"Testphase" ist der Beitrag zu einem Wettbewerb auf Fanfiktion.de mit Wortvorgaben, die in der jeweiligen Runde einzuarbeiten sind.
Der Wettbewerb geht über insgesamt vier Runden, Wortgrenze pro Beitrag liegt bei 500 bis 1500 Wörter. Alles, was drüber geht, beschert mir Punktabzug - und in dieser Angelegenheit bin ich absolut geizig.
Da ich meistens doch wesentlich ausschweifender schreibe, als in diesem Fall gut ist und ich außerdem ein Feind des sinnlosen Streichens bin, bekommt ihr, die Leser auf BX, das komplette Kapitel zum Lesen. Auf FF.de wird nur die gekürzte Variante zu lesen sein.
Ich habe Gonde und Hannes wirklich sehr ins Herz geschlossen und es würde mir leidtun, sie nun schon gehen zu lassen. Angeblich soll es einen weiteren Wettbewerb dieser Art geben. Und wenn nicht, dann ... ;-D
Ansonsten gilt: Alles mein Shit und ja: den Vornamen Gonde gibt es wirklich (weibl./männl., Koseform: Gonda, Gondel, Gondelchen)
Der erste Wettbewerb ist abgeschlosse, dem folgt sofort ein zweiter. Es ist ein Turnier, ein Drabble-Turnier.
Dadurch fallen die Kapitel wesentlich kürzer aus. Im Gegensatz zu dem ersten WB ist dieser nun mit k.o.-Runden. Ich hoffe, dass ihr mir weiterhin die Daumen drückt.
Sanftmut
Desinteresse
Missgunst
Sicherheit
Hingabe
Auswahl: Fünf von fünf Wörter müssen unverändert im Text verarbeitet werden.
»Verdammte Scheiße!«, entfuhr es mir ungläubig. Fassungslos blickte ich auf das Display meines Handys. Schonungslos brannte sich das Abbild in mein Hirn, setzte sich dort fest. ›Das. Kann. Nicht. Sein!‹ Schwer sickerte das Gesehene in mein von Schreck und Panik schwerem Hirn. Irgendwie fühlte es sich an, als wäre ich in einem Film gefangen.
Vom Flur her tönte auch sofort die Stimme meiner Schwester, die nach dem Warum fragte und gleich darauf blickte sie schon um die Ecke.
»Hier, guck dir das an!«, forderte ich Jessi auf, ihr mit zitternder Hand das Smartphone entgegenhaltend. Im Näherkommen wischte sie sich ihre feuchten Hände am Geschirrtuch ab und musste sich auch leicht den Hals verrenken, um auf das Display schielen zu können.
»Ich werde gedisst!«, sagte ich erklärend, aufgebracht die Worte hervorstoßend. »Gemobbt, fertig gemacht ...« Ich verstummte, weil meine Stimme vollkommen versagte.
Inzwischen zitterte meine Hand so stark, dass Jessi mir das Handy abnehmen musste, um auf dem Display überhaupt etwas erkennen zu können. Verärgert zog sie die Augenbrauen zusammen. »Wer ist dieser Mistkerl?«, fragte sie. »Magic Johnson kann doch nicht sein wirklicher Name sein.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, er heißt Hannes Möhricke. Er ist in meinem Mathekurs«, setzte ich auf Jessis fragenden Blick noch hinzu.
»Wenn man achtzehn ist, sollte man bereits so viel Grips haben, dass man nicht andere Menschen angreift. Das ist unterste Schublade, was der Kerl abzieht!« Mit einem verärgerten Schnauben reichte Jessi das Handy zurück. »Kennst du ihn näher?«
Ein weiteres Mal schüttelte ich den Kopf. Es gab nur wenige Schüler, die etwas mit mir zu tun haben wollten. Vielleicht weil ich der Streber der Abi-Klassen war? Mit dem kompletten Nerd-Programm, inklusive der Zahnspange, mit der ich noch immer zu kämpfen hatte, der Brille mit dem viel zu dicken Gestell und meine heißgeliebten karierten Hemden. Hinzu kam noch, dass ich weder hochgewachsen und sportlich war, sondern eher schmal und mit meinen eins siebzig nur wenige Mädchen der Klasse überragte. Und mal ehrlich: Welches Girl würde mit einem »Zwerg« ausgehen wollen?
Dann wäre noch etwas, was mich nicht sonderlich beliebt machte und die Idee mit dem Ausgehen als Blödsinn darstellte: Ich war schwul.
Dieser Umstand sicherte mir natürlich das Desinteresse der Mädels und das Interesse der anderen Jungs, die mich nun mit voller Hingabe mobbten. Allen voran Hannes, das Sportass, der dunkelhaarige Schönling, dem die Girls reihenweise hinterher hechelten. Dass er es mit seinen Attacken auf mich (armen Würtschen) abgesehen hatte, konnte ich nur damit erklären, dass ich nicht in sein Weltbild einer heilen und - vor allem - schönen Welt passte.
Wenn mein Leben eine gay-romantische Story wäre, hätte die Autorin - ich gehe mal schwer davon aus, dass es eine Sie ist - es garantiert so gedreht, dass sich der Bad Boy in den Nerd verknallt. Aber nicht mit mir! Hörst du mich, Schreiberling, du Federhalter, Tastenklimperer? Nie und nimmer!
»Was willst du nun wegen dem Kerl unternehmen?«, hakte Jessi nach. Eine berechtigte Frage, bei der ich dieses Mal mit der Schulter zuckte und ein weiteres Schnauben von meiner Schwester provozierte.
Ihn zur Rede stellen - am besten noch vor seinen ganzen Kumpels? Lachflash pur. »Was soll ich schon machen? Ihn einfach ignorieren. Mit hundertprozentiger Sicherheit verliert er irgendwann die Lust am Mobben und wird mich in Ruhe lassen.«
»Ach, Gonde«, seufzte dieses Mal Jessi und erinnerte mich an einen weiteren Punkt auf meiner Scheiß-Leben-Liste und der mich zur Lachnummer der Nation machte. »Du hast die Sanftmut eines Schafes.«
»Du meinst wohl eher: Die, eines hirnlosen Schafes«, antwortete ich mit einem schiefen Grinsen. Tja, ich konnte halt nicht aus meiner Haut. »Bähhh!«
Zum Glück ging Jessi nicht weiter auf das Thema ein und ignorierte mein Schafgeblöke. »Aber mal ehrlich, Gondelchen.« Die liebevolle Anrede ließ mich innerlich zusammenzucken. »Du kannst dir ein solches Verhalten von diesem Arsch nicht gefallen lassen. Geh zum Rektor oder sprich wenigstens mit deinem Klassenleiter oder dem Vetrauenslehrer. Es kann nicht sein, dass der Kerl ungestraft Lügen und Halbwahrheiten über dich verbreitet.«
»Die werden mir kaum helfen können«, grummelte ich frustriert und griff nach dem Handy, das ich auf die Schreibtischecke abgelegt hatte. »Außerdem sind es keine Lügen. Ich bin nunmal schwul. Scheiße ist nur, dass er es in der Öffentlichkeit breittreten muss.«
Wieder blickte ich auf das Display, das ein Bild meines Gesichts zeigte, jedoch bearbeitet und das noch nicht einmal besonders gut. Irgendjemand hatte meinen Kopf auf den Körper eines nackten Mannes gesetzt, dessen eine Hand unter einem dicken fetten schwarzen Balken verschwand, der quer über den Schritt des Modells gelegt worden war. Der Text zum Bild war: »Schwule Jungs bringen’s nicht!« Auf was das Bild abzielte, war ja wohl klar, ging tief unter die Gürtellinie.
»Und was ist mit dem Spruch?«, hakte Jessi nach und ohne sie anzusehen wusste ich, dass sie grinste.
»Ich werde mit irgendjemandem sprechen«, sagte ich schließlich, sie mit voller Absicht falsch verstehend. Es beantwortete aber ihre andere Frage, auf die ich noch nicht reagiert hatte.
Obwohl sie diese oder eine ähnliche Antwort dazu erwartet hatte, verzog sie skeptisch die Lippen, sagte jedoch nichts weiter. Stattdessen verschwand sie wieder in Richtung Küche, ließ jedoch die Zimmertür nur angelehnt. So konnte ich sie hantieren hören und als es ruhiger wurde, hörte ich ihre Stimme. Sie telefonierte, wahrscheinlich mit Stefan, ihrem Freund. Ich konnte hören, dass mein Name fiel und sich ihre Stimme mit Sorge füllte und die Wärme einbüßte, die sie mit Stefan verband.
Irgendwie schmerzte es, dass ich eine solche Reaktion bei ihr auslösen konnte. Aber was sollte ich dagegen tun können? Wenn es nur daran lag, hätte ich mir gewünscht, dass ich hetero wäre. Aber das hätte dann wieder keinen Einfluss auf mein Aussehen: Ich wäre noch immer der unsportliche Streber mit Denkerbrille und Karohemd und ich vermutete, dass das keine große Verbesserung zur jetzigen Situation darstellen würde.
Egal, wie sehr ich die Augen davor verschlossen hielte: Ich kam um eine Auseinandersetzung mit »Magic Johnson« nicht herum.
Obwohl wir teilweise die gleichen Kurse besuchten, ergab sich erst gegen Ende der folgenden Woche eine Möglichkeit, mit Hannes zu sprechen. Ich sollte wohl besser sagen: Er fand eine Gelegenheit.
Wir hatten in den letzten beiden Stunden Sport. Ürgs! Handball. Doppel-Ürgs!
Wie immer war ich mal wieder nicht in eine der Mannschaften gewählt worden, was mich absolut nicht störte. Und da sich der Unterricht auf Sport bezog, durfte ich nicht so tun, als würde ich mich für andersartigen Unterricht interessieren und ein Buch in die Hand nehmen. Es war strengstens untersagt, sich zu bilden. Daher war ich gezwungen, den anderen zuzusehen und da einige der Jungs Angst hatten, dass ich ihnen etwas »abgucken« könnte, schaute ich den Mädels beim Training zu. Das fiel mir natürlich auf die Füße - aber das wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht, aber kurze Zeit später schon.
Wie immer hatte ich mir Zeit gelassen, in die Umkleide zu kommen, wo es nach Feuchtigkeit und Schweißfüßen roch. Unangenehme Mischung.
