen, aber es musste sein. »Wie kann er gebrochen werden? Was muss ich tun?«
Finger hatten sanft meine Haut berührt. »Du musst gar nichts tun. Du musst nur du selbst sein, mein Max.«
Ein sanfter Kuss, eine warme Umarmung und das Gefühl von Geborgenheit. Ich liebte diese letzte Erinnerung an meinen Oberon, die mich ein ganzes Jahr begleitet hatten. Aber heute würden neue hinzukommen. So hoffte ich.
»Kommt heute wieder Kevin? Ich würde mich freuen, ihn wiederzusehen. Er ist ein amüsanter Gast.« Meine Mutter war hinter mich getreten. Ich konnte sie in der Spiegelung der Fensterscheibe sehen, da es draußen inzwischen dunkler geworden war. Aber noch nicht genug, auch wenn die Straßenlaternen bereits leuchteten. »Schade, dass der Junge im Internat leben muss. Wo war das doch gleich?«
»In der Schweiz.« Weil mir damals nichts anderes eingefallen war. »Aber ich weiß nicht mehr wo genau.«
»Nun ja. Egal, wo und egal, wie gut das Internat ist, es kann die Eltern nicht ersetzen. Die Leute müssten verklagt werden.« Sie klang zornig und genauso heftig prasselten die Bonbons in die große Plasteschüssel, die wir auch in den letzten Jahren für die Halloween-Bettel-Banden benutzt hatten. »Abgeschoben haben sie ihn.« Mehre kleine Gummibärchen-Tüten landeten auf dem Fliesenboden, als sie die große Packung aufriss.
»Es geht ihm gut, wo er ist«, erklärte ich ihr, während ich die Tütchen aufsammelte und sie in die Schüssel zu den anderen warf. Im Stillen hoffte ich, dass es stimmte, was ich ihr sagte und gleichzeitig wollte ich die Augen verdrehen, weil ich nicht wusste, wie oft wir schon dieses Thema hatten.
»Ja, ja«, sagte Mama und wischte meine Bemerkung mit einer Hand weg. »Du kannst mir viel erzählen, wenn der Tag lang ist. Aber ich weiß, wie eine Mutter fühlt.« Bekräftigend nickte sie. In dem Moment läutete es an der Tür und ich atmete erleichtert auf, weil damit das Thema erledigt war. Für den Moment.
»Die Kinder sollen sich fertigmachen«, wies Mama mich an, bevor Geschrei und Lachen bis in die Küche tönten, als die Haustür geöffnet wurde und ein Chor rief nach Süßigkeiten.
Marian kam in die Küche getanzt, ganz die kleine Prinzessin, die sie auch dieses Jahr wieder war. Das Krönchen saß schief auf ihren Locken und sie schwang ihren Sternenstab wie ein Feenzepter. »Es ist schon dunkel!«, verkündete sie, deutete erst auf das Fenster und dann ganz hoheitsvoll auf mich. »Diener! Bring mir meine Jacke.«
Ich lachte, wuschelte ihr durch die Haare, was ihre Krone fast zu Fall brachte. »Tommy ist schon fertig«, erzählte sie weiter, während sie das Krönchen zurechtrückte. »Und nun mach endlich!«
»Kommst du etwa heute wieder mit?« Tommy klang überhaupt nicht begeistert und vermutlich wäre ich es auch nicht.
