Faramir, zweitgeborener Sohn Denethors, des amtierenden Truchsessen von Gondor, eilt mit langen Schritten die hellen und luftigen Gänge der Zitadelle entlang. Soeben tritt er in einen Abschnitt, der an einer Seite von einer niedrigen Balustrade begrenzt wird. Filigran wirkende Säulen tragen das elegant geschwungene Bogengewölbe. Rankende Pflanzen, in großen Kübel gezogen, umschlingen die Säulen und das Laub raschelt im leichten Wind, der von der sonnenwarmen Ebene von Pelennor heraufstreicht.
Steinerne Bänke zu beiden Seiten des Ganges laden zum Verweilen ein, doch dem Sohn Denethors ist nicht nach Müßiggang. Er ist auf der Suche und von diesem Ort aus hofft er, den Gesuchten finden zu können.
Einen Fuss auf die Bank gestellt sowie die Hände an Säule und Geländer gelegt, beugt er sich so weit über die Balustrade hinaus, wie es ihm möglich ist, ohne zu stürzen. Sofort fährt ihm ein leichter Aufwind ins Gesicht sowie unter seinen Umhang und beschert ihm das Gefühl eines Adlers, der sich in die warmen Winde schwingen will, die ihn bis hoch in den Himmel tragen würden.
Von weit oben würde er auf die Stadt Minas Tirith hinabblicken, die im Großen und Ganzen nur aus gestaltgewordener Eleganz und Anmut zu bestehen scheint. Wie der Weiße Baum, welcher der Erde Gondors entsprossen war, so scheint auch die Stadt mit ihren sieben hohen Stufen aus dem Fels des Mindolluin gewachsen und voller Leben zu pulsieren. Von hier oben betrachtet, würde das Fehlen scharfer Ecken diesen lebendigen Eindruck noch verstärken und selbst mit seinen Adleraugen könnte er keinen Fehler entdecken, welcher den Anblick in Disharmonie versinken lassen würde: Steinerner Bogen lehnt sich an Bogen. Wie die Körper sich Liebender schmiegen sie sich gegeneinander, stützen sich und geben Halt.
Und über allem erstrahlt die Sonne Gondors und scheint den weißen Mauern der Stadt auch noch dieser einen Farbe berauben zu wollen - bis nur noch Glanz vorhanden sein würde.
Zu jeder anderen Zeit hätte Faramir dem Gefühl des Fliegens nachgespürt und die Aussicht von diesem Ort genossen, aber nicht jetzt. Die Zeit drängt! Noch in dieser Stunde könnte der Gesuchte die Stadt verlassen und dies, ohne sich von ihm, seinem eigenen Bruder verabschiedet zu haben!
Kurz lässt Faramir seinen Blick schweifen. Von seinem Standort aus hat er einen überwältigenden Blick über einen Teil der Burganlage und der unteren Stadt, gerade jene Abschnitte, in denen sich Boromir mit größter Sicherheit aufhalten würde. Doch kann er ihn nirgends entdecken!
Weder auf dem Waffenplatz, der direkt unterhalb der Veste einsichtbar ist, noch auf dem Platz vor den dicht daneben liegenden Stallungen, in denen die Botenpferde und die der Familie Denethors untergebracht sind, ist die unverwechselbare Gestalt Boromirs zu sehen.
Heiße Verzweiflung schnürrt dem jungen Mann die Kehle zu. Er hat nun schon in so gut wie jedem Winkel der Stadt nachgefragt und gesucht, wo sich der Bruder aufhalten könnte, jedoch scheint es, als habe sich der Erdboden geöffnet und ihn verschlungen.
Schritte werden hinter Faramir laut und lassen ihn von der Bank wieder herab treten. Eine Wache, an dessen Namen er sich undeutlich als Beregond erinnert, eilt auf ihn zu, neigt respektvoll den Kopf.
„Habt Ihr Boromir gefunden?“, wird dieser sofort voller Ungeduld angesprochen.
Doch der Wachsoldat schüttelt nur leicht den Kopf. „Nein, gefunden nicht, jedoch wurde mir berichtet, dass er vor einiger Zeit auf dem Weg zu seinen Gemächern gesehen worden sei!“, antwortet er und blickt im nächsten Moment nur noch auf den Rücken des davon eilenden Faramirs.
In seinen Privatgemächern ist Boromir nicht anzutreffen, wie Faramir sehr bald feststellen muss. Doch muss er vor kurzem hier gewesen sein, denn auf dem Schreibtisch steht das unverschlossene Tintenfässchen und auch an der Feder, die unachtsam daneben liegt, ist die Tinte noch nicht getrocknet. Alles deutet darauf hin, dass er in großer Eile von seiner Arbeit fortgeholt worden war. 'Was kann so wichtig gewesen sein?', überlegt Faramir und greift eher unbewusst nach einer von mehreren zerknüllten Papierkugeln, die verstreut auf und selbst neben dem ausladenden Tisch liegen. Nun war Boromir nie für seine Schreibkünste bekannt und auch die damit verbundene Arbeit war nie etwas, was ihm sehr am Herzen lag, doch wusste er um die Kosten guten Pergaments. Dieser hier zur Schau gestellte unbedachte Umgang mit dem wertvollen Papier, ist etwas für Boromir untypisches.
Mehr in Gedanken streicht Faramir das Pergament glatt, welches von Tintenflecken und einem unleserlich gemachtem Wort verunziert wird. Das zweite Blatt sieht nicht viel besser aus, nur kann er hier in der ungelenken Schrift Boromirs etwas erkennen, das wie „Mein geliebter Bruder“ zu lesen ist.
Stirnrunzelnd lässt Faramir das Papier sinken. Einerseits ist es ihm unangenehmen, so in den privaten Notizen seines Bruders geblättert zu haben, aber andererseits schmerzt der Verdacht, dass er ohne Verabschiedung die Stadt verlassen wollte. Anders kann Faramir die Worte nicht deuten.
Im plötzlichen Luftzug blähen sich die Vorhänge, bewegen die Blätter in Faramirs Hand.
„Ach, hier bist du!“, hört er die tiefe Stimme Boromirs, der gerade die Tür schließt. „Ich habe dich in der ganzen Zitadelle gesucht!“
Faramir hebt nur deutend das Papier, ohne auf die Worte seines Bruders einzugehen. „Was hat das zu bedeuten?“, fragt er ihn stattdessen und kann es nicht verhindern, dass Enttäuschung in seiner Stimme mitschwingt. „Wolltest du dich aus der Stadt stehlen?“
Unangenehm berührt fährt sich Boromir mit der Hand über den Nacken, blickt zu seinem Bruder entschuldigend auf, der ihn nur um eine Handbreite überragt. Schließlich nickt er: „Ja, das hatte ich vor, aber mir ist ein anderer Gedanke gekommen. Ich weiß nicht, was die nächsten Wochen und Monate für mich bringen und ...“ Der Ältere scheint nach den richtigen Worten suchen zu müssen oder auch als wäre er unsicher, wie sein Bruder auf das Folgende reagieren würde. „ ... wie zu unserer Kinderzeit will ich einen Abend in den Bädern mit dir verbringen.“ Sprudelnd überschlagen sich fast seine Worte, so eilig hat er es, sie heraus zu bringen.
Faramir lacht leise. „Wie in unserer Kindheit? Sind wir dafür nicht schon ein bisschen zu alt?“
Boromir winkt nur seinerseits lächelnd ab und wendet sich dem Schreibtisch zu, auf dem er die Papiere zusammen schiebt sowie Feder und Tintenfässchen in die Lade zurück stellt. „Ich weiß nicht, wie du dich fühlst, kleiner Bruder, aber ich könnte nach dem heutigen Tag ein ausgedehntes Bad gebrauchen.“ Kurz blickt er zu Faramir mit einem kleinen Lächeln auf. „Aber, wenn du anderes für den Abend geplant hast, dann sage es. Ich habe zwar gerade einige Krüge des süßen Roten beim Kellermeister geordert, aber die kann ich wieder abbestellen!“
„Nein, nein“, antwortet Faramir sofort kopfschüttelnd. „Nachdem ich hörte, dass du nach Bruchtal reitest, nahm ich an, dass du noch heute aufbrechen wirst und wollte dich nicht ohne einige Worte gehen lassen! Dass deine Reise erst Morgen beginnt, freut mich, jedoch hätte ich gedacht, dass du den Abschied eher feucht-fröhlich in einer der Tavernen im unteren Ring feiern willst, als allein mit mir! Und dazu noch in den Bädern!“
Faramir reicht seinem Bruder die beiden glattgestrichenen Seiten, die dieser nach kurzem Zögern entgegen nimmt. Der hochgewachsene Sohn des Denethors sieht, dass Boromir noch etwas sagen will, aber schließlich doch den Mund wieder schließt, ja sogar die Lippen zusammen presst, als müsste er die Worte mit Gewalt zurückhalten. Nun kennt Faramir den Älteren nur als offenen und impulsiven Mann, der nur schwer seine Zunge und seine Gefühle im Zaum halten kann und der es in seiner Art mit Leichtigkeit und ohne große Mühen schafft, selbst größere Menschenmassen in seiner Begeisterung mitzureißen. Für ihn gibt es nur ein Ja oder Nein, Hell oder Dunkel, keine der vielen unbedeutenden Schattierungen, die dazwischen existieren. Er ist der perfekte Nachfolger auf dem Thron der Truchsessen von Gondor, wogegen er selbst nicht mehr als ein loyaler Ratgeber an dessen Seite sein wird.
Leise seufzt Faramir. Er ist derjenige, für den die Schatten nichts Unbedeutendes sind, weil er selbst in ihnen lebt – im Schatten seines von allen geliebten Bruders. Dieser wird vom Vater geliebt, dessen Herz seit dem frühen Tod seiner Gemahlin nur noch die Wärme für den älteren der beiden Brüder kennt und für ihn nichts mehr als die abwertende Verachtung erübrigen kann. Faramir weiss, dass er nicht der große Krieger ist, es niemals sein wird. Dass er nur der Sohn ist, der mit seltsamen Träumen von zerbrochenen Schwertern das Haus in Aufruhr bringt und es sogar geschafft hat, Boromir damit anzustecken. Das ist die Meinung Denethors, der sie ihm erst am Vormittag offen ins Gesicht gespien hatte, abwertend, geringschätzig, anklagend.
Voller Wut hatte sich Denethor vom Thron erhoben, jenem Thron, der ihm als Verwalter der Königswürde des Reiches Gondor zustand. Zornbebend stand er vor Faramir, die Hände zu Fäusten verkrampft, als würde er jeden Augenblick den Mann vor sich niederschlagen wollen.
