Kapitel 52
Vor Verwunderung kaum eines klaren Gedanken mächtig, hatte Reba das kleine Boot übersehen, das sich ihnen aus der Richtung der Göttlichen genähert hatte.
Nun aber, da sie es ins Auge gefasst hatte, handelte sie blitzschnell.
Sie brachte Joia bis zur Grashalm und riet ihm nichts zu unternehmen, bis sie zurück war. Dann fuhr sie mit dem Boot – das nun kein Ruderboot mehr war, sintemal es keine Paddel mehr hatte – dem anderen Boot entgegen.
Dieses schien aus einem weissen Material, ähnlich einem schneeweissen Marmor und es hatte keine offensichtliche Antriebsquelle. Beim Näherkommen, bekam Reba nach und nach mehr das Gefühl die Person, die da allein in diesem Boot sass, zu kennen.
Und tatsächlich, nach einigen weiteren Augenblicken verzog sich Rebas Gesicht zu einem feinen Lächeln.
Als sie in Hörweite war, sagte sie: „Nun, sieh mal einer an! Mit welchem Namen soll ich euch nun anreden? Gute oder schlechte Nachricht?“
„Gute“, sagte der Alte, den die vier Freunde getroffen hatten, bevor sie aufgetrennt worden waren. „So hoff ich doch.“ Sein Haar hatte nicht mehr einen grauen, sondern einen silbernen Farbton bekommen und wellte sich, schulterlang geschnitten, um den schönen Kopf.
Nicht im geringsten glichen seine Kleider denen, die er damals angehabt hatte. Diese nun waren prächtig anzusehen; die Weste, deren Kragen lang und niedergedrückt war vom Gewicht einiger Insignien, wurde durch goldene Knöpfe zusammengehalten. Auf die Brust- und Seitentaschen waren Ereignisse gestickt, die nur die Göttlichen selbst kannten.
Mitten in Rebas Betrachtung fingen Wellen an, an die Bootsplanken zu schlagen und warfen Reba hin und her. Die Stirn des Alten legte sich in Falten.
„Die Erde fängt zu schwanken. Sie will befreit werden. Ich wurde als Gesandter der Göttlichen zu euch geschickt, um euch einzuladen.“
Der Alte unterbrach sich selbst, als er Rebas drängenden Gesichtsausdruck sah. Schnell ergriff sie das Wort: „Es tut mit Leid, aber die Zeit drängt. Ich werde euch sofort zu General Joia bringen. Mit ihm könnt Ihr alles weitere bereden. Doch ich muss zurück an Land, denn dort ist noch immer eine enorme Menschenmenge versammelt, die auf die Schiffe gebracht werden muss.“
Rebas Ton war sehr bestimmt und direkt und der Alte machte sich nicht die Mühe zu antworten, sondern nickte nur knapp und lächelte dabei.
Im Verlaufe des Tages waren Reba, Galdior und Uutar-Moru damit beschäftigt, die Leute auf die Schiffe Sagras zu verfrachten, während der Alte in Joias Kapitänskajüte gebracht worden war und diesem die lange, zeremonielle – und nach Joias Meinung zu ausführliche – Begrüssung überbracht hatte.
Als der Alte ihm dann sagte, warum er als Gesandter und Botschafter zu ihnen geschickt worden war, war in Joia die Ehrfurcht vor dem Alten und dessen „Vorgesetzte“ immer stärker geworden.
Das ganze war so unglaublich, dass Joia mehr und mehr das Gefühl bekam, der Alte rede von einem Märchen. Als dieser nach einer langer Zeit ein Ende fand, herrschte eine Weile bedrücktes Schweigen in der Kabine. Schliesslich jedoch, fand Joia stotternd die Worte: „Ihr verlangt also allen Ernstes von mir, dass ich mein Volk und viele andere, die kaum in drei Dutzend ... menschlichen (er sprach das Wort mit viel Missgunst aus) Schiffen Platz finden, auf eure vier Schiffe – entschuldigt mich, aber es sind nach wie vor doch nur vier Schiffe – führe und dass wir dann über das Meer fahren ... in eine andere Welt?“
Der Alte runzelte die Stirn, als er seine wohl überlegte Antwort gab: „Ich muss euch korrektieren: Wir verlangen gar nichts. Es ist eure freie Entscheidung, ob ihr mitkommen wollt oder nicht, das ist ganz euch überlassen. Ferner, kann ich Euch nur sagen, dass Ihr bisher gerade einmal die Buge gesehen habt. Ihr traut zu sehr auf das, was Ihr seht und hört, als auf das, was wirklich da ist. Ich, meinerseits, muss nun wieder gehen. Einen Tag geben wir Ihnen und Ihren Leuten, um sich zu entscheiden, dann werden wir in See und in eine andere Welt stechen.“ Joia nickte und geleitete den Alten mit einer höflichen Geste zur Tür.
