Noch ist lang nicht an die nächtliche Ruhe in den großen Hallen und weitläufigen Fluren des Erebors zu denken, welche in allabendlichem Glanz erstrahlen. Immer wieder klappen irgendwo Türen, eilige Schritte ertönen und ab und an sind Geräusche zu vernehmen, wie sie in jedem anderen Haushalt wohl auch zu hören sind. Doch bald verklingen wie an jedem Abend diese Töne, werden zu Echos, die in den Höhlen und Stollen des Einsamen Berges widerhallen. Lichter, welche die heraufziehende nächtliche Dunkelheit verbannten, werden nun nach und nach gelöscht. Schatten erheben sich voll böser Erinnerungen in den tiefen des Berges, wachsen mit dem Verlöschen der Lichter, fließen von den hohen Deckengewölben herab. Sie umschlingen die Säulen, gleiten an ihnen hinab und kriechen über die steinernen Böden, stets dem Licht folgend und doch außerhalb dessen Reichweite.
Ein Sperr aus Licht zerschneidet unvermittelt die Finsternis und lautes Kinderlachen lässt die Schatten zurückzucken. Ausgelassene Fröhlichkeit hallt für wenige Echos durch die Flure und vertreibt die Erinnerungen aus Mühsal und Pein, welche sich in den kleinsten Ritzen des Berges eingenistet haben. Es lässt einen kurzen Blick auf das Leben zu, wie es im Volk der Zwerge leider nicht allzu häufig angetroffen werden kann und daher umso sorgsamer beschützt wird.
Was dort hinter verschlossenen Türen wie ein Augapfel behütet wird? Die Kinder des Hauses Durin, die Erben des steinernen Thrones Erebors, die Hüter des Arkensteins! Die nächste Generation wächst hier auf, geborgen in dem Wissen um die Liebe ihrer Eltern und gleichsam trotz ihrer Jugend voller Respekt für sie und ihrem Großvater, König Thror II.
Dieser hat sich dazu herab gelassen, an diesem Abend die drei Erben zu hüten, was wahrlich keine alltäglich Aufgabe ist. Viel zu sehr nehmen ihn derzeit die Geschäfte in Anspruch. Insbesondere die nervenaufreibenden Verhandlungen mit Thranduil, dem Waldlandkönig, oder den Stadträten von Esgaroth zerren an seinen Nerven. Einzig die Stadt Thal mit ihrem Fürsten Girion verhält sich ruhig, wohl weil noch vor dem Mittwinterfest ein Handelsabkommen geschlossen wurde, bei welchem sich die Menschen im Vorteil fühlen.
Leise lächelnd lässt sich der König unter dem Berg in den Sessel sinken, welcher vor dem Kamin steht und in dem lustig ein Feuer lodert. Felle und Kissen sind davor ausgelegt und das Glutgitter ist zur Seite gestellt worden, so dass man einen ungehinderten Blick auf die Flammen hat. Von drei jungen Zwergen, die auf den Fellen hocken, werden Winteräpfel an langen Spießen über den Flammen geröstet. Ein heimeliges Bild ist es, welches sich ihm bietet, voller Wärme und goldener Erinnerungen, die sein Herz überquellen lassen und denen man gern in Gedanken nachhängen möchte.
„Großvater! Thorin schubst meinen Apfel immer aus den Flammen raus!“, durchdringt die süße Kleinmädchenstimme von Dís die Stille. „So kann ich ihn nicht braten!“ Mit ernstem Blick hat sie sich zu ihm umgewandt und wartet, dass er sich dazu äußern wird. Ungnädig verzieht sie die kleine Stupsnase, als er nicht sofort reagiert. Ein Seufzen entring sich dem König. In gewisser Weise sind die Verhandlungen mit Thranduil einfacher, als mit diesem Wildfang!
„Thorin, nimm Rücksicht auf deine kleine Schwester“, sagt er schlussendlich, doch nicht mit dem notwendigen Ernst, welcher in einer echten Rüge zu finden wäre. Trotzdem erklingt gleich darauf das leise und genervt klingende „Ja, Herr!“ des jungen Zwergen.
Wieder huscht ein Lächeln über das alte Gesicht des grauhaarigen Königs. Ja, er ist schon richtig geraten, der Thorin. Schon jetzt mit seinen erst achtzehn Sommern ist er aufrecht und stämmig wie ein Monolith, so dass Wind und Wetter ihm kaum etwas anhaben könnten. Haare in der Farbe des Obsidians und die Farbe der Augen so wechselhaft wie das Wasser des Langen Sees. Häufig erstrahlen sie wie das widergespiegelte Blau des klaren Himmels, zu manchen Zeiten auch grau wie der sturmgepeitschte See.
Manchmal tut ihm der Junge direkt leid, denn als ältester der drei Kinder Thrains hat er kein gutes Los gezogen. Die jüngeren Geschwister Frerin und besonders die kleine Dís nutzen seine Gutmütigkeit reiflich aus. Aber gleichermaßen wird er dafür von den beiden geliebt. Geradezu abgöttisch himmeln sie ihn an.
Es tut dem alten Herzen gut, die drei vor dem Kamin einträchtig nebeneinander sitzen zu sehen: In der Mitte Thorin und an dessen Seiten die Geschwister, die sich gegen ihn lehnen. Jeder anscheinen darin versunken, seinen Apfel zu beobachten, der über der Flamme langsam röstet.
Unwillkürlich wird Thror von Frerins jungenhaften Stimme aus seinen Betrachtungen gerissen. „Großvater, erzähle uns eine Geschichte!“
Dem Wunsch schließt sich auch Dís an, die in ihrer Begeisterung über diese wunderbare Idee fast ihren Spieß ins Feuer hat fallen lassen und ihn gerade noch rechtzeitig abfangen konnte. „Ein Märchen!“, bekräftigt sie mit heftigem Nicken, so dass ihre Locken ihr fast um den Kopf fliegen und schiebt noch ein herzerweichendes „Bitte!“ hinterher.
„Der Kampf um Eregion“, fordert Frerin und wird von Dís dafür mit einem bösen Blick bedacht.