»Hey, Schwuchtel!«, tönte es aus dem kurzen Gang, der zu den Duschen führte. Damit erstarb meine Hoffnung, still vom Schulgelände verduften zu können und selbstverständlich hatte Hannes mich ... abgepasst? Abgefangen? Whatever. Auf alle Fälle kam er nur mit einem Handtuch um die Hüften gewickelt auf mich zu.
»Was willst du?«, fauchte ich ihn an, was sich wegen der Zahnspange mehr wie ein Zischen anhörte. »Hast du nicht schon genug Scheiße gebaut?« Wütend riss ich meinen Spind auf, zerrte meine Tasche heraus und begann, mich umzuziehen. Dass Hannes mit mir im gleichen Raum war, ignorierte ich. Ja, im Ignorieren bringe ich es noch weit!
»Steigst du neuerdings den Weibern hinterher, weil du sie die ganze Zeit beobachtest? Oder hast du Angst, dass dir einer abgeht, wenn du richtige Männer beobachtest?« Wenn Hannes Stimme nicht so höhnisch geklungen hätte, hätte ich gelacht, lauthals. Stattdessen schloss ich nur kurz die Augen und versuchte, ihn weiterhin zu ignorieren.
»Was ist?«, stichelte er weiter und musste dabei dicht hinter mich getreten sein, weil ich seinen Atem im Nacken zu spüren glaubte. »Womit habe ich deine Missgunst erregt?«, fragte er nun leiser, aber nicht minder herausfordernd. »Hat es dir die Sprache verschlagen?«
Schlagen ... Am liebsten hätte ich ihm das Grinsen aus dem Gesicht geprügelt, das er unter Garantie aufgesetzt hatte. Mit einem tiefen Atemzug versuchte ich, mich wieder zu beruhigen. ›Nur nicht ausrasten!‹
In dem Moment spürte ich eine Berührung an der Schulter und ich reagierte.
Nur Sekunden später fand ich mich Hannes gegenüber wider. Keine Ahnung, wie ich es geschafft hatte, ihn gegen die gegenüber liegende Spindreihe zu drängen, wo ich ihn mit beiden Händen hielt. Es wird wohl der Überraschungsmoment gewesen sein, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass ich Knirps mich gegen ihn auflehnen würde.
»Lass mich - verdammt nochmal - in Ruhe«, grollte ich ihn an und war gleichzeitig stolz darauf, dass es wirklich ein Grollen war. Seltsam, was mir in dem Moment alles durchs Hirn schoss. Zum Beispiel auch, dass sich Hannes Haut unter meinen Händen verflucht heiß und glatt anfühlte und ich sogar seinen Herzschlag zu spüren glaubte. Irre. Verrückt.
»Du hast schöne Lippen.«
Irritiert blickte ich Hannes an und musste feststellen, dass er mir tatsächlich auf den Mund starrte. Sein Blick wirkte dunkel, fast samtig.
»Du bist echt ein riesiges Arschloch, Hannes«, brachte ich schließlich hervor. Nur mit Mühe konnte ich ein angestrengtes Stöhnen unterdrücken, weil er sich gegen meine Handflächen lehnte. »Was soll der ganze Scheiß, den du veranstaltest?«
Ein leichtes Lächeln zuckte um seinen Mund, was mich eigentlich hätte warnen sollen. »Beweis mir, dass meine Behauptung falsch ist - und wir sind quitt, dann hast du deine heißgeliebte Ruhe.«
Im ersten Moment wusste ich überhaupt nicht, was Hannes meinte, bis mir das Bild wieder einfiel und sofort schoss mir das Blut ins Gesicht. Allein schon, sich hier so einfach hinzustellen und die Widerlegung einer hirnrissigen Behauptung zu verlangen, schlug dem Fass den Boden aus.
»Nur ein einziger Kuss«, murmelte Hannes. Fasziniert beobachtete ich, wie er seine Lippen mit der Zungenspitze befeuchtete, als wären sie spröde. »Danach lasse ich dich in Ruhe. Versprochen.«
Oh, Scheiße. Was sollte ich nur machen? Ablehnen oder es darauf ankommen lassen, ob er wirklich dazu steht oder mich nur verarscht? »Führst du mich nicht aufs Glatteis?«, hakte ich nach, bekam jedoch nur ein leichtes Kopfschütteln und ein Lächeln zur Antwort.
So, und was sollte nun geschehen? Seit gefühlten Stunden standen wir bereits hier und noch immer lagen meine Hände auf Hannes Brust. Die ganze Situation fühlte sich absurd an. Und warum sollte mich Hannes küssen wollen?
»Ich habe noch nie einen Mann geküsst«, flüsterte er, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Ich will wissen, wie es sich anfühlt und du bist der erste.«
Oh, super! Premiere! Ich bin der erste einer langen Reihe. Wie erbaulich!
Dann berührte etwas meine Lippen, weich und mehr wie ein Streicheln. Meine Augen fielen zu und mein Hirn stellte für einen Moment das Denken ein.
Der Kuss endete viel zu schnell für meinen Geschmack. Ich hätte in dem Gefühl der Wärme versinken können, tiefer, intensiver. Stattdessen blieb nur so etwas wie Enttäuschung zurück.
Ich blickte in das nachdenkliche Gesicht von Hannes und quälte mir ein schiefes Grinsen ab. »Und? Was ist nun?«, fragte ich herausfordernd. Ich gebe es nicht gern zu, aber ich wollte seine Meinung zu dem Kuss wissen.
Hannes jedoch zuckte nur kurz mit einer Schulter. »Ich stehe zu dem, was ich versprochen habe«, sagte er, bevor er sich seinem Spind zuwandte und sich anzukleiden begann. Damit schien das Thema für ihn erledigt zu sein.
Okay, für mich sollte es das auch, jedoch ...
Sobald ich zu Hause angekommen war, rief ich die Internetseite auf, auf der ich das Bild gefunden hatte. Es war gelöscht worden.
Auch an den folgenden Tagen war es ruhig und ich äußerte gegenüber Jessi die Hoffnung, dass es sich gelohnt hat, mit Hannes zu »reden«. Was der wirkliche Grund war, dass er mich in Ruhe ließ, musste ich ihr nicht auf die Nase binden.
Aber was mich an der Situation unerklärlicherweise störte war, dass Hannes mir auswich.
Wortvorgabe (Oxymoron):
stummer Schrei
ehemalige Zukunft
bittersüß
Friedenskämpfer
Auswahl: Vier von vier Begriffen müssen im Text verarbeitet werden.
Ich spürte Hannas warmen Körper, der sich leicht gegen meinen lehnte, als sie nach meiner Wasserflasche hangelte, die ich ihr mit einem Lächeln überließ.
»Sag mal, Hannes, was ist eigentlich mit dir los?«, fragte sie, bevor sie die Flasche an ihre Lippen hob.
»Schlecht geschlafen«, tat ich ihre Sorge mit einem Schulterzucken ab.
»Seit über einer Woche?«, hakte sie nach. Im nächsten Moment zwinkerte sie mir herausfordernd zu. »Willst du mir etwa untreu werden?« Wieder lehnte sie sich gegen meine Schulter, doch nun anders, weicher, nachgiebiger, als hätte sie tatsächlich Angst, mich zu verlieren.
»Nein, niemals«, versprach ich. Wer würde schon auf die Idee kommen, dass irgendetwas das Vorzeigepärchen der Schule trennen könnte? Mit meinen Lippen berührte ich ihre Schläfe, mehr zur Beruhigung und zum Trost. Für sie – aber auch für mich.
Unwillkürlich wanderte mein Blick durch den Klassenraum, blieb schließlich an einer schmalen Gestalt im Karohemd und mit strohblondem Wuschelkopf hängen. Seine Brille erinnerte mich an die von Harry Potter und war wohl eher dem immerwährenden Hype um die Romanfigur geschuldet, als der augenblicklichen Mode. Wie so oft in den Pausen, war er auch dieses Mal in ein Buch vertieft.
»Wir gehören zusammen wie Pech und Schwefel«, flüsterte ich und wandte mich wieder Hanna zu, beruhigte sie mit einem weiteren Lächeln, zog sie an mich und wischte meine Gedanken mit der Berührung ihrer Lippen fort.
Ich wusste, dass ich es nicht tun sollte. Mich erinnern und vor allem das Vergleichen zweier so unterschiedlicher Personen.
Es gab vieles, was man nicht sollte und doch tat man es. Zum Beispiel anderen Mädels hinterherschauen, während man die Freundin im Arm hielt, bei einem Test abschreiben, schwarz fahren, klauen ... Trotzdem machte man es. Wegen dem Nervenkitzel, weil es alle machten und es unter Freunden schon fast zum guten Ton gehörte.
Und weil es sich einfach geil anfühlte.
Dann gab es wieder Dinge, die einem kribbelig machten, wenn man nur daran dachte und wenn man es hinter sich gebracht hatte, einen schalen Geschmack hinterließen. An das andere Extrem mochte ich nicht denken. Weil es nur weitere Fragen herauf beschwor.
Ich wusste, wie meine Zukunft auszusehen hat, was ich aus meinen Leben machen wollte, und dazu gehörte Hanna, die perfekt zu mir passte. Wir waren harmonisch aufeinander abgestimmt. Wie Yin und Yan hatte man uns mal beschrieben. Das Eine konnte nicht ohne dem Anderen leben.
Doch, es könnte - was mir eine einzige Berührung klar gemacht hatte.
Es hatte mein Leben auf den Kopf gestellt, zwei Dimensionen zusammengefügt, die nicht zueinander passten. Eine davon trat immer mehr in den Hintergrund, verblasste und wenn ich es zuließ, gehörte die mit Hanna einer ehemaligen Zukunft an.
»Hey, Schwuchtel!«, tönte Eriks Stimme direkt hinter mir und unwillkürlich zuckte ich zusammen. Gleich darauf flog eine Papierkugel durch den Klassenraum und traf Gondes Schulter. Wie üblich reagierte er nicht. Warum auch? Er wusste, welcher Trottel ihn nervte und versuchte, ihn aus der Reserve zu locken.
»Lass ihn in Ruhe«, sagte ich zu Erik, war mir durchaus Hannas erstauntem Blick bewusst und spürte Eriks Hand, die mich an der Schulter ergriff und so meinen Blick zu ihm zwang.
