Kopfschüttelnd blickte Bilbo dem davon ratternden Wagen hinterher, vor dem ein altersschwaches Pony gespannt war, das schon längst seine letzten Tage auf dem Gnadenhof verbringen müsste. Und nun hatte das arme Tier sogar noch einen Hieb mit der Gerte bekommen, was dem Wagenlenker jedoch nur ein kurzes Zucken mit dem struppigen Ponyschwanz einbrachte, aber nicht mehr an Eile.
„Keine Rücksichtnahme kennt diese Person!“, murmelte Bilbo verärgert. Wie „diese Person“ mit ihm selbst umspringt, war er gewohnt, aber dieses Verhalten hilflosen Kreaturen angedeihen zu lassen, war doch sehr … ungehörig! Aber was wollte man von einer Frau Lobelia Sackheim-Beutlin anderes erwarten?
Ergeben seufzend wandte er sich seiner Behausung zu. Es war eh nicht zu ändern!
Wer würde es schon wagen, eine Dame wie Lobelia deren Fehler aufzuzählen? Genau, niemand! Möglicherweise hatte sie ja auch ihre guten Seiten, die er jedoch noch nicht entdecken konnte. Aber die schlimmen Eigenschaften hatte er zuhauf schon an ihr finden dürfen. Würde man ihn fragen, welche ihm da so einfallen, könnte er eine ganze Liste aus dem Stehgreif herunter sagen und an erster Stelle würde ihre besserwisserische Rechthaberei stehen.
Und eben diese Charaktereigenschaft war es, die Bilbo gerade mal wieder so verärgerte!
Aber nun sollte ich wohl alles der Reihe nach erzählen, sonst kommen ja meine lieben Leser und Leserinnen komplett durcheinander:
Es war einmal ein Hobbit, der in einem Loch in der Erde hauste … dort lebte Bilbo lange Zeit zufrieden und glücklich. Das einzige Ärgernis, welches ihn von Zeit zu Zeit heimsuchte war besagte Lobelia Sackheim-Beutlin, die es sich in den Kopf gesetzt hatte, ihm das Leben so schwer wie nur möglich zu machen. Mindestens einmal im Monat kam sie auf ihrem Karren und dem davor gespannten Pony vor seine Tür gerollt, vorzugsweise mit ihrem Gemahl und dem ungeratenen Bengel von Sohn, den sie wohl als Einzigen in ihrem Leben abgöttische verehrte. Gemeinsam fielen sie in Bilbos Wohnhöhle wie ein Schwarm Heuschrecken ein und benahmen sich auch so. Sobald sie wieder das Weite suchten, waren seine Speisekammern und der Keller soweit geleert, dass es selbst die armen und genügsamen Feldmäuse vor Hunger fortgetrieben haben würde.
Eines Tages standen Bilbo die Verzweiflung und der Ärger über diese unverhofften Überfälle bis zum schmalen Kragen seines Hemdes und schlussendlich holte er aus dem Korb, in dem er immer das Papier und Anzündholz für den Kamin lagerte, das „Hobbinger Wochenblatt“ vom vergangenen Sonntag heraus. Auf der letzten Seite war ihm beim ersten Lesen des Blattes eine Anzeige aufgefallen. Eine ganz kleine, unten links in die Ecke gedrückt, als würde sie sich neben dem doppelt so großen Angebot für „neuartige“ Einkochhilfen verstecken wollen.
„Gärtner gesucht“ stand hier zu lesen, kein Wo und Wann sondern nur der Hinweis, sich bei Interesse an die örtliche „Presse“ zu wenden.
Unwillkürlich musste Bilbo bei dem Gedanken lachen, dass Lobelias Göttergatte wohl eher zur örtlichen Ölpresse gegangen wäre.
Mit schwungvoller Handschrift setzte er ein kurzes Schreiben an den Auftraggeber der Suchanzeige auf und gab dieses, sauber adressiert und ordentlich versiegelt sowie mit einigen Münzen für die Umstände versehen, einem Nachbarn mit, der an diesem Morgen nach Bree fahren und somit den Umschlag in die Welt hinaus mitnehmen wollte.
Und somit begann das Warten …
Ganze sechs Monate verstrichen, bis endlich eine Antwort bei Bilbo eintraf.
Während er die vergangenen Wochen versucht hatte, sich mit gärtnerischen Tipps und Tricks des Herrn Gamdschies in großem Maße einzudecken und die restliche Zeit wie auf Kohlen saß, so still saß er nun an seinem Schreibtisch, den Brief unberührt vor sich, als fürchte er sich vor dessen Inhalt. Mit den Worten „Es ist ein großer Schritt für einen Hobbit, aber ein sehr kleiner für einen Tuk!“, erbrach er schließlich das dunkelblaue Siegelwachs.
Es waren nur einige wenige Worte, die ihm in sauberen und eleganten Lettern regelrecht entgegenlächelten, auf welche er ebenso reagierte.
„Einladung!“ stand hier zu lesen und ließ sein Herz vor Freude hüpfen. Im nächsten Moment rutschte es ihm jedoch bis in seine behaarten Füße, als sein Blick auf die weiteren Worte fiel.
“Erebor“, murmelte er fassungslos. Nun war er zwar nie über die Grenzen des Auenlandes hinausgekommen, trotzdem wusste Bilbo, dass der Einsame Berg für ihn auch ebenso gut am anderen Ende der Welt liegen könnte. Viel zu weit entfernt und daher unerreichbar für einen kleinen Hobbit.
Zweifel sprangen ihn zu allem Überfluss nun auch noch an, ob er denn wirklich in der Lage wäre, als Gärtner sein Brot zu verdienen, wenn er sich denn dazu entschlösse, die Reise anzutreten!
Doch der nächste Morgen nahm ihm die Entscheidung ab, denn Lobelia stand mit ihrem hungrigen Anhang wieder vor seiner Tür.