„Ich will ein Märchen!“
„Pffff“, macht der Zwergling abwertend. „Märchen sind Mädchenkram!“
Rosarot leuchtet die Zunge, die sich Frerin spöttisch entgegenstreckt. „Du bist doof, Frin!“, gibt sie ihm Bescheid. „Ich bin ja auch ein Mädchen!“
„Nun mal Ruhe, ihr beiden!“, herrscht Thror die Streithähne an. „Was sagt denn Thorin dazu?“
Dieser zieht überlegend die Augenbrauen zusammen. „Ich hätte gern eine neue Geschichte, etwas, was noch niemand kennt!“
Thror bläst ganz unköniglich die Backen und blickt dabei in Gesichter, die ihn gleichermaßen voller Begeisterung, Freude und auch Skepsis beobachten.
„Kann es sowas geben?“, fragt dann auch gleich Frerin voller Interesse. „Ich meine, wenn sie keiner kennt, woher willst du dann wissen, dass es sie gibt?“
Der König beugt sich vor, als wolle er dem Jungen ein Geheimnis anvertrauen und flüstert dann in die fast greifbare Stille zwischen ihnen: „Wir denken sie uns einfach aus!“
„Ich möchte aber ein Märchen!“, schmollt sie, dabei ihren Apfel schwingend, so dass Thorin unwillkürlich den Kopf einziehen muss.
Nachdenklich kratzt sich der König an der Nasenspitze. „Nenn mir das Märchen, welches du gern hören willst und ich sage dir dann, was ich euch erzählen werde!“
Nun ist es an Dís, sich überlegend an der Nase zu reiben. Die Geste ist der des Großvaters so ähnlich, dass Thorin ein Schmunzeln verbeißen muss.
„Na, das Märchen mit den großen weißen Vögeln“, beginnt sie unsicher.
„Waren das Störche oder Schwäne?“, fragt der König schmunzelnd nach.
Sogleich hellt sich das Gesicht vor ihm auf. „Schwäne!“, jubelt sie. „Es waren Die sieben Schwäne!“
„Ahh, ein wunderschönes Märchen, welches du dir da ausgesucht hast, meine Kleine!“ Nachdenklich senkt Thror kurz den Blick, bevor er sich den Kindern wieder zuwendet. „Wir machen ein Spiel! Ich erzähle das Märchen, aber immer, wenn etwas besonderes geschieht, dann müsst ihr mir helfen!“ Zustimmend nicken Frerin und Dís, nur Thorin hat seinen Blick noch immer auf seinen Apfel geheftet, der inzwischen rundherum goldbraun gebacken ist. Jedoch ein Knuff Frerins in seine Seite lässt ihn aufblicken und schlussendlich nickt er ebenfalls.
„Also gut, meine Lieben! Bevor wir beginnen, verputzt ihr eure Äpfel und ich lasse uns frischen Tee und noch etwas Gebäck bringen!“
Nur eine halbe Stunde später sitzen drei aufmerksame Zuhörer auf einen Berg aus Kissen und Fellen zu Füßen des Königs unter dem Berg und lauschen gespannt darauf, was er ihnen zu erzählen hat.
Das dicke Märchenbuch hat Thror auf den Knien abgelegt, blättert andächtig durch die Seiten.
Argwöhnisch betrachtet Dís das Buch, dessen Kanten bereits abgegriffen sind und der Goldschnitt an manchen Stellen bereits dunkel erscheint und so vom häufigen Gebrauch kündet. »Großvater! Du wolltest uns eine Geschichte erzählen und nicht vorlesen!«
Bequem lehnt sich der König in den Sessel zurück, zwinkert dem Zwergenmädchen lächelnd zu. »Verzeih einem alten Zwergen! Mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut, wie das von euch, daher nehme ich das Buch nur als Stütze für meine Gedanken!«
In einer gnädigen Geste lässt Dís ihre Locken wippen und erklärt großmütig: »Es sei Euch gewährt!«
»Ich danke Euch!«, erklärt Thror in einem Ton, als würde er mit einer hochgeborenen Dame sprechen, was dem kleinen Mädchen ein leises Kiechern entlockt.
Frerin hat sich in den Kissen gemütlich ausgestreckt und die Schüssel mit dem Gebäck zu sich heran gezogen. Nach und nach verschwindet ein Keks nach dem anderen in seinem Mund. Neben ihm thront Thorin im Schneidersitz auf den Decken, ab und an die Hand nach der Gebäckschüssel ausstreckend und sich eine handvoll daraus nehmend.
Erwartungsvoll blicken sie zum König unter dem Berg auf, der sich leise räuspert und sich dem aufgeschlagenem Buch auf seinem Schoß zuwendet, wo ihn in kunstvoll gezeichneten Buchstaben eine neue Geschichte erwartet.
In einem fernen Lande lebte ein junger König, der war reich und schön und Herr über ein prächtiges Schloss. Gern ritt er mit der Hundemeute in den nahen Wald, um zu jagen. Dort traf er eines Sommertages auf einen weißen Hirschen, welcher in weiten Sprüngen davon eilte, als er des Königs ansichtig wurde. Dieser hetzte dem edlen Tier hinterher, verschoß Pfeil um Pfeil, doch verfehlte er ihn stets. Erst in einem dunklen Tal verlor sich die Spur des Hirschs und auch die Hunde fanden sie nicht wieder.
In seiner Verzweiflung ritt der König hin und her und gelang schlussendlich an einen schmalen Fluss, an dessen Ufer sah er ...
»... einen Hobbit!«, wirft Dís ein.
»Warum einen Hobbit?«, erkundigt sich Thror erstaunt. »Es ist eines der unwahrscheinlichsten Wesen, die es in Mittelerde gibt.«
Zustimmend nickt Thorin. »Ja, ebenso unwahrscheinlich wie weiße Hirsche.«
»Ich mag Hobbitse!«, erklärt das Zwergenmädchen mit erhobener Stupsnase. »Sie sind niedlich, auch wenn sie furchtbar haarige Füße haben!«
Lächelnd nickt der weise König und wendet sich dem Buch wieder zu. »Ahhh!«, macht er jedoch gleich darauf und blickt auf seine jungen Zuhörer. »Wie könnte denn der Name des Königs sein?« Nachdenklich kratzt er sich an der Nase.
»Thorin!«, platzt Frerin kauend heraus und schiebt sich ein weiteren Keks in den Mund.