»Was?«, fragte er verständnislos. »Was hast du gesagt?«
»Lass ihn in Ruhe«, wiederholte ich, mehr Gewicht auf jedes einzelne Wort legend. »Und werde endlich erwachsen.«
Mit gerunzelter Stirn musterte er mich. »Bis du etwa zum Homofreund mutiert?«, spie er aus und deutete anklagend in Gondes Richtung. »Hat der dich etwa angefasst und mit seinem Virus infiziert?«
»Du machst mich krank, Erik, und ich frage mich, wen du bereits alles mit deiner Beschränktheit und Ignoranz angesteckt hast!« Wütend fegte ich seine Hand von mir, die mich noch immer an der Schulter hielt. »Du führst dich auf wie ein Friedenskämpfer und Bewahrer der Unschuld von Witwen und Waisen.«
»Ich verteidige niemanden!« Sichtlich um Ruhe bemüht, ballte Erik die Hände. »Ich will nur nichts mit diesem Spacko zu tun haben. Der ist ätzend und erinnert mich ständig an meine kleine nervige Schwester.«
»Und daran ist Gonde Schuld?«, fragte ich. »Wenn du mit ihr nicht klar kommst, ist es dein Problem, nicht unseres und am wenigsten seines.«
Geradezu fassungslos blickte mich Erik an und auch Hanna wirkte, als könnte sie meine Aussage nicht nachvollziehen. Zudem wurde mir die Stille im Raum bewusst und dass zwanzig Augenpaare unserer Auseinandersetzung gefolgt waren.
Unwillkürlich blickte ich zu Gonde, der ruhig in seiner Bank saß. Seine Augen wirkten unnatürlich groß, voller Unglauben waren sie auf mich gerichtet.
Ich lächelte ihm zu, zuversichtlich und gleichzeitig entschuldigend, doch irgendwie gelang es mir nicht, mich davon selbst zu überzeugen.
In dem Moment riss ein ungewohnter Laut die Anwesenden aus der Starre. »Endlich ist hier jemand in dieser Klasse, der genug Selbstbewusstsein und Stärke hat, um seine ehrliche Meinung zu vertreten. Bravo, Herr Möhricke!« Unbemerkt war unser Mathelehrer, Herr Riedel, eingetreten, stand nun vor der Klasse und applaudierte mir zu. Ich reagierte nur mit einem abwertenden Schnauben, was ihm ein müdes Lächeln entlockte. »Auch wenn es Ihnen nicht Recht ist, so haben Sie trotzdem meine aufrichtige Bewunderung.«
In dem Moment floh Gonde aus der Klasse, wurde auch von Herrn Riedel nicht aufgehalten, als er an ihm vorbei eilte. »Kommen wir nun zum Ernst des Lebens«, sagte dieser stattdessen nur. »Holen Sie Ihre Bücher hervor und schlagen ...«
Die Stimme des Lehrers rauschte an mir vorbei, ich bekam nichts mit. Blicklos starrte ich auf die aufgeschlagene Buchseite und sah doch nichts. Stattdessen nahm ein abstruser Gedanke immer mehr Gestalt an.
»Herr Riedel, ich muss mal austreten.« Erstaunt über die Unterbrechung in seinem Erklärfluss, blickte er mich an, nickt dann jedoch nur zustimmend. Sekunden später eilte ich über den breiten und hellen Flur der Schule, suchte nach der schmalen Gestalt Gondes.
Auf dem Jungsklo fand ich ihn, wie er gerade an einem Waschbecken stand und sich die Hände wusch.
Im Spiegel warf er mir einen kurzen Blick zu. »Warum hast du das getan?«, fragte er kalt, stellte das Wasser ab und griff nach den Papierhandtüchern. Mit energischen Bewegungen trocknete er sich die Hände ab. »Du machst es nur komplizierter.« Mit Schwung landete das zerknüllte Papier im Abfallkorb.
»Ich wollte dir helfen«, wandte ich ein, verstand nicht, warum er sich darüber aufregt. »Sei doch froh, dass jemand für dich Partei ergreift!«
»Pah!«, machte Gonde abwertend, verschränkte die Arme vor der Brust. »Du willst dich nur im guten Licht dastehen lassen! Während andere sich als Homohater outen, bist du der Liebling der Nation, bekommst den Gutmenschbonus.«
»Was hast du eigentlich gegen mich? Ich wollte mich nur für Eriks große Klappe entschuldigen.«
»Deswegen kommst du her?«, fauchte Gonde. »Das Großmaul hat sich gefälligst selbst zu entschuldigen, wenn er irgendwann mal ausreichend Hirnzellen beisammenhaben sollte. Ansonsten habe ich schon einige von solchen Typen kennenlernen müssen. Erbsenhirne, die nicht weiter als bis zur Spitze ihrer Möhrchen denken können.«
Ich spürte, wie sich ein Lächeln um meine Lippen stehlen wollte. »Erik und die anderen sollten endlich erwachsen werden«, sagte ich, anstatt mich offen über Gondes Wortwahl zu amüsieren, was ihn bestimmt nur noch mehr auf die Palme bringen würde.
Skeptisch blickte Gonde mich an, musterte mich. »Und du bist es, ja?«, fragte er. »Oder ist es eher, weil du austesten willst, wie weit du gehen kannst und ich stillhalte, um Ruhe vor dir und deinen Konsorten zu haben?«
Plötzlich war mein Mund so trocken, als hätte sich die Sahara darin ausgebreitet. Mit der Zunge befeuchte ich meine Lippen und hoffe, wenigstens ein Wort über sie zu bringen.
»Danke, Hannes, dein Schweigen ist mir Antwort genug«, sagte Gonde, bevor ich reagieren konnte. Seine Stimme klang gepresst, fast schon enttäuscht. »Ich hatte gehofft, dass du anders bist.«
Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, schob er sich an mir vorbei.
»Gonde.« Nicht mehr als seinen Namen flüsterte ich, weil ich aus einem irrwitzigen Impuls heraus nicht wollte, dass er geht. Zumindest nicht so, ohne ein Wort der Erklärung.
Die Hand auf der Türklinke, wandte er sich zu mir um. »Was? Ich bin kein Spielball und kein Testobjekt. Ich bin noch immer ein fühlendes Wesen, auch wenn es manche Honks nicht glauben wollen und außerdem denke ich nicht, dass du aus heiterem Himmel dein Herz für Schwule entdeckt hast. Wie ich bereits sagte, verkomplizierst du nur alles. Bleibe in deiner Welt und lass mir meine.«
»Ich kann nicht«, flüsterte ich. Leicht hob ich die Hand, als würde ich nach seiner greifen wollen, ließ sie jedoch wieder sinken. »Ich habe es versucht.«
Über meine schwach hervorgebrachten Worte runzelte Gonde die Stirn.
Zum Glück nahm er die Hand von der Klinke und wandte sich mir voll zu. Den Kopf leicht schräg gelegt, blickte er mich abwartend oder wohl eher herausfordernd an. »Was willst du? Ist die Abmachung hinfällig? Oder verlangst du tatsächlich mehr?«
»Ich weiß es nicht, verdammt noch mal!«, fluchte ich, fuhr mir mit beiden Händen durch die Haare, barg das Gesicht in ihnen. »Vorhin war noch alles so einfach und nun weiß ich gar nichts mehr. Es macht mich verrückt.«
Kühle Finger schlossen sich um meine Handgelenke, zogen sie herab und gaben den Blick auf Gondes Gesicht frei. Dessen Wangen färbte eine leichte Röte. Sein Blick wirkte wachsam und unsicher gleichermaßen. »Was macht dich verrückt?«, fragte er leise, geradezu sanft.
»Nicht zu wissen, was das Richtige ist.« Ich fühlte mich beschämt, es zuzugeben. Der große Hannes Möhricke, Sportass und Liebling der gesamten Schule wusste nicht mehr, was er wollte. Den Unglauben darüber zeigte mir Gondes Gesicht nur zu deutlich.
»Ich soll dir helfen dieses ›Richtige‹ zu finden und dafür verlangst du nur einen weiteren Kuss? Mehr nicht?«, fragte er, was jedoch mehr wie eine Feststellung klang. »Warum, was bekomme ich dafür?«
Unbestimmt zuckte ich mit einer Schulter, spürte gleichzeitig etwas Leises wie Hoffnung in mir erwachsen. »Was verlangst du?«, stellte ich die Gegenfrage.
Nachdenklich zog Gonde die Unterlippe zwischen die Zähne, gleichzeitig vertiefte sich die Röte auf seinen Wangen. »Okay. Ich weiß zwar nicht, wie ein weiterer Kuss dir bei deiner Selbstfindung helfen soll ... Aber, okay.«
»Wenn du es genau wissen willst: Ich will einfach nur wissen, wie ich fühle«, sagte ich mit einem leisen Seufzen, zufrieden, die Worte endlich herausgebracht zu haben, und gleichzeitig erstaunt darüber, wie befreiend manche Worte wirken können.
Gonde äußerte sich dazu nicht, sondern deutete nur auf eine der Kabinentüren. »Wenn du nicht dabei erwischt werden willst, wie du einen anderen Jungen abknutschst, geh rein. Noch besser wäre, wenn du dich auf den Deckel hockst. Auf alle Fälle nimm die Füße hoch.« Auf meinen fragenden Blick hin zuckte er mit den Schultern. »Wie willst du jemanden erklären, dass zwei Jungs auf Klo sind?«, setzte er mit einem frechen Grinsen hinzu. Ja, klar.
Im Schneidersitz setzte ich mich auf den geschlossenen Toilettendeckel und blickte Gonde entgegen, der gerade hinter sich die Tür schloss und den Riegel betätigte.
»Du willst es wirklich?«, fragte er noch einmal, was mir ein genervtes Schnauben entlockte.
Im nächsten Moment legten sich kühle Hände um mein Gesicht, streichelten weich über die Haut, bevor sich Gonde zu mir herab beugte und seine Lippen meine berührten. Wie ein bittersüßes Zittern ging durch meinen Körper. Ich glaubte, den Halt zu verlieren und krampfte meine Finger in seine Hüften. Wohl deswegen stöhnte er leise. Oder war es, weil ich mich auf ihn einließ und den Kuss vertiefte?