Joia beriet sich mit seinen Kapitänen und sie kamen zum Schluss, dass jeder einzelne der Leute auf ihren Schiffen selbst gefragt werden muss und sich entscheiden musste. Ruckzuck wurden die Offiziere und Kapitäne wieder auf ihre Schiffe geschickt, um die Nachrichten zu überbringen.
Noch während sie referierten, brach bei vielen der Menschen ein Murren aus, sintemal sie nicht gewillt waren ihre Heimat zu verlassen.
Reba und Galdior sassen auf dem äussert komfortablen Sofa in der Kapitänskabine und beugten sich über einige Listen, die Uutar-Moru zuvor angefertigt hatte und nun verstreut und ungeordnet auf dem Tisch lagen.
Rebas Hand lag auf Galdiors Arm. Ein Grossteil des Tages war vergangen seit der Alte zurückgegangen war und sie hatten die Zeit genutzt, um die Listen nach Galdiors Familie durchzusehen.
Neben ihnen sassen Tiniras Eltern am Tisch und assen ein karges Mahl, während Uutar-Moru ihnen erzählte, was mit Tinira geschehen war. Vieles verstanden sie nicht, doch sie schienen zu erahnen, dass Tinira wesentlich zu dem Sieg beigetragen hatte. Reba schluckte schwer, als sie sah, dass Bolmars Eltern verstorben waren, nicht etwa aus Gründen der Gewalt sondern an Unterernährung. Auch Galdior hatte es bemerkt und fragte sich im Stillen, warum sonst niemand an Unterernährung verendet war.
„Wie war das Essen?“, platzte es aus ihm heraus. Alle hielten verdattert inne und sahen zu Galdior, jedoch gab ihm niemand eine Antwort.
„Wie war das Essen in diesem ... diesem ... Gefängnis?“, wiederholte er sich.
Tiniras Vater schluckte den kaum gekauten Klumpen Fleisch hinunter, trocknete sich den Mund mit der Serviette und sprach dann sorgfältig: „Nun, wenn es auch jeden Tag das gleiche war und es wirklich scheusslich geschmeckt hatte, so war es doch immer genug. Ich nehme an, sie wollten keine Arbeitskräfte verlieren.“
Dann runzelte dieser die Stirn, als ihm etwas in den Sinn kam, was er für eine Weile vergessen hatte.
„Im Übrigen weiss ich nach wie vor nicht, nach was wir in diesen ... grässlichen Minen gesucht haben. Wir gruben und gruben und schufen Tonnen von Gestein an die Oberfläche, doch dieses wurde nicht weiter verarbeitet. Ich werde den Eindruck nicht los, dass wir die ganze Zeit unter dieser Insel etwas gesucht hatten.“
In diesem Moment fand Galdior seine Eltern auf der Liste und sog die Luft scharf ein. Neben ihren Namen stand der Vermerk: VERSCHOLLEN. Die Tatsache, dass seine Eltern in einer Mine verschollen waren, beunruhigte ihn mehr, als wenn einfach gestanden wäre, dass sie tot seien.
„Verschollen ... verschollen ...“, murmelte Galdior vor sich hin. Tiniras Mutter hörte es und sagte: „Verschollen? Dann waren die Gerüchte doch wahr.“
Galdior setzte eine fragende Miene auf und die Mutter von Tinira fuhr fort: „Ich bekam eines Tages zu hören, dass zwei Häftlinge am Abend nicht mehr aus den Minen zurückgekehrt seien. Du musst wissen, wir sahen deine Eltern nie. Sie arbeiteten zu einer anderen Zeit und in einem anderen Stollen. Hätte nie gedacht, dass das deine Eltern sein könnten.“
Eine Weile herrschte eine bedrückende Stille in der Kabine, dann sprang Galdior auf und umrundete den Tisch, blieb jedoch vor Uutar-Moru. Ein hoffnungsvolles Glitzern hatte sich in seine Augen geschlichen und wurde mit jeder verstrichenen Sekunde stärker.