Während sie sich über seine Speisekammern hermachten, packte Bilbo sein Bündel. Es war nicht viel, was er hinein tat, doch es würde ihm für die lange Reise reichen müssen. Zum Schluss schnürrte er die Decke obenauf, griff nach seinem Wanderstab und angetan mit seiner rostroten Jacke trat er vor Lobelia. Mit einem unbeschreiblichen Gefühl, welches zwischen Trauer, Glücklichsein, Angst und Erleichtung schwankte, drückte er der erstaunten Frau mit den Worten „Werde glücklich damit“ die Schlüssel zu seinem Smial in die Hand.
Zum ersten Mal in seinem Leben erlebte Bilbo sie sprachlos. Zu gern hätte er diese unbeschreibbare Miene weiter betrachtet, doch musste – nein, wollte - er nun gehen.
Ab Bree hatte er das große Glück, mit einem bewaffneten Händlerzug reisen zu dürfen, für welchen ein Koch händeringend gesucht wurde. Das Ziel der Händler war die große Handelsstadt Esgaroth im Langen See, von wo es nur ein Katzensprung bis zum Erebor sein würde.
Nach endlos erscheinenden Monaten langte Bilbo endlich im Einsamen Berg an und da gerade der Frühling vor den mächtigen Toren zum Zwergenreich stand, durfte er sich auch sofort an die ihm zugedachte Arbeit als Gärtner machen. Vom weißhaarigen Ratgeber wurde ihm der hochoffziellen Auftrag erteilt, die königliche Küche mit Obst und Gemüse zu beliefern und diese Aufgabe hatte den Hobbit fast bis an den Rand der Verzweiflung gebracht. Er hatte gesehen, dass sehr viele Zwerge in diesem Reich lebten und wie sollte er diese Arbeit allein bewältigen? Doch schluckte er den Schreck hinunter und nahm den Auftrag an, wie es einem Tuk anstand. Denn schließlich wird nicht alles so heiß gegessen, wie es gekocht wurde und dies bewahrheitete sich auch hier, denn ihm wurden Zwerge zur Seite gestellt, die ihm bei der Arbeit halfen.
Da sich in seinem alten Leben Großvater Gamdschie um seine Blumen- und Gemüsebeete gekümmert hatte, hatte Bilbo nie erleben dürfen, wie befriedigend das Beobachten des Wachsens und Gedeihens sein kann. Mit dem Wissen, welches der alte Herr ihm mitgegeben hatte, war er in kürzester Zeit zu einem wahren Meister des Gartenbaus geworden und er konnte sich dessen rühmen, nach und nach die steinige Einöde, die Smaug hinterlassen hat, wieder zu begrünen.
Dies teilte er auch eines Tages Herrn Gamdschie mit, mit welchem er eine rege Korrespondenz führte und in welcher sie auch Samen von besonders gelungenen Züchtungen austauschten. Doch dummerweise muss Lobelia sein großes Glück zu Ohren gekommen sein, denn nur fünf Jahre, nachdem Bilbo das Auenland und somit seinen herzallerliebsten Anhang hinter sich gelassen hatte, stand dieser vor seiner Tür und begehrte Einlass.
Vom ersten Moment ihrer Anreise nahmen die Neuankömmlinge ihre alten Verhaltensweisen wieder auf und nichts deutete darauf hin, dass es Änderung zum Auenland geben würde.
An einem wunderschönen sonnigen Morgen war sie dann auch mal wieder wie ein Unwetter über Bilbo hereingebrochen und hatte sich ganz einfach zu seinem zweiten Frühstück eingeladen. Dieses Mal allein, ohne Anhang. Während des Essens und Kauens und Schluckens redete sie. Von Dies und Das und Jenes sprach sie und erzählte auch, dass der Zwergenkönig krank wäre. Doktoren und viele gelehrte Männer wären bei ihm gewesen und ratlos wieder abgezogen, niemand war in der Lage, ihm zu helfen.
Bilbo interessierte sich nicht sehr für das Gerede Lobelias, trotzdem fragte er aus reiner Höflichkeit nach, was denn dessen Leiden wäre, woraufhin sie meinte: „Der König isst nichts und wenn er doch etwas zu sich nimmt, dann soll es nicht mehr als ein Fingerhut füllen, heißt es!“ Mit diesen Worten griff sie nach dem Erdbeerkuchen, von dem sie sich großzügig auf den Teller lud und obenauf geschlagene Sahne häufte.
Nach dem ersten großen Bissen, den sie sich mit Genuss auf der Zunge zergehen ließ, blickte sie Bilbo mit großen Augen an. „Der Kuchen ist eines Königs würdig!“, brachte sie schließlich hervor, nur um im nächsten Moment aufzuspringen und aus Bilbos Speisekammer einen großen Henkelkorb zu holen.