Faramirs ruhige Miene schien ihn nur noch mehr in Rage zu versetzen und bevor es zum Äußersten hatte kommen können, befahl er seinem jüngeren Sohn, den Saal zu verlassen.
Gerade, als Faramir die hohe zweiflügelige Tür durchschreiten wollte, wurde er von Denethors schneidenden Worten zurückgehalten, in denen zugleich tiefste Zufriedenheit über das Wissen mitschwang, wie sehr er damit seinem jüngeren Sohn treffen konnte: „Ich habe Boromir den Auftrag erteilt, den Herrn von Bruchtal nach einer Erklärung für den Traum zu befragen.“ Mehr sagte er nicht, mehr war auch nicht zu sagen.
Es war alles gesagt.
Faramir spürte, wie ihm in dem Moment die Galle hochkam und er sich beherrschen musste, den Vater nicht nach dessen Beweggründen zu fragen, denn dann hätte er nur noch mehr abwertende und leeren Antworten erhalten, die nichts weiter bewirken sollten, als ihn zu beleidigen, noch tiefer zu verletzen.
Trotz der Stunden, die bereits vergangen sind, spürt er noch immer, wie kalte Wut in ihm hochkocht. Doch kann er seinem Bruder nicht die Schuld an der Entscheidung des Vaters geben. Wie - und auch warum - sollte man gegen ein Gefühl kämpfen wollen, welches in seinen Auswirkungen nicht positiver und angenehmer sein kann? Und gleichzeitig ist es das Schrecklichste, welches größten Schmerz und schlimmste Angst verursachen kann!
Faramir weiß es. Jeden Tag aufs Neue spürt er am eigenen Leib, was Denethor mit seiner Liebe zu Boromir ihm selbst antut. Und doch kann er seinem Vater deswegen nicht zürnen: Wird ihm doch durch die Abneigung des Vaters die enge Verbundenheit des Bruders geschenkt!
Dieser hat sich auf dem Stuhl niedergelassen und spielt angelegentlich mit einer der Papierkugeln, die er zwischen den Fingern dreht. Etwas scheint ihn zu bewegen und zu beschäftigen, von dem er selbst zu ihm, seinem eigenen Bruder, nicht sprechen will.
„Ich möchte einfach einen ruhigen Abend verbringen“, bringt Boromir schließlich grollend hervor, blickt zu seinem Bruder auf und das übliche, fast jungenhafte Grinsen huscht über sein Gesicht. „Eine große Reise steht mir bevor, deren Ausgang mehr als offen ist. Da würde ich nur zu gern den letzten Abend mit dem verbringen, der mir am nächsten ist.“
Die Sonne sendet gerade ihre letzten Strahlen über die Ebene von Pellenor, als Boromir die Bäder betritt. Nun lässt aus dieser Bezeichnung schließen, dass es sich um mehrere Räume handelt, jedoch ist es nur ein einzelner Raum, dessen Mitte ein großes, mit edlen Fliesen ausgekleidetes Becken einnimmt, in welchem bequem bis zu sechs ausgewachsene Männer Platz finden würden. Rechterhand zieht sich eine hölzerne Bank an der Wand entlang, auf welcher Badetücher bereit liegen.
Im hinteren Teil des Bades sind bereits zwei Liegen aufgestellt worden, die zum Ausruhen einladen. Zwischen ihnen steht ein niedriges Tischchen, auf welchem ein übervoller Korb mit verschiedenem Obst sowie zwei Krüge des tiefroten Weines stehen, den sein Bruder lieber trinkt als den würzigeren Weißen, den er selbst bevorzugt. Gegen die zunehmende Dunkelheit sind in fast verschwenderischer Zahl Kerzen entzündet worden, dessen sanfter Schein den Raum in goldfarbenes Licht taucht. Warmer Wind lässt die seidigen Vorhänge sich bauschend bewegen und verleihen dem Raum zusätzlich etwas Geheimnisvolles.
Würde er es nicht besser wissen, könnte Boromir annehmen, dass alles für den Empfang einer Geliebten vorbereitet worden sei.
Langsam umrundet Boromir das Becken, in welchem leise das Wasser plätschert und der aufsteigende Dampf von dem sanften Wind bewegt wird, der auch die leichten Vorhänge sich blähen lässt. 'Romantisch!', denkt er unwillkürlich. Wie kommen die Bediensteten nur auf den Gedanken, er würde sich hier, in der Veste seines Vaters, einem Stelldichein mit einer Geliebten hingeben? Zu solchen Gelegenheiten hat er immer die Anonymität und damit einhergehende Diskretion der unteren Ringe von Minas Tirith vorgezogen.
Kopfschütteln schenkt sich Boromir von dem tiefroten Wein ein und verzieht nach dem ersten Schluck kurz das Gesicht. Die süße Fülle des Weines ergießt sich über seine Zunge und wie Honig rinnt er seinen Hals langsam hinab. „Wie kann man nur etwas so Süßes trinken?“, grummelt er leise, hebt aber trotzdem das Glas wieder an die Lippen, nachdem er sich auf eine der Liegen ausgestreckt hatte. Mit jedem weiteren Schluck breitet sich Wärme in seinem Körper aus und bringt eine angenehme Mattigkeit mit sich. Das leise und gleichmäßige Plätschern des Wassers wirkt ebenfalls einschläfernd und am liebsten möchte er nur für wenige Augenblicke die Augen schließen.
Mit einem leisen Klappen wird die Tür geschlossen und Boromir zuckt unwillkürlich bei dem Geräusch zusammen. In der Bewegung rutscht ihm das Glas entgültig aus der Hand und dessen Inhalt ergießt sich über das bestickte Wams. Seiner Ausbildung an den Waffen und seinen täglichen Übungen ist zu verdanken, dass er noch im letzten Augenblick verhindern kann, dass das Glas vollends von der Liege rutscht und auf dem Fliesenboden zerschellt. Leise flucht er über seine eigene Ungeschicklichkeit und versucht mit einem Tuch den Wein abzutupfen, bevor dieser vollends in den Stoff versickern kann.
Leises Lachen lässt ihn zu Faramir aufblicken, der mit verschränkten Armen vor dem Bruder steht und dessen Bemühungen beobachtet. „So besorgt um deine Wäsche?“, fragt er und tritt dann näher, um einen kritischen Blick auf den verfärbten Stoff zu werfen. „Das Wams ist nicht mehr zu retten!“, teilt er seinem Bruder mit. „Es ist ruiniert.“
Boromir lässt den Lappen nun sinken und blickt verärgert auf den Fleck, der die Stickerei des Weißen Baumes zum großen Teil rot verfärbt hat, doch die gestickten Sterne scheinen um so heller zu leuchten. „Ich muss wohl eingeschlafen sein, während ich auf dich gewartet habe“, sagt er wie zur Erklärung seiner Ungeschicklichkeit.
Inzwischen hat Faramir den Tisch entdeckt und wendet sich nach einem Blick in die Krüge wieder seinem Bruder zu. „Du hast wirklich nur den Roten?“ Ehrliches Erstaunen schwingt in seiner Stimme mit. „Soll das hier eine Entschuldigung werden für Vaters Entscheidung?“
Ein leises Lachen kann Boromir nicht zurück halten. Mit einer weit ausholenden Handbewegung schließt er den ganzen Raum ein. „Die Bediensteten haben mich wohl bei meinen Anweisungen falsch verstanden und glaubten, ich würde in anderer Gesellschaft den Abend verbringen wollen!“ Im nächsten Moment wird er wieder ernst und deutet einladend auf die zweite Liege.
Mit einem gefüllten Glas lässt sich Faramir gegenüber seinem Bruder nieder und blickt ihn abwartend an. Dieser dreht sein noch immer leeres Glas zwischen den Fingern, den Blick auf die Neige geheftet, in der noch ein einzelner Tropfen des blutroten Weines hin und her rollt. „Ich kann die Entscheidung Vaters nicht gut heißen, denn du warst es, der diese Träume hatte ...“
Aus einem Impuls heraus hebt Faramir die Hand und berührt seinen Bruder an der Wange, so dass dieser ihn ansehen muss. Unter seinen Fingerspitzen kann er überdeutlich das leichte Kratzen der abendlichen Bartstoppeln fühlen. Keine glatte Haut, wie er sie noch zwei Tage nach einer Rasur aufweisen muss.
„Ich habe mich mit seinen Worten abgefunden. Du weißt, dass seine Entscheidung unumstößlich ist. Solltest du intervenieren, würdest du nur seinen Zorn heraufbeschwören.“
Boromir spürt, wie sich die schlanke Hand des Bruders in seinen Nacken legt und ihn näher zu den anderen zieht bis sich beider Gesichter fast berühren. Der Atem des Bruders duftet nach der Süße des Weines, als dieser seine Haut trifft und ihm darunter zu fahren scheint. Unwillkürlich verkrampft sich seine Hand um den Rand der Liege, sonst würde er sich dem Duft zuneigen.
'Das muss der Wein bewirken!', kommt ihm in den Sinn, bevor er die leisen Worte Faramirs hört. „Du bist das Liebste, das ich habe und nichts würde ich lieber sehen, als dass du meinen Traum als deinen Auftrag annimmst!“ Weiche Lippen berühren seine Wange, senden ein sanftes Prickeln über seine Haut. Er kann es nicht verhindern, dass sich sein Gesicht dem Bruder zuwendet.
„Ich nehme deinen Auftrag mit Freude entgegen“, flüstert Boromir nun an der Haut des Jüngeren.
Erschrocken will sich dieser zurückziehen, doch wird er nun von Lippen festgehalten, die sich zögernd auf den seinen bewegen.
Der Klang zerspringenden Glases durchbricht die atemlose Stille, jedoch wird er vom Rauschen des Blutes durch Boromirs Körper übertönt. Nichts ist mehr von der Müdigkeit zu spüren, die ihn noch vor kurzer Zeit umfangen hielt. Nur die Wärme, die ihn pulsierend durchströmt, zählt. Viel zu schnell wird aus Wärme flüssige Hitze, die wie Lava durch seine Glieder rinnt und sich zu einem brennenden Knoten in seinen Eingeweiden zu verdichten scheint.
Er weiß nicht, was ihn dazu treibt, die Hände, die abwehrend gegen seine Brust drücken, zu missachten. Stattdessen lässt er eine Hand in den Nacken des anderen gleiten, um ihn noch dichter an sich zu ziehen. Er kann deutlich spüren, dass sein Bruder sich ihm entwinden will, doch hält er ihn in dem Kuss gefangen.
Süß schmeckt der Wein, den er von Faramirs Lippen leckt. Sogar süßer erscheint er ihm als jener, von dem er vorhin getrunken hatte.