»Ich will schauen, ob Oberon zu Hause ist«, erzählte ich und half Marian in die Jacke. »Vielleicht treffen wir ihn unterwegs. Und Mama würde sich freuen, wenn er mit uns zu Abend essen würde.«
Meine kleine Schwester kicherte, als ich ihr den Schal um den Hals wickelte und ich sah das verschmitzte Zwinkern, als sie zu Tommy sah. »Ja, selbstverständlich würde sich Mama freuen. Aber nicht nur sie.«
Tommy spitzte die Lippen, setzte laute Knutscher in die Luft. »Oh, Määääx!«, hauchte er, lachte im nächsten Moment und kreischte, als ich nach ihm greifen wollte. Kichernd rannte er durch den Flur, drängelte sich an Mama und die Bettelbande vorbei. Erst in der Einfahrt dreht er sich um, lachte, schwenkte die Arme und damit auch den großen Einkaufsbeutel. »Fang mich doch!«, forderte er mich heraus. »Oh, mein Max!«
Ich schätzte meine Chancen ab, den kleinen Quälgeist zu erwischen, was schlecht aussah. Deswegen tat ich so, als hätte ich die Aufforderung nicht gehört, griff nach meinem Mantel und schob Marian durch die Geistergruppe. Gerade als ich Mama versprach, pünktlich zurück zu sein, hörte ich meinen kleinen Bruder erschrocken kreischen.
Aufgeschreckt sah ich in seine Richtung und auch Mama machte eine hektische Geste, panisch. Aber wir entspannten uns schnell, als sein Lachen zu uns scholl und eine mir nur allzu bekannte Person ihn umschlungen hielt.
»Ich hab dich!« Das war Oberons Stimme, voller Lachen und Freude.
Er ist da!, wollte ich Mama sagen, die ihn auch bemerkt haben musste, brachte aber nicht mehr als ein glückliches Grinsen zustande.
»Denke an das Abendessen«, erinnerte sie mich. »Und nun: Viel Spaß!«
Ich wollte auf Oberon zurennen, getraute mich aber nicht, weil er wie ein Traum wirkte. Die Gruppe der Bettelgeister überholte mich, während ich langsam auf meinen Oberon zu ging und dabei den Mantel überstreifte. Er war schön. Schöner als iim vergangenen Jahr und meinen Erinnerungen – wenn das überhaupt noch möglich wäre. Statt des hellen Ballettkleides war er heute in dunkle Strumpfhosen und einem Oberteil mit weiten Ärmeln gekleidet. Insgesamt erinnerte er mich an die Helden in Strumpfhose. Fehlte nur noch das kecke Hütchen. Aber das hätte sich bestimmt nicht mit seinen Haaren vertragen, die zu Stacheln hochfrisiert waren. Aber sein Grinsen war mir mehr als vertraut, liebevoll und dazu lachten seine Augen, in denen ein seltsamer Glanz lag, als ich endlich ganz dicht vor ihm stand. »Mein Jack.«
»Du bist hier«, stellte ich leise fest. Tommy schnaufte neben mir und Marian kicherte. Beides klang irgendwie genervt und zugleich verschämt.
Ungeachtet meiner Geschwister legte ich meine Hände um Kevins Gesicht, hielten es, während ich ihn küsste und ihm keine Möglichkeit gab, zurückzuweichen.
»Wir müssen reden«, flüsterte er, erwiderte meine Zärtlichkeiten. Eine andere Sprache, verliebte Gesten, aus denen wir uns nicht lösen wollten. »Wir haben so wenig Zeit, die genutzt werden muss.«
»Zu dir?«, fragte ich schlicht, wartete gar nicht seine Reaktion ab und wandte mich meinen Geschwistern zu: »Marian, du bleibst bei Tommy. Und du Tommy: Du kennst den Weg zum großen Haus mit der Eiche im Vorgarten noch? Klappert alle Häuser auf dem Weg dorthin ab und wenn ihr dort ankommt, bekommt ihr eine heiße Schokolade und wir gehen gemeinsam zurück. Verstanden?«
Tommy, nun der Bruder mit Verantwortung, bestätigte mit einem Nicken, während Marian die Aussicht auf die Schokolade in dem großen Haus jubeln ließ.

Das hell erleuchtete Haus sah ich schon, als wir um die letzte Ecke kamen. In der Eiche hing wieder ein Bettlakengespenst und die Bank im Vorgarten wurde von mindestens zehn Kürbissen bevölkert. Teelichter waren auf dem Rasen verteilt und erhellten auch den Weg zum Haus.