Fast hätte ich tatsächlich den Halt verloren, als Gonde plötzlich einen Schritt zurücktat. Seine Lippen waren wie in einem stummen Schrei geöffnet. Nur für einen Augenblick, dann presste er die feucht glänzenden Lippen zusammen. Seine Hand tastete nach dem Riegel. Bevor ich ihn zurückhalten konnte, hatte er die Tür aufgerissen und stürmte hinaus.
Ich blieb wie vor den Kopf geschlagen zurück, musste das soeben Geschehene irgendwie verarbeiten und musste feststellen, dass ich der Lösung meines Problems keinen Schritt näher gekommen war. Viel eher, habe ich mich von ihr entfernt.
Wortvorgabe (Diminutiv):
Bäumlein
Wehwehchen
Sümmchen
Lichtlein
Märchen
Auswahl: Fünf von fünf Wörtern müssen unverändert im Text verarbeitet werden.
Die Musik war laut. Selbstverständlich war sie es. Musik musste bei mir immer laut sein. Laut genug, um das Denken auszuschalten. Laut genug, damit ich mich in ihr fallen lassen konnte. Kopfhörer? Fehlanzeige.
Unsere Nachbarn waren anderer Meinung. Selbstverständlich, da sie sich von meinem Hörgeschmack angegriffen fühlten: Laute Musik nur mit Kopfhörer und vorherigem stundenlangen Vortrag darüber, wie schädlich die Lautstärke für das Hörvermögen ist. Häh? Wollten sie, aber bei mir nicht. Dafür bekam leider Jessi alles ab und stand nun zum wohl hundertsten Mal in meinem Zimmer, weil ich ihr Klopfen überhört hatte und selbstverständlich erwischte sie mich dabei, wie ich ein herzzerreißendes ›sorry‹ zur Wand hauchte. Ich hockte mal wieder im Schneidersitz auf meinem Schreibtischstuhl und balancierte ein Buch auf den Beinen.
»Gonde!«, versuchte sie, gegen Justin Bieber anzuschreien, was mir einen gehörigen Schrecken einjagte und mich fast vom Stuhl fegte. »Die Nachbarn beschweren sich schon wieder!«
»Dann sollen sie Ohropax benutzen«, erklärte ich brummig, hangelte trotzdem nach dem Regler und drehte ihn runter.
»Was ist eigentlich mit dir los? Du bist in letzter Zeit so komisch und ich sehe dich nur noch selten.« Typisch Schwester, die auf Mutter macht, setzte sich Jessi auf meine Bettkante, blickte mich erwartungsvoll an. »Nervt dich der Typ schon wieder? Dieser ... ›magic Johnson‹?«
Ja. »Nein.« Mein entnervtes Seufzen erzählte ihr da wohl irgendetwas anderes, aber nicht, dass ich nicht bereit war, mit ihr darüber zu sprechen. »Er nervt mich nicht«, erwiderte ich. »Es ist einfach die Schule. Einfach alles.«
Skeptisch zog Jessi eine Augenbraue hoch. »Du erzählst mir kein Märchen?«, hakte sie trotzdem nach.
»Es war einmal ein Bäumlein im finsteren Wald. Eines Tages kamen die sieben Zwerge und fällten es. Aus dem Holz dreckselten sie eine Öllampe, um mit dem Lichtlein Rotkäppchen und dem bösen Wolf heimleuchten zu können.« Erwartungsvoll sah ich Jessi an, die nichts weiter Tat, als mich ebenfalls anzublicken. Prüfend. »Aus dem Wolf wurde ein Bettvorleger und Rotkäppchen ...«, setzte ich reichlich planlos hinzu.
Jessi schüttelte nur den Kopf, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. »Ach, Gondelchen, wenn du wegen dem Kerl Probleme hast, dann sag es und friss es nicht in dich rein«, sagte sie eindringlich nach einem tiefen Seufzer und wollte nach meiner Hand greifen, doch ich entzog sie ihr.
»Darüber haben wir uns schon oft genug unterhalten, Schwesterherz«, schnaubte ich. »Und ich gehöre definitiv nicht zu denen, die wegen jedem Wehwehchen zum Vertrauenslehrer rennen.«
»Das verlange ich nicht. Das weißt du genau. Es geht ganz einfach darum, dass ich Angst habe, dass du gemobbt wirst.«
»Du musst eine Angst haben, Jessi«, forderte ich leise. »Es ist alles in Ordnung.« Und das war es tatsächlich. Das soziale Gefüge passte wieder und alles schön voneinander getrennt durch eine Wand, festgefügt, wie die Chinesische Mauer.
Dort: Die Schönen, die Gehypten. Hannes.
Hier: ich, Gonde.
Alles war wieder im Gleichgewicht.
Nur ich nicht.
Obwohl ich mich dagegen gewehrt hatte, hat mir die verblödete Romanceautorin eine Highschoolliebe aufgedichtet, die ich absolut nicht ausstehen kann. Ich bin zwar das allbeschriene hässliche Entlein, werde aber definitiv nicht als stolzer Schwan zur Abschlussfeier erscheinen. Neee ... Das würde mir ein ganz schönes Sümmchen kosten, damit ich einen solchen Auftritt hinlegen könnte.
»Nun gut, mein Lieber«, seufzte Jessi mal wieder und stand auf. »Aber, rede mit mir, wenn du Probleme hast!«, forderte sie und fuchtelte mit einem Finger vor meiner Nase herum.
»Versprochen.« Nein.
Ich wartete, bis sich die Tür hinter Jessi geschlossen hatte und dreht wieder die Musik lauter. Nun aber in einer gemäßigten Lautstärke.
Beim Zurücksetzen auf den Stuhl griff ich nach meinem Handy, das auf dem Schreibtisch lag. Im Grunde war es sinnlos, durch die Nachrichten zu scrollen, da keine neuen hinzugekommen waren. Ich bekam sowieso keine Nachrichten. Bis auf die eine ...
Vor zwei Tagen erhielt ich eine SMS. Nachts um zehn summte plötzlich mein Handy und brachte mich damit für den Rest der Nacht um den Schlaf.
»Es war schön. H.« war dort zu lesen.
Im ersten Moment schlug mir das Herz bis zum Hals hinauf, um dann in ungeahnte Tiefen abzusinken. Ich ärgerte mich über meine eigene Blödheit und dass ich mich zu diesem Test hatte überreden lassen.
So ne Scheiße aber auch! Hätte er den ersten Kuss nicht einfach auf sich beruhen lassen können? Nein, da musste er mich geradezu anflehen, es noch einmal ausprobieren zu dürfen, weil er sich nicht »sicher« war und ich doofes Kalb hatte dem auch noch zugestimmt!
Wie verblödet musste man eigentlich sein, jemanden zu küssen, nur weil er es wollte? Ja, schöne Augen hatte er und die Stimme ... Kein Wunder, dass Hanna auf ihn fliegt, sind ja auch zusammen ein hübsches Pärchen.
Nun hockte ich schon wieder hier und schmachtete diesen einen Satz an. Ich spürte schon wieder diese Wärme, die sich in mir breitmachte, mir den Hals zuschnürte und mich so weichspülte, dass ich tatsächlich zu träumen begann. Was wäre wenn ... ich nicht der wäre, der ich bin? Kein Nerd mit Brille und Zahnspange und dem Hang zu Star Treck?
Träum weiter, Alter!
»Warum meldest du dich nicht?«
Seit dieser ganze Schlamassel mit Hannes begonnen hatte, flitzte ich so schnell wie möglich zu den Fahrradständern, um noch vor ihm, das Schulgelände verlassen zu können. Nichts wäre schlimmer, als dass er mich noch ein Mal abpassen würde. Wer weiß schon, was ihm dann ins Hirn geschissen haben könnte? Noch ein Test? Noch ein Kuss?
Und nun stand er doch tatsächlich vor mir. Die Arme vor der Brust verschränkt, blickte mich herausfordernd an und wollte wissen, warum ich mich nicht melde?
»Warum sollte ich?«, stellte ich die Gegenfrage und machte mich an meinem Drahtesel zu schaffen. Das Fahrradschloss stopfte ich in meinen Rucksack, schulterte ihn und zerrte das Fahrrad aus dem Ständer. Dass ich auf dem Weg zum Tor dicht an Hannes vorbei musste, versuchte ich zu ignorieren. »Oder ist da etwas, von dem ich wissen sollte?«, fragte ich ihn, als ich mit ihm auf einer Höhe war.
Mehr aus den Augenwinkeln sah ich sein verdattertes Gesicht.
Ich wusste ja nicht, was er erwartet hatte, womöglich, dass ich mich ihm freudestrahlend an den Hals werfen würde, nur weil sich ein Herr Möhricke dazu herablässt, mit mir zu sprechen? Ich konnte darauf verzichten. Die Blöße, die ich mir in seiner Gegenwart geleistet hatte, war doch ausreichend. Wenn ich an meine überstürzte Flucht aus dem Waschraum denke, könnte ich mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Noch offensichtlicher konnte es doch nicht sein, dass ich mit der Situation nicht umzugehen verstand.
Tja, wie gesagt: Nun stand er hier und verlangte eine Erklärung von mir. »Oder benötigst du noch einen Test, um zu wissen, wie rum du gepolt bist?«, warf ich ihm bissig an die pickelfreie Stirn.
»Ich weiß sehr wohl, wie rum ...« Im letzten Moment biss Hannes sich auf die Unterlippe und blickte über meine Schulter in Richtung der Schule. Als wäre nichts weiter, grinste er und nickte grüßend. Bestimmt seine Kumpel. »Ich muss mit dir sprechen«, zischte er und blickte mich mit zusammengezogen Augenbrauen an, als wäre er mit irgendetwas unzufrieden, der Beweis für mich, dass in meinem Rücken seine Clique herumlungerte.
Ich wusste, dass ich mich nicht darauf einlassen durfte und doch formte mein überlastetes Hirn das Wort, die über meine Zunge rutschten, ohne mich um Erlaubnis zu fragen. »Wo?«
»Bei dir. Um sechs«, murmelte er und wandte sich ab, ohne eine Antwort abzuwarten. So ganz einfach. Aber was hatte ich denn eigentlich erwartet?