„Moru, wo sind diese zwei Waisenkinder, von welchen du uns heute Morgen erzählt hast?“, fragte Galdior rasch, sodass sich seine Worte fast überschlugen. „Lass sie auf die Grashalm bringen. Ich muss sie sehen, sobald ich zurückkomme.“
Dann drehte er sich um und sagte zu Reba: „Reba, Lust auf ein letztes Abenteuer?“
Kapitel 53
Ein starker Luftzug aus dem Innern des Stollens blies beinahe Rebas Fackel aus. Galdiors Lanze und Rebas Fackel brachten ein wenig Licht in die sonst pechschwarzen Minen und liessen die gespenstischen Schatten die Wände entlang tanzen.
Zuvor hatten sie mit einem mulmigem Gefühl in den Magen den Stollen betreten und seither irrten sie in der Finsternis umher.
Endlich lass Galdior, die Zahl, die ihm genannt wurde, an der Wand ihm gegenüber. Daneben befand sich eine weitere Abzweigung und dort sollten seine Eltern geschuftet haben. Mit neuem Mut stolperten sie weiter.
Doch schon nach einer Weile endete der Weg in einer Sackgasse.
Sofort legte Galdior seine Lanze an einen Stützbalken und begann die Wand am Ende des Tunnels abzutasten. Reba hielt die Fackel nahe an die Wand, um auf eventuelle Unregelmässigkeiten aufmerksam zu werden. Sie untersuchten jedwede Stelle und fanden doch nicht eine Spur. Ziemlich enttäuscht, traten sie den Rückweg an, doch nach nur wenigen Schritten, blitzte etwas in Rebas Augenwinkeln auf.
„Warte, Gal! Geh noch einmal zwei Schritte zurück!“, sagte sie zu ihm. Er tat und tatsächlich: Wieder blitzte ein heller Streifen in der Wand auf und reflektierte das von Galdiors Lanze. Der Streifen war nur so breit wie ein Fingernagel und so lang wie ein Finger. Sofort kratzte Galdior an der Stelle herum und legte den Rest einer handgrossen Metallplatte frei, die das Licht seiner Lanze in einer gespenstischen Art und Weise reflektierte.
Zögerlich berührte er mit der nackten Hand die Platte. Diese reagierte auf den feinen Druck und schob sich mit einem leisen Quietschen in die Wand. Für einen kurzen Moment herrschte Stille in der Mine doch dann kam ein lautes Rumpeln auf, das vom Ende des Ganges herrührte. Die Wand, die Reba und Galdior zuvor so sorgfältig untersucht hatten, schob sich nun knarrend nach oben. Durch die Vibration lösten sich kleine Steinchen und Staub und verdeckten die Sicht in den Raum dahinter.
Mit langsamen Schritten gingen Galdior und Reba auf die Öffnung hinzu und traten hindurch. Der Anblick verschlug ihnen die Stimme.
Vor ihnen tat sich eine riesige Höhle auf, deren Raum gänzlich von einem See ausgefüllt wurde. In der Mitte des Sees lag eine kleine Insel seelenruhig da. Auf dieser stand eine Gestalt wie erstarrt da.
Reba und Galdior tauschten Blicke aus, dann erhob Galdior seine Stimme: „He, du! Wer bist du? Antworte mir!“
Sie warteten eine Weile, der Kerl jedoch gab kein Lebenszeichen von sich. Galdior schätzte die Tiefe des Sees auf zwei Fuss und aufgrund dieser Annahme begann er ins Wasser zu waten. Reba folgte ihm und bald schon mussten sie eingestehen, dass die Grösse der Person bei weitem unterschätzt hatten. Die starre Person war locker doppelt so gross wie Reba und schien aus Stein.
Als sie triefend und tropfend bei der Insel ankamen, sahen sie, die Person aus Stein war. Sie hatte das Gesicht eines Mannes, dessen Antlitz eines Königs Würde ausstrahlte und den Blick an die Decke erhoben hatte.
Beim näheren Betrachten fiel Reba plötzlich auf, dass die Rüstung nicht aus Stein war, sondern aus schönem Metall.
Nach einigem Pusten und Wischen hatte sie ein Teil der Brustpanzerung freigelegt und war geschockt von der Schönheit und Härte der Rüstung.
„Gal, schau dir -!“, fing Reba an zu schreien, wurde aber leise, als sie Galdior einige Schritte entfernt auf einer Anhöhe knien sah. Dicke Tränen rollten über sein Gesicht. Vor ihm lagen seine Eltern, abgemagert und schmutzig, die Kleider zerrissen, da, und doch in unendlicher Freiheit und im Frieden. Auf ihren Gesichtern ruhte ein stilles Lächeln.
Galdiors Tränen fielen auf ihre Gesichter, als er den Puls der beiden überprüfte. Er sog scharf die Luft ein, als er ein leichtes Pochen bei seinem Vater spürte. Schnell klopfte er mit der Hand an dessen Wangen und nach einer Ewigkeit schlug dieser bedächtig die Augen auf.