Begierde regt sich in ihm, welches wie ein wildes Tier mit leisem Grollen nach mehr verlangt. Mit Krallen und Zähnen kämpft es sich den Rachen hinauf. Gierig nach dem Geschmack des Bruders treibt es Boromir voran, die Zunge zwischen die Lippen des Bruders zu zwängen und gibt erst mit einem lauten Stöhnen Ruhe, als sie endlich die warme Zunge des anderen gefunden hat.
Nichts ist ihm wichtiger, als die Haut, die er berührt, der Geruch, der ihm in den Magen fährt und der Geschmack, der ihn dazu verführt, seinen eigenen Bruder zu begehren.
Faramir spürt die Hitze nur allzu deutlich unter seinen Händen. Sie dringt durch Boromirs Kleidung, als wäre sie nicht vorhanden. Ebenso fühlt er dessen Grollen als leichtes Vibrieren unter seinen Fingerspitzen, welches ihm unwillkürlich einen Schauer über den Körper rinnen lässt. Lippen bewegen sich hart auf seinem Mund, kosten von seiner Haut. Er spürt die unrasierte Haut seines Bruders auf seinem Gesicht, wie sie sich gegen ihn schmiegt und gleichzeitig reitzt. Und die warme Zunge, die sich gierig zwischen seine Lippen schiebt und seinen Mund erobert. Hart bewegt sie sich gegen seine, fordert ihn gleichsam heraus, als wäre es nicht mehr als ein Wettstreit, ein Ringen unter Brüdern.
Wo die Lippen Boromirs unerbittliche Härte zeigen, halten streichelnde Finger Faramir gefangen. Sie gleiten über die empfindliche Haut seines Halses, massieren sanft den Nacken hinunter soweit es der schmale Kragen der Jacke zulässt, versuchen, diese zur Seite zu schieben und streicheln ihren Weg zurück, als die Bemühungen nicht fruchten.
Überwältigende Gefühle stürzen regelrecht auf Faramir ein und bringen seine mühsam aufgebaute Mauer der Gleichgültigkeit ins Wanken, die er gewohnt ist, der Welt zu zeigen. Viel zu lange hat er sich hinter ihr verborgen, um sich in dieser Art vor seinem Vater zu schützen, um weniger angreifbar zu sein. Und selbst seinen Bruder ließ er nur geringe Einblicke in seine Welt gewähren. Nun machen ihm die Größe und Stärke der Emotionen Angst, die auf ihn einströmen. Sie lassen ihn sich unter den Berührungen des anderen winden, auf der Suche nach einem Ausweg. Flucht erscheint ihm das einzige Mittel, welches ihn vor der Gewalt der eigenen Gefühle bewahren kann. Doch ist ihm sein Bruder bereits zu nah, um sich durch einfaches Erheben und Fortgehen aus dessen Reichweite zu begeben.
In dem Begehren, seinem jüngeren Bruder noch näher zu kommen, seinen Körper an seinem eigenen spüren zu können, ist Boromir vor der niedrigen Liege auf die Knie gesunken. Mehr aus dem Wunsch heraus, den anderen zu berühren, als wirklich über sein Tun nachzudenken, hat er sich zwischen die Schenkel des jüngeren geschoben. Eine Hand an dessen Hüfte gelegt, will er ihn dichter an sich ziehen. Er möchte dem Bruder sein Verlangen spüren lassen und beginnt, sich langsam gegen ihn zu bewegen. Unwillkürlich entringt sich ihm ein Stöhnen, als er seine Härte gegen Faramirs Körper reibt, denn schon lang hat er alle Bedenken fallen lassen. Er kann nur noch die Begierde fühlen, die Haut des anderen zu berühren.
Im nächsten Moment findet er sich auf dem Fliesenboden wieder, den Blick zum Bruder erhoben, der seinerseits wütend auf ihn herab schaut.
Immer dringlicher hat Faramir seine Hände gegen Boromirs Brust gepresst, welche sich unter dem Ansturm der Erregung heftig bewegt.
Er selbst hat nicht nur gegen den warmen und ihm immer begehrlicher erscheinenden Körper vor sich zu kämpfen, sondern auch mit sich selbst. Zu überwältigend werden die Gefühle, die Boromirs Streicheln in ihm auslösen und die aufsteigenden Ängste unter einem feinen Tuch des aufkeimenden Begehrens verbergen. Doch sind sie vorhanden und lassen sich nicht einfach verleugnen. Ebenso, wie er die aufsteigende Sehnsucht nach intensiveren Berührungen nicht ignorieren kann.
Er spürt die widerstreitenden Gefühle durch seinen Körper pulsieren, die schließlich mit aller Macht hervorbrechen, als sich der Körper des anderen gegen den seinen bewegt. Härte reibt und presst sich gegen seinen Schritt, was ihn leise keuchen lässt. Eine beängstigende Hitze breitet sich in seinem Körper aus, die von irrationalem Zorn begleitet wird.
In aufwallender Wut stößt Faramir so heftig gegen die Brust des Bruders, dass er ihn zu Fall bringt.
Zornbebend und mit geballten Fäusten steht er nun über Boromir, der mit nachtdunklen Augen zu ihm aufblickt.
„Ich bin dein Bruder! Wie kannst du es wagen, mich in dieser Art zu berühren?“, faucht Faramir ihn an.
Boromir zögert, wischt sich mit der Hand über das Gesicht, als müsste er sich von einem feinen Gespinst befreien. Deutlich ist zu sehen, wie ihm eine tiefe Röte über Nacken und Hals in das Gesicht steigt, als ihm bewusst wird, was soeben geschehen war oder auch hätte geschehen können.
Langsam setzt er sich auf und mit einem Blick, den man nicht anders als unsicher bezeichnen kann, blickt er zu dem Jüngeren auf. „Ich weiß nicht!“, beginnt er schließlich leise. „Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist! Vielleicht kann es am Wein liegen?“, bringt er entschuldigend hervor.
Faramir zieht nur eine der fein geschnittenen Augenbrauen hoch, so dass sie fast unter den vereinzelten Haarsträhnen verschwindet, die ihm in die Stirn gefallen sind. „Der Wein?“ Seine Stimme trieft geradezu vor Ironie, als er auf seinen Bruder hinab blickt. „Willst du damit andeuten, dass du stets und ständig, wenn du etwas getrunken hast, so reagierst? Dass du jeden Menschen anspringst und vielleicht sogar besteigen willst, der dir zu nahe kommt? Egal ob Mann oder Frau?“
Wie unter Peitschenhieben scheint der Körper seines Bruders bei jedem einzelnen seiner harten Wörter zusammen zu zucken. Es schmerzt ihn, den erwachsenen Mann, so zu sehen, gleichzeitig erfüllt ihn eine gewisse Zufriedenheit darüber, Boromir seinen Zorn fühlen zu lassen, auch wenn es nur mit Worten ist.
Mit gesenktem Kopf hockt dieser noch immer vor ihm, den Blick auf die kräftigen Hände gerichtet, die noch vor wenigen Augenblicken in berührt hatten, ihn dazu haben verführen wollen, den Gefühlen nachzugeben ...
Faramir möchte seinen Bruder schütteln, ihn anschreien, ihn aus seiner Starre herausholen, in die er sich durch die Machtlosigkeit, die richtigen Worte zu finden, flüchtet.
Das soll sein Bruder sein? Ein in allen Kampfkünsten bewanderter Heerführer Gondors? Held von Osgiliath?
Voller Verzweiflung über seine Unfähigkeit mit den eigenen Gefühlen ins Reine zu kommen, fährt Faramir sich durch die Haare. 'Was? Was ist geschehen? Warum? Wie konnte es geschehen?' Fragen tanzen durch seine Gedanken und bringen ihn noch mehr durcheinander, putschen seine Verwirrung nur noch weiter auf. Ohne auf die Scherben seines zerbrochenen Glases und den vergossenen Wein zu achten, der sich auf den Fliesen ausgebreitet hat, tritt er an den Tisch heran, füllt ein Glas, um sich dessen Inhalt in einem Zug hinunterzustürzen. Voller Zorn schmettert er das Kristall gegen die Wand, wo es mit einem disharmischen Klingen zerspringt und hunderte Splitter auf die Fliesen herabregnen lässt.
Selbst bei diesem Ton hat Boromir sich nicht gerührt, ja, ist noch nicht einmal zusammengefahren oder hat zumindest den Blick gehoben.
„Willst du mir nicht antworten?“, fährt Faramir den Bruder zornig an. Mit einem Grollen lässt er sich vor ihm auf ein Knie nieder, um ihm in das Gesicht blicken zu können, welches hinter einem Vorhang schulterlanger Haare halb verborgen ist.
Wie soll er seinem Bruder antworten, wenn er selbst die Antwort nicht begreifen kann? Welche von den tausend Möglichkeiten, die sich in seinem Hirn drehen, ist die richtige?
Die Gedanken wirbeln in Boromirs Kopf durcheinander. Und zudem brodelt das Begehren noch immer in seinen Adern und lässt das Überlegen zu einem fast unmöglichen Unterfangen werden.
Was will Faramir hören? Vielleicht ein 'Ja, ich besteige ständig jemanden!', damit er sich wieder zufrieden hinter seinen Büchern verstecken kann und er, Boromir, als einziger in diesem Dilemma festsitzt? Oder …
Faramir weicht fast erschrocken zurück, als sich Boromirs Blick zu seinem Gesicht hebt. Fest halten ihn die grauen Augen gefangen und er kann den gleichen Zorn in ihnen entdecken, wie er selbst fühlt.
„Nein, ich springe nicht jeden an, wenn ich etwas getrunken habe!“, flüstert Boromir mit rauer Stimme. „Nur du bringst mich so weit, dass ich mich vergesse!“
Im Nachhinein ist sich Faramir nicht mehr sicher, wie und warum er die Bäder verlassen hat. Ob er noch etwas auf Boromirs Worte erwidert oder sie nur stillschweigend so hingenommen hat. Er kann auch nicht sagen, warum seine Füße den Weg zur Spitze des Felskeils gefunden haben und ob er noch in anderen Teilen der Zitadelle gewesen war. Nichts. Das Hirn ist wie leergefegt, nur noch die Worte Boromirs scheinen darin zu treiben. „ … du bringst mich dazu ...“
Nichts ist mehr so, wie es vor diesen Worten war.
Nichts kann mehr so sein, wie es noch gestern oder gar am heutigen Morgen war!
Es hat sich geändert, ja, die ganze Welt hat sich geändert. Es ist fast so, als hätte Eru das Universum umgedreht und was gestern noch richtig war, ist heute falsch. Aber das scheint nur nach seinem Gefühl so zu sein, denn noch immer leuchten die Sterne am Sommerhimmel.