Beim mir ... Langsam tröpfelten die Worte in mein Hirn, eroberten das Terrain. Das geht nicht! Jessi ist zu Hause und ... Nein, das geht nicht. Wenn sie aufeinandertreffen sollten ...
Mit der freien Hand pulte ich mein Handy aus der Hosentasche und tippte »heute nicht« ein. Eine Sekunde später war die Nachricht unterwegs und ich beobachtete Hannes, der gerade mit Hanna sprach, die mal wieder eine Schnute zog, von der sie dachte, dass sie unglaublich sexy wäre. War sie nicht, eher kindisch.
Ich sah, wie Hannes nach seinem Handy in der Gesäßtasche griff, es herauszog und auf das Display schaute. Irgendwie unwillig zog er die Augenbrauen zusammen und blickte dann zu mir her. Nur kurz, dann senkte er den Kopf über sein Handy und gleich darauf spürte ich mein Telefon vibrieren.
»Nein. Ist wichtig.«
Schon um fünf Uhr war ich ein nervliches Wrack, weil mir gefühlte Hunderttausend unterschiedliche Gründe ins Hirn schossen, warum Hannes unbedingt mit mir sprechen wollte. Mit mir, dem größten Nerd der Nation. Darüber, dass ich mal wieder sein Testobjekt sein sollte, wollte ich nicht nachdenken. Außerdem müsste er doch inzwischen aus der Phase heraus sein. Oder nicht? Wie lang soll sowas eigentlich dauern? Spätestens nach dem zweiten Kuss sollte sowas gegessen sein. Normalerweise.
Jessi schaute mich genervt an, nur weil ich schon wieder in der Tür zum Esszimmer herumlungerte, von wo ich mich mit ihr unterhalten konnte und zugleich die Eingangstür im Blick hatte.
»Ich könnte glatt denken, dass du einen Freund eingeladen hast«, meinte sie mit einem Zwinkern. Selbstverständlich hatte ich ihr nicht gesagt, wer sich eingeladen hat. Sollte ich es ihr sagen? Nein, lieber nicht.
»Nein, wir wollen wirklich nur lernen«, erklärte ich ihr und spürte, wie ich schon wieder rot wurde. Ich weiß nicht, wie oft ich ihr schon gesagt hatte, dass »er« nur zum Lernen kommt. Aber jedes einzelne Mal waren meine Ohren unangenehm heiß geworden. »Mehr nicht.«
Schon wieder blickte mich Jessi skeptisch an, als sie die Salatschüssel auf den Tisch stellte. »Ist es wegen deiner Zahnspange, dass du noch keinen Freund hast? Ich kann mir vorstellen, dass es schon ... einschränkend sein kann, besonders wenn der Freund ein Piercing hat.«
»Jessi!«, entfuhr es mir gequält. »Ich werde definitiv nicht mit dir darüber diskutieren, ob es an dem Gitternetz liegt, dass ich ...« Ich hatte keine Ahnung, wie ich den Satz zu Ende bringen sollte, aber glücklicherweise schellte es in dem Moment an der Tür. Gott sei Dank!
Es war Hannes und er hatte doch tatsächlich die Frechheit, mich anzulächeln. »Hey!«, sagte er und ich war sprachlos.
»Hallo!«, tönte es hinter mir von Jessi und eine Hand schob mich sanft zur Seite. »Ich bin Gondes Schwester«, stellte sie sich vor. »Schön, dass Sie nun da sind, dann können wir gleich essen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, dreht sie sich um und verschwand in der Küche.
»Essen?«, fragte Hannes leise, als er den schmalen Flur betrat.
»Eine Stunde später wäre günstiger gewesen«, erklärte ich ihm und beobachtete, wie er sich aus den Schuhen schälte. »Ich hab Jessi gesagt, dass du zum Lernen vorbeigekommen bist.«
»Okay«, stimmte Hannes zu und folgte mir in das Esszimmer, das im Grunde nur genutzt wurde, wenn sich Besuch angekündigt hatte.
Es war ein sehr stilles Essen. Das lauteste Geräusch war das Kratzen des Bestecks auf den Tellern.
»Ich dachte schon, dass das Essen nie endet!«, lachte Hannes, als ich die Zimmertür hinter uns schloss. »Ist es immer so steif bei euch?«
»Nein, nur wenn sich Besuch angekündigt hat«, erklärte ich und lehnte mich gegen die Tür. Dabei beobachtete ich Hannes, der sich seinerseits interessiert umblickte.
»Hübsch«, meinte er schließlich mit einem breiten Grinsen und setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl. »Sieht überhaupt nicht aus, wie bei einer Schwuchtel.«
Aua. Vermutlich hatte er gedacht, dass ich einen überquellenden Kleiderschrank mit ... Was-auch-immer hätte und mein Schreibtisch eher einem Schminktisch ähnelt. Tja, falsch gedacht.
»Was willst du eigentlich, Hannes?«, fragte ich gereizt. »Wenn es so dringend gewesen wäre, hättest du es mir noch in der Schule erzählen können.«
»Vor allen anderen oder vielleicht auf dem Schulklo?«, erwiderte er und zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »Die anderen hätten dämlich geguckt, wenn ich dich dorthin gezerrt hätte.«
»Versuch es das nächste Mal ganz einfach mal mit Fragen«, beschied ich ihm grummelnd.
Hannes sagte dazu nichts, sondern spielte mit einem Stift, den er sich vom Schreibtisch gegriffen hatte. Auch schien er nicht so, als würde er noch mit der Sprache herausrücken.
»Was ist nun?«, hakte ich genervt von der Stille nach.
Mit einem schweren, tiefen Seufzen erhob sich Hannes vom Stuhl, und warf den Stift auf den Tisch zurück, wo er leise polternd liegen blieb. Eher unschlüssig stand er in meinem Zimmer, blickte mich kurz an, nur dass der Blick sofort wieder abdrifteten, als fänden die Augen keinen festen Halt, keinen Punkt, auf den sie sich fokussieren konnten.
»Ich werde mich von Hanna trennen«, erklärte er schließlich leise mit gesenktem Blick.
Unwillkürlich löste ich von der Tür und tat einen Schritt auf Hannes zu, neigte mich vor, um ihm in die Augen blicken zu können. »Das ist jetzt nicht dein Ernst!«, zischte ich. »Ihr seid das perfekte Paar. Ihr gehört zusammen, wie ... Donald und Daisy, Batman und Robin.«
»So perfekt ist es wohl doch nicht mit uns.«
Fassungslos blickte ich Hannes an. »Warum?«, verlangte ich zu wissen und wollte es zugleich nicht.
Im nächsten Moment ruckte sein Kopf hoch. »Kannst du es dir nicht denken?«
Sekunden später klappte meine Zimmertür hinter Hannes zu und kurz danach hörte ich, wie sich die Haustür schloss. Eigentlich sollte ich ... Aber fünf Minuten später starrte ich noch immer auf die Stelle, auf der Hannes gestanden hatte.
Wortvorgabe (Homonyme):
Flügel = Klavier / Flügel zum Fliegen (z. B. Vogel oder Flugzeug)
Leiter = Leiter einer Gruppe (etc.) / Leiter zum Klettern
Umzug = Parade / Wohnungswechsel
Auswahl: Zwei (vier) von drei (sechs) Wörtern müssen unverändert im Text verarbeitet werden.
»Was machst du hier, Hannes?« Ich konnte nicht mehr als seinen Schatten erkennen, als sich Gonde aus dem Fenster lehnte. »Weißt du überhaupt, wie spät es ist?«
»Ich muss mit dir reden«, erwiderte ich drängend und trat dichter ans Haus, hinaus aus dem Lichtkegel, den die Straßenlaterne warf.
Ein unzufriedenes Schnauben war über mir zu hören. »Du hast echt Nerven, hier noch einmal aufzutauchen, Mann!«, zischte Gonde. »Kann das nicht bis morgen warten?«
Heftig schüttelte ich den Kopf. Zu spät wurde mir bewusst, dass er es im Hausschatten nicht sehen konnte. »Nein, es ist wirklich wichtig.«
»Genauso wichtig wie das, was du mir vorhin erzählen wolltest?« Unglauben und verdienter Spott schwangen in der Stimme mit. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie leicht Gonde einzuschätzen war. Er verstellte sich nicht, war ehrlich. Nicht so wie die, mit denen ich jeden Tag zu tun hatte, wie Hanna oder Erik oder all die anderen. Oder ich selbst. »Du knallst mir irgendwas an den Kopf und haust dann ab.«
»Ich entschuldige mich dafür, aber ...« In einer hilflosen Geste fuhr ich mir mit der Hand durch die Haare. »Bitte, lass mich hochkommen.«
»Du spinnst, Hannes Möhricke! Lass dir Flügel wachsen!« Im nächsten Moment wurde über mir das Fenster mit einem endgültig klingenden Geräusch geschlossen.
Super, Hannes! Das hast du echt toll gemacht!
Nachdenklich nagte ich an meiner Unterlippe, sah prüfend die Hauswand hinauf. Ein Rosenspalier war daran befestigt, das zwar nicht bis ganz an Gondes Fenster reichte, doch könnte es mir gut als Leiter dienen und für den letzten halben Meter müsste ich Spiderman spielen. Verrückter Einfall, trotzdem rüttelte ich kurz am Holzgestell. Mist. Zu locker.
»Du willst doch nicht etwa dort hochklettern?«, erklang dicht neben mir Gondes amüsiert klingende Stimme. »Du würdest dir den Hals brechen.«
»Flügel hab ich keine«, erwiderte ich leise.
Ich spürte seinen fragenden Blick fast körperlich. »Ich dachte, dass du nach Hause gegangen wärst. Oder zu Hanna. Also, was suchst du hier?«
»Könnten wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten?«, fragte ich leise.
Ich nahm schon an, dass Gonde mir eine Absage erteilt, als er schließlich zustimmend nickte. »Komm mit.«
Er führte mich durch den spärlich erleuchteten Flur des Mietshauses zur Hintertür, die auf einen Innenhof hinaus ging. Aus einigen Fenstern fiel Licht auf den Hof, ausreichend, um ihn zu beleuchten und um zu sehen, dass Gonde auf eine Bank neben einem Sandkasten zuhielt, neben der er stehen blieb.