»Schön, dass du wieder da bist!«, wurde ich von Kevins Mutter begrüßt. Von mir erhielt sie nur ein kurzes Hallo und ein Händedruck, ehe ich die Treppe hinaufgeschoben wurde.
»Endlich!« Es war ein Stoßseufzen, das Kevin ausstieß, als er die Tür hinter uns ins Schloss drückte.
Im Kamin prasselte ein Feuer, die Vorhänge waren vor den Fenstern geschlossen und die Tür zum Bad stand halb offen. Ich konnte das Waschbecken erkennen. »Als ich vor einem Jahr aufgewacht war, warst du fort und auch das Haus sah ganz anders aus. Es war verlassen und heruntergekommen.« Ich wusste, dass er nichts dafür konnte, aber ich konnte nicht verhindern, dass es wie eine Anklage klang.
»Das ist die Magie, die uns begleitet.«
Ich trat mir die Schuhe von den Füßen und entledigte mich des Mantels, spürte die Weichheit der Auslegware unter meinen Füßen, als ich wieder auf Oberon zutrat. Dieses Zimmer beherbergte zwei Welten und ich hatte endlich begriffen, dass wir selbst zwei Welten waren. Aneinandergeschmiegt standen wir im flackernden Licht des Kaminfeuers. Uns gegenseitig zu halten war genug. »Wie kann ich den Fluch brechen?«, fragte ich. »Und erzähle mir nicht wieder, dass ich nur ich selbst sein muss.«
Ich spürte sein Lächeln an der Schulter. »Wir kennen uns heute den dritten Tag und es ist, als würdes du mich schon ein ganzes Leben kennen.«
»Drei Jahre. Das ist eine lange Zeit.«
»Besserwisser!«, nuschelte Kevin und löste sich von mir. Er ging ins Bad und ich wusste, dass er sich etwas anderes anzog.
»Das Haus steht zum Verkauf«, erzählte ich und ließ mich aufs Bett fallen. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, schaute ich an die Decke, deren Zentrum ein verschlungenes Knotenornament zierte, dessen Verlauf ich mit den Augen kaum folgen konnte. »Und es macht mich irre, weil ich befürchte, dass sich Käufer finden und ich nicht mehr herkommen kann. Wie war es vorher gewesen? Mit dem alten Ehepaar, das zuvor hier lebt hatte? Hatten sie sich nicht gewundert, dass zu Halloween hier die Hölle los war?«
Kevin streckte den Kopf aus der Badtür. »Sie waren Wächter. Leider erlosch mit ihnen die Linie.«
Ich drehte mich auf die Seite, um meinen Oberon ansehen zu können. Mit freiem Oberkörper stand er in der Badezimmertür und trocknete sich die Hände an einem Tuch ab. »Eine Familienlinie?«, hakte ich nach, obwohl mich der Anblick der sanft schimmernden Haut mehr interessierte, und es kam mir ein Gedanke, den ich im vergangenen Jahr schon einmal gedacht hatte. Ich hatte ihn als zu absurd abgetan. Damals. »Ich würde das Haus gern kaufen, nur um dir so nah wie möglich zu sein. Das ist die einzige Verbindung, die ich zu dir habe. Aber ich bin noch immer in der Ausbildung und würde sowieso keinen Kredit bekommen. Von den Renovierungskosten würde ich erst gar nicht sprechen wollen. Aber nach einigen Jahren muss bestimmt allerhand gemacht werden.« Ich seufzte, weil es zu sehr schmerzte, den Traum sich selbst ausreden zu müssen. »Ich könnte es nie im Leben stemmen.« Und dabei könnte es hier so schön sein! Marian und Tommy hätte jeder sein eigenes Zimmer und ich auch. Ich würde dieses Zimmer hier beziehen wollen und es so einrichten, wie ich es gerade sah.
»Du weißt, dass ich von der anderen Seite bin.« Unbemerkt war Kevin herangetreten und neigte sich über das Bett. Ganz nah war er bei mir.