Verzweifelt schüttelt Faramir den Kopf. Er will sich von den Gedanken befreien, die sein Hirn vernebeln und ihn davon abhalten wollen, über etwas wirklich Wichtiges zu grübeln, sogar das Wichtigste, was sein bisheriges Leben mitbestimmt hat.
Boromir.
Faramir weiß, dass ihrer beider Vater nie die Verbundenheit der beiden Brüder verstanden hat. Je mehr er versuchte, es zu hintertreiben, um so enger schien es die beiden zusammen zu schweißen. Es war immer etwas Geheimnisvolles, was sie miteinander verband – so dachte er, Faramir. Aber sollte die Lösung für dieses Rätsel so einfach sein? Sollte es wirklich nur daran liegen, dass sie sich schon immer näher standen, als es Geschwisterkindern zustand?
Im Nachhinein wird ihm bewusst, dass er nie eine von Boromirs Liebschaften kennengelernt hat. Wobei er es bisher eher immer darauf geschoben hat, dass sein Bruder sehr diskret in diesen Dingen war und auch darauf, dass er selbst sich lieber mit Mithrandirs Unterricht und dem späteren Selbststudium beschäftigt hat, als sich darüber Gedanken zu machen.
Über sich selbst lächelnd, schüttelt Faramir den Kopf. 'Seltsam, wohin manche Gedanken jemanden führen können!' Oder sollte doch etwas von seinen Gedankengängen den Gegebenheiten entsprechen? Warum sonst ist Boromir mit seinen vierzig Jahren noch nicht verehelicht? Schon längst hätten seine Kinder die letzten Winkel der Zitadelle erkunden müssen. Aber schien er in diese Richtung nie Ambitionen zu zeigen.
Und was ist mit ihm selbst? Seine Bekanntschaften könnte er an einer Hand abzählen, wenn er wollte. Aber wollte er denn? Im Grunde genommen nicht. Es war keine Frau bei, der er einen weiteren Gedanken schenken würde, da sie es den Moment nur auf die Befriedigung ihrer Lust abgesehen und auch daraus keinen Hehl gemacht hatte. Häufig war es sein Name und sein Gesicht, welches die hochherrschaftliche Damenwelt der Stadt Minas Tirith mehr interessierte, als das reichlich langweilige Zusammenleben mit einem „Bücherwurm“, wie Vater ihn oft nannte. Trotzdem gab es ausreichend interessierte junge Damen – aber nur selten war eine dabei, die ihn selbst interessierte.
Unwillkürlich kommt ihm die letzte Bekanntschaft in den Sinn, mit welcher er sich in die privaten Räume zurückgezogen hatte. Sie hatte schwarzes Haar und reizte ihn allein schon von ihrer Art her, wie sie mit ihm umging. Es war etwas Forderndes in ihren Berührungen gewesen und in gewisser Weise waren sie denen Boromirs nicht unähnlich.
Was ihn jedoch verblüfft, wenn er mehr darüber nachdenkt, dann sind es die Gefühle, die damit einher gingen und deren Intensität. Wie konnte er auf Boromirs geradezu überwältigenden Berührungen anders reagieren, als er es getan hat?
'Was wäre, wenn ...'
Boromir weiß nicht, ob er seinen Bruder hätte aufhalten müssen. Das Einzige, dessen er sich sicher sein kann, ist, dass die Worte nun zwischen ihnen stehen und danach verlangen, erklärt zu werden.
Er hätte nur die Hand ausstrecken und Faramirs Hand ergreifen müssen, um ihn zurückzuhalten. Aber er hatte es nicht gekonnt.
Er war zu keiner Bewegung fähig gewesen, es war ihm sogar unmöglich, einfach nur die Hand zu heben!
Fast schien es, als wäre durch die Berührungen alle Kraft und Stärke aus ihm herausgewichen und dafür in seinen Bruder gefahren. Dessen gezeigte Emotionen …
Nein, so hat er Faramir noch nie erlebt! Zu viel Zorn hat er in seinen Augen sehen müssen. Die Bewegungen seines Körpers und der Klang seiner Stimme waren angefüllt von unterdrückter Wut. Er schien regelrecht von der Macht der Gefühle zu pulsieren. Ungewohnte Leidenschaften zeichneten sein Gesicht und lösten die starre Maske auf, hinter der er sich immer verbarg.
Boromir glaubt sogar, dass er hatte sehen können, wie die Emotionen in seinem Bruder um eine Vorherrschaft rangen und der Zorn schlussendlich die Oberhand gewann.
Für eine viel zu kurze Zeit hatte er Faramir so sehen dürfen, wie er wirklich ist und nicht, wie er sich der Welt zeigt.
Und dann hatte er es in seiner Verzweiflung und Ahnungslosigkeit gewagt, diese Worte zu sagen.
Er hatte keine Vorstellung davon, wie sein Bruder auf diese Eröffnung reagieren würde. Doch hatte er nach dem gefühlvollen Ausbruch Faramirs damit gerechnet, dass dieser auf Grund seiner emotionalen Anspannung, weiterhin so leidenschaftlich reagieren würde. Aber das Folgende traf ihn geradezu unerwartet und erfüllte ihn mit Entsetzen. Hilflos musste Boromir mit ansehen, wie das Feuer, welches in den Augen des anderen loderte, erlosch. Die wunderschöne Maske legte sich wieder auf das Gesicht des jüngeren und wischte die Emotionen fort, als hätten sie nie existiert. Nur die leicht geröteten Wangen gaben eine Ahnung von der Leidenschaft, die sich unter der Haut verbarg.
Einmal vom hitzigen Temperament des Bruders gekostet, welches sich nun wieder hinter einer anscheinend unüberwindlichen Mauer verbirgt, beschleicht Boromir das Gefühl, als hätte sich eine schwarze Wolke vor die Sonne geschoben. Grau und kalt erschien ihm von einem Moment zum anderen die Welt und nach nichts verlangt es ihn mehr, als ihn wieder so erleben zu dürfen.
Liebend gern würde er zusehen, wie die Leidenschaft in den klaren Augen erwacht. Lust würde seinen Blick verschleiern und ...
Stattdessen sitzt er hier, allein, auf dem gefliesten Boden des Bades und ergeht sich in Selbstvorwürfen und den Gedanken an das, was hätte sein können.
In einer Geste, die der Faramirs sehr ähnlich ist, fährt Boromir sich mit beiden Händen durch das braune Haar. 'Was ist geschehen?', überlegt er immer wieder. 'Wie hat es geschehen können, dass ich mich zu dieser unbedachten Handlung habe hinreißen lassen?'
So sehr er sich auch bemüht, das Geschehen der vergangenen Stunde zu ergründen, kommt er doch immer nur zu dem einen Ergebnis: Er selbst trägt die Schuld.
Wie hätte er einen brüderlichen Kuss als etwas anderes fühlen dürfen?
'Brüderlich?', schnaubt er und spürt allein schon bei dem Gedanken an die leichte Berührung der Finger auf seinem Gesicht, wie sein Blut wieder durch seine Glieder jagt. Die Erinnerung an die Lippen auf seiner Haut wirkt wie siedendes Öl und der ihn umwehende Geruch des vergossenen Weines, der ihn an Faramirs Geschmack erinnert, gleicht einem hoch loderndem Feuer.
Die Erinnerungen peitschen Hitze durch seinen Körper, fahren ihm in die Eingeweide und lassen sein Herz rasen. Glut kriecht ihm unter die Haut und lässt sie begehrlich kribbeln. Er kann überdeutlich spüren, dass Schweiß langsam an seinem Hals hinab rinnt und im Kragen versickert. Einengend und überaus unangenehm klebt ihm seine Kleidung bereits am ganzen Körper. Mit bedächtigen Bewegungen beginnt Boromir, sich aus den Kleidern zu schälen. Der nächtliche Sommerwind streicht über seine Brust, bringt aber der erhitzten Haut keine Kühlung, nur Schauer rinnen über seine Haut. Körperlose Finger treffen auf seine Nacktheit, streicheln über ihn bis hinunter zu den aufgeschnürrten Beinkleidern, wo das Begehren gierig pocht. Überreizte Nerven gaukeln ihm erfüllte Wünsche und Träume vor, als sich eine Hand um seine Härte schließt und ihn mit wenigen Strichen zur Erfüllung bringt.
Faramir hat einen Entschluss gefasst, der unsicherer und abwegiger für ihn nicht sein kann! Wenn ihn jemand fragen würde, warum er sich so und nicht anders entschieden habe, ja, was ihn denn überhaupt zu dieser Entscheidung getrieben habe, dann könnte er nur unwissend die Schultern zucken. Wie soll man etwas erklären und versuchen in Worte zu fassen, was sich aus einem Gefühl heraus ergeben hat? Kann das jemand überhaupt verstehen, dessen Gefühlswelt so ganz anders ist als die eigene?
Nie stand seine Entscheidung unumstößlicher fest, als darin, sich auf seine Gefühle - und somit auf seinen Bruder - einzulassen. Er möchte die Emotionen zulassen, die seine Berührungen in ihm ausgelöst haben. Allein schon der Gedanke an die streichelnden Finger lassen ihn erschauern und etwas, das er als Nervosität bezeichnen würde, breitet sich in ihm aus. Hunderte Schmetterlinge scheinen sich in seinem Bauch heimisch zu fühlen und voller Wohlbehagen mit den zarten Flügeln zu schlagen. Zu allem Überfluss spürt er, wie sich sein Gesicht zu einem Grinsen verzieht, welches er selbst als albern empfindet, jeder andere jedoch als ehrliche Freude.
Es ist sein Wunsch, diese eine Nacht mit seinem Bruder zu verbringen und die Konsequenzen, die sich daraus eventuell ergeben könnten, zu ignorieren.
Ohne Zögern stößt Faramir die Tür zu den Bädern auf. Zu eilig hat er es, seinem Bruder gegenüber zu treten, als dass er sich mit den üblichen Höflichkeiten noch abgeben kann! Und je eher er ihm gegenüber steht, um so früher kann er sich der Unumstößlichkeit seiner Entscheidung sicher sein.
Kaum hat er die Tür hinter sich in das Schloss fallen lassen, als er auch schon das Wort an seinen Bruder richten will.
Doch statt Boromir trifft er auf zwei Bedienstete, die mit säuerlichem Gesicht damit beschäftigt sind, die Scherben von den Fliesen zu entfernen und nun erstaunt den unverhofft im Raum stehenden Mann anblicken.
Kurz blickt sich Faramir um, kann aber seinen Bruder nicht entdecken. Andererseits wären auch die Bediensteten noch nicht hier, wenn der Raum noch unter Benutzung wäre.
„Wo ist Herr Boromir?“, fragt er die Männer, bekommt jedoch nur ein entschuldigendes Kopfschütteln zur Antwort.