»Was ist nun schon wieder los?«, fragte er leise. »Hat Hanna nicht mit dir sprechen wollen?«
Ich ließ mich auf die Bank fallen. »Mir fehlte der Mut.«
Leise lachte Gonde, keineswegs hämisch, wie ich vermuten hätte, eher mitleidig. »Dem Herrn Möhricke gehen die Eier auf Grundeis.«
»Ja«, gab ich zu.
Für einen Moment war Stille. »Was soll nun werden?«
»Ich weiß es nicht«, gab ich zu.
Mit einem Seufzen setzte sich Gonde neben mir. »Du hast noch mit niemandem darüber gesprochen, dass du schwul bist?«
»Ich bin nicht schwul«, widersprach ich.
»Was bist du dann?«, wollte er wissen.
Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen. »Ich bin noch immer der gleiche Mensch wie vor einem Monat.« Nein, ich hatte mich nicht verändert.
Leicht lehnte sich Gonde vor. »Dann war es wohl nur ein Zufall, dass du unbedingt austesten wolltest, was der Unterschied beim Küssen ist?«
Ja. Es waren die äußeren Umstände. Ich bin beeinflusst worden.
Ich bin von einer fixen Idee beeinflusst worden. Basta.
»Bist du noch immer in der Testphase?«, hakte Gonde nach. »Soll ich Hanna anrufen? Sie kommt bestimmt vorbei, wenn ich ihr sage, dass du einen direkten Vergleich benötigst. Wir beide sind deine Testobjekte.«
Über den irrwitzigen Vorschlag hätte ich nur den Kopf schütteln können. Tat es aber nicht. Stattdessen lehnte ich mich vor, stützte die Arme auf meinen Knien ab und schloss für einen Moment die Augen. »Es ist so, wie ich es vorhin gesagt hatte: Ich werde mich von ihr trennen.«
Ich spürte Gondes Bewegung, als würde er ein Stück näher rutschen. »Warum?«, wisperte er.
»Weil ich vielleicht doch das bin, was du gesagt hattest.«
»Schwul?«
Mit einem schweren Seufzen barg ich das Gesicht in den Händen. »Mir gefällt das Wort nicht«, sagte ich. Genauso wenig wie es mir gefiel, zuzugeben, dass ich es doch sein könnte.
»Wie willst du es dann nennen? Such dir irgendein Wort aus. Doch egal, welches du nimmst, wird es nichts daran ändern, was du bist. Oder wie Shakespeare sagte: Was ist ein Name? Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften.«
»Das würde nichts daran ändern, dass mich mein Vater lynchen wird, wenn er erfährt, dass ich ... einen Jungen geküsst habe.«
»Du wirst kaum drum herum kommen«, murmelte Gonde. »Entweder er erfährt es von dir oder von jemand anderem. Überlege, was dir lieber ist.«
»Und was ist, wenn ich doch nicht schwul bin?« Was-wäre-wenn.
»Warum fragst du mich?«, verlangte Gonde seinerseits zu wissen. »Ich weiß, was ich bin und habe kein Problem damit. Nur meine Umwelt kommt damit nicht klar und ich denke, dass es das sein könnte, wovor du Angst hast.«
»Mein Vater«, erzählte ich, »er ist der Leiter der Produktionsabteilung. Für ihn ist ein schwuler Sohn eine Schande. Er betont immer wieder, wie wichtig ihm das Ansehen ist, die Stellung in der Firma und in der Gesellschaft.«
Eine Hand legte sich auf meine Schulter, drückte sie. »Und was ist mit deiner Mutter?«
»Sie ist in ihre Musik vernarrt«, sagte mich mit einem Schnauben. »Am liebsten würde sie den ganzen Tag an ihrem Flügel sitzen und ich wüsste nichts, was ihr wichtiger wäre.«
»Selbst ihr eigener Sohn nicht?« Traurigkeit und Mitgefühl schwang in der Stimme mit. Im nächsten Augenblick schlang sich ein Arm um meine Schultern, zog mich an den warmen Körper. Es war eine tröstende Geste, in die ich mich fallen ließ.
Zum ersten Mal an diesem Tag spürte ich so etwas wie Ruhe in mir. So viel Ruhe, dass ich die Füße auf die Bank zog und meinen Kopf in seinen Schoß legte. Erstaunt stieß Gonde die Luft aus, ließ es jedoch geschehen.
Ich kann nicht sagen, wie lange wir so gesessen hatten. Es war still, nur hin und wieder durchbrochen von fernem Hundegebell und dem müden Tschilpen eines Vogels in der Nähe.
»Du hast mir noch einen Wunsch zu erfüllen«, murmelte Gonde. »Für den Kuss im Klo.«
»Du hattest ihn noch nicht genannt«, erwiderte ich nach einigen Sekunden. »Ist dir inzwischen etwas eingefallen?«
Ich spürte mehr das Nicken über mir, als es in der Dunkelheit zu sehen. »Ich möchte mit dir zum Abschlussball gehen.«
Erstaunt richtete ich mich auf, blickte Gonde ins Gesicht. »Mit mir?«, hakte ich nach, unsicher, ob ich mich verhört hätte.
»Ich weiß, dass es noch einige Monate hin sind und ich habe mich nie dafür begeistern können. Das ist aber das Einzige, das ich mir von dir wünschen möchte.«
»Du musst dich nicht dafür entschuldigen«, flüsterte ich. »Nur weiß ich nicht ...« Ich stolperte über meine eigenen Gefühle, über die Wärme, die sein Wunsch in mir auslöste und zugleich der Knoten in meiner Brust, der sich aus einer ganzen Reihe Eventualitäten gebildet hatte.
»Ist schon klar, Hannes«, sagte Gonde, ohne jede Verurteilung. Ich spürte Finger, die über meine Wange strichen, in einer tröstenden Geste. »Die anderen.«
»Ich kann es nicht versprechen«, erwiderte ich, als hätte ich seine Worte nicht vernommen.
Mit einem Seufzen richtete sich Gonde auf, lehnte sich zurück. »Es war sowieso nur ein dummer Gedanke.«
»Wenn es mir möglich ist, würde ich gern mit dir hingehen.« Ich griff nach seiner Hand, die neben ihm auf der Bank lag, nahm sie in meine, strich mit dem Daumen über die Haut.
Was tat ich hier eigentlich? Händchenhalten mit einem anderen Typen, einem Jungen aus meiner Klasse. Im Dunkeln, wo mich niemand sehen konnte. Da war es einfach.
Kurz schloss ich die Augen, würgte den Klumpen Zweifel hinunter, als mir bewusst wurde, dass ich tatsächlich schwul war.
»Ich mag dich, Gonde.« Aber ...
Ich wartete darauf, dass sich mir dieses Aber auftat. Ich wartete vergebens. Stattdessen spürte ich ein weiteres Mal, wie Finger mein Gesicht berührten.
»Geh nach Hause, Hannes«, wisperte Gonde. »Geh nach Hause, schlaf und vergiss, dass du hier warst. Ich werde es auch. Was hier gesprochen wurde, wurde nie gesagt.«
Gruppe A
Format: 1 Quaddrabble (1 x 400)
Prompt: Morgen Kinder wird’s nichts geben! - Euer Charakter ist in einer anscheinend normalen Welt, jedoch kann er an den, für andere alltäglichen Dingen, nicht teilnehmen. Veranschaulicht seine Situation in diesem Drabble.
Stilistische Vorgabe: verwendet 2 Ellipsen.
- Je früher der Abschied, desto kürzer die Qual.
- Was nun?
Zusätzliche inhaltliche Vorgabe: verwendet folgendes Zitat aus Kästners oben genannten Gedicht: “Lauft ein bisschen durch die Straßen!” (Zitiert nach Erich Kästners “Morgen Kinders wird’s nicht geben” auf https://www.deutschelyrik.de/index.php/morgen-kinder-wirds-nichts-geben.html)
»Geh nach Hause!«, hatte ich gesagt. Zu Hannes.
Ich hoffte, dass er die letzten Minuten vergessen würde und zugleich hoffte ich es nicht. In Erinnerung sollten sie ihm bleiben. Was er mir gesagt hatte, sollte er nicht vergessen und weiterhin so voller Zweifel sein, wie er noch vor unserem ersten Kuss selbstsicher war.
Hannes rührte sich aber nicht, sondern blickte mich nur an. Fassungslos, wie ich im Zwielicht des Hofes erkennen konnte.
»Warum, Gonde?«, flüsterte er. »Warum sagst du das?«
Für einen Moment schloss ich die Augen, betete, die richtigen Worte zu finden. »Wir leben in zwei Welten, die zu unterschiedlich sind«, sagte ich eindringlich. Ich wollte nach seiner Hand greifen, so wie er zuvor meine gehalten hatte. Doch tat ich es nicht. Stattdessen erschuf ich eine Mauer zwischen uns, meterdick. Obwohl Hannes dicht neben mir saß, dass ich seine Wärme spüren konnte. »Es würde mit uns sowieso nicht gut gehen. Wie du selbst sagst, werden Ansprüche an dich gestellt, denen du gerecht werden musst. Du würdest dich verstecken, lügen, dich selbst verdrehen, bis du nicht mehr wüsstest, was richtig und was falsch wäre. Nein, Hannes!«, sagte ich, griff nun doch nach seiner Hand, spürte seine warmen Finger. »Ich will daran nicht Schuld sein. Je früher der Abschied, desto kürzer die Qual. Bleib in deiner Welt, ich in meiner.«
Mir versagte die Stimme. Mehr war nicht zu sagen. Trotzdem hatte ich das Gefühl, noch mehr erzählen zu müssen. Vielleicht, weil ich Hannes im Grunde nicht gehen lassen wollte? Weil ich ihn mochte und die Momente mit ihm wie einen Schatz hüten wollte. Weil ich das Gefühl hatte, dass mehr hinter diesem Mögen verborgen sein könnte?
Ein lautes Geräusch schreckte mich auf. Auch Hannes zog in einer hastigen Bewegung seine Hand zurück.
Es war nur ein Fenster, das über uns geöffnet wurde. »Lauft ein bisschen durch die Straßen!«, erscholl eine kratzige Stimme. »Oder haltet einfach die Klappe! Manche Leute müssen früh raus!«
Gleich darauf versank der Hof wieder in Stille. Selbst das müde Tschilpen des Vogels war nicht mehr zu hören.