Ein weiteres Mal nickt Thror. »Nun muss noch der Hobbit einen Namen bekommen.«
Hilflos mit dieser Aufgabe blicken sich die Geschwister an.
»Gregor!«, schlägt Frerin vor und Dís sagt »Bilbo.«
Thorin zuckt unbestimmt mit den Schultern. »Micha« ist schließlich sein Vorschlag.
»So viele gute Namen!«, murmelt Thror mit einem Auge lustig zwinkernd. »Wollen wir mal schauen, für welchen ich mich entscheiden werde!«
... an dessen Ufer sah er einen Hobbit, welcher sich im ruhigen Uferwasser wusch. Im Näherkommen entdeckte Thorin auf den abgelegten Sachen des Badenden eine goldene Kette, die der König an sich nahm und sodann still und heimlich dieses Wesen beobachtete, das ihn mit seiner zarten Art bezauberte.
Als der Hobbit seine Blöße schlussendlich wieder bedeckt hatte, trat Thorin aus seinem Versteck hervor. »Du gefällst mir sehr«, sprach er freundlich den Erschrockenen an. »Verrate mir deinen Namen und folge mir in meine Burg!«
Da der Hobbit in einer kleinen Erdhöhle hauste, nur das besaß, was er am Leib trug und jahraus jahrein von der Hand in den Mund leben musste, nahm er das Ansinnen Thorins gern an. »Bevor ich in diesen Düsterwald geriet, rief man mich Bilbo!«, antwortete er mit sanfter Stimme. Jedoch verschwieg er, dass in dem kleinen Goldkettchen ein Hauch Zauberei steckte, welche den Hobbit zwang, dem König zu folgen, wohin dieser seinen Fuß setzte.
Kurz blickt Thror von seinem Buch auf und in Thorins Gesicht, dessen Wangen deutlich gerötet sind. »Wenn es dir unangenehm ist, dass König Thorin einen Mann nach hause führt, dann sage bescheid«, bietet der grauhaarige König an, erhält jedoch ein leichtes Kopfschütteln zur Antwort sowie ein verschmitztes Lächeln. »Da ich das Märchen kenne, bin ich gespannt, wie du manches erklären willst!«
»Du bist ein ganz ausgekochtes Schlitzohr! Willst einen alten Mann auf den Arm nehmen und sehen, wie er sich windet!«, lacht Thror, bevor er sich dem Text wieder zuwendet.
Im Schloss des Königs lebten viele Bedienstete, die den jungen Herrn freudig begrüßten, da sie ihn verschollen glaubten. Schon waren Reiter entsendet worden, die ihn in der näheren Umgebung suchen sollten. Mit besonderer Sorge tat sich ...
Auffordernd blickt Thror die Kinder an. »Na, wer könnte es gewesen sein?«
»Der Meister von Esgaroth!«, erklärt Frerin mit seiner Jungenstimme fröhlich, woraufhin sich Thorin ein unzufriedenes Schnaufen entringt und Thror darüber leise schmunzeln muss.
Mit besonderer Sorge tat sich der Meister des Hauses hervor, welcher mit seinem kriecherischen Knecht über den Hof eilte und hier und dort Anweisungen erteilte. Jedoch ließ er umgehend kühlen Wein bringen, um den König in gebührender Weise zu begrüßen. Auch dessen unverhoffter Begleiter wurde willkommen geheißen und ihm entsprechend den Sitten, Brot und Wein gereicht.
Mit Neid und Unfrieden im Herzen verfolgte der Haushofmeister die Anwesenheit Bilbos im Schloss, befürchtete er doch, dass er durch diesen Ansehen und Gewalt verlieren könnte. In dieser Art beklagte er sich gegenüber dem König, der zum Beginn über die Sorge des Meisters lachte, jedoch über die Wochen immer ungehalten auf diese Anschuldigungen reagierte.
Im Jahr darauf beschied Thorin dem Meister, dass er beschlossen habe, den Hobbit an Weibes statt an seine Seite zu nehmen. Darüber ergrimmte der Meister sehr, doch verschloss er wohlweisslich Missgunst und Neid tief in seiner Brust. Nach außen hin tat er freundlich und willfährig, während in seinem Herzen der Zorn schwelte und Rache an dem unglücklichen Hobbit sein einzigstes Ziel war.
Der König und sein Liebster wussten nichts von dem Trachten des Haushofmeisters, sondern feierten ihre Liebe mit dem Volk. Eine ganze Woche wurde Hochzeit gefeiert, aus allen Ländern Mittelerdes waren Gesandte eingetroffen. Nur aus einem Reich war niemand angereist.
Wieder blickt Thror die drei Zuhörer an. »Na?«, macht er gedehnt. »Wer kommt denn da nicht zur Feier?«
»Ein Zwerg kann es nicht sein«, lacht Frerin.
»Der dunkle Herrscher«, antwortet Thorin. »Ich glaube kaum, dass er sich freiwillig unter die freien Völker mischen würde.«
Thror nickt zustimmend. »Bedenke, Thorin, dass es ein Märchen ist, das ich erzähle. Da muss nicht alles plausibel sein, auch wenn es schwer vorstellbar ist.«
»Wie Zauberei?«, hakt der Zwergenprinz nach
»Zauberei und Magie ist eine Sache, die nur schwer begreifbar ist. Selbst, wenn man es mit eigenen Augen sieht, ist es kaum zu beschreiben, wenn man es anderen erklären will. Und wenn der andere ein Skeptiker ist, ist es ein unmögliches Unterfangen. Deswegen liebe ich euch Kinder, denn ihr verfügt noch über die Gabe, euch das Unmögliche vorzustellen«, erklärt Thror mit liebevoller Stimme, räuspert sich jedoch gleich darauf. »Nun zurück zur Geschichte, in welcher jemand nicht zu einer großen Feierlichkeit erscheint ...«
Doch hatte Sauron, der schwarze Fürst aus Mordor es sich nicht nehmen lassen, dem ungewöhnlichen Brautpaar ein Geschenk zu senden: Eine Schatulle wurde Bilbo von einem Händler in prachtvoller Kleidung überreicht, welcher ihm in wohlgesetzten Worten die besten Wünsche des dunklen Herrschers überbrachte.