Auf dem Gang trifft Faramir auf Beregond, der ihm mit hochgezogener Augenbraue darüber Auskunft gibt, dass er Boromir erst vor Kurzem auf dem Weg zu seinen Gemächern habe gehen sehen. Zum wiederholten Mal blickt er einem davon eilenden Faramir hinterher.
In der mondhellen Nacht breitet sich die Ebene von Pelennor weit vor Minas Tirith aus.
Sich seiner Nackheit nicht bewusst, steht Boromir am hohen Fenster und lässt den sommerlichwarmen Nachtwind, der von der weiten Ebene herauf streicht, über seine Haut streichen. Wie der Atem einer Geliebten berührt er seine breite Brust und gleitet den Hals hinauf, bewegt leicht das schulterlange Haar. Wenn er die Augen schließt könnte er sich vorstellen, dass es liebevolle Finger sind, die ihn streicheln.
Ein leises Seufzen entringt sich ihm, als er merkt, in welche Bahnen seine Gedanken wieder gelenkt werden. Wie soll er diese Nacht überstehen mit dem Wissen, dass er nicht weit entfernt von ihm schläft. Die Vorstellung, was hätte sein können, ruft in seinen Lenden ein angenehmes Kribbeln hervor.
In einer verzweifelten Geste lehnt er die Stirn gegen den Fensterrahmen. Fast wie von selbst schließen sich seine Augen. Hätte er vielleicht doch sofort abreisen sollen?
Aber andererseits erfüllt ihn leise Hoffnung, dass er seinen Bruder am Morgen noch einmal sehen wird. Vielleicht kann er sogar mit ihm sprechen? Seine Worte erklären oder sie auch unter Umständen wieder zurücknehmen!
Ihm wird bewusst, dass zum wiederholten Mal seine Gedanken nur um seinen Bruder kreisen.
Mit einem leisen Geräusch fällt die Tür ins Schloss. Sofort hat Faramir die hochgewachsene Gestalt vor den hohen Fenstern entdeckt. Blasses Mondlicht fällt zwischen den Vorhängen hindurch auf die Haut des Bruders und beraubt ihr der Farbe, an die er sich als einen dunklen Goldton erinnert. Von der strahlenden Sonne Gondors geküsste Haut, unter der sich bei jeder Regung die definierten Muskeln bewegen. Er kennt den Körper des anderen fast ebenso gut, wie den eigenen. Kennt die Anzahl der hellen Narben, die Boromir bei seinen zahllosen Kämpfen und Auseinandersetzungen erfahren musste ebenso wie die geschmeidigen Bewegungen, die ihm selbst beim Spazieren eigen sind. Wie oft hat Faramir den Bruder bei seinen täglichen Waffengängen gesehen und ist auch oft genug selbst gegen ihn angetreten? In den warmen Monaten haben sie häufig ohne Lederkoller und wattiertem Wams die schweren Übungsschwerter gegeneinander geschwungen. Wie oft sind sie währenddessen körperlich aufeinander getroffen, ohne dass er jemals etwas von den Gefühlen seines Bruders geahnt hätte? Wie oft hatte er dabei die heiße Haut des anderen berührt?
Wie soll er heute darüber denken, wenn er bei diesen Gelegenheiten in die Augen Boromirs sah? War es der Kampfrausch, die Begeisterung gegen einen ebenbürtigen Kämpfer anzutreten oder die Begierde, welches die grauen Augen dunkel färbte?
Und nun steht er hier, nur wenige Schritte von seinem Bruder entfernt, der in vollkommener Nacktheit vom Mondschein umflossen, sich der Anwesenheit Faramirs nicht bewusst ist.
Zweifel beschleichen Faramir, ob seine Entscheidung die richtige ist, während er auf den breiten Rücken Boromirs starrt. Alles in ihm strebt danach, die Hand auszustrecken und den anderen zu berühren. Gleichzeitig wirbelt immer wieder die Frage durch seinen Kopf, was er hier tue, denn es ist sein Bruder, nach dem es ihn verlangt!
Am liebsten würde er sich auf dem Absatz umwenden und aus diesen Räumen fliehen. Und doch bleibt er, nähert sich sogar mit leisen Schritten dem am Fenster Stehenden.
Ohne etwas dagegen unternehmen zu können, hebt sich seine Hand. Nur kurz berühren seine Fingerspitzen die glatte Haut an Boromirs Schulter.
Eine federleichte Berührung an der Schulter lässt Boromir sich umwenden und im ersten Moment verschlägt es ihm den Atem. Im einfallenden Mondlicht ist deutlich der Bruder zu erkennen und doch wirkt er im silbernen Licht wie eine der körperlosen Wesen, die in den Ewigen Hallen zu finden sein sollen. Einst rief Eru Ilúvatar die Ainur zu sich, auf dass sie ihm in der Unendlichkeit Gesellschaft sein würden. Von ihm erhielten sie das eine Lied, mit welchem sie die Vision von Arda erschufen. Eru schenkte dem Bild die Stofflichkeit und entließ die Ainur in diese erstandene Welt. Mit ihrem Schritt in dieses neue Reich erhielten sie Substanz und waren fortan als Valar bekannt.
Nun hat Boromir das Gefühl, eines dieser Wesen vor sich zu haben, welches die von Eru geschenkte Stofflichkeit nie hat annehmen wollen. Mondlicht und tiefer Schatten berauben der Gestalt vor ihm der festen Substanz und lassen ihn unwirklich erscheinen. Das silbergraue Gewand, welches sich der andere übergeworfen hat, verstärkt noch den Eindruck, dass er ein Traumgespinst vor sich hat.
Es kribbelt Boromir in den Fingern sich zu vergewissern, dass die Gestalt vor ihm nicht nur ein Geist ist. Und doch schreckt er davor zurück.
Was wäre, wenn es doch nur ein Gespinst sein sollte, welches ihm sein Hirn vorgaukelt?
Und wenn er es doch wirklich ist?
„Faramir?“ Flüsternd durchbricht seine Stimme die Stille, geschwängert von Unglauben und Zweifel.
Fast wäre Faramir über das überaus erstaunt blickende Gesicht des Bruders in Lachen ausgebrochen. Doch schnell wechselt dessen Erstaunen zu Zweifel, wie er ihn selbst in sich fühlt, um ihn schließlich voller Unglauben anzusehen.
Er hört seinen Namen leise geflüstert und trotzdem übervoll der Unsicherheit. Erleichterung durchströmt ihn ob der Gewissheit, nicht als Einziger dieses Durcheinander an Gefühlen erleben zu müssen.
Boromir sieht das Lächeln über das Gesicht des Bruders huschen. Fast wirkt es erleichtert, doch das Licht des Mondes kann trügerisch sein. Oder amüsiert er sich stattdessen über ihn?
Ärger über seine eigene Unzulänglichkeit, die widerstreitenden Gefühle im Zaum halten zu können und auf seinen Bruder, der Schuld an diesem Durcheinander in seinem Inneren ist, steigt in ihm hoch. Zu allem Überfluss spürt er überdeutlich, was dieses kleine Lächeln mit seinem Blut anstellt. Viel zu schnell pulsiert es durch seinen Körper und lässt das Begehren von neuem aufflammen, welches er mühsam zurückgedrängt hat und viel zu dicht unter seiner Haut schlummert.
Verlangen lässt seine Hände zittern, die er nur zu gern in das Haar des Bruders geschoben hätte, um ihn an sich zu ziehen. Er würde seinen Körper an den des anderen pressen und das Gewand zur Seite schieben, um zu erkunden, was er darunter finden würde. Die Gedanken sind für ihn wie wahre Berührungen und er kann fühlen, wie sie das Blut erregen, das bereits in seiner Härte pulsiert.
In der Hoffnung, dass Faramir nichts von den Reaktionen seines Körpers bemerkt haben mag, die seine bloße Gegenwart in ihm auslöst, wendet sich Boromir von ihm ab. Die Arme vor der breiten Brust verschränkt, um das verlangende Zittern seiner Hände zu verbergen, blickt er wieder auf die weite Ebene hinaus.
„Warum bist du hier?“, fragt er schließlich über die Schulter, als er glaubt, seine Stimme frei von Gefühlen halten zu können.
Doch Faramir kann trotzdem das ablehnende Grollen hinter dessen Worte deutlich heraus hören. Aber soll er sich wie einen kleinen Jungen davon jagen lassen? „Wir müssen miteinander sprechen!“, antwortet er deshalb mit einer Festigkeit und Bestimmtheit in der Stimme, die ihn selbst erstaunt.
„Was gibt es da noch zu reden?“ Ein Seufzer begleitet die leisen Worte. „Ich habe mich zu etwas hinreißen lassen, was nicht sein darf!“
Faramir spürt, wie ihm das Blut aus dem Gesicht weicht, eine eisige Faust drückt ihm das Herz zusammen. „Was ist … Was wäre, wenn ich ebenso empfinde wie du!“, wendet er ein.
„Woher willst du wissen, wie ich fühle?“ Grollt Boromir und wendet sich dann halb zum Bruder um, die Augenbrauen zornig zusammengezogen. „Das ist krank! Nein, wir sind krank! Uns muss ein Wahnsinn gepackt haben!“, speit er wütend, nur um im nächsten Moment „Ja, das wird es sein“ wie zu sich selbst zu flüstern.
Geradezu greifbar hängt Boromirs Aufgabe im Raum. Bittere Verzweiflung und der herbe Geruch des Grams übertünchen den süßen Duft des Begehrens und den würzigen des Verlangens. Unwillkürlich tritt Faramir dicht an den Bruder heran, ohne dessen Haut zu berühren. „Mir ist es egal, was mich dazu verleitet haben mag, hierher zu kommen!“, flüstert er in dessen Ohr. „Das Einzige, das ich mir wünsche ist, dass du mich wieder berührst!“
Boromir spürt den warmen Atem sanft über seine Haut am Hals streichen. „Vielleicht wird danach Schluss mit diesem Wahn sein?“, lockt die Stimme seines Bruders sowie dessen Wärme, die er auf seiner bloßen Haut spürt und gegen die er sich nur lehnen müsste. Wann ist sein kleiner Bruder zum Verführer geworden?