Sprachlos schaute Bilbo zu, wie all die Leckereien, von denen sich Lobelia zuvor reichlich bedient hatte, nach und nach in den Korb verschwanden. Gerade noch rechtzeitig, entriss er ihr eine geräucherte Speckseite. „Was machst du? Was soll das werden? Willst du jetzt etwa alles für deinen ungeratenen Sohn und Taugenichts von Mann mitnehmen?“
Lobelia sagte nichts zu seinen Worten sondern blickte ihn nur verständnislos an. „Hast du mir nicht zugehört, Bilbo?“, fragte sie ihn, wie man manchmal mit einem Kind spricht, welches nicht hören wollte, was gesagt wurde. „Der König ist krank! Und jeder, der das Unmögliche möglich macht, dass er wieder ißt, erhält eine Belohnung!“
„Und deshalb willst du ihm angeschnittene und angefressene Speisen vorsetzen?“, wandte Bilbo ein. „Das kannst du nicht machen! Der König wird dich fragen, wo die andere Hälfte abgeblieben ist!“
Seine Worte wurden aber von Lobelia abgewunken. „Was du schon wieder erzählst! Ihm werden doch niemals ganze Kuchen vorgesetzt, ebensowenig wie ein kompletter Räucherschinken!“
„Woher willst du das wissen, Lobelia?“ Zornig fuchtelte er mit dem Speck vor dem Gesicht der Frau herum. „Warst du schon jemals im Palast und hast dich bewirten lassen? Hast du gesehen, wie er speist? Nein, hast du nicht! Ich habe gesehen, wie ihm aufgetischt wird und da sind ihm keineswegs nur halbe Kuchen vorgesetzt worden!“
Mit einem hämischen Lächeln um die Lippen, griff Lobelia nach der Speckseite und entriss sie Bilbos Fingern. „Das wird sich ja zeigen, mein Lieber! Er wird mich wohl kaum wegen einem fehlenden Stück Kuchens in den Kerker werfen lassen!“
Was sollte der arme Bilbo nun noch dazu sagen? Also ließ er der guten Frau ihren Willen und seine Speisen und blickte ihr hinterher.
Am nächsten Morgen war Bilbo in den weitläufigen Gärten unterwegs, die sich am Fuß des Einsamen Berges erstreckten, als eilige Schritte auf den Kieswegen laut wurden. Erstaunt sah er zwei Angehörigen der königlichen Garde entgegen, die direkt auf ihm zukamen und schließlich vor ihm stehen blieben. Höflich grüßte er die Zwerge mit einem „Guten Morgen“, auch wenn er sich nicht ganz sicher war, ob der Morgen gut sein kann, wenn Wachen ihn bereits so früh am Tag aufsuchen.
Einer der Herren Zwerge grüßte ihn mit einem kurzen Nicken, während die Miene des anderen so hart wirkte wie der Stein, aus denen Aule sie geschaffen haben soll.
„Folgt uns, Herr Gärtner!“, schnarrte der Hartgesichtige und machte eine kurze Handbewegung in Richtung des Tores, welches sie in den Berg hineinführen würde.
„Was? Warum?“, stotterte Bilbo und blickte den freundlicheren Zwerg an. „Wohin wollt Ihr mich bringen?“ Doch von ihm kam ebenso wenig eine Antwort wie von dem anderen. Im nächsten Moment fühlte er sich erbleichen, als ihm ein Verdacht kam, den er aber nicht richtig in Worte fassen konnte. „Ist es wegen meiner Verwandten? Hat sie sich etwa dem König gegenüber unanständig verhalten?“
Ein verständnisloser Blick und ein verneinendes Kopfschütteln brachte Bilbo schließlich zum Schweigen und im nächsten Moment wurde er von einer Hand am Arm ergriffen. Nicht zu fest, aber doch so bestimmend und resolut, dass der Hobbit nicht anders konnte, als der freundlichen Aufforderung der Wache folge zu leisten.
Bisher hatte sich Bilbo nur in den Bereichen des Zwergenpalastes aufgehalten, welche für ihn als „Lieferanten des Hofes“ zulässig waren. Dort waren die Flure niedriger und schmaler sowie die Räume kleiner, in die er einen Blick werfen konnte, wenn eine Tür offen stand.
Nun wurde er durch Flure geführt, in denen die Echos seiner Schritte und jene der beiden ihn begleitenden Wachen von den polierten Steinwänden mehrfach zurückgeworfen wurden. Schmale Adern verschiedenfarbigen Erzes zogen sich durch das Gestein, aus welchem der Palast heraus geschlagen worden war. Gold- und silberfarbene Schlieren zierten Gemälden gleich die Mauern und gaben einen Eindruck vom verschwenderischen Reichtum, welcher noch immer im Inneren des Einsamen Berges schlummern mochte.
Obwohl er wieder und wieder das Wort an die beiden Zwerge gerichtet hatte, konnte Bilbo noch immer nicht heraus bringen, was geschehen war. Nur einmal hatte der Hartgesichtige ihn angeblickt und grimmig gemeint, dass der König nach ihm verlangt habe.
„Der König?“, war Bilbo voller Schreck entfahren. „Etwa Thorin?“
Bisher war er der Meinung gewesen, dass er zum Haushofmeister oder dem Ersten Ratgeber gebracht werden sollte … Aber zum König!
Größte Sorge machte sich in seinem Bauch breit und zwickte ihn gar schmerzhaft. Was wollte er von ihm? Was hatte ein kleiner Gärtner beim Herrscher des Zwergenreiches zu suchen?
Von den Wachen in den großen Thronsaal geschoben, stand Bilbo schließlich allein und mit schlackernden Knien vor dem stolzen König der Zwerge, welcher mit ernstem Blick auf ihn hinab blickte.
„So, so!“, sagte dieser nach einer Weile mit tiefer Stimme.
Bilbo kniff vor Angst die Augen zu, als könnte er sich in dieser Art unsichtbar machen. Doch es schien nicht zu helfen, denn schon sprach der König weiter und es war kein erstaunter Ausruf, wo denn der Hobbit abgeblieben sei. „Du bist also der Gärtner, der Unserem Palast nicht nur die Früchte der Erde liefert, sondern auch halbe Kuchen!“
Nun riss Bilbo die Augen weit auf und rang vor Entrüstung um Luft. Oh, diese Lobelia! Er hatte es ihr gesagt, dass es den König erzürnen würde!
Mühsam bemühte er sich um Ruhe, obwohl er dem Herrn auf dem Thron schon zu gern eine passende Antwort gegeben hätte. Demütig senkte er jedoch das Haupt und musste gleichzeitig spüren, wie ihm vor Ärger über diese schreckliche Situation die Röte in die Wangen schoss.