Für einen Moment schloss ich die Augen und ließ seine Nähe auf mich wirken. »Das Portal kann nur noch von einer Seite geöffnet werden. Ergo kannst du nicht von hier sein.«
Lippen landeten auf meiner Schläfe und tupften eine Spur zu meinem Mund hinab. »Ich wusste, dass du schlau bist, mein Jack.« Ein Kuss, der sich schnell vertiefte und mich atemlos machte. Unsere Atemnot nutzte ich, um Kevin zu mir herabzuziehen. Neben mir, auf mich. Ich wollte ihn intensiv spüren. Leib an Leib, Haut auf Haut. Sein Geschmack raubte mir die Gedanken, sein Duft betörte mich.
»Aber nicht schlau genug, um eine Lösung für mein Dilemma zu finden.«
Eine Hand schob sich unter mein Shirt und eine andere tastete über meinen Schritt, drückte dagegen und forcierte meine Erektion. »Das ist dein Dilemma. Und ich liebe es, wie du auf mich reagierst.«
»Das ist nicht hilfreich«, wandte ich ein. »Ich versuche eine Lösung zu finden.«
»Und ich versuche, Erlösung zu finden«, erwiderte König Oberon und zwinkerte mir amüsiert zu. »Wir haben noch mindestens zwanzig Minuten, bis deine Geschwister vor der Tür stehen. Seit unserer letzten Nacht träume ich davon, dich in mir zu haben. Ich muss dich spüren.«
»Was ist mit der Vorbereitung?«, wandte ich schwach ein. Allein die Vorstellung, mit Kevin zu schlafen, nahm mir den Atem und machte mich nervös und zittrig. Ihm vielleicht Schmerzen zuzufügen verunsicherte mich, obwohl er es selbst so wollte.
»Geschenkt.« Oberon winkte hoheitsvoll ab. Im nächsten Moment rollte er sich zur Seite und langte am Fußende unter das Bett. Er zog einen Schuhkarton hervor, dem er eine Tube entnahm.
»Gleitgel? Woher?« Mein Hirn verknotete sich bei der Auflösung der Logik, die das Portal und die Magie in meiner Welt mit sich brachte.
Ein Kuss landete auf meinem nackten Bauch, ließ mich überrascht keuchen. »Dieses ist mein Zimmer. In meiner Welt. Das Haus und das gesamte Grundstück ist Teil meiner Welt.«
»Und du hast Gleitgel und ... Kondome in deinem Zimmer versteckt.« Ich versuchte in den Karton zu schielen, konnte aber nicht erkennen, ob dort tatsächlich Kondome lagen.
»Ja, selbstverständlich«, bestätigte Kevin und machte sich an meiner Hose zu schaffen. »Meine Mutter könnte den Nachtschrank kontrollieren. Oder würdest du wollen, dass deine Mutter das findet? Bestimmt nicht. So. Noch fünfzehn Minuten. Das könnte knapp werden.«
Geradezu verzweifelt zerrte er mir die Klamotten und sich selbst die Hose vom Leib. »Noch dreizehn«, murmelte er, während er eine großzügige Masse Gel in seine Hand drückte. Erschrocken zuckte ich zusammen, als es an meinem Schwanz landete, der sich für einen Augenblick nicht entscheiden konnte, ob er sich zurückziehen oder seinen Mann stehen sollte.
»Oh, verdammt!«, fluchte ich verhalten. »Das fühlt sich genial an!« Und das tat es tatsächlich. Hitze rann durch meine Glieder, das Kribbeln in den Hoden machte mich irre und als sich Kevin über meinen Schoß schob, wurde es mit Denken schwierig. Ganz wurde es erst eingestellt, als er sich selbst auf meine Erektion herabsenkte. Der Druck auf die Kuppe war kaum auszuhalten und nichts wäre mir lieber gewesen, als mich mit einem Stoß in ihm zu versenken, nur um dem Schmerz auszuweichen.