„Oh, Eru, sei mir gnädig!“, murmelt Boromir ergeben mit erstickter Stimme und wendet sich Faramir vollends zu, um ihm ernst in die Augen zu blicken. „Nach nichts verlangt mich mehr, als dich zu berühren! Und doch zögere ich, weil ich Angst davor habe, dich zu verlieren!“
Ein Hand legt sich an seine Wange, will ihn dazu verführen, sein Gesicht hineinschmiegen zu wollen. „Du wirst mich verlieren …!“ Lippen legen sich auf seinen Mundwinkel. „Irgendwann, wenn die Zeit reif ist!“
Sich in dem Gefühl der Berührung hingebend, nimmt er den Mund des jüngeren gefangen. Begierige Hitze rast sofort durch seinen Körper, pulsiert in seinen Eingeweiden und lässt das Blut in den Ohren rauschen. Endlich dürfen seine Finger das machen, wovon er bis eben noch geträumt hatte. Mit vor Verlangen zitterigen Fingern schiebt er Faramir das Gewand von den Schultern und lässt atemlos seine Hände über die freigelegte Haut gleiten. Voller Begehren will er sich auf die Knie sinken lassen, seinen Mund den Fingern folgen lassen, die gerade über die weiche Haut der Hüfte streichen. Doch Faramirs Hände an seinen Armen halten ihn aufrecht, ziehen ihn dichter an den Körper des Bruders.
*********
Halb wird Faramir aus dem Schlaf gerissen, als ein kalter Hauch über seinen Rücken streicht, der einen unangenehmer Schauer durch seinen Körper rinnen lässt. Doch im nächsten Moment schmiegt sich Wärme an seine Haut, Arme legen sich um ihn und ziehen ihn dicht an einen festen Körper.
Unwillkürlich entringt sich ihm ein zufriedener Seufzer, als sich eine Hand besitzergreifend auf seinen Bauch legt und dabei über die glatte Haut streicht. Hitze breitet sich unter den streichelnden Fingern aus, die träge kleine Kreise ziehen.
Das Gefühl eines bärtigen Gesichts an seiner Schulter lässt ihn lächelnd den Kopf in die Richtung wenden.
„Hab ich dich geweckt?“ Er fühlt mehr die flüsternde Stimme Boromirs auf seiner Haut, als dass er die Worte hört. Lippen folgen dem Atemhauch. „Schlaf weiter!“
Faramir lässt den Kopf zurück auf das Kissen sinken. Bevor er wieder im Schlaf versinkt, spürt er, wie sich die Arme fester um seinen Körper legen. Das Gefühl von Geborgenheit durchflutet ihn. Es tanzt unter seiner Haut, auf der nun die Hand seines Bruders ruht und nach der er mit der seinen tastet.
Boromir spürt die Hand, die sich über die seine legt und die Finger, die sich mit den seinen verschränken. Allein nur das Gefühl, wie die ineinander verschlungenen Hände an Faramirs Brust gezogen werden, lässt ihm das Herz geradezu vor Wärme überquellen und die Seele schwer werden.
Wie soll er gehen können, wenn er nun endlich zu seinem Leben gefunden hat?
Mit einem Seufzen vergräbt er das Gesicht an der Schulter des jüngeren, atmet den Duft ein, den dessen Haut verströmt. Die erste Gier ist gestillt und das Wissen, Faramir am Morgen schlafend neben sich wiederzufinden, erfüllt ihn mit Zufriedenheit. Die körperliche und auch die seelische Befriedigung macht ihn träge und schläfrig, trotzdem lassen ihn die Gedanken an das zuvor Geschehene nicht los, wandern immer wieder zurück und erzeugen in ihm ein Gefühl der Unwirklichkeit, als wäre er in einem Traum gefangen.
Und doch war es geschehen. Keine Traumgebilde könnten sich in der Erinnerung so realistisch anfühlen:
Das Letzte, dessen er sich bewusst ist, bevor er sich den überwältigenden Gefühlen hatte ergeben müssen, waren die beinahe zögerlich wirkenden Berührungen Faramirs. Dessen Lippen, die sich weich und geradezu unsicher und fragend gegen seine bewegten, obwohl diese noch wenige Augenblicke zuvor Anderes gesagt hatten. Und dessen Finger, die über seine Haut strichen und die Glut, die unter ihr schlummerte, weckten.
Wie Flammenzungen zogen sie Spuren über seine Brust, schmiegten sich an seine Hüfte und glitten über seinen Rücken.
Überrascht hatte Boromir leise gekeucht, als sich schließlich eine schlanke Hand in seinem Haar versenkte. Finger verflochten sich schmerzhaft mit den Strähnen, zwangen den Kopf nach hinten und unwillkürlich entrang sich ihm ein tiefes Stöhnen. Als eine Zunge gierig durch seinen Mund strich und sich der Körper des anderen gegen seinen bewegte, war es um seine Selbstbeherrschung geschehen.
Eine rote Nebelwand schien ihn zu umhüllen, als er nun seinerseits gierig den Mund des Jüngeren eroberte. Seine bisher tatenlosen Hände krallten sich in Faramirs glatte Haut, begannen, die darunter verborgenen Muskeln mit langen Strichen zu massieren, was mit einem kehligen Stöhnen belohnt wurde.
Im Nachhinein kann Boromir nicht mehr sagen, wie es dazu kam, dass sie sich auf seinem Bett wiederfanden. Ob es nun an Faramir lag, der mit regelrecht ungezügelter Leidenschaft auf seine Berührungen reagierte oder an ihm selbst, der ihn in seiner Hitze dorthin geführt hatte. Es wäre auch möglich, dass er ihn einfach getragen hatte. Wie auch immer es geschehen sein mag, so war das Ergebnis doch schlussendlich so, wie er niemals zuvor es sich zu wünschen erlaubt hat.
Unwillkürlich schmiegt er sich dichter an die warme Haut seines Bruders, als ihn die Erinnerung daran überrollt, wie er Faramir und sich selbst zum Höhepunkt getrieben hatte. Wie er das feste Fleisch von ihnen beiden gehalten hatte, aneindander gepresst in einer Hand. Streichelnd, reibend, gleitend, bis sich beider Samen zwischen ihre Körper ergoss.
Schon kann er spüren, wie das Blut, allein nur von den Erinnerungen wieder angeheizt, durch seine Adern pulsiert und sich heiß in seinen Lenden sammelt.
Seufzend lehnt er die Stirn gegen Faramirs Schulter.
Warum muss ihn zu dieser Zeit der Auftrag des Vaters von hier fortführen? Warum muss er wegen eines Traumes gehen, dessen Bedeutung im Dunkel liegt? Muss er womöglich nur die Reise antreten, weil er selbst durch puren Zufall denselben Traum hatte?
Im Stillen verflucht er sich dafür, es dem Vater gesagt zu haben. Aber andererseits … Würde er jetzt neben Faramir liegen und seine Haut an seinen Körper geschmiegt spüren dürfen, wenn er es nicht getan hätte? Was wäre, wenn …
Er merkt, dass ihm die Gedanken schwer werden und er in einen leichten Schlaf abdriftet.
Halb wird Faramir aus dem Schlaf gerissen, als ein heißer Hauch über seinen Rücken streicht, der einen angenehmer Schauer durch seinen Körper rinnen lässt. Unwillkürlich will er sich der Hitze entgegenlehnen, doch wird sein Körper nieder gehalten. Schnell dringen die Erinnerungen von den Geschehnissen des Abends in sein noch vom Traum umfangenem Gehirn und ziehen es in das Hier und Jetzt.
Bäuchlings in die weichen Decken gepresst, findet er sich wieder. Hände, rau vom täglichen Gebrauch des Schwertes, streichen über seinen Körper, hinterlassen ein angenehmes Prickeln auf der Haut und scheinen ihm der Kraft zu jedweder Bewegung zu berauben. Trotzdem ist er versucht, sich umzuwenden. Über die Schulter kann er jedoch nur einen kurzen Blick auf den Bruder werfen, der sich knieend über ihm erhebt und sich nun herab beugt.
Im nächsten Moment spürt er Boromirs Zähne, die über die Haut an seinem Hals schaben.
„Was soll das werden?“, bringt er atemlos hervor, als sich Zähne in seinen Nacken graben.
Das Schnurren des Bruders kann er deutlich an seiner Haut spüren, welches heiße Schauer durch seinen Körper jagt und wie Lava durch seine Adern rinnt. „Der Morgen naht bereits und bevor ich auf Reisen gehen kann, fordere ich mein Abschiedsgeschenk ein!“
Faramir beschließt für sich, auf das Spiel Boromirs einzugehen, denn schließlich verrinnt die Zeit unaufhaltsam und zudem scheinen die nun über seine Seiten streichelnden Hände alle sinnvollen Gedanken aus seinem Hirn zu vertreiben.
„Ein Geschenk zum Abschied?“, fragt er mit einem Keuchen unter dem Gefühl, dass Lippen und Zunge langsam der Linie seines Rückgrates hinab folgen und eine feuchte Spur hinterlassen. „Ist es nicht Sitte, dass nur Gäste ein Geschenk erhalten, sobald sie wieder auf Reisen gehen?“
Leises Lachen vibriert durch den Körper über ihm und gleichzeitig glaubt er, es bis in sein Innerstes spüren zu können. „Bin ich denn kein Reisender, der ein Geschenk verdient?“
„Du legst diese Sitte sehr weiträumig aus!“, wendet Faramir ein und versucht dabei seiner Stimme einen Anschein von kühler Gelassenheit zu geben.
Doch im nächsten Augenblick stöhnt er erstickt auf, als sich ein Bein zwischen seine Schenkel drängt, sie spreizt und warme Finger nun zielsicher über Hoden und Steg massierend streicheln.
„Nein, mein Bruder, nur bei dir!“ Ohne Vorwarnung dringt ein Finger in ihn, entlockt ihm ein überraschtes Keuchen.
„Sieht so deine Liebe zum Volk Gondors aus?“ Hitze breitet sich in Faramir aus, heißer als die Gier, die bei ihrem ersten Zusammentreffen in ihm brannte, lodert in ihm hoch und er muss sich geradezu zwingen, sich nicht windend unter den festen Händen zu bewegen. Stattdessen versucht er, sich auf seine Worte und die des Bruders zu konzentrieren.
„Wenn du erleben möchtest, wie meine Liebe zu Gondor aussieht, dann sieh mir ins Gesicht!“, grollt Boromir hitzig, während sich sein Finger in dem anderen gleitend bewegt. „Schau mich an, wenn ich dich liebe.“
Faramir wirft einen Blick über die Schulter zu dem anderen auf. Heiß pulsiert das Blut durch seinen Körper, als seine Augen auf die nun fast schwarz wirkenden Boromirs treffen. Begierde durchflutet ihn, pocht schmerzhaft in seinem Geschlecht, das sich hart gegen die Decken unter ihm presst. Dass sich Boromir nur für einen Moment von ihm entfernt hat, lässt ihn gequält stöhnen und nach mehr und intensiveren Gefühlen verlangen.
Ohne über sein weiteres Tun nachzudenken, wendet er sich um und langt gleichzeitig nach dem Arm des Älteren. Er zieht ihn an seinen Körper, um ihn dicht an seiner Haut spüren zu dürfen. Wie von selbst schlingen sich seine Beine um Boromirs Hüfte und seine Hände umschließen das bärtige Gesicht des Älteren.