„Mein Hoher Herr“, begann er schließlich mit gesenktem Blick. „Verzeiht meiner Verwandten und mir, dass Euch Speisen vom Tisch eines armen Gärtners vorgesetzt worden sind! Doch sie wusste es nicht besser und wollte Eurer Majestät eine Freude bereiten wie sie meinte“, nahm er Lobelias Handeln in Schutz. „Und in ihrem Wahn war sie der Meinung, dass diese Speisen eines Königs würdig wären. Meine Einwände ließ sie nicht gelten, dass Euch nichts Halbes vorgesetzt werden würde, doch ließ sie sich nicht beirren!“ In einer hilflos anmutenden Geste hob er die Hände und blickte zum König auf, der ihn interessiert beobachtete. „Wenn sie durch ihre anmaßende Handlung in Eurem Kerker liegt, bitte ich Euch, Gnade walten zu lassen und sie frei zu geben.“
Mit Erstaunen sah Bilbo, wie die ernste Miene des Königs verschwand. Ein Lächeln schien an seinen Mundwinkeln zu zupfen bis schließlich sein tiefes Lachen den Saal erfüllte. „Du amüsierst mich, Gärtner!“, sagte er, noch immer mit einem leisen Lachen in der Stimme. „Wie kommst du auf den Gedanken, deine Verwandte würde im Kerker liegen? Ich gestehe, dass ich über ihr Auftreten und Gebahren sehr verärgert war und einige Tage im Karzer würden gewiss ihr Mütchen kühlen. Nein, diese Person hat, wie verkündet, ihren Lohn in Gold dafür erhalten, dass sie mir den Appetit und damit die Lust am Essen und Leben wiedergegeben hat und inzwischen dürfte sie auch wieder bei ihrer Familie sein.“
Einige Momente benötigte Bilbo, um die Worte Thorins zu erfassen und gleichzeitig hatte er das Gefühl, in einem Traum gefangen zu sein. So ganz anders als befürchtet entwickelte sich das Gespräch und schien auch eine Richtung zu nehmen, die er noch nicht recht ergreifen konnte. Zudem gefiel dem Hobbit dieser Zwergenkönig, der in seiner dunkelblauen Robe und der Krone auf dem nachtschwarzen Haar, welches wie von Mondstrahlsträhnen durchzogen war, sehr majetätisch auf ihn wirkte. Und das machte ihn nervös und regelrecht kribbelig, weil er noch nie zuvor solch ein Gefühl kennengelernt hatte.
„Ihr seid zu gütig, mein König!“, murmelte Bilbo nun, um seine Unsicherheit zu überspielen und auch weil er glaubte, sich im Namen Lobelias bedanken zu müssen. Ebenso wusste er nicht, wie und was er nach Thorins Worten anworten sollte. Nach einem tiefen Seufzer nahm er jedoch seinen ganzen Mut zusammen und stellte die Frage, die ihn beschäftigte. „Wenn Lobelia Euch von Eurem Leiden heilen konnte, was wünscht Ihr dann von mir, Hoheit?“
Wieder lachte der König, doch leise und warm, wie Bilbo fand. „Diese 'Dame' mag mich von meinem Leiden geheilt haben, doch die Medizin hat wohl jemand anderes zubereitet.“
Thorin hatte sich bei den Worten vom Thron erhoben, kam nun langsam auf den Hobbit zu und blieb vor ihm stehen. „Warum du hier bist? Nun gut, ich will es dir sagen: Du hast mich neugierig gemacht und ich wollte das wohl einzige Wesen in meinem Reich kennenlernen, welches sich mit solch einer von sich selbst eingenommenen Person verträgt und sie sogar vor ihrem eigenen Unglück zu bewahren sucht, auch wenn es bedeuten würde, alle Schuld auf die eigenen Schultern zu laden.“ Langsam begann der König, den Hobbit zu umrunden, die Hände auf dem Rücken verschränkt, als wäre er in Gedanken versunken.
Bilbo fühlte sich fast wie eine Eule, als er versuchte, Thorin nicht aus den Augen zu verlieren. Schlussendlich gab er dieses Unterfangen auf und hielt den Blick auf den Boden vor seinen Zehenspitzen gerichtet.
„Du hast vollbracht, wozu Ärzte, Doktoren und weise Männer nicht in der Lage waren“, hörte er in seinem Rücken die Stimme des Königs. „Du hast bewiesen, dass du schlau bist. Aber bist du auch so klug ein Rätsel zu lösen, welches ich dir stelle?“
Erstaunt wandte sich der Hobbit zu Thorin um. „Ein Rätselspiel?“
Nun war Bilbo ein typischer Hobbit, der nicht nur gutes und reichliches Essen sowie ein gemütliches Heim liebte, sondern auch ein manchmal kindliches Vergnügen darin finden konnte, sich mit allerlei Spielen den Tag zu versüßen. Und nichts war besser, als dieses Vergnügen mit einem Gewinn zu krönen. „Was ist der Einsatz, wenn ich Euer Rätsel lösen kann?“, war dann auch sogleich seine Frage.
Der König schien kurz überlegen zu müssen, bevor er antwortete. „Ich würde dich in Gold aufwiegen lassen.“
Unwillkürlich musste Bilbo schlucken, denn mit solch einem Angebot hatte er nicht gerechnet. Trotzdem blickte er Thorin ernst in die Augen, weil er im Glauben war, dass in diesen zu sehen sei, wenn es jemand ehrlich meinte. Doch konnte er in dem klaren Blau nur Interesse und Entschlossenheit lesen und schließlich nickte er zustimmend. „Wie lautet die Aufgabe?“
Langsamen Schrittes nahm Thorin seine Wanderung um den Hobbit wieder auf, bevor er zu sprechen begann:
„Morgen zur Mittagsstunde möchte ich, dass du im Palast erscheinst. Komme nicht gekleidet und nicht nackend, nicht geritten, nicht gefahren, nicht im Weg, nicht außerhalb des Weges und bring mir ein Geschenk, welches doch kein Geschenk ist!“ *)
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Die nächsten Stunden und die darauf folgende Nacht waren für Bilbo sehr unruhig und nervenaufreibend. Er fand für fast jeden Teil des Rätsels eine Lösung, nur für einen nicht. Erst in den frühen Morgenstunden, kurz bevor der Hahn krähend die ersten Sonnenstrahlen begrüßte, konnte er endlich auch diesen Teil lösen.