Beim Öffnen der Schatulle fanden Bilbo und Thorin darin zwei kleine Phiolen, in welchen es wie Sternenstaub schillerte sowie eine Schriftrolle, sauber mit rotem Wachs versiegelt.
Thorin erbrach dieses und las die wenigen Zeilen mit klarer Stimme vor: »Kein Gut und Gold kann die Liebe zweier Wesen deutlicher zeigen, als ein Wunsch, der in Lust geäußert, in Erfüllung geht.«
Die Ohren des Hobbits färbten sich über die laut hervorgebrachten Andeutungen rot. »Welch ein interessantes Geschenk!«, murmelte er und neigte dankend das Haupt vor dem Kaufmann. »Wir bedanken uns für die Überbringung der Gabe. Doch sagt mir, guter Mann, was wir damit machen sollen? Ich vermute, dass es nicht ausreichend ist, dies unter die Kopfkissen zu legen?«
»Ein jeder von Euch soll eine der Phiolen vor der heutigen Nacht zu sich nehmen. Alles andere wird sich dann zeigen«, sprach der Kaufmann und verabschiedete sich.
Zum Abend brachten die Gäste die Vermählten zum Brautgemach, betteten sie in weiche Kissen und reichten ihnen zu guter Letzt die beiden Glasfläschchen.
Schlussendlich waren die Brautleute zum ersten Mal allein ...
»Ach, das überspringen wir mal ganz schnell!«, murmelt Thror und blättert im Buch eine Seite weiter. »Das ist nicht für junge Ohren bestimmt!«
»Großvater!«, protestiert Dís und erklärt mit naseweißer Stimme: »Das gehört mit zur Geschichte! Außerdem weiß ich schon lange, wie Zwerglinge gemacht werden!«
Dem König rutscht eine Augenbraue nach oben. »Woher? Ich denke nicht, dass dein Vater dir das erklärt hat.« Sein bitterböser Blick schweift kurz zu Thorin, der hinter vorgehaltener Hand ein Lachen zu unterdrücken sucht.
»Nein, das war Frerin!«, erklärt Dís und zupft ihren Rock zurecht, während sie den Eindruck erweckt, als wäre dies die selbstverständlichste Erklärung Mittelerdes.
»Ah!«, macht Thror und wendet sich dem Jungen zu. Die Arme vor der breiten Brust verschränkend, lehnt er sich zurück. »Nun erkläre uns, mein lieber schlauer Frerin, wie das Liebemachen zwischen zwei Männern funktionieren kann!«
Hilflos blickt der Junge den Großvater an, die Ohren rotglühend und zwischen den Fingern nervös einen Keks zerkrümelnd. »Ich weiß es nicht!«, erklärt er schlussendlich nach einigen Augenblicken.
»Wärst du, junger Mann, damit einverstanden, wenn ich dieses Detail auslasse und es nicht erkläre?«, hakt Thror nach, um dessen Augen und auch um den Lippen es von unterdrückter Heiterkeit zuckt.
»Ja, mein Herr«, stimmt Frerin mit gesenktem Blick zu.
»Und nach deiner Meinung, junge Dame, werde ich nicht fragen, denn sie tut hier nichts zur Sache!«, wendet sich Thror kurz an Dís, deren Unterlippe sich daraufhin beleidigt vorschiebt und ihre Locken bedrückt wippen. Gleich darauf ist jedoch der kleine Disput vergessen, als der König unter dem Berg weitererzählt.
Die folgenden Tage sind für das Brautpaar von Belustigungen, verschiedensten Veranstaltungen, Gesprächen und Treffen mit Gesandten geprägt. Kaum einen Augenblick hatten sie Zeit, sich zu unterhalten und ihre Zweisamkeit zu genießen. So kam es, dass erst nach Abreise der Gäste endlich etwas Ruhe einkehrte und die Frage gestellt wurde, welcher Art der Wunsch gewesen sei.
Mit roten Wangen hatte Bilbo geäußert: »Ich habe gewünscht, dass es in meiner Macht stände, meinem König siebenfaches Glück zu schenken.«
In den kommenden Wochen zeigte sich, in welcher Art der Wunsch erfüllt werden sollte, denn das einst flache Bäuchlein Bilbos rundete sich.
König Thorin ließ Magister und Hebammen kommen, die den schwangeren Hobbit untersuchen sollten. Doch fanden sie alles zur vollsten Zufriedenheit und nichts stände einer normalen Gurt im Wege.
Alle Bürger des Reiches freuten sich mit dem Königspaar über die anstehende Niederkunft. Nur der Haushofmeister konnte diese Freude nicht teilen und so schmiedete er einen Plan ...
Mit einem lauten Ton lässt Thror das Buch zuklappen. »So, meine Lieben! Für heute ist Schluss! Es ist schon spät und ihr müsst morgen wieder zeitig aus den Federn springen!«
Augenblicklich wird abschlägiges Seufzen laut sowie ein langgezogenes »Och neeee!«, welches von der Tonlage her nur von Thorin stammen kann.
»Großvater! Ich bin noch nicht müde!«, erklärt Dís fröhlich und lässt ebenso ihre Locken hüpfen. Nur Frerin kann ein lautes Gähnen nicht unterdrücken, bestätigt jedoch: »Ich bin auch nicht müde!«
Thror blickt ihn mit hochgezogener Augenbraue an. »Aha!«, macht er skeptisch, schüttelt dann jedoch den Kopf. »Ihr Kinder könnt mir gern das Blaue vom Himmel erzählen, glauben werde ich es euch nicht. Zudem geht es schon morgen Abend weiter.«
»Versprochen?«, vergewissert sich Dís und langt unwillkürlich nach der Hand Thrors. Sanft erwidert er den leichten Druck ihrer Finger. »Versprochen!«
Der folgende Tag verläuft ohne besondere Vorkommnisse und so kann sich der grauhaarige König unter dem Berg früher als gewohnt in seine Räume zurückziehen. Dort ist ein Zwerg soeben damit beschäftigt, das Feuer im hohen Kamin zu schüren, so dass Funken bis hoch in die Esse sprühen und vom Luftzug immer weiter hinauf getragen werden. Die Kissen und Decken sind wieder vor dem Kamin ausgebreitet worden und auf einem nahen Tischchen stehen zwei Schüsseln mit süßen Keksen und herzhaftem Gebäck bereit. Neben diesen kann Thror das dicke Buch entdecken, aus welchem er am Vorabend vorgelesen und erzählt hatte.