„Du bist Mein, mein Bruder!“, flüstert er an seinen Lippen. „Du fährst mir unter die Haut, mit jeder kleinen Geste und mit jedem kleinen Lächeln, welches du mir schenkst. Wie kann dann ich, ein loyaler Diener Gondors und dessen Volkes deiner Forderung nach einer Gabe nicht nachgeben können?“
Boromir spürt die Lippen auf seiner Haut, die sich zu einem Lächeln verziehen, während er in seinem Gefühlsstrudel aus Lust und Begierde bestrebt ist, den Sinn der Worte zu ergründen. Schließlich umspielen seine Lippen ebenfalls ein kleines Lächeln, als ihm die Bedeutung ins umnebelte Gehirn tröpfelt. „Ich liebe dich ebenfalls, Faramir!“, flüstert er, nur um im nächsten Moment sich gierig den Berührungen hinzugeben.
Tief lässt er die Zunge in den Mund des anderen gleiten, als wäre es sein Wunsch, auf dieser Weise das Herz Faramirs berühren zu können.
Dieser kommt ihm mit der gleichen Leidenschaft entgegen, hebt seine Hüfte, reibt sich an ihm, während seine Hände über Boromirs Körper wandern. Immer fahriger und drängender werden seine Bewegungen. Gierig ist er nach dem Geruch des Bruders, saugt ihn tief in seine Lungen und kann ihn auf seiner Zunge schmecken. Fast ist es, als wäre Boromir das Universum und er, Faramir, würde in ihm schwerelos dahintreiben. Nichts scheint ihn mehr bewegen zu können, als eine Berührung seines Bruders, welche seinen Herzschlag antreibt und ihn vorwärts jagt.
„Ich will dich, Faramir!“, hört er ihn flüstern. „Ich will dich lieben!“ Gleichzeitig spürt er Finger, die über seinen Eingang tasten, ihn streicheln, als würde er auf die Zustimmung des Bruders warten.
Faramir nickt nur leicht, kaum merklich und doch ausreichend, um eines dieser kleinen Lächeln auf die Lippen seines Bruders zu zaubern, die er so an ihm liebt.
Kurz löst sich Boromir von ihm, doch wenige Augenblicke ist er wieder zurück, um ihn in einen geradezu genüsslichen Kuss zu ziehen. Zur gleichen Zeit legen sich Finger auf seinen Eingang, verteilen warme Feuchtigkeit und massieren den Muskel bis er weich den tastenden und reizenden Fingern nachgibt.
Boromir selbst erfährt seine Härte wie eine Folter. Vernebelt von der Nähe zu seinem Bruder, kann er nur noch fühlen und am Schlimmsten erscheint ihm das Gefühl seiner Finger in dem Bruder. Oder auch das Schönste, wenn er in das Gesicht seines Bruders blickt.
Wie überwältigend muss dann erst das Gefühl sein, sich in ihm zu versenken?
Wie wird es sich anfühlen, wenn ...
Faramir kann ein Stöhnen nicht unterdrücken, als Boromirs Härte sich langsam in ihn schiebt. Im ersten Moment ist das Gefühl der Dehnung schmerzhaft, doch schnell lässt es wieder nach und zurück bleibt nur noch Wärme und das Gefühl des Ausgefülltseins. Mit halb geschlossenen Augen spürt er dem nach, genießt es, den Bruder tief in sich zu spüren.
Es ist für Boromir ein überwältigendes Gefühl, sich in Faramir versenken zu dürfen und gleichzeitig eine übermenschliche Qual sich jedwede erfüllende Bewegung selbst zu versagen. Allein schon der dunkle Blick unter halb geschlossenen Lidern zu ihm auf, lässt ihn sich wünschen, sein festes Fleisch immer wieder in den anderen zu hämmern, ohne Rücksicht darauf, wie sehr es Faramir schmerzen würde.
Und doch hält er sich zurück, genießt das Gefühl der ihn umschließenden Enge und Hitze bis Faramir ihn mit einem kleinen einladenden Heben der Hüfte aus der Bewegungslosigkeit holt.
Überdeutlich spürt Faramir das Gleiten, welches Schübe von Hitze durch seinen Körper jagt. Wieder hat er das Gefühl der Schwerelosigkeit, das Treiben zwischen den Sternen, und der einzige Halt kann ihm der Körper sein, der sich im Takt des Lebens um und in ihm bewegt.
Gierig nagt er an Boromirs Lippen. Unter seinen Händen kann er dessen tiefes Grollen spüren, als ihre Zungen den Rhythmus aufnehmen, den ihre Körper vorgeben.
Gegenseitig treiben sie sich voran. Schon lange sind die letzten Hemmungen verschwunden, sich den Gefühlen und dem Körper des anderen hinzugeben. Gierig wandern Hände über heiße Haut, spüren deren Glätte und dem heftig pulsierenden Blut nach, massieren das feste Fleisch unter samtiger Hitze, bis die Welt zu Sternenstaub zerfällt.
Ohne Rücksicht darauf, dass sein Wappenrock über und über verschmutzt ist, streckt sich Faramir auf dem schmalen Lager aus. Einen Arm über die Augen gelegt, wünscht er sich nichts sehnlicher, als nur für einen winzigen Moment in den dringend benötigten Schlaf zu versinken.
Drei ganze Tage sind seine Männer und er selbst auf den Beinen gewesen und hatten versucht, den anscheinend aus allen Teilen Mittelerdes herbeiströmenden Horden von Orks Herr zu werden.
Drei ganze Tage haben sie verhindern können, dass zu viele dieser Wesen dem Anduin zu nah kommen. Doch ihre Gefechte und kleinen Scharmützel sind nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Es ist ein aussichtsloser Kampf. Dessen sind sich auch seine Männer bewusst. Wie eine dunkle Wolke schwebt das Wissen im Hennet Annûn, hängt in den Höhlen und kriecht wie böse Dämpfe durch die Gängen. Es vergiftet selbst die Zuversicht der jungen Rekruten, die den Kampf gegen die Orks und die Haradrim noch immer als großes Abenteuer sehen, bis sie der schier endlosen Zahl an Feinden gewahr werden, die anscheinend nur ihren kleinen verborgenen Stützpunkt der Waldläufer als Angriffsziel auserkoren haben und sie zu überrennen drohen.
Mit leisem Seufzen erhebt sich Faramir wieder von seinem Lager. Er kann die Erschöpfung geradezu schmerzhaft bis tief in seine Knochen spüren, die Müdigkeit drückt ihn nieder und jede seiner Bewegungen erscheinen ihm, als würde er sich durch Wasser bewegen. Unwillkürlich kommt ihm der Verbotene Weiher in den Sinn, an dessen schmalem Ufer das Gras grün und weich zum Verweilen einlädt und dessen Ruhe nur von den Eisvögeln unterbrochen wird, die im klaren Wasser auf Beutefang gehen.
Doch ist jetzt nicht die Zeit, um sich auszuruhen, auch wenn er seinem Bedürfnis nur zu gern nachgeben würde.
Aus einer Truhe nimmt er saubere Kleidung, um sich umzuziehen, denn vor dem fadenscheinigen Vorhang, der seinen kleinen in den Fels geschlagenen Raum ein gewisses Maß an Privatsphäre gestattet, warten bereits die Hauptleute am Kartentisch, zu denen er sich kurze Zeit später gesellt.
Sprudelnd umspült das Wasser die rundgewaschenen Steine des kleinen Zulaufs, welcher den versteckt gelegenen Weiher speist. Das leise Rauschen und Plätschern erfüllt die Stille des frühen Abends und scheint mehr die Ruhe zu betonen, als sie zu durchbrechen. Es ist die Zeit, gerade jener Moment, in dem die Welt kurz davor ist, in Schlaf zu versinken. Die kurze Zeitspanne, in der der Abendstern allein am Himmel erstrahlt, während Sonne und Mond ihre Herrschaft gleichzeitig abgegeben haben.
Der Augenblick atmet die Reinheit der Unschuld. Unberührt wird diese Zeit jeden Tag aufs Neue geboren, berauscht die Sinne, nimmt die Schwere vom Geist bis man sich leicht fühlt. Pure Zufriedenheit erschüttert den Körper, rinnt als Schauer über die Haut und kann ein Lächeln selbst auf den ungnädigsten Betrachter zaubern.
So ergeht es Faramir immer wieder, wenn er sich gerade zu dieser Zeit hier aufhält. Wohlgefühl durchströmt ihn dann und vertreibt selbst die dunkelsten Gedanken, als wären sie in den Gängen des Hennet Annûn zurückgeblieben.
Eine gefühlte Ewigkeit hat sich Faramir die Vorschläge, Bedenken und Einwände seiner Hauptleute angehört, bevor er seine Befehle bekannt geben konnte. Häufig fallen ihm diese Entscheidungen sehr schwer, denn sind sie oft mit Verletzungen und sogar dem Verlust mancher guter Männer verbunden. Zudem kann er in diesen ständigen Kämpfen und kleinen Auseinandersetzungen mit dem Feind keinen Sinn erkennen, denn sie sind einfach zu übermächtig.
Was soll er mit seiner kleinen Schar dagegen ausrichten können?
Wenn das Gefühl der Ohnmacht wieder einmal zu groß wird, zieht er sich gern hierher zurück. An den verbotenen Weiher. In die Stille, die nach sonnenwarmer Erde duftet und nach frischem, lebendigem Grün, welches unter seinen Fingern weich nachgibt und seinem müden Körper ein besseres Lager bietet, als das eigene hinter dem verschlissenen Vorhang.
Faramir streckt sich auf dem Gras aus und verschrenkt die Hände hinter dem Kopf. Unwillkürlich suchen seine Augen nach den ersten Sternen, doch kann er noch keinen entdecken. Auch der Abendstern ist noch nicht so hoch gestiegen, dass er ihn von seiner Warte aus sehen kann.
Unwillkürlich schweifen seine Gedanken weiter zu seinem Bruder und Faramir kann spüren, wie die Sorge um Boromir ihm das Herz zusammen presst. Erst vor wenigen Tagen war sein Horn in ganz Ithilien zu hören gewesen. Ein gewohnter Klang wenn man mit Boromir in den Kampf zog, aber dieses Mal war er möglicherweise meilenweit entfernt. Was mag ihn bewogen haben, in sein Horn zu stoßen, dessen Klang zu den Waffen rufen soll? War er in Bedrängnis? War er in Gefahr?