»Gleich. Gleich. gleich«, flüsterte Kevin, strich immer wieder beruhigend über meine Brust, als wollte er mich zurückhalten. »Gleich ist es gut.«
Dann war ich tief in ihm, spürte sein Gewicht auf mir, seine Hitze um mich - und es gab nichts Köstlicheres. Und als er sich gemächlich zu bewegen begann, wollte ich fluchen, betteln, winseln und ihn anflehen, mich schneller zu reiten. »Ich liebe dich«, flüsterte ich stattdessen, zog ihn für einen Kuss zu mir herab, genoss, was er mit mir anstellte.
Die Finger hatte ich in seine Hüfte gekrallte, führte ihn und zeigte ihm, was ich benötigte. Seine Erektion strich dabei immer wieder über meinen Bauch, hinterließ Feuchtigkeit. Abgehacktes Atmen traf meine Haut, Seufzen, Keuchen, von dem ich nicht wusste, ob es vielleicht von mir kam. Die Bewegungen wurden fahriger, drängender. Nun jagten wir gemeinsam unseren Orgasmus hinterher.
Eine Welle jagte durch meinen Körper, Sternenregen hinter geschlossenen Lidern, weil mich Licht blendete. Meine Hände strichen über Oberons Körper, über seine Arme, seine Seiten, seine Schenkel und dem Rücken. Sie verharrten erst, als sie auf Höhe seiner Schulterblätter etwas ertasteten, was nicht sein konnte.
Verwirrt öffnete ich die Augen, sah über seine Schulter, was ein Leichtes war, weil sein Kopf in meiner Halsbeuge ruhte. »Flügel?«, stellte ich erstaunt fest. Filigrane Gebilde, die an Libellenflügel erinnerten, nur eben ein kleines Stückchen größer, und schillernd wie Diamanten.
»Ja«, murmelte Kevin und es klang betreten, als würde er sich dafür schämen.
Was brauchte ich noch als Beweis, dass Kevin tatsächlich zum schönen Volk gehörte?
»Marian wollte im letzten Jahr auch solche Flügel haben«, erinnerte ich mich. »Waren es da deine eigenen?« Ein zaghaftes Nicken an meiner Brust. »Warum schämst du dich dafür?«
Kevin richtete sich langsam auf und verzog zuckersüß den Mund, als wäre ihm etwas unangenehm. Und nun merkte ich selbst, wie ich aus ihm herausglitt. Aber er blieb über mir sitzen, machte keine Anstalten aufzustehen und sich säubern zu wollen. »Normalerweise kann ich die Sichtbarkeit steuern. Aber jetzt, mit dir ... Ich hatte keine Kontrolle. Du raubst sie mir. Und möglicherweise hat man mich bis ins All gesehen. Meine Liebe zu dir.« Eine Hand legte sich auf die Stelle, unter der mein Herz schlug. »Ich liebe dich, Maximilian. Ich gehöre dir.«
Eine seltsame Situtation, die sich wie eine Zeremonie anfühlte. Aber richtig. Sie berührte etwas in mir. »Ich liebe dich, Kevin. Ich gehöre dir.« Ein Gelöbnis, auf das mein Liebster mit einem schiefen Grinsen reagierte.
»Nenn mich Oberon. Das ist mein richtiger Name. Kevin benutze ich nur, wenn es nicht anders geht.«
Lärm hallte durchs Haus und holte uns in die Gegenwart. »Die Kinder sind da«, stellte ich überflüssigerweise fest.
Frisch geduscht und nachdem die Kinder ihre Schokolade ausgetrunken hatten, machten wir uns auf den Heimweg. Hand in Hand, während Marian und Tommy voraus liefen.
Mama freute sich riesig darüber, Oberon wiederzusehen, den sie weiterhin mit Kevin ansprach. Nur für mich war er Oberon. Nicht der Elfenkönig, aber mein Liebster mit den Flügeln.
 

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Tag der Veröffentlichung: 31.10.2017

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