„Ich habe gewusst, dass du kommst, Sohn. Schade, dass unser Wiedersehen so kurz sein wird.“
„Papa, wie geht das dir? Bist du verletzt? Was ist mit Mama? Warum –?“, fragte Galdior seinen Vater, während Tränen über seine Wangen flossen und das zerfetzte Hemd seinen Vaters durchnässte.
Dieser jedoch, schüttelte nur ruhig den Kopf und antwortete leise: „Ich bin in Ordnung. Deine Mutter ist voraus gegangen und ich werde ihr folgen“, murmelte er und deutete dann auf eine Schale, gefüllt mit Wasser, die auf einem hölzernen Sockel stand, welcher weder Galdior noch Reba zuvor aufgefallen war.
„Dies Wasser hat mir gezeigt, was passierte. Viele Dinge habe ich gesehen. Über dir liegt eine grosse Bestimmung, denn du wirst der Erste sein, der die neue Erde betritt. Nimm sie in Besitz und verwalte sie gut! Im Übrigen, nimm diese Rüstung mit dir, sie ist zu wertvoll, als dass sie mit der alten Dame untergehen sollte und sorge für die Waisen! Nun, geh! Geh, denn ich werde auch gehen. Auf Wiedersehen, ich bin unterwegs nach Hause.“
Mit diesen Worten schloss Galdiors Vater seine Augen, seine Kopf nickte zur Seite und seine Seele folgte der seiner Frau.
Reba hatte sich bisher in Hintergrund gehalten und nur still zugehört. Nun aber, tat sie einen Schritt nach vorn, legte ihre Hand auf Galdiors Schultern, welcher nur ruhig dastand und schluchzte, und sprach mit soviel Sorgfalt und Sanftmut, wie sie aufbringen konnte: „Komm, Gal. Lass uns gehen. Die Zeit drängt.“
Reba nahm seine Hand in ihre, zog die Rüstung von der Statue, legte diese über ihre eigene und machte sich dann langsam auf den Rückweg. Galdior währenddessen war in eine Art Trance gefallen, woraus er noch eine Weile nicht herauskam.
Kapitel 54
Die Holztreppe knarrte unter dem Gewicht von Reba, die durch die zusätzlichen Kilos der Rüstung gehörig ins Schwitzen gekommen war. Sie machte sich nicht die Mühe an der Türe zur Kapitänskabine anzuklopfen, sondern trat sie mit einem Fuss auf.
Galdior hatte sie immer noch an der Hand. Uutar-Moru riss überrascht den Kopf hoch, als sie durch die Tür trat. Er war in den letzten Stunde noch unruhiger geworden, als er ohnehin schon war.
Joia wollte gerade ein Donnerwetter auf sie hernieder fahren lassen und sie dafür schelten, dass sie so lange weggeblieben war, hielt jedoch abrupt inne, als er erstens das Prachtstück einer Rüstung sah und zweitens Galdiors verlorenen Gesichtsausdruck.
Reba führte Galdior unter den überrascht besorgten Blicken der anderen zu einem Stuhl. Dann zog sie unter allerlei Mühen die Rüstung aus und legte sie in der richtigen Reihenfolge auf den mit Teppich belegten Boden. Joia suchte mehrere Anläufe, um etwas zu fragen oder zu sagen, gab es jedoch auf und sagte stattdessen einfach: „Erklärung!“
Reba fasste sich, sichtlich genervt, kurz, erzählte von der Höhle, dem Mann aus Stein, der Rüstung und schliesslich, unter einigen Seitenblicken zu Galdior, von dessen Eltern. Danach herrschte eine kurze Zeit des Schweigens, bis Reba ein kleines Mädchen sah, welches einen Säugling in den Armen wiegte.
Ihr Erstaunen wurde durch Galdior unterbrochen, der vom Stuhl aufsprang, aufgewacht aus seiner Starre und ebenfalls das Mädchen betrachtete. Sofort rannte er zu ihr hin und fiel vor ihr auf die Knie, immer noch unfähig ein Wort zu sagen. Dem Mädchen im jedem Fall erging es anders. Sie erkannte ihn nicht und war erschrocken über das Ungestüm eines Kriegers in voller Rüstung.
Galdior zog schnell den Helm ab und warf ihn beiseite und nun weiteten sich die Augen des Mädchens.
„Galdior!“, schrie sie auf, legte den Säugling, der gleich anfing zu schreien, in das kleine Bettchen daneben und warf sich Galdior um den Hals.