Um die Mittagszeit herum stand Thorin bereits auf seinem Balkon, von welchem aus er einen ausgezeichneten Blick auf die Zufahrt zum Erebor hatte. So recht hätte er es nicht zugeben wollen, aber es interessierte ihn doch sehr, ob und auch wie der Gärtner-Hobbit das Rätsel würde lösen können. Gerade wollte er sich in seine Räume begeben, wo zum Mittagsmahl aufgetischt wurde, als er eine seltsame Prozession um die Straßenbiegung kommen sah.
Die Augen mit der Hand beschattend versuchte er zu erkennen, was sich da seinen Palasttoren näherte. Doch schienen sie ihm einen Streich zu spielen, denn zu seltsam sah das Gefährt aus!
Um es besser in Augenschein nehmen zu können, eilte Thorin zum hohen Portal hinab, wo soeben die Tore geöffnet wurden.
Mit Erstaunen blickte er auf den Zug, welcher nun vor dem hohen Tor anhielt und nur noch dieses seltsame Gefährt, welches er an dessen Anfang gesehen hatte, auf ihn zukam
Nun konnte er auch erkennen, dass es keine Kutsche oder Wagen war, sondern zwei struppige Ponies. Zwischen ihnen schritt eine Person, in welcher er Lobelia erkannte, die die Tiere am Halfter auf ihn zuführte und diese vor ihm anhalten ließ. Mit hochrotem Kopf und einem geziert wirkenden Knicks in Richtung Thorins trat Lobelia zur Seite, um den Blick endgültig freizugeben.
Unwillkürlich musste sich Thorin abwenden, um in der Art sein Lachen zu verbergen. Zu seltsam und im ersten Moment komisch war das Bild, das sich ihm bot:
Zwischen den Ponies war ein Seil gespannt, auf welchem Bilbo saß und sich beidseits am Geschirr der Tiere festhielt. Gekleidet war er in ein Fischernetz, in welches er sich bis an die Brust gewickelt hatte, so dass Arme und Schultern nackt waren, ebenso wie die behaarten Füße, deren Zehen gerade noch den Boden berührten.
„Wie ich sehe, kommst du zur festgesetzten Stunde“, sagte Thorin nach einer Weile, in der er den Aufzug des Hobbits betrachtete und darum bemüht war, seine Fassung wiederzuerlangen. „Und wie es scheint, hast du versucht, das Rätsel zu lösen.“
„Wie Ihr seht, Majestät, komme ich nicht gefahren und nicht geritten.“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht erhob sich Bilbo von seinem unbequemen Sitz und deutete auf die Leute, die ihn bis zu den Palasttoren begleitet hatten. „Diese guten Menschen und Zwerge können bezeugen, dass ich nicht im und nicht außerhalb des Weges war, als die guten Tiere mich hierher brachten, sondern mich stets in der einen Wagenspur hielten. Und wie Ihr mit eigenen Augen sehen könnt, bin ich weder nackend noch gekleidet.“ Dabei zupfte er leicht an seinem seltsamen Gewand, durch welches an manchen Stellen die blanke Haut hindurch lugte.
Langsam nickte Thorin, betrachtete den Hobbit vor sich. „Was ist mit dem letzten Teil des Rätsels? Dem Geschenk?“
Nun winkte Bilbo eilig nach einem Jungen, der etwas in den hohlen Händen trug. Der Hobbit nahm ihm dieses ebenfalls mit vorsichtigen Händen ab und wandte sich dem König wieder zu. „Der letzte Teil Eures Rätsels: Ein Geschenk, welches keines ist!“
Erwartungsvoll blickte Thorin auf die verschlossenen Hände und fragte sich, was denn wohl in ihnen verborgen sein mochte. Fast erschrocken zuckte er jedoch zurück, als sich die Finger öffneten und einen Vogel freigaben. Sofort flatterte dieser auf und davon und ließ einen überrascht blickenden König zurück.
„Euer Geschenk, Majestät!“, hörte er die Stimme des Hobbits.
Ein zufriedenes Lachen entrang sich der breiten Zwergenbrust Thorins und wohlwollend blickte er auf Bilbo hinab. „Du hast mein Rätsel zu meiner vollen Zufriedenheit lösen können, Gärtner, und du gefällst mir. Noch nie habe ich ein Wesen Mittelerdes kennengelernt, dass mich so sehr fasziniert und interessiert hat, wie du.“ Abwartend und ernst klang seine Stimme, als er weitersprach.
„Anstatt dem Gold biete ich dir an, als mein Gefährte bei mir im Erebor zu bleiben.“
Nun war es an Bilbo, erstaunt den König anzublicken. Ihm gefiel dieser Zwerg ausnehmend gut, doch hätte er nicht gedacht, ein solches Angebot von ihm zu erhalten. Dementsprechend zögerte er auch, Thorin seine Antwort zu geben.
Aber andererseits: Wo wäre er heute, wenn er immer die Sicherheit in seinem Leben gewählt hätte?
Genau, in seinem Smial in Hobbingen.
Eine Stunde später war Bilbo gesittet gekleidet, wie es sich für einen ordentlichen Hobbit gehörte und saß am Mittagstisch, der nicht so wirkte, als hätte der König noch bis zum gestrigen Tage unter mangelndem Appetit gelitten.