»Was nun?«, fragte Hannes verhalten. »Ich will noch gehen, dich verlassen.«
»Du musst. Du musst für dich selbst herausfinden, was du bist und was du willst.«
Ich sah ihn nicht an, doch spürte ich, wie er sich leicht vorneigte. Eine leichte Berührung an meiner Wange ließ mich erschauern. »Ich weiß, was ich will«, flüsterte er. »Und das macht mir Angst.«
Gruppe A
Format: 5 Doubledrabbles (5 x 200)
Prompt: 5 Phasen der Trauer - Euer Charakter erfährt, dass eine ihm nahestehende Person verstorben ist. Dabei durchläuft er in jedem der Drabbles eine der folgenden 5 Phasen:
1. Das-Nichtwahrhaben-Wollen
2. Zorn
3. Verhandeln
4. Depression
5. Akzeptanz.
Stilistische Vorgabe: Schreibt die erste Phase als Gedicht mit mindestens 2 Paarreimen.
Zusätzliche inhaltliche Vorgabe: Verwendet aus der deutschen Musicalversion "We will rock you" des Lieds “No one but you” folgende 2 Zitate als Drabble-Überschriften. Die Drabbles müssen inhaltlich Bezug nehmen!
- “Und heben einmal noch das Glas!”
- “Kein wahrer Held lebt lang”
1. Versunken im Chaos
Ich fühle die Welt schwanken,
halte mir den Kopf, um sie abzuhalten vom Wanken,
denn noch immer dröhnen mir die Worte in den Ohren:
»Bei einem Unfall hat sie ihr Leben verloren.«
Wo bleibt der Halt, der mich spüren lässt,
dass dies ein simpler Traum nur ist?
Es nicht mehr sein kann, sein darf.
Doch das Leben wetzt das Messer und das ist scharf,
hat mir die Schwester genommen ...
Alles rauscht an mir vorbei, ist verschwommen.
Nur Chaos wirbelt durch mein Hirn,
ich weiß nicht mehr wohin,
brauch Ruhe gegen den Sturm,
einen festen Halt, gegen den ich mich lehn.
Das Ganze ist nur ein schlechter Scherz.
Noch am Morgen hatte ich Jessi gesehen,
sie zeichnete auf dem Spiegel ein großes Herz.
Mit ihrem Lippenstift hatte sie es gemalt,
Ihr Lachen war durch den Flur geschallt.
Wie könnte das Leben so grausam sein
Und mir auch die Schwester nehmen?
Ich kriege es einfach nicht in meinen Kopf,
zermartere ihn mir bereits seit Stunden – nein, erst seit Minuten.
Wie die Zeit schleicht, wenn man hofft,
dass sie eilt, und mich umso schneller hindurch bringt.
Dann würde ich einfach aufwachen,
die Augen aufmachen.
Ich wäre in meinem Zimmer,
alles wäre so wie immer.
2. Zornige Trauer
Ich floh durch die Flure, hatte den Direktor mit seinen mitleidsvollen Worten weit hinter mir gelassen. Erst in der Schulbibliothek kam ich nicht weiter. Zurück ging es nicht. Das hieße, mich dem stellen zu müssen, was er gesagt hatte.
Müde lehnte ich die Stirn gegen das Fensterglas, schloss für einen Moment die Augen und betete zum hunderttausendsten Mal, dass alles nur ein Traum war.
»Was ist geschehen?« Eine Hand berührte meinen Arm.
Erschrocken wandte ich mich zu Hannes um und spürte, wie Verärgerung in mir hochkochte, irrationaler Zorn, weil ich allein sein wollte. Ich war wütend, weil er mich gefunden hatte und auf mich selbst, auf die Schule, auf den Direktor, auf die Welt, auf Gott und auf Jessi.
»Sie ist tot!«, schleuderte ich ihm entgegen. »Das ist passiert!« Harte Worte.
Ich sah den Schock in seinen Augen, nur einen Moment, ehe ich an Hannes vorbeistürmte, ihn dabei zur Seite stieß.
»Sie hat mich in dieser gottverdammten Welt allein gelassen!«, schrie ich mit überschlagener Stimme.
»Wer?« Eine simple Frage.
An der Tür wandte ich mich noch einmal um, sah an seinem Blick, dass er eine Ahnung hatte, von wem ich gesprochen hatte. Hilflos schüttelte ich den Kopf, fand keine Worte.
3. Verhandeln um den Tod
Hannes hatte mich einfach zu sich mitgenommen. Keine Ahnung, was er dem Direktor erzählt hatte, dass er es zuließ.
Seine Eltern waren nicht zu sehen, als er mich durchs Haus und eine Treppe hinauf führte. Irgendeine Tür öffnete er, während er mir etwas erzählte, doch verstand ich kein Wort. Ich ließ alles über mich ergehen, auch dass er mir Schuhe und Hose auszog, mich in weiche Kissen drückte und mich zudeckte.
Warme Finger strichen durch mein Haar. Wie Jessi, wenn sie ...
Ich schloss die Augen. »Warum?« Auf die leise Frage erwartete ich keine Antwort, verlangte sie auch nicht. »Sie wollte heiraten, hatte eine Zukunft und nur, weil ein Besoffener ...«
»Hör auf damit«, forderte Hannes.
»Warum?«, fragte ich und setzte mich auf. »Warum muss ein Mensch sterben, der noch das ganze Leben vor sich hat? Das ist nicht gerecht!«
»Und wie sähe deiner Meinung nach Gerechtigkeit aus?«, herausfordernd sah er mich an.
Ich lehnte mich vor, blickte ihm fest in die Augen: »Ein Leben für ein anderes.«
»Du spinnst, Gonde«, erklärte Hannes und drückte mich in die Kissen zurück. »Was geschehen ist, ist tragisch. Trotzdem geht das Leben weiter.«
»Wie?«, verlangte ich zu wissen. »Ich habe nichts mehr.«
»Doch: Du lebst.«
4. Und heben einmal noch das Glas!
»Was soll die Scheiße?« Hannes entriss mir die Schnapsflasche, die ich gerade an die Lippen heben wollte.
»Mich besaufen!«, erklärte ich, mich tiefer in den Sessel vor dem Kamin lümmelnd.
»Du spinnst!«, grollte er, stellte die Flasche auf einen Beistelltisch, hockte sich vor mir hin. »Ich mache mir Sorgen um dich.«
Ich wich seinem Blick aus. »Ich vermisse sie«, sagte ich, gegen Tränen anblinzelnd.
»Und du hoffst, dass dir das Zeug hilft?«, hakte Hannes nach. »Vergiss es. Es zieht dich nur noch weiter runter.«
»Es hat mir in den letzten Tagen geholfen.«
Ungläubig sah Hannes mich an. »Du besäufst dich, damit du dich besser fühlst?«
»Ich will vergessen«, murmelte ich, wandte den Kopf ab, damit ich seinen Blick nicht sehen musste. »Ich will die Leere vergessen, den Schmerz ...«
»Du willst deine Schwester vergessen!«
Ich war entsetzt über diese Unterstellung. »Nein! Keineswegs!«
»Für mich sieht das aber so aus.« Nachdenklich sah er mich an. »Du solltest dich immer an sie erinnern. Anderes hat sie nicht verdient.«
»Wie?«
Wortlos verließ er das Zimmer und kam mit zwei Gläsern Rotwein zurück. Eines gab er mir, zog mich neben ihm vor den Kamin.
»Wir heben einmal noch das Glas, damit Jessi nie vergessen wird!«
5. Kein wahrer Held lebt lang
Die geleerten Gläser zerschmetterten wir im Kamin und für einen Moment lauschte ich der Stille, die dem Geräusch folgte.
Arme legten sich um meine Schultern, zogen mich an Hannes’ Körper. Seine Hände strichen tröstend über meinen Rücken. »Kein wahrer Held lebt lang«, murmelte er.
»Und die Menschen, die Gott liebt, holt er als erste zu sich«, fügte ich hinzu.
Ich löste mich aus den Armen, obwohl ich mich lieber in sie lehnen wollte. »Das ändert nichts daran, dass ... Ach, verflucht!« Der wieder aufkommende Schmerz nahm mir die Luft zum Atmen. Verzweifelt, auf der Suche nach den richtigen Worten, raufte ich mir die Haare. »Jessi fehlt mir. Ich habe ständig das Gefühl, dass sie gleich durch die Tür kommen muss. Dass alles nur ein böser Traum ist. Aber ich weiß, dass sie ... tot ist. Nichts bringt sie wieder zurück. Egal, wie lange ich hier hocke, mich verkrieche.« Dicht trat ich an Hannes heran, sah zu ihm auf. »Danke, für alles. Doch nun ist es besser, wenn ich gehe. Ich habe mich schon zu lange versteckt.«
»Du musst nicht gehen, Gonde.«
Ich schüttelte ablehnend den Kopf. »Es wird Zeit. Ich habe viel zu tun, habe in die Fußstapfen meiner Heldin zu treten.«
Vorgaben
Format (Anzahl/Wortzahl): 12 Drabbles (12 x 100)
Prompt: From zero to hero - Euer Charakter startet am unteren Ende der Gesellschaft, dies kann z.B durch Verlust des Jobs passieren und ist am Ende des Jahres eine Berühmtheit. Stellt diese Entwicklung im Monatsrhythmus dar.
Stilistische Vorgabe: Jedes der Drabbles muss mit einem Charakternamen beginnen.
Zusätzliche Inhaltliche Vorgabe: Exakt 2 Drabbles sollen im Zirkus stattfinden, eines im Flugzeug und ein weiteres an einem illegalen/moralisch verwerflichen Etablissement.
Juli – zu tief
Jessi hatte mich verlassen. Das musste ich mir immer wieder sagen. Ihr plötzlicher Tod hatte mich aus der Bahn geworfen und mich in ein tiefes Loch gestoßen, aus dem ich nun aus eigener Kraft wieder herauskriechen musste. Es war immer nur ein kleines Stück und manchmal hatte ich das Gefühl, als würde mir die fest wirkende Substanz unter den Fingern wegbröseln und mich zurück in das Loch stürzen lassen.