„Ich hab es gewusst, ich hab es gewusst“, sagte er und streichelte dem kleinen Mädchen, das vor Freude in Tränen ausgebrochen war, über den Kopf. Dann entzog er sich aus der Umarmung und schaute sie genauer an.
„Wie geht dir, Ivraina?“, fragte er mit einem leisen Zittern in der Stimme.
„Geht so“, sagte Ivraina und zuckte mit den Schultern. Man konnte ihr jedoch ansehen, dass es ihr alles andere als „geht so“ ging.
Reba wollte keinesfalls unhöflich sein, doch die Neugierde übermannte sie plötzlich und sie fragte: „Gal, wer ist sie? Woher kennst du sie?“
„Es erstaunt mich,“, sagte er. „dass du es nicht schon längst bemerkt hast. Sie ist ... war Bolmars Schwester.“ Nun war Reba an der Reihe erstaunt zu sein.
„Und der Kleine ...?“, fragte sie und nickte in die Richtung des Säuglings.
„Fambran, mein Bruder“; antwortete ihr Ivraina und fuhr dann fort. „Gal, wo ist Bolmar?“
Statt einer Antwort umarmte Galdior sie ein weiteres Mal und das schien auch völlig auszureichen, um ihr klar zu machen, dass er tot war. Ihr kindliches Gesicht ertrug wie so viele Male zuvor erneut die Last schwerer Tränen der Trauer.
Während Ivraina sich an Galdiors Schulter ausweinte, nahm Reba den kleinen Fambran auf den Arm. Der kleine, rosa Bündel, eingewickelt in Unmengen von Stoff, hatte für sein junges Alter ein beträchtliches Gewicht. Der Kopf wurde bereits von einem Schopf brauner Haare geschmückt, die ein wenig zerzaust in allerlei Richtungen wegstanden. Sofort schloss sich das Händchen in schlafender Regung um Rebas Finger, als sie ihm diesen hinstreckte.
„Ich unterbreche euch ja nur ungern, aber die Zeit ist fortgeschritten und das Ultimatum läuft langsam aus. Wir sollten nicht länger zögern und uns auf den Weg zu den Göttlichen machen; nicht dass sie ohne uns gehen!“, meldete Joia aus dem Hintergrund.
Alle stimmten zu und nach und nach begann ihn zu dämmern, was sie in Begriff waren zu tun: Auf eines der vier monströsen Schiffe steigen, die von den Göttlichen erbaut und gelenkt wurden, um ihn ein anderes Land, einen anderen Kontinent, ja, um zu einer neuen Erde aufzubrechen.
Nur wenig später waren Boten zu allen Schiffen gesandt worden und die ersten Schiffe lichteten ihre Anker und begannen auf die riesigen Konstruktionen zuzufahren.
Galdior, Reba, Uutar-Moru und Ivraina, die ihren kleinen Bruder in den Armen hielt, standen ganz vorne auf dem Deck der Grashalm und sahen zu den vier Schiffen hinüber.
Joia währenddessen versammelte die Crew – die Grashalm hatte keine Zivilisten aufgenommen, da diese dem General Joia im Wege gestanden hätten und seine Arbeit behindert hätten und zweitens, da so oder so kaum Platz für Zivilisten neben der Crew war – auf Deck und hielt eine kleine Ansprache.
„Meine treuen Männer und Frauen, dies nun ist unser letzter Segelgang und er wird nicht einmal all zu lange dauern. Ich weiss nicht, wo wir hingeführt werden und noch weniger, ob wir danach noch zusammen sein werden, vereint als Crew. Ich auf jeden Fall werde dieses Schiff (dabei berührte er zärtlich das Holz) in Kürze zurücklassen und mich ins Ungewisse stürzen. Natürlich steht es jedem von euch frei zu wählen, ob er seinen Kapitän begleitet oder nicht. Nun frage ich euch: Wer zieht es vor hier zu bleiben in seiner Heimat, an dem Ort, wo er aufgewachsen ist und womöglich ein nicht all zu langes wenig geruhsames Leben führen wird? Und wer folgt seinem Kapitän ins Ungewisse, in neue Abenteuer und Reisen; steht ihm bei, in schlechten wie in guten Zeiten, der soll jetzt seine Hand erheben!“, sprach Joia.
Es dauerte nicht länger als zwei Sekunden, da waren alle Hände bereits nach oben geschnellt. Nicht einer war in der Crew, der gezögert hatte und sich für die andere Möglichkeit entschieden hatte.