Unsicher blickte er auf den beeindruckenden Mann, welcher am anderen Ende der langgestreckten Tafel saß und gerade über all die Speisen, die dort aufgetischt worden waren, zu ihm herüber lächelte.
Bilbo versuchte, das Lächeln zu erwidern, doch bemerkte er, dass es ihm etwas missglückte. Zudem machte der Abstand zu seinem Gegenüber es ihm unmöglich, ein Gespräch zu beginnen … oder sollte er warten, bis der König das Wort an ihn richten würde?
Zögernd berührte er mit den Fingerspitzen das goldfarbene Besteck, welches so ganz anders in der Hand liegen würde als jenes, das er sein Eigen nennen konnte. Der Teller vor ihm leuchtete geradzu im Weiß des zartesten Porzellans und war nicht mit den teilweise schon abgenutzten Farben seines heimischen Steingutes zu vergleichen. Wenn er schon bei den täglichen Dingen zögerte, diese zu gebrauchen, wie sollte er dann der Gefährte eines Königs sein, der in diesem gewaltigen Palast leben würde? Wie sollte er hier leben mit all dem Reichtum um sich herum?
Ein leiser Seufzer entrang sich ihm. Worauf hatte er sich nur eingelassen?
Noch am Morgen, lange vor den Zeiten, zu denen man üblicherweise seine Besuche machte, hatte er bereits vor Lobelias Tür gestanden und sie darum gebeten – nein, von ihr verlangt - dass sie ihm gefälligst bei der Lösung des Rätsels zu helfen habe, da sie ja schließlich an der Gesamtsituation schuldig sei.
Über den fordernden Ton Bilbos hatte sie erbost um Luft ringen müssen, jedoch bei der Aussicht, dass Bilbo in Gold aufgewogen werden würde, mit glänzenden Augen nachgegeben. In aller Eile hatte sie Sohn und Mann geweckt, welche sich auch umgehend auf die Suche bzw. den Fang des „Geschenkes“ machen sollten.
Lobelia höchst selbst eilte zum Nachbarn, um sich dort deren Pony zu borgen. Ebenso beflissen band sie die beiden Tiere mit dem Seil zusammen, während Bilbo aus seinen Sachen stieg und sich in das ebenfalls geliehene Fischernetz wickelte. Nur bei der Aussicht, die Ponies führen zu müssen, widersprach die resolute Frau vehement, doch schließlich gab sie sich dem Drängen Bilbos und wohl einem kleinen Stückchen schlechtem Gewissen geschlagen.
Glücklicherweise war es ein frühsommerlicher Tag, an welchem die Sonne bereits am Vormittag warm vom Himmel strahlte. So musste Bilbo nicht Gefahr laufen, sich eine arge Erkältung zuzuziehen, während er auf seine Verwandschaft wartete. Trotzdem bibberte er leicht, als Vater und Sohn endlich den Weg entlang kamen und dabei recht zufrieden aussahen.
Doch es könnte auch an der inneren Anspannung liegen, dass ihm die Zähne aufeinander schlugen.
Von dem Weg, den Bilbo von Lobelias kleinem Häuschen zum Erebor zurück gelegt hatte, war ihm nicht mehr allzuviel im Gedächtnis verblieben. Zu sehr schien er darauf konzentriert zu sein, sich auf dem Seil zu halten, welches schmerzhaft drückte und das Sitzen fast unmöglich machte. Zudem hatte er auch Lobelias Kehrseite direkt vor Augen.
So der Sicht auf die Umgebung beraubt, machte es ihm unmöglich abzuschätzen, wie schnell sie vorankamen und ob er es noch rechtzeitig zur vereinbarten Zeit schaffen würde.
In der Zwischenzeit hatte sich auf der Dorfstraße schnell ein kleiner Zug gebildet, der Bilbo begleitete und im Geheimen hoffte er, dass niemand von ihnen auf den Gedanken käme, mit Pauken und Trompeten sein Kommen zu verkünden.
Und dann stand er vor ihm ...
„So schwere Gedanken?“
Erstaunen zeichnete Bilbos Gesicht, als dieser aufblickte. Ihm war wohl nicht bewusst gewesen, dass sein Seufzen bis zum König gedrungen sein könnte.
„Es ist nichts!“, versuchte der Hobbit auch sofort abzuwinken. „Ich muss wohl in Gedanken gewesen sein.“ Doch wirkten die Stimme und seine Bewegung so niedergeschlagen, dass Thorin dem keinen Glauben schenken wollte. Mit einer leichten Handbewegung befahl er einen bediensteten Zwerg herbei, gab ihm leise seine Anweisungen und erhob sich dann von seinem Platz.
Nur wenige Minuten später waren sein Gedeck und der Stuhl zur Rechten Bilbos gerichtet, welcher alles mit überraschter Miene beobachtete.
Mit den Worten „Nun können wir uns unterhalten, ohne den Berg zusammenbrüllen zu müssen“, ließ sich Thorin auf dem Platz nieder und auch ohne weitere Umstände griff er nach der Schüssel mit Salat und tat davon dem Hobbit davon auf. „Ich habe gehört, dass ein Hobbit fast stündlich eine Mahlzeit zu sich nimmt. Wenn dem so ist, dann müsstest du bereits verhungert sein, denn ich glaube nicht, dass du heute etwas zu dir genommen hast.“ Ohne auf ablehnende oder zustimmende Worte Bilbos zu achten, sprach Thorin weiter, während er ihm Fleisch, Kartoffeln und Soße auf den Teller häufte. „Ich fände es schrecklich, wenn du bereits am ersten Tag in meinem Palast einen Schwächeanfall wegen Hungers erleiden würdest.“
Unwillkürlich musste Bilbo lächeln. Zu angenehm erschien ihm die Sorge des Königs um sein Wohl und die Art, wie er dies zeigte, war herzerwärmend.