Dann war Hannes an meiner Seite, hielt mich einfach fest, flüsterte Worte, die ich nur als Echo vernahm. Ich nahm sie kaum wahr, doch spürte ich den Trost, den sie vermittelten.
August – Notwendigkeit
Klaus, Hannes’ Vater hatte alles mit dem Jugendamt geklärt und die Vormundschaft bis zu meiner Volljährigkeit übernommen. Warum wusste ich nicht. Ich vermutete, um sein soziales Gewissen zu beruhigen. Solange ich ihn nicht »Vater« nennen musste, konnte es mir egal sein.
Die deutsche Bürokratie verlangte nach ihrem Recht und auch danach, dass spätestens zum Beginn des neuen Schuljahres ein Erziehungsberechtigter benannt wurde. Einfach nur in der gewohnten Umgebung zu leben, war unmöglich: Man liefe außerhalb der Spur, auch wenn zum Leben die Gleichförmigkeit des Alltags gehörte, an die man seit dem Kindergartenalter gewöhnt war.
Dafür war Hannes immer bei mir.
September – Schulbeginn
Hannes hatte es sich mit seinen Freunden verscherzt und das gleich am ersten Schultag. Keinen Moment wich er von meiner Seite, als hätte er Angst, dass ich zusammenbrechen oder mich einfach in Luft auflösen könnte.
Einerseits bewunderte ich ihn dafür, andererseits hätte ich ihn gern fortgeschickt. Am besten dorthin, wo der Pfeffer wächst. Die Blicke seiner Freunde nervten mich. Sie waren abschätzend, einschätzend.
»Hannes, bist du nun auch schwul?«, hörte ich Erik quer durch die Klasse fragen. »Hat er dich angesteckt?« Höhnisch waren seine Lippen verzogen. Mich erstaunte nur, wie wenig Grips man brauchte, um das Abitur machen zu können.
Oktober – Hoffnung
Erik war ein Arsch. Trotzdem schaffte er es, mich wachzurütteln. Wo Hannes zu nachsichtig war, platzte er hirnlosen Scheiß heraus, über den jeder denkfähige Mensch die Augen verdrehte. Immer wieder machte er homophobe Bemerkungen zu mir, wovon »Arschficker« sein Lieblingswort wurde.
Einige Zeit konnte man den Blödsinn ignorieren, aber irgendwann schaffte ich es nicht mehr. »Willst du es mal ausprobieren?«, fragte ich, unterbrach damit wirkungsvoll seinen Monolog. Eriks Ohren wurden rot, die Augen traten ihm fast aus den Kopf und sein Mund schloss und öffnete sich wie bei einem Karpfen auf dem Trockenen.
Danach war erstmal Ruhe aus Eriks Richtung.
November – Zuversicht
Hannes überraschte mich mit Karten für einen Besuch im Zirkus. Ich liebte ihn dafür nur noch mehr.
Die Atmosphäre im Zirkuszelt war unbeschreiblich und das Gefühl, als die Lichter ausgingen und Sekunden später die Scheinwerfer die Manege ausleuchteten, nahm mir fast den Atem.
Ich musste auf einen Elefanten reiten, während mir die Menschen applaudierten. Ich hatte Angst und war gleichzeitig begeistert. Es war schlichtweg berauschend.
Als ich wieder an meinen Platz kam, erwartete mich Hannes mit einem breiten Grinsen, das ich ihm von den Lippen küsste. Es war der erste Kuss, seit Jessi mich verlassen hatte, seit einem anderen Leben.
Dezember – Flucht nach vorn
Hanna war verständlicherweise wütend, weil Hannes sich nicht mehr für sie interessierte. Verrückter war, dass ich gleichzeitig nicht wollte, dass er sich für mich entscheidet. Es war eine verdrehte Situation, da er neben Schule und Familie ein Leben führte, das er für mich aufgegeben hatte.
Mein Wunsch war, dass er so weiterlebte, wie zuvor: Er sollte seine Freunde treffen, seinen Sport treiben und mir gleichzeitig den Raum lassen, mich selbst zu finden.
»Ich will aber, dass du mitkommst!«, erwiderte er. »Du bist ein Teil meines Lebens.«
Ich zögerte. »Was werden die anderen dazu sagen?«
»Akzeptieren«, sagte Hannes mit einem Schulterzucken.
Januar – Gewohnheit
Hannes war ein Optimist, ich dagegen Realist.
Er war nie wegen des Aussehens bei seinen Mitmenschen angeeckt. Ich wiederum war ein Nerd und auch modische Klamotten konnten es nicht verbergen. Komischerweise hingen die superteuren Hemden genauso an mir, wie die billigen vom Discounter. Und nur weil die Sachen mit Labels versehen waren, trug ich noch lange keines.
Widerwillig hatte ich schließlich einem Treffen zugestimmt. Ich würde sowieso nie in diese Clique gehören, auch wenn Hannes es anders sah. Erik und Hanna sahen es wie ich. Kalte Ablehnung schlug mir entgegen, sobald ich ihnen gegenüber stand. Etwas, was ich gewohnt war.
Februar – Panik
Hannes hatte mir einen Platz im Flugzeug freigehalten. Zu doof nur, dass gerade Erik hinter mir saß. Immer wieder stieß er gegen meine Rückenlehne oder rüttelte an der Kopfstütze. Es war absolut nervig. Aber eigentlich noch schlimmer war, dass er die Toilettentür versperrte und ich in der Enge der Kabine panisch reagierte. Ich habe keine Ahnung, mit was er sie blockiert hatte, aber da wir kurz vor der Landung waren, gab der Flugkapitän das Okay, die Tür mit Gewalt zu öffnen.
Ich war wütend, kurz vor dem Explodieren, als ich in Eriks grinsendes Gesicht sah. Ich fühlte mich vollkommen machtlos.
März - Unglauben
Hannes hatte mir etwas in meinen Terminplaner gelegt. Heimlich. Eine Eintrittskarte in einem schlichten weißen Umschlag.
Doch er wartete nicht auf mich. Der Sitz neben mir blieb leer und erst, als der Messerwerfer mich aus dem Publikum auswählte, kam mir ein Verdacht: Hannes hatte mich nicht versetzt. Er wusste gar nichts davon.
Es war Erik, den ich am Rand der Manege entdeckte, direkt hinter dem Messerwerfer stand er und freute sich diebisch darüber, wie gut sein Plan funktioniert hatte.
Ich zuckte kaum zusammen, als das erste Messer mit dem bunten Griff neben meinem Kopf in die Holzwand hinter mir einschlug.
April – Wut
Erik hatte es ein weiteres Mal getan: Er hatte mich schon wieder aufs Kreuz gelegt und ich könnte mich dafür in den Arsch beißen!
Dieses Mal stand ich nicht im Licht der Zirkusmanege, sondern im dämmerigen Licht einer Bar. Einer Bar in einem Bordell genauer gesagt. Es dauerte einige Sekunden, bis ich verstand, wo ich mich befand.
»Hallo, Kleiner!«, sagte eine Frau. Hübsch, freundliches Lächeln, sah mich prüfend an. »Du dürftest gar nicht hier sein. Zu jung.«
»Jemand hat mir einen Streich gespielt.«
Sie nickte. »Ein fieser Streich. Du solltest ihn nicht so davonkommen lassen.«
Das war auch meine Meinung.
Mai – Konfrontation
Erik taumelte zurück, fing sich nach drei Schritten. Vermutlich hatte ich genau den richtigen Punkt am Kinn erwischt. Wäre ich trainiert, hätte ich ihn wahrscheinlich auf die Bretter befördert. So schüttelte er nur kurz den Kopf, um ihn wieder frei zu bekommen.
»Du bist so ein Riesenarschloch!«, fauchte ich und setzte nach, bekam ihn am Shirt zu fassen. »Du hast mich mit dem Zirkus verarscht und nun die Aktion mit dem Bordell!«
Eriks Lippe blutete. Als er sie in einem Grinsen verzog, waren auch seine Zähne blutig verschmiert. Grotesk sah es aus. »Die Huren hätten es schon geschafft, dich einzunorden.«
Juni – Leben
Klaus hatte mich zum Kieferorthopäden begleitet. Einen Tag vor dem Abschlussball. Heute wurde die Zahnspange entfernt und Hannes wusste nichts davon. Meine Überraschung.
Ebenso überraschend wie Eriks Verhalten. Seit ich ihn mit einem harten Schlag auf die Bretter befördert hatte, ließ er mich in Ruhe. Er schien nur eine Sprache zu verstehen und akzeptierte mich, auch wenn der Schlag nur ein Glückstreffer war.
Nun lächelte ich, als ich auf Hannes zuging, sah sein Erstaunen. »Du hast dich verändert«, stellte er fest.
Ja, mehr als das.
»Heute wird dein Wunsch erfüllt«, setzte er hinzu, strich mir über die Wange.
Ich lebe.
Format (Anzahl/Wortzahl): 1 Drabble (1 x 100) ODER 4 Quaddrabbles (4 x 400) - Ich habe mich für das einzelne Drabble entschieden.
Prompt: Reicht den Mördern die Hand! Liegt im Staub vor den Großen! Die Welt gehört den Kriechern und den Gnadenlosen. - Euer Protagonist wechselt auf die böse Seite. Wir ihr das macht, bleibt euch überlassen.
Stilistische Vorgabe: Alle einschränkenden Konjunktionen (aber, zwar, etc.) sind verboten!
Zusätzliche Inhaltliche Vorgabe: Zitiert genau eine Zeile aus den Lyrics “Finale 2. Akt” aus Tanz der Vampire.
Abschlussball
Gonde stand dicht neben mir. Ich spürte seine Berührungen, hörte sein Lachen. Er war glücklich.
Es wurde Zeit. »Ich habe eine Überraschung für dich«, sagte ich und führte Gonde auf die Tanzfläche. Ein Spot ging an, direkt auf ihn. Fragend sah er mich an.
»Danke für den Spaß, den ich mit dir hatte.« Jeder im Saal hörte meine harten Worte. »Schwulsein ist nichts für mich. Darauf kann ich gut verzichten«, erklärte ich, sah Unglauben und Entsetzen in Gondes Blick. »Die Welt gehört den Lügnern und den Rücksichtslosen«, setzte ich hinzu. »Es war nur eine Testphase. Mehr war es nie gewesen.«
Tag der Veröffentlichung: 05.03.2017
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