Faramir schließt die Augen. Auch wenn er seinem Bruder nur zu gern zur Hilfe geeilt wäre, ja sogar schon kurz davor war, entsprechende Befehle auszugeben, ist es ihm doch nicht möglich. Die Pflichten halten ihn hier in den Hennet Annûn fest und zudem wüsste er noch nicht einmal, in welcher Ecke Mittelerdes er ihn zu suchen habe!
Nur für einen Moment will sich Faramir ausruhen, die Stille um sich herum verinnerlichen und sie auf sich wirken lassen. Schon nach wenigen Augenblicken kann er spüren, wie ihn die Ruhe erfüllt und er mit dem Gedanken an seinen Bruder in einen leichten Schlaf abdriftet.
Feiner Dunst hängt in der Luft, aufgewirbelt von der Wucht des gigantischen Wasserfalls, dessen weißschäumende Fracht mit lautem Getöse über den steinigen Rand hinab stürzt.
Faramir spürt den feinen Wasserstaub auf den Wangen und kann sehen, wie er kristallklare Perlen auf dem dunkelgrünen Stoff seiner Jacke bildet. An Tautropfen auf moosigem Grund erinnern sie ihn, oder auch an Tränen, in denen eine ganze Welt gefangen scheint, wenn man den Blick hinein versinken lässt.
Mit Erstaunen blickt er sich um und ist gleichzeitig überrascht, in sich selbst nicht die gleiche Verwunderung zu verspüren, wie sie sein Körper zu durchströmen scheint. Es ist, als würde sein Geist diese Situation akzeptieren, ohne sie hinterfragen zu wollen. Als wäre er in der Haut eines Fremden gefangen, Leib und Seele voneinander getrennt.
Unwillkürlich wischt sich Faramir über den Ärmelstoff und verteilt mehr unabsichtlich die Feuchtigkeit. Deutlich kann er die Nässe unter seiner Hand spüren und doch weiß er, dass es nicht sein kann. Es ist eine Vision! Anders kann er sich nicht erklären, wie er an diesem Ort gelangen konnte, wo er doch am Weiher eingeschlafen war! Und nun steht er hier, vor den Wasserfällen von Rauros, über welche die untergehende Sonne einen Regenbogen geschmiedet hat.
Doch ist es nicht das, was seinen Blick auf sich zieht, sondern ein schwarzer, langegestreckter Schatten, der auf der steinigen Kante des Wasserfalles zu tanzen scheint. Im nächsten Moment wird der Schatten von der weißen Gischt mitgerissen und stürzt unaufhaltsam mit den Wassermassen hinab.
Faramir kann den Blick nicht von dem dunklen Umriss wenden, verfolgt jede Bewegung und hält unwillkürlich die Luft an, als dieser in den Fluten des unteren Anduin versinkt. Er weiß, dass die Kraft des Wassers am Fuß des Rauros so zerstörrerisch ist, dass nichts dem widerstehen kann. Trotzdem wartet er darauf, dass der Schatten wieder sichtbar wird.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kann er ihn tatsächlich entdecken.
Es ist ein Boot. Schlank und elegant in seiner Bauart, erkennt Faramir in diesem eines, welches von den Elben Lothloriens geschaffen worden war.
Ohne sich bewusst zu sein, sich bewegt zu haben, findet sich der hochgewachsene Waldläufer im flachen Wasser watend wieder. Das Boot scheint direkt auf ihn zuzutreiben und so kann er nach nur wenigen Schritten die Hand nach dem dunklen Holz ausstrecken, um es berühren zu können.
Doch kraftlos streichen seine Finger über den Bootsrand, als er der Fracht ansichtig wird.
Als würde er schlafen, so erscheint das Antlitz seines Bruders. Ruhig und entspannt wirkt es auf den Betrachter. Der grüner Umhang ist unter seinem Körper ausgebreitet und auf seiner leblosen Brust ruht das Schwert mit dem silbernen Knauf auf der schwarzledernen Parierstange.
Obwohl das Boot den Rauros hinabgestürzt war, ist kein einziger Tropfen Wasser auf Boromirs kalter Haut zu entdecken. Nicht der kleinste Fleck Feuchtigkeit ist auf dem dunklen Umhangstoff zu erkennen und auch die Spitze des Schwertes, ist nicht einen Fingerbreit verrutscht.
Nichts scheint die letzte Fahrt seines Bruders gestört zu haben. Fast könnte man glauben, dass Eru ihn den Wasserfall hinab getragen hätte, um Boromir den Weg den Anduin hinab zu ebnen.
Faramir kann nur auf den Toten hinabblicken. Weder Hand noch Fuß ist er fähig zu bewegen, um das Boot am Vorbeitreiben zu hindern oder den eigenen Körper voller Entsetzen davonzutragen.
Zudem ist es ihm nicht möglich, den Blick vom Boot zu wenden.
Einerseits kann er nicht glauben, was er hier sieht und gleichzeitig macht es einen zu wirklichen und echten Eindruck, als dass er sich dagegen wehren könnte. Fieberhaft suchen deshalb seine Augen nach dem kleinsten Anhaltspunkt zur Bestätigung, dass der Bruder doch lebt. Das leise Zucken des Lids oder ein kaum wahrnehmbares Heben und Senken des Brustkorbes wären ihm Zeichen genug. Doch nichts!
Nichts ist zu erkennen, was ein hoffnungsvolles Ende dieser Vision verheißen könnte. Zu allem Überfluss steht ihm keine Möglichkeit bereit, das gezeigte Schicksal von seinem Bruder abzuwenden. Denn so, wie er sich dessen sicher ist, dass am Morgen die Sonne aufgeht, ist ihm gewiss, dass Boromirs Leben ein Ende gefunden hat.
Das ohnmächtige Gefühl der Machtlosigkeit überschwemmt Faramir, engt ihm die Brust ein und raubt ihm die Luft zum Atmen.
Gequält nach Atem ringend, setzt sich Faramir auf. „Boromir!“, flüstert er, während seine Finger über seine Brust streichen, wo sein Herz noch immer voller Entsetzen hämmert. All die Gefühle, die ihn in der Vision verschont haben, drohen ihn nun zu überrollen. Schon kann er spüren, dass sich die Trauer wie eine Welle auftürmt und ihn umspülen will. Dafür ist jedoch nun nicht die rechte Zeit. Trauer und Schmerz rauben einem Mann im Kampf die offene Sicht auf das Geschehen. Das hat Faramir schon früh an Jahren lernen müssen und auch jetzt versucht er, dies zu beherzigen.
Eilig erhebt er sich und eilt in die Gänge des Hennet Annûn zurück.
Noch in der selben Stunde verlässt Faramir den geheimen Stützpunkt und eilt nach Norden, dem Rauros entgegen. Das Gefühl, den Wahrheitsgehalt seines Traumes oder wohl eher Vision unter allen Umständen überprüfen zu müssen, jagt ihn vorwärts als wäre ihm eine Horde Uruk-hais auf den Fersen.
Allein schon die kurze Zeit, die er nach dem Aufwachen noch im Berg verbringen musste, waren für ihn eine Qual, zur Ungewissheit verdammt. Ruhelos und ungewohnt gereizt hatte er seine Befehle erteilt und Weisungen ausgegeben, bis er sich endlich in den Sattel seines Pferdes schwingen konnte und er spürte, wie die innere Anspannung von ihm abfiel.
Es sind nur noch wenige Meilen, die er bis zu den Wasserfällen von Rauros zurückzulegen hat, als ihm ein Reiter entgegenkommt. Es ist einer jener Waldläufer, die im Norden Ithiliens ihre Stützpunkte haben. Dieser hält sein Pferd zu einer langsameren Gangart anhält, als er Faramir erspäht und schließlich auf ihn zuhält.
Zur Begrüßung nickt Faramir nur dem anderen zu. „Ihr kommt von den Fällen?“, fragt er kurz, welches mit einem zustimmenden Nicken bestätigt wird, doch wirkt es zögernd. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, greift der Reiter in seine Satteltasche. Er zieht einen Gegenstand hervor, welcher in ein Tuch gewickelt ist. Mit den Worten „Ich soll es zum Herrn Denethor bringen!“ reicht er das Bündel an den Hauptmann der Waldläufer.
Faramir blickt auf das Bündel hinab. Eine Ahnung beschleicht ihn, was er in den Händen halten könnte. Wenn er jetzt das Tuch zurück schlägt, wird der Traum zur Gewissheit und somit eine Vision zur Wahrheit.
Lässt er den Gegenstand verdeckt, wird er die nächsten Stunden, Tage und Wochen in seeliger und hoffnungsvoller Ungewissheit weiterleben können. Aber was hilft es ihm, wenn er es hier und jetzt doch schon weiß?
Es ist nur ein kleiner Schritt, es zum unumstößlichen Wissen gedeihen zu lassen. Allein schon das Heben eines Tuchzipfels offenbart ihm, was er fest umklammert hält: Boromirs Horn. Jenes, welches er erst vor ganze drei Tage gehört hatte. Zerbrochen.
„Woher habt Ihr es?“, fragt Faramir flüsternd.
„Ein Soldat sagte, er habe es auf dem Wasser des Anduin treibend gefunden“, berichtet der Reiter.
„Der Leichnam meines Bruders?“ Faramirs Finger streichen über das weiße Horn, dessen Rand und Mundstück mit edlem Gold verziert ist. „Habt Ihr den Leichnam gefunden?“
Er muss nicht aufblicken, um das leichte Kopfschütteln wahrzunehmen.
Mit einem enttäuschten und ergebenen Seufzen reicht er das Horn zurück. „Bringt es zum Herrn nach Minas Tirith!“
Faramir blickt dem Reiter nach, der dem Weg nach Süden folgt.
Nun ist es Gewissheit: Er hat ihn verloren. Bis auf die Erinnerungen ist ihm nichts mehr geblieben. Unwillkürlich streichen seine Finger wieder über seine Brust. Das leise Knistern von Pergament dringt in seine Gedanken. Trotz der Trauer, die ihn nun durchflutet und Tränen seinen Blick verschleiern, huscht ein Lächeln über Faramirs Gesicht.
Aus der inneren Brusttasches seines Wamses zieht er etwas hervor, was er unmöglich als Nichts bezeichnen kann. Es ist nicht viel und doch ist es alles, was ihm von Boromir geblieben ist.
Es ist nur ein unscheinbares Stück Pergament, leicht zerknittert, als wäre es einmal geknüllt und dann wieder glatt gestrichen worden. Mit ungelenker Schrift sollte einmal mit den Worten „Mein geliebter Bruder“ ein Brief begonnen werden. Diese sind mit rigoroser Hand gestrichen worden und stattdessen sind hier nun Wörter zu finden, die sich ebenso lesen, aber deren Inhalt und Aussage Faramir um Vieles herzlicher und liebevoller sind:
Mein Geliebter
Tag der Veröffentlichung: 23.01.2016
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