„Verzeiht mir, Hoheit, dass ich kein geeigneter Gesellschafter bei Tisch bin“, entschuldigte er sich schließlich. Die Finger im Schoß nervös ineinander verschlungen, nahm er seinen Mut zusammen und blickte Thorin offen an. „Es ist alles sehr ungewohnt und fremd für mich. Zudem weiß ich nicht, wie bei Eurem Volk die Bedeutung eines Gefährten gewertet wird.“
Thorin hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt. „Was wird beim Volk der Hobbits als Gefährte angesehen?“, fragte er nach einigen Augenblicken, in denen er nachzudenken schien.
„Ich weiß nicht, ob es im Auenland jemanden gab, der dieser Bezeichnung gerecht geworden wäre“, beginnt Bilbo zögernd und nach den richtigen Worten suchend, „doch ist ein Gefährte für mich jemand, der sich dazu berufen fühlt, einen großen Teil eines Weges mit jemandem zusammen zu gehen. Also, ich meine nicht nur eine bestimmte Strecke, sondern auch eine gewisse Zeit des Lebens miteinander verbringen.“
„Was würden sie miteinander teilen?“, fragte der König, nun interessiert vorgebeugt.
Bilbo zuckte die Schultern. „Gedanken, Erinnerungen, Probleme.“
Thorin lächelte nur leicht und lehnte sich wieder zurück. „Ich mag dich, Bilbo, sehr sogar und es würde mich freuen, wenn du deine Gedanken und Probleme mit mir teilen würdest.“
Wieder trifft Thorin ein erstaunter Blick aus haselnussbraunen Augen. „Du willst dich wirklich mit Lobelia herum ärgern?“
Die folgenden Wochen und Monate vergingen ruhig.
Thorin ging seinen täglichen Geschäften nach und Bilbo war in den königlichen Gärten zu finden. Die Tage verbrachte der Hobbit wie er es gewohnt war, nur dass er sein kleines Garthäuschen gegen eine eigene Zimmerflucht im Palast des Zwergenreiches getauscht hatte und sich auch um die Bereitung der täglichen Speisen nicht mehr sorgen musste. Jedoch hielt sich die Kälte hartnäckig im Zwergenpalast, unter der Bilbo arg zu leiden hatte. Als Kind des grünen Auenlandes hatte er sich nie recht an die Temperaturen am Erebor gewöhnen können und dies merkte er besonders im Frühjahr und Sommer, wenn vor den hohen Fenstern alles grünte und er selbst am liebsten im dicken Wintermantel durch die Flure geeilt wäre.
Thorin nahm darauf Rücksicht und so saßen sie nach dem abendlichen Mahl häufig vor dem von lustig flackernden Flammen erhellten Kamin beisammen. Gern erzählte der König dann von den Ereignissen seines Tages und fragte Bilbo häufig nach dessen Meinungen und seinen Ratschlägen.
Auch der Hobbit genoss diese gemütlichen Abende. Er fühlte sich gewertschätzt und das Wissen, dass es jemanden gabe, der Wert auf seine Ansichten legte und sie sogar berücksichtigte, erwärmte ihm das Herz. Viel zu schnell, nach seiner Meinung, fühlte er sich im riesigen Palast der Zwerge heimisch.
Und doch war da immer etwas, was ihm fehlte. Es war nur ein Gefühl und er hätte niemals den Finger darauf legen können, um zu sagen: „Ja, das ist es, was mir zu meinem Glück noch fehlt!“
Nach einem verhältnismäßig warmen Sommer hielt der Herbst mit einer reichen Ernte seinen Einzug. Ihm zu Ehren wurde ein alljährlicher Markt direkt vor den Toren des Einsamen Berges abgehalten, welcher der Zwergenkönig mit einigen freundlichen Worten und einem Rundgang eröffnete. Selbstverständlich begleitete Bilbo Thorin und war so immer an dessen Seite zu finden.
Schließlich gelangten sie zu einem Ochsenbauern und einem Bauer mit seinem Pferdefuhrwerk, welche sich lautstark um ein Fohlen stritten, das bei den Ochsen lag.
„Was ist hier los?“, fragte Thorin die beiden Männer, die sich sofort dem König zuwandten und von ihm eine Lösung für das Dilemma erhofften: Der Bauer erzählte, dass seine Stute das Füllen geboren habe, doch durch die Umstände auf dem Markt habe es sich unter die Ochsen gelegt.
Dem widersprach der Ochsbauer und erklärte mit einem siegessicherem Lächeln, dass es schlimm und schrecklich wäre, wenn ein Bauer so wenig Rücksicht auf seine Tiere nähme und diese, trotz ihrer angeblichen Trächtigkeit, einer solchen Anstrengung aussetze und zudem „liegt das Füllen unter dem Ochsen und ist demnach von ihm geboren worden!“
Thorin konnte sich der Beredsamkeit und logisch erscheinenden Bauerschläue des Ochsbauern nicht entziehen und stimmte dem zu. Zum Schluss entschied er, dass das neugeborene Füllen dem gehöre, bei dessen Tieren es liege.
Als Bilbo dieses Urteil hörte, zog er nur erstaunt die Augenbrauen hoch, wagte es jedoch nicht, Thorin vor seinem Volk zu widersprechen. Doch trat der Bauer an ihm heran, da er gesehen hatte, dass Bilbo wohl eine andere Meinung vertrat.
„Mein Herr“, begann der Bauer zögernd. „Ihr wurdet mir als klug und mitfühlend beschrieben. Nun hoffe ich sehr, dass Ihr mir einen Rat geben könnt, da ein Fohlen bei der Stute sein sollte, damit es wachsen und gedeihen kann.“
Kurz überlegte Bilbo. „Ich gebe Euch einen Hinweis, wie Ihr verfahren könnt, jedoch ist es an eine Bedingung geknüpft. Verratet unter keinen Umständen, wer Euch den Rat gab!“
Der Bauer stimmte dem eilig zu und beugte sich zum Hobbit herab, um auf dessen geflüsterte Worte lauschen zu können.