Wie um diese Bezeugung zu unterstreichen, zischte etwas über ihnen durch den Himmel, leuchtend wie ein Komet, und erzeugte einen heftigen Knall, als es die Schallwelle durchbrach.
Dann zeichnete der Komet einen feurigen Kreis in den Himmel, gerade vor den vier riesigen Schiffen. Ein schriller Schrei durchschnitt die Luft und liess es jedem kalt den Rücken hinunterlaufen. Der Phönix vollendete den Kreis und stach dann in den Nebel dahinter hinein.
Nach einem Moment verdutzten Schweigens erhob Joia die Faust und rief gegen den tosenden Wind: „Auf! Folgen wir dem Phönix!“
Jaio stampfte ein, zwei Mal, um sicherzugehen, dass die Brücke hielt.
Als sie vorhin auf die vier mächtigen Schiffe zugefahren waren, hatte sich bei jedem der vier Schiffe ein Teil des Bugs nach innen gezogen und wie durch Zauberhand waren hölzerne Stege herausgekommen. Ein goldener Schimmer umgab sie und liess das Holz in einer Weise strahlen, die keiner von Joias Männer je gesehen hatte.
Joia war als erster auf einen der Stege gestanden und prüfte nun mit gewissen, nicht ganz unverständlichen Zweifeln die Beschaffenheit des schimmernden Holzes.
Als er zu lange auf das Holz starrte, schien er regelrecht hindurchsehen zu können und die darunter liegenden Wellen zu erkennen. Er schloss schnell die Augen, um dem Schwindel Herr zu werden, der ihn als Folge übermannte. Dann drehte er sich um und gab den restlichen Schiffen das Zeichen, dass alles in Ordnung war.
Während sich Schiffe auf die Stege verteilten, beschenkte er die verbrauchte Erde mit einem letzten Blick. Seine Augen schweiften über die Wellen, die in ruhigem Gang ihre Wege zwischen den Schiffen suchten. Die weit entfernten Laubwälder, angestrahlt durch das rötliche Licht der Abendsonne, wiegten sich unter der Gewalt des Meerwindes.
Über dem Strand flimmerte die Luft, erwärmt durch die erhitzten, für diese Gegend typischen Steine. Am Himmel jagten sich bauschige Schäfchenwolken mit einer Geschwindigkeit, die an die einer Schnecke erinnerte. Ihre Vorderseiten leuchteten orange, was sie wie eine Armee von Kriegern in orangen Harnischen aussehen liess.
Und obwohl er die Sonne nicht sehen konnte, konnte er sie sich gut vorstellen. Gross, rot leuchtend, am Ende ihrer Kraft und heiss glühend. Joia wusste aus alten Erzählungen und Geschichten, dass die Sonne früher einmal kleiner und weisser gewesen war, und vor allem kälter.
Er wurde abrupt unterbrochen, als ein kleiner Junge in ihn hineinlief, sich entschludigte und dann, von der Mutter geführt, weiterging. Die Leute schoben sich langsam an ihm vorbei und verteilten sich auf dem Steg.
Sie hatten beschlossen, dass Joia, der erste war, der die Schiffe betrat.
Viele derer, die noch vor wenigen Augenblicken gesagt hatten, dass sie nicht fortgehen würden, liessen sich nun vom Anblick der Stege und der Schiffe und der sie plötzlich überwältigenden Einsamkeit überreden und betraten gleichfalls die Stege.
Als alle auf den Stegen versammelt waren, arbeitete sich General Joia durch die Menge und blieb kurz vor der gewaltigen Öffnung stehen, die sich vor ihm auftürmte. Seine Sicht reichte nur ein wenig hinein und wurde von einer pechschwarzen Wand geschluckt.
Ein weiteres Mal drehte er sich um, sah nach rechts und links zu den anderen Stegen hinüber, um sich zu vergewissern, dass alles gut war. Irgendwie hatte er nun plötzlich Angst davor, seinen Fuss in dieses dunkle Schiff hineinzusetzten. Auch gefiel ihm der Gedanke nicht seine Grashalm zurückzulassen.
Er würde sie wirklich vermissen.
„General Joia, was zögert ihr?“, erklang eine Stimme hinter ihm. Sofort wandte er sich überrascht um und blickte dem Alten, der hinter ihm in der Öffnung stand, in die Augen.
„Ich ... ähm ...“, begann er zögerlich, schluckte schwer, fasste sich dann jedoch ein Herz und fuhr fort. „Ich zögere keineswegs. Ich wollte mich lediglich von meiner Grashalm verabschieden.“
Der Alte nickte mit einem Lächeln auf den Lippen und trat wieder in die Dunkelheit. Joia atmete noch ein weiteres Mal tief ein und machte dann den ersten Schritt in die Finsternis, worauf ein zweiter folgte und bald beschleunigte er seinen Schritt.