Wieder stiehlt sich ein Schmunzeln über sein Gesicht und zum wiederholten Mal fragt er sich selbst, wie er manches, welches noch in dem Märchen erzählt werden will, erklären soll. »Kommt Zeit, kommt Rat«, murmelt er in seinen grauen Bart und wendet sich dem Bediensteten zu, welcher ihm die Krone sowie die schwere Robe abnimmt.
Kaum hat sich Thror in seinen Sessel sinken und sich eine Tasse Tee reichen lassen, um die abendliche Stille zu genießen bis die Kinder seine Räume mit überschwänglichen Leben füllen, als es leise an der Tür klopft. Auf seinen Wink hin, öffnet der Bedienstete diese. Groß ist Thrors Erstaunen, als Thorin eintritt.
»Verzeih mein vorzeitiges Erscheinen, doch wollte ich gern mit dir ohne Frin und Dís sprechen«, erklärt Thorin entschuldigend, woraufhin Thror einladend auf die Kissen und Decken zu seinen Füßen deutet. »Setz dich zu mir!«
Aufmerksam blickt Thror den jungen Zwergen an, bemerkt dessen Blässe in den Wangen, ebenso wie die Röte, die Thorins Ohren färbt. »Ist etwas geschehen, was dich in irgendeiner Weise aufgeregt hat?«, fragt der König besorgt nach, erhält jedoch ein verneinendes Kopfschütteln zur Antwort.
»Es geht um die Geschichte, die du uns gestern erzählt hast!«, beginnt Thorin nach einigen Augenblicken.
»Sie gefällt dir nicht?« In Sorge hat Thror die Augenbrauen zusammen gezogen. »Wenn es dir unangenehm ist, lassen wir es sein und ich lese Frerin und Dís ein anderes Märchen vor! Ich verstehe dich, denn schließlich ist man nicht an jedem Tag Teil einer abstrusen Geschichte!«
Röte schießt Thorin in die blassen Wangen. »Nein, das ist es nicht. Ich find sogar den Gedanken auf seltsame Weise interessant, dass man als Zwerg einen anderen Mann lieben kann. Ich habe mich jedoch gefragt, wie ein männlicher Hobbit einen Zwergling gebären kann. Das geht doch überhaupt nicht!«
Ein weiteres Mal blickt der König den jungen Zwerg erstaunt an. »Ich hätte dich nicht für einen Zweifler gehalten, mein lieber Thorin«, antwortet Thror mit ruhiger Stimme, neigt sich dann jedoch mit geradezu eindringlichem Blick vor. »Denke daran, was ich euch gestern sagte! Dass ihr eure kindliche Gabe nutzen sollt, an das Unmögliche zu glauben.« Lustig funkelt es kurz darauf in den alten Augen. »Und denke ebenso daran, dass es nichts weiter als ein Märchen ist. Oder glaubst du, dass Sauron ein Geschenk zur Hochzeit senden würde?«
In einer beschämt wirkenden Geste fährt sich der Zwergenprinz durch das schwarze Haar. »Nein, das würde er wohl nicht machen. Sehr viel wahrscheinlicher wäre, dass er eine Orkhorde entsendet, um die Gäste niederzumetzeln.«
Zustimmend nickt Thror. »Zudem denke ich, dass es keinen Zauber gibt, der es einem männlichen Wesen erlaubt, Kinder zu gebären. Von daher musst du dir keine Gedanken darum machen, ob es überhaupt möglich ist.«
»Das ist gut«, erklärt Thorin mit einem zufriedenen Seufzen. »Allein schon die Vorstellung, dass es tatsächlich möglich wäre, lässt sich mein Hirn verknoten.«
Leises Klopfen an der Tür enthebt dem König eine amüsierte Antwort und gleich darauf blicken Frerin und Dís erwartungsvoll in das Zimmer. »Wir haben dich schon überall gesucht!«, erklärt Frerin anklagend, als er Thorin auf den Decken hockend entdeckt. »Ich will doch hoffen, dass Großvater nicht ohne uns begonnen hat!«
»Mir würde im Leben niemals der Gedanke kommen«, entgegnet Thror mit einer abwehrenden Bewegung. »Wir haben nur noch auf euch gewartet.«
Innerhalb weniger Augenblicke haben es sich die Kinder auf den Decken und Kissen bequem gemacht und das Gebäck steht wieder in Reichweite der Zwergenhände. Erwartungsvoll sind die Augen auf den König unter dem Berg gerichtet, auf dessen Schoß das Buch liegt.
Nachdenklich blickt Thror auf die aufgeschlagene Seite. »Wo waren wir ... ah, ja ...«
Als die Zeit heran war, wurden dem Königspaar sieben Kindlein geboren. Sie trugen alle goldene Ringe um ihre Hälse und zeigten die Merkmale von Zwergen. Nur ein Kind hatte das gelockte Haar und die bereits leicht behaarten Füße eines Hobbits.
Sofort nach der Niederkunft kam der Haushofmeister während Bilbo schlief, nahm die sieben Kinderchen und trug sie fort. Stattdessen legte er junge Hunde in der gleichen Zahl an deren Stelle, welche in derselben Nacht geboren waren.
Sogleich rief der Meister nach seinem Knecht und trug ihm auf, die Kinder in den Wald zu tragen, ihnen die Hälse umzudrehen und zu verscharren. Bei Treu und Ehre musste der Knecht schwören so zu verfahren, wie es der Haushofmeister wünschte.
Im Wald legte der Knecht die Kinder unter einen Baum und bereitete sich darauf vor, diese zu erwürgen. Doch ergriff ihn ein böses Grauen davor, den unschuldigen Kreaturen etwas zuleide zu tun und er schauderte zurück. Ungeachtet seines Schwurs ließ er die Kinder leben, überantwortete sie der Natur, auf dass sie über deren Leben oder Tod entscheiden möge. Ohne sich noch ein letztes Mal umzublicken, eilte der Knecht zurück in das Schloss und sagte dem Meister, dass er sein Gebot vollbracht habe.