Um die Mittagszeit des kommenden Tages spazierte Thorin die gepflegten Wege der Gärten entlang, als er eines seltsamen Anblicks gewahr wurde: Ein Mann warf auf dem trockenen Sand ein Fischernetz aus, um es wieder einzuholen. Es schien, als würde er aus dem Netz etwas herausnehmen, um es in den hölzernen Bottich zu legen.
„Was machst du hier? Fischen in meinem Garten? Auf dem Trockenen?“, fragte Thorin und trat näher, um einen Blick in den mit Wasser gefüllten Bottich zu werfen. „Ihr habt tatsächlich Fische in dem Eimer!“
„Ja, Herr. So, wie ein Ochse ein Füllen werfen kann, kann ich auf dem Trockenen Fische fangen!“, antwortete der Mann, um ein weiteres Mal, das Netz auszuwerfen.
Thorin wusste sofort, woher der Wind wehte und wer dem Mann die Worte in den Mund gelegt hatte. Mit langen Schritten eilte er die Wege entlang, die ihn zu Bilbo führen würden. Zornig funkelten seine Augen, als er an den Beeten vorbeischritt, doch sah er nichts von der blühenden Fülle, die ihn umgab.
Schließlich stand er vor Bilbo und beim Anblick des Hobbits schien aller Zorn verraucht. Nur noch das Gefühl von Enttäuschung erfüllte ihn. „Warum?“, fragte er deshalb nur und erkannte an den Augen des anderen, dass dieser die einfache Frage verstanden hatte und wusste, worauf sie sich bezog. „Warum bist du so falsch zu mir? Ich will dich nicht mehr um mich haben!“, setzte er hinzu, ohne Bilbo die Möglichkeit einer Rechtfertigung zu lassen. „Kehre dorthin zurück, woher du gekommen bist!“ Doch erlaubte er dem Hobbit etwas mitzunehmen, welches ihm das Liebste und das Beste erschien.
Bilbo nickte nur verstehend, da er bemerkte, dass jegliche Widerworte und Rechtfertigungen nur den Ärger des Zwerges weiter schüren würden. „Gib mir bis zum Abend Bedenkzeit, was mir das Liebste und Beste ist, dann werde ich den Palast verlassen.“ Bittend blickte Bilbo zum König auf, der den Wunsch schwerlich abschlagen konnte.
Am Morgen des nächsten Tages blickte sich Thorin erstaunt um. Wo war er?
Das Licht, welches durch das Fenster drang, wirkte ganz anders, als er es gewohnt war. Auch die Bettwäsche roch anders und fühlte sich nicht so glatt auf seiner Haut an.
Gedämpfte Geräusche waren zu hören, die er nur schwer zuordnen konnte, jedoch schließlich als das Klappern und Klirren von Geschirr und Besteck erkannte.
Gerade öffnete sich leise kranzend die Tür. „Guten Morgen wünsche ich“, kam es geradezu fröhlich von Bilbo. „Ich hoffe, dass du gut geschlafen hast?“
Leicht verwirrt nickte Thorin während er sich aufsetzte. „Wo bin ich und wie komme ich hier her?“
Der Hobbit zuckte im Gegenzug leicht mit den Schultern. „In meinem Häuschen!“, meinte er, als wäre dies der einzige Ort, an dem sich der König aufhalten sollte. „Und mit etwas Mohnsaft, der dich hat tief und fest schlafen lassen sowie den richtigen Zwergen, die einem armen Hobbit gern behilflich sind, kann man viel erreichen!“ Erzählte Bilbo weiterhin fröhlich während er die bunten Vorhänge aufzog und das Fenster öffnete, um die klare Herbstluft hereinzulassen.
„Warum hast du mich hierher bringen lassen?“ Thorin musste die Frage stellen, obgleich er sich die Antwort darauf bereits denken konnte. Doch es erwärmte ihm um so mehr das Herz, als Bilbo dies mit den nächsten Worten und einem frech wirkenden Lächeln bestätigte: „Mein lieber Herr König! Du hast mir erlaubt, dass ich das Liebste und das Beste aus dem Schloss mitnehmen darf. Nun habe ich nichts Besseres und Lieberes als dich und aus diesem Grund habe ich dich mitgenommen.“
Erstaunt und sprachlos blickte Thorin den Hobbit an. Schlussendlich zuckte ein Lächeln um seine Lippen und auch über sein Gesicht. Geradezu zögernd griff er nach Bilbos schmaler Hand.
„Vor einiger Zeit hatten wir uns über die Bedeutung des Gefährten unterhalten und nun benennt dieses Wort bei uns Zwergen ein ähnliches Verhältnis, nur mit mehr Freiheiten“, begann Thorin zögernd. „Seit du in mein Leben getreten bist ist es bunter für mich geworden und mir wurde immer bewusster, wie sehr ich dich mag und allein das Wissen, dich zu verlieren, schmerzte mich zutiefst.“ Ehrlich blickte Thorin den Hobbit an und dieser spürte, dass der König tief von seinen Gefühlen bewegt war, als er weitersprach. „Ich bitte dich von Herzen als mein geliebter Gefährte mit mir in den Berg zurückzukehren.“
Bilbo spürte, dass es das war, was er sich am sehnlichsten wünschte und doch nie recht zu benennen gewusst hatte. So stimmte er dem mit frohem Herzen zu.
Nach einem Tag der Versöhnung kehrten der König und sein Gefährte in das Reich der Zwerge zurück … und dort werden sie ja wohl noch auf den heutigen Tag leben.
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Tag der Veröffentlichung: 06.03.2016
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