Der hölzerne Weg führte aufwärts, immer weiter hinein und noch immer konnte er keinerlei Formen ausmachen. Hinter sich hörte er die Schritte der anderen. Umso länger er ging, umso aufgeregter wurde er. Und eine unglaubliche Vorfreude erfüllte ihn und führte ihn dazu schneller zu rennen.
Genauso plötzlich wie ihn die Dunkelheit in sich aufgenommen hatte, entliess sie ihn nun wieder – in einen strahlend weissen Nebel. Sofort kniff er die Augen zu, um ihnen Zeit zu geben sich an die Helligkeit zu gewöhnen.
Irgendetwas an der Luft war anders, es schien ihm, als ob sie dickflüssiger wäre und zugleich staubtrocken. Als er die Augen wieder aufmachte, erstarrte er vor dem, was er sah.
In diesem Nebel tanzten Milliarden von goldenen und grünen Punkten zu einer leisen Melodie, die von überall herzukommen schien. Immer je ein goldener und grüner Punkt umgaben sich, verfolgten sich oder schwebten einfach nur nebeneinander. Andere folgten sich in vollkommener Synochronität durch den weissen Nebel.
In seiner Verwunderung fiel Joia nicht auf, dass er ein Pärchen eingeatmet hatte. Er spürte wie sie sich in seiner Lunge bewegten und in einem Moment auf den anderen fühlte er wie eine unsagbare Schwermut über ihn kam.
Er fiel auf seine Knie und betrachtete seine Hände, die wie dünne Zweige, geschüttelt vom Herbstwind, zitterten.
Beim nächsten Ausatmen pustete er das Pärchen wieder aus der Nase. Sie umkreisten sich langsam und wenn man ihnen zusah, wurde man von der gleichen Schwermut übermannt wie Joia sie vorher in sich gespürt hatte.
Unterdessen war die Lautstärke der Melodie angeschwollen und fiel nun plötzlich ab, in ein tiefen schwellenden Ton. Gleichzeitig beruhigten sich die Punkte im Nebel und standen schon nach einer kurzen Weile still und zitterten nur leicht nebeneinander. Auch Joia hielt nun den Atem an, gespannt darauf, was als nächstes kommt.
Und seine Erwartung wurde nicht enttäuscht.
Es begann mit einem hohen, fidelen Ton, wie der von einer Flöte, dazu bewegten sich die Punkte auf und ab und fingen sich wild an zu drehen, als ein tieferer Ton, wie der einer Trompete sich zur Flöte gesellte.
Immer mehr Töne kamen hinzu und die Punkte schwirrten immer heftiger umher. Und ganz sachte kam ein Gefühl in Joia auf von unbeschreiblicher Freude und Tanzeslust; zuerst nur der Fuss der leicht zum Takt wippte. Doch je länger er zuhörte, umso mehr begann sein Körper sich zu bewegen.
Die leichten Bewegungen wuchsen zu einem ausgereiften Tanz, und plötzlich, als ob ein Damm, der all seine Gefühle zurückhielt, brach, riss seine Seele auf und er schrie vor Freude in den Nebel hinein und fing wie ein Wahnsinniger an zu springen und zu rennen; Pirouetten vereinte er mit wilden Sprüngen und warf dabei seine Arme umher, wie er früher sein Schwert schwang.
Um ihn herum taten es ihm die Punkte gleich in einer Weise, die einen Tränen lachen liess. Die Melodie hatte sich gerade zu voller Schönheit entfaltet, als ein Stimme in den Nebel drang und sich perfekt mit den Tönen mischte.
„Tanzt, Kinder! Tanzt!“
Joia glaubte sein Herz würde jeden Moment zerspringen, und es wäre ihm gleichgültig. In diesem Augenblick spürte er nichts mehr als unsägliche Freude und Liebe zu dieser Stimme, die im Hintergrund zur Melodie summte und zwischendurch leise lachte.
Tränen rollten über Joias Gesicht und umspielten seine Mundwinkel, die durch den schreienden und lachend Mund nach oben gezogen waren.
Plötzlich tauchte aus dem Nebel Joias stellvertretender Kapitän und oberster Maat auf und sogleich fassten sie sich an den Händen und tanzten reihum, kleinen Kindern ähnlich und fielen über ihre eigenen Füsse auf den Boden, was ihnen nur Grund gab, noch mehr zu lachen.