Aber Aule, der Schmied, und Yvanna, die Segenspendende, lenkten alle Dinge zum Besten und erbarmten sich der kleinen Kindlein und sandten ihnen einen weisen Mann, welcher in dem Wald wohnte. Dieser nahm sie in seine armselige Hütte, nährte sie mit der Milch der Hirschkühe, die aus freien Stücken zu ihm kamen.
Sieben ganze Jahre lebten die Königskinder beim weisen Mann, lernten alles, was der Alte ihnen beizubringen vermochte. Sie lernten das Jagen ebenso wie den liebevollen Umgang mit der Natur.
»Großvater!« Dís Stimme klingt nachdenklich, als sie ihn unterbricht. »Ist der alte Mann Yvannas Radagast?«
Kurz überlegt der König. »Ja, das könnte er sein. Ich wüsste kein anderes Wesen, welches sich so gut mit Tieren und der Natur im Allgemeinen auskennt wie der Braune Zauberer.«
»Was ist mit Gandalf?«, fragt Frerin kauend und Krümel auf den Kissen verteilend. »Er ist doch auch ein Zauberer wie der Braune.«
Thorin schnauft. »Gandalf kam mit den Ainur nach Ea und wurde von Nienna unterrichtet«, erklärt er augenrollend, was ihm einen tadelnden Blick Thrors einbringt.
»Pffff ...«, macht Frerin ungeachtet des stechenden Blicks, der sich ihm nun zuwendet. »Mich interessiert die Historie der elenden Elben nicht sonderlich.«
»Hättest du bei Balin deine Ohren aufgesperrt, dann wüsstest du, dass Ainur keine Elben waren und ebensowenig die Istari«, erklärt der schwarzhaarige Prinz mit ruhiger Stimme, aber doch mit einer Spur Tadel in ihr.
»Kann Großvater nun weitererzählen?«, beschwert sich Dís und knufft den neben ihr sitzenden Frerin in die Seite und nickt dann Thror großmütig zu.
Als jener böse Meister die Kinder fortgebracht hatte vom schlafenden Bilbo, führte er Thorin zum ihm, deutete auf die Hündchen und sprach: »Seht, mein König, die Kinder, die Euch geboren wurden! Es sind junge Hunde! Diese Kreatur hat einen Fluch auf Euer Haus beschworen, welchen Ihr nur durch deren Tod abwenden könnt!«
Davon wollte der edle König nichts wissen, denn noch immer spürte er Liebe in seinem Herzen. Doch konnte es sich nicht gegen die Angst wappnen, die Thorin befiehl, wenn er in Bilbos Augen blickte.
Die Einflüsterungen des Meisters wirkten bald und so kam es, dass Thorin das Liebste aus seiner Nähe verbannte. Doch war es nicht so weit, wie der böse Mensch erhofft hatte, denn Bilbo musste ab jenem Tag in einer windschiefen Kate im nahe Dorf hausen. Ohne eigenem Grund und Boden war der Hobbit dazu verdammt, von den Almosen anderer zu leben, sich sein Essen zu erbetteln. Jedoch war es ihm unter Androhung ärgster Strafen verboten, das Schloss zu betreten und dabei sehnte er sich so sehr nach dem König, wollte jedwede Möglichkeit nutzen, seine Unschuld zu beteuern. Doch wie sollte er es anstellen? War ihm doch durch seine Erschöpfung nach der Geburt der Kinder nicht möglich gewesen, dem Schlaf zu entrinnen.
Der Hobbit zermarterte sich das Hirn, fand keine Lösung für seine Lage und konnte am Ende nur noch darauf hoffen, dass ihm eines Tages Gerechtigkeit widerfahren wird.
Thorin hetzte durch die Tage, spürte in all den Jahren, Stunde um Stunde das Sehnen und jenes Band, welches ihn mit Bilbo verband. Es war die Kette Bilbos, die der König zur Erinnerung an den Liebsten in seiner Tasche trug und für keine einzige Sekunde von sich legte.
Nur in der Stille des Waldes schien Thorin seine innere Ruhe zurückzuerhalten. Dorthin zog es ihn und eines Tages trieb ihn das Streben nach der Ruhe im Herzen bis in einen Teil des Waldes, welchen er zuvor noch nie betreten hatte.
Bezauberndes Lachen scholl ihm dort von einer lichtüberfluteten Lichtung entgegen. Kinderlachen von sieben Kindlein, die dort über die Wiese tollten. Ein jedes war wunderschön anzuschauen und trug eine feine Goldkette. Unwillkürlich verlangte es Thorin danach, eines der Kinder zu ergreifen. Doch entwichen sie ihm und verschwanden im Wald.
Belebt vom Anblick der Kinder, berichtete er noch am selben Abend im Schloss, was er gefunden habe. Von den sieben Kindern erzählte er, ihrer Fröhlichkeit und ihrer güldenen Ketten.
Als der Haushofmeister die Worte hörte, erschrak er heftig.
»Du hast die Kinder nicht getötet, wie ich es dir aufgetragen hatte!«, beschuldigte er später den Knecht. Da erklärte dieser, wie es sich an jenem Tag zugetragen hatte, woraufhin der Haushofmeister ihm auftrug, schnellstmöglich in den Wald zu reiten, die Kinder zu suchen und ihnen die Ketten abzunehmen. Denn diese wären das Einzige, das deren Verbindung zu Bilbo verraten könnte und durch deren Entdeckung könnte ihnen beiden Schlimmes bescheren. Getrieben von Angst um sein eigenes Leben eilte der Knecht und ritt ganze drei Tage durch den Wald. Erst am vierten Tag fand er die Kinder, welche ihre Kleider und Ketten abgelegt hatten und badeten. Doch waren es keine Zwerglinge, die dort im Wasser tobten, sondern prachtvolle Schwäne, sechs an der Zahl. Ein Kind war am Ufer geblieben und schien die weißen Vögel zu bewundern und in ihrem Spiel noch anzutreiben.
In aller Heimlichkeit konnte der Knecht die Ketten von den abgelegten Kleidern an sich nehmen. Erst als er die Hand nach dem siebenten Kind ausstreckte, um ihm dessen zu entwenden, wurde er entdeckt. Es war jedoch zu spät! Die Schwäne erhoben sich auf ihren mächtigen Schwingen aus dem Wasser, schlugen mit ihnen nach dem Räuber, hackten mit den Schnäbeln nach ihm und so konnte sich der letzte Knabe in Sicherheit bringen.
