Kapitel 36
Nach einem halben Jahr verzweifelter Kämpfe und zahlreichen Toten im Osten des Kontinents, trifft das lang ersehnte Zeichen endlich ein. Dieses Zeichen sollte den Zeitpunkt darstellen, wenn das Dunkle endgültig ausgerottet werden sollte.
Bolmar
Vorsichtig berührte er die schwere Kette, die um seinen Hals hing. Zu seinem 19. Geburtstag hatte er sie von Andréa bekommen. Sie bestand vollständig aus Bronze und es war ein großer Stern eingraviert.
Bolmar saß in einer breiten Astgabel und sah zu den Sternen. Da gab es etwas am Himmel, was ihn in dessen Bann zog: Zwei Sterne, welche zusammen wie eine gefüllte Acht ergaben. Auf eine ihm unheimliche Art und Weise hatte er so ein Gefühl des nahenden Endes, wenn er sie ansah.
Ein kalter Herbstwind fegte über ihn hinweg und brachte seine Kette zum trudeln, sodass der Stern auf seiner Kette im Licht der gefüllten Acht zu blinken begann. Sofort fiel es Bolmar wie Schuppen von den Augen. Er wusste nun ganz genau: Das Ende war da.
Tinira
Eisiger Wind deckte sie ein. Nur langsam konnte sie sich den Weg durch den Schnee, der ihr bis zu den Knochen reichte, bahnen. Sie setzte Fuß vor Fuß und kämpfte innerlich mit der Kälte, die sie umgab. Einen kurzen Moment hielt sie inne und sah in den Himmel. Zwischen den Wolken blinkten kleine Sterne hindurch. Der Mond war nirgends zu sehen. Doch das machte im Grunde genommen nichts, denn am östlichem Horizont schienen zwei Sterne so grell, dass ein Mond nicht von Nöten war.
„Es ist soweit. Suche deine Geschwister und macht die Dunkelheit zum Licht.“
Reba
Mit zusammengekniffenen Augen beäugte sie den blinkenden Punkt, der sich von Norden her auf sie zu bewegte. „Hmm, ist das eine Rüstung, die das Sonnenlicht reflektiert?“, dachte Reba. „Ich glaube, ich seh mir das einmal genauer an.“
Sie schob Ru und Ro in die Scheiden und segelte auf dem Wind nach unten. Ja, eindeutig es war eine Rüstung. Die Person lief weiterhin auf sie zu. Reba legte ihre Hände an die Schwertgriffe.
„Wer bist du?“, rief sie übers Feld.
„Erkennst du mich nicht?“, schrie die Person zurück.
Reba sah zu wie die andere Person ihren Bogen spannte. Ein Lächeln umspielte Rebas Lippen, sie wusste, um wen es sich handelte.
Der Pfeil explodierte in einer Wolke aus Feuer und Rauch. Reba legte den Kopf schief. Der Phönix war um das vierfache größer als früher und er schien heißer. Der Feuervogel raste weiterhin auf sie zu. Mit einem leisen Seufzer zog sie die Stachel aus den Scheiden. Mit gewaltigem Getöse schob sich eine dicke, warme Luftschicht zwischen Reba und den Phönix und bremste diesen ab. Dann stieg ein kalter, scharfer Wind auf und spießte den Phönix auf.
„Wo hast du das gelernt?“, fragte Tinira, die sich bis auf wenige Schritte genähert hatte.
Reba lächelte und deutete mit dem Daumen auf den Berg. Sie sagte: „Komm, ich zeig dir meine Wohnung. Ich bin gespannt, was du zu erzählen hast.“
Einige Minuten später stiegen sie die Treppe vom Balkon zum Tempel hinauf. Plötzlich hielt Tinira inne. Reba drehte sich verwirrt um: „Was denn?“
„Da ist jemand ... ich spüre es.“
Ein leiser Wind strich die Treppe hinauf. Reba erkannte ihn sofort und lächelte.
„Komm, ich werde dich ihm vorstellen.“ Im Tempel oben rief Reba nach Uutar-Moru.
Sofort tanzten von überall her Blätter hinein, zwischen den Säulen, die Treppe hinauf, von überall.
„Fürstin, wer ...?“, fragte Uutar-Moru.
„Sei nicht immer so misstrauisch, Moru. Dies ist -“, wollte Reba antworten.
„Wartet, ich weiß es! Dies muss sie sein ... Diese Rüstung ...“, Uutar-Moru fing an um Tinira herumzulaufen. Plötzlich senkte er sein menschlicher Teil des Zentaurenkörpers.
„Entschuldigt mir mein Verhalten, ich habe Euch nicht erkannt, Meisterin des Phönix. ... Ist sie bei euch?“ Tinira schüttelte auf diese Frage verwirrt den Kopf und sagte: „Ich weiß nicht -“
„Er meint mich, Kind. Guten Tag, Uutar-Moru, Wächter der zehn Säulen. Lange nicht gesehen.“
„Wahrlich, wahrlich. Noch zu wenig lang wie es scheint“, brummelte