Sie liessen von sich ab und tanzte weiter, bis die Melodie ein weites Mal zur Ruhe kam und nur ein dröhnendes, dumpfes Schlagen zurückblieb.
„Joia, General Sagras, Freund“, meldete sich die tiefe, ruhige Stimme von zuvor nochmals.
Joia sank unter der Macht dieser Stimme, die in seinem Kopf ein Donnern und in seinem Magen Unwohlsein auslöste, zu Boden.
„Herr, wer bist Du? Wo bist Du? Ich kann dich nirgends sehen!“
„Sei froh. Denn du kannst mich hören. Sehen darfst du mich nicht, unweigerlich sterben müsstest du.“
„Herr, wo sind die anderen der Göttlichen? Warum ... warum müsste ich sterben, um dich zu sehen?“
„Ich bin sie und sie sind ich. Alles Gute ist vereint mit mir und doch spielt jeder Teil seine eigene Melodie. Würde sich denn ein hungriger Löwe mit einem jungen Lamm vertragen? Oder eine giftige Schlange mit einer schlafenden Maus? Du bist schlecht. Siehst du es nicht? Dein menschliches Herz ist es, das dir den Weg zu mir versperrt.“
Joia fasste sich mit beiden Händen an den dröhnenden Kopf, als das Bild eines blutenden Mannes, der um Gnade winselte und gleich darauf von Joia selbst erbarmungslos getötet wird, durch seine wirren Gedanken schoss. Und das war nur eine schlimme Tat von vielen, die ihm in diesen Moment klar wurden.
„Oh Herr, es tut mir ... Leid“, klagte Joia und die Tränen rannten unaufhörlich über seine Wangen, über seine Nase bis zur Spitze, sammelten sich dort und fielen auf den Holzboden.
„Ich weiss, mein Sohn. Gehe auf meinen Wegen in der neuen Welt, die ich euch schenke. Bestelle mir zu Ehren die Felder, hüte um meines Segen wegen die Schafe. Und ich werde dich nicht verlassen.“
„Ja, Herr“, antwortete Joia sprang auf die Füsse, wischte die Nässe mit dem Handrücken aus seinem Gesicht und bahnte sich schnellen Schrittes einen Weg durch den dichten Nebel. Urplötzlich erhob sich eine Öffnung vor ihm, genau so eine wie durch die er vorhin gekommen war. Er rannte den Korridor hinab und trat in einem Augenblick auf den anderen in gleissend helles Sonnenlicht.
Kapitel 55
Für einen Moment sahen seine überreizten Augen nichts. Mit der Zeit begann sich Formen herauszubilden. Da waren Bäume und Sträucher nur wenige Schritte vor ihm. Grüne, stille Vegetation umgab ihn. Hohe Nadelbäume erstreckten sich zu seiner Rechten in einer unermesslichen Anzahl bergan. Nur ein paar Spitzen eines grünlichen Gesteins ragten an der Spitze des Berges über die Baumwipfel hinaus.
Zu seiner Linken verlor sich der Wald in Sträuchern und ging bald darauf in Gras über, das bis an den Rand des Plateaus, worauf er stand, zog. Dahinter war ein weiter, ewiger Ozean zu sehen.
Hinter ihm fiel ein steiler steinerner Weg ab, der zu einem Bergsee, dessen Hinterseite von scharfen Klippen umgebenen war, führte. Am Himmel zogen, verstreut, ein paar Wolkenansammlungen durch den Himmel und eine kleine und warme Sonne prangte am Zenit des rötlichen Himmels.
Joia stand mutterseelenallein in einer wunderbaren Natur, von den Schiffen und den anderen keine Spur zu sehen.
Hinter ihm erklangen Kinderstimmen. Schnell wandte er sich um und sah, dass drei Personen auf den See zu sprangen. Joia nahm die Beine in die Hände und raste mit fuchtelnden Armen den Weg abwärts.
Da standen Galdior, Reba und Ivraina, die ihren kleinen Bruder in den Händen hielt, bis zu den Knien im Wasser und blickten verwundert umher.
Galdior bemerkte ihn als erster und rief erstaunt: „Joia, du auch hier? Wir haben es geschafft! Wir sind in einer neuen Welt!“
Joia lächelte leicht und sagte: „Ja, Galdior wir sind hier. Habt ihr noch andere gesehen?“
„Nein, aber die tauchen mit Sicherheit auch noch auf. Was machen wir nun?“
Joia blickte auf den Ozean hinaus und sagte leise, dass nur er es hörte: „Auf seinen Wegen gehen.“
Tag der Veröffentlichung: 30.03.2010
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