Wie der Knecht die Ketten dem Meister brachte, hieß dieser einem Goldschmied, aus dem Gold einen Kelch zu gießen. Der Schmied jedoch befand, dass das Geschmeide zu fein, edel und rein sei, um es einzuschmelzen. Daher nahm er anderes Gold und formte daraus den geforderten Becher. Den gab er dem Meister, der diesen in seine Truhe schloss.
Jene Schwäne aber, die ihre wahre Gestalt nicht mehr annehmen konnten, wurden betrübt und sangen mit süßer trauriger Stimme wehmutsvolle Lieder. Sie klangen wie das Weinen von Kindern. Zuletzt erhoben sie sich hoch empor, um zu sehen, wohin sie sich wenden könnten. Da entdeckten sie aus der Höhe einen großen spiegelglatten See, an dessen Ufer sich ein himmelhoher Berg erhob. An dessen Hang schmiegte sich das Schloss des Königs.
Gerade wollte sich Thorin zum Mittagsmahl niederlassen, als der Gesang der Schwäne zu ihm in den Speisesaal drang. Umgehend eilte er an das Fenster und gebot dem Gesinde, dass niemand die Vögel verjagen, sondern sie füttern solle, bis sie sich heimisch fühlten.
Enttäuscht stöhnen die Kinder, als das Buch wieder hörbar zugeklappt wird. »Ich denke, dass es für heute reicht!«, erklärt Thror. »Morgen ist auch noch ein Tag!«
Begeistert tanzen Dís Locken. »Ich freu mich schon sehr auf Morgen!«
»Ich mich auch, mein Kind!«
Eilig stößt Thror die Tür auf. Bereits im Betreten des Zimmers blickt er entschuldigend die Kinder an, die es sich wie die Abende zuvor auf der hügeligen Decken- und Kissenlandschaft bequem gemacht haben. »Verzeiht, ihr Lieben!«, beginnt er, während er sich eilig die schwere Robe abnehmen lässt und die Krone neben sich auf einen Tisch ablegt.
Thorin winkt ab: »Es ist nicht so schlimm, wir sind auch erst seit Kurzem hier.«
Der neben ihm sitzende Frerin nickt zustimmend, mit lachendem Gesicht. »Und das Gute ist, dass Balin am Morgen ein Gespräch mit Fürst Girion hat und da er nicht weiß, wie lang es dauern wird, dürfen wir morgen ausschlafen!«
Seufzend lässt sich der König in seinen Sessel sinken. »Ach, da habt ihr aber wirklich großes Glück!« In einer angedeuteten traurigen Geste verzieht er die Lippen. »Leider trifft es auf mich nicht zu, denn ich muss an dem Treffen teilnehmen!«
Tröstend legt Dís ihre kleine Hand auf Thrors Arm. »Ach, du Armer!«
»Sollen wir heute den Abend ausfallen lassen?«, bietet Thorin. »Wie ich sehe, bist du erschöpft und hattest einen langen Tag!«
Doch der König winkt nur ab. »Wenn du so alt bist, wie ich, Thorin, wirst du über jede Minute glücklich sein, die du mit deiner Familie verbringen darfst. Lasst mir nur einen Augenblick, dass ich etwas zu mir nehmen kann und danach dürft ihr mir das Buch reichen.«
Der arme verlassene Knabe hatte nun zwar seine Gestalt behalten, war jedoch hilflos und einsam. Also folgte er seinen Brüdern, den Schwänen, und fand sie schließlich auf dem See in der Nähe des Schlosses. Dorthin ging er und hofft, sich verdingen zu können. Weil er sauber und für sein Alter ansehnlich anzuschauen war, nahm der Koch ihn in die Küche, auf dass er dort die Töpfe, Pfannen und Kessel schrubben solle. Zum Lohn erhielt er eine warme Ecke am Herd und Reste vom Tisch des Königs. Diese teilte das Kind mit dem armen Bilbo, auf welchen er im Dorf traf.
Von Leiden gezeichnet, hockte er vor der Kate, die mehr einer Erdhöhle glich und war dankbar für die lieben Worte und die Geste, die der Knabe ihm erwies.
Die Reste brachte das Kind den Schwänen, die er liebkoste und herzte und mit ihnen sprach, wie mit einem Menschen und sie ebenso in die Arme schloss. Zum Abend ging er wieder hinauf in das Schloss und kam an den folgenden Tagen wieder, nachdem er kurz bei Bilbo verweilte.
Die Bewohner des Schlosses sahen das alles mit großer Verwunderung und bemerkten auch die große Ähnlichkeit. Dies sah auch der König und es bewegte dessen Herz sehr. Zu guter Letzt bemerkte er das goldene Kettchen an des Knaben Hals glänzen und er ließ ihn vor ihn treten und fragte ihn: »Mein liebes Kind, erzähle mir, woher du kommst. Wer sind deine Eltern und wie hast du die Schwäne gezähmt, dass sie dir aus den Händen essen?«
Da sprach das arme Kind aus tiefstem Herzen: »Mein Herr König, die Eltern habe ich nie gekannt. Wenn du jedoch nach den Schwänen fragst, so kann ich dir sagen, dass es meine Brüder sind. Zusammen wuchsen wir im Wald auf, wurden genährt von der Milch der Hindinnen. Vor wenigen Wochen legten meine Brüder ihre Ketten ab, weil sie baden wollten und da wurden sie zu Schwäne. Die Ketten wurden geraubt und auch ich konnte nur mit knapper Not meine behalten, sonst wäre auch ich zu einem Vogel geworden.«
»Du deutest an, dass ein Zauber in dem Gold steckt, welches euch die Gestalt von Zwergen gibt, wenn ihr sie tragt?«, erkundigte sich der König.
»Ja, so ist es«, hatte der Knabe geantwortet. Die Worte vernahmen der Haushofmeister und sein Knecht. Sie erschraken heftig und wurden bleich im Wissen ihrer Schuld.
Dies nahm der König wahr und dachte darüber nach, indem er von seinem Schloss herab spaziert kam ...
Ein leises Lachen unterbricht Thror und lässt ihn vom Buch aufblicken. »Was ist so lustig, Frin?«, erkundigt sich der König. »Sei so freundlich und lass uns an deiner Heiterkeit teilhaben!«
Nur mühsam kann Frerin sein Lachen unterdrücken und wirft einen schuldbewusst wirkenden Blick zu Thorin. »Es freut mich sehr, dass Thorin nachdenken kann!« Von Thorin bekommt Frerin einen Knuff in die Seite, doch zuckt es um seinen Mund, als müsse er sich ein Lachen verbeißen.
Dís kichert leise und auch Thror spürt, dass er nur schwer ein lautes Lachen unterdrücken kann. »Ich hoffe doch sehr, dass du damit nicht unseren Thorin meinst, sondern diesen im Buch?« Fragend tippt er auf das aufgeschlagene Buch. Eine leichte Schamesröte huscht über Frerins Gesicht. »Nein!«, beteuert er mit unschuldigem Blick. »Selbstverständlich sprach ich von dem König und nicht von unserem Prinzen!«
Skeptisch zieht Thror eine Augenbraue hoch und auch Thorin scheint den Worten nicht recht glauben zu können. Doch gibt er sich damit zufrieden, denn schließlich kennt er seinen kleinen Bruder. Schließlich nickt Thorin dem Großvater auffordernd zu, auf dass er weiter erzählen soll.
Der Haushofmeister hetzte den Knecht auf, dass er den schönen Knaben töten soll. Daraufhin griff er zum blanken Schwert und folgte dem Kind, als es nach seiner Gewohnheit den Pfad hinab in das Dorf nahm und weiter zu den Schwänen. Allein der König gewahrte den Knecht und wie er das Schwert gegen den Knaben erheben wollte, trat dieser hinzu und schlug es ihm aus der Hand.
Da fiel der Knecht auf die Knie und bekannte alles, angefangen vom Raub der Kinder bis hin zum Kelch aus dem Gold der Ketten. Daraufhin eilte der König zum Meister und zwang diesen zu einem Geständnis. Da schloss er die Truhe auf und gab Thorin den Becher.
Als dieser das Gold in Händen hielt, beschlich ihn ein seltsames Gefühl und eine Ahnung. Sogleich ließ er nach dem Goldschmied senden, der daraufhin so schnell wie möglich vor den König trat. Wohl, allein, um seine eigene Haut zu retten, gestand er, dass der Kelch nicht aus dem Gold der Ketten gefertigt sei, sondern aus anderem.
Der Herr gebot ihm, sofort diese zu bringen und gab sie dem schönen Knaben. Dieser legte ein jedem Schwan eine um den schlanken Hals und augenblicklich nahm jeder der verzauberten Kinder seine Gestalt wieder an.
Umgehend ließ Thorin den armen Bilbo aus dem Dorf holen, ließ ihn baden und salben und gab ihm mit eigener Hand von den besten Speisen. In nur wenigen Stunden versuchte er, das wieder gutzumachen, was dem Hobbit in den vergangenen sieben Jahren an Unrecht geschehen war. In jener Nacht erneuerten der König und sein Gemahl das Heiratsgelöbnis, welches sie sich vor langer Zeit gegeben hatten.
Der üble Haushofmeister und sein Knecht mussten ab diesem Tag in dem Loch hausen, in welchem Bilbo hausen musste. Ohne eigenen Boden und Besitz waren sie wie er auf die Mildtätigkeit der Menschen und Zwerge angewiesen.
In den folgenden Tagen wurde ein großes Fest im Schloss gefeiert, welches der Hochzeit in nichts nachstand und dies sollte der Anbeginn einer glücklichen Zeit sein. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann ...
Entgegen den Tagen zuvor klappte nun das Buch ganz leise zu und mit traurigem Blick sahen Frin und Dís den Großvater an. »Schon vorbei?«, wollte der Junge dann auch sofort wissen. »Das kann nicht sein! Was ist mit dem Meister noch geschehen und seinem Knecht? Was ist mit den Kindern?«
»So viele Fragen, junger Mann«, antwortet Thror und greift nach seiner Tasse, gefüllt mit süßem Honigtee. Bequem lehnt er sich in seinem Sessel zurück und blickt den Zwerg interessiert an. »Warum möchtest du es denn wissen?«
Kurz zuckt Frerin mit einer Schulter. »Weil es mich interessiert«, erklärt er schließlich. »Und damit du weitererzählst.«
»Ich fürchte, mein Lieber, dass das Märchen zu Ende ist«, antwortet Thror entschuldigend. »Und ich werde nicht anfangen etwas hinzuzudichten, was nicht dazu gehört.«
Obwohl die Worte mehr an den traurig dreiblickenden Frerin gerichtet sind, schaut auch Dís betrübt zum Großvater auf. Doch da ergreift Thorin das Wort: »Ich kenne das Märchen und ich bin froh, dass ich es in dieser Form von dir erzählt bekommen habe.« Der schwarzhaarige Prinz verstummt und scheint noch mit sich zu ringen, ob er es wagen darf, noch weiteres zu sagen. »Was mich bisher an der Geschichte störte, war, dass der eigentliche Ritter mehr als kalt und auch berechnend dargestellt wurde. Ich hatte stets das Gefühl, dass er nur immer an sich dachte und erst wieder zu seiner Gemahlin stand, als ihre Unschuld bewiesen war. So, wie du es erzählt hast, hat es mir sehr viel besser gefallen. Ich spürte die Liebe zwischen den beiden, fast gerade so, als würde ich sie empfinden.«
Im ersten Augenblick ist Thror sprachlos über das ausgesprochene Lob. »Ich danke dir sehr für deine Worte«, antwortete er mit bewegter Stimme.
»Großvater?«, meldet sich nun auch Dís zu Wort. »Hat nun Thorin Bilbo die Kette zurück gegeben?«
»Ich weiß es nicht!«, gibt Thror zu. »Was denkst du denn, meine Kleine?«
Dís schiebt überlegend die Unterlippe vor. »Ich weiß es auch nicht!«, bekennt sie schließlich und setzt mit einem verschmitzten Lächeln hinzu: »Aber, wenn ich es weiß, bist du der Erste, dem ich es sagen werde!«
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Tag der Veröffentlichung: 06.03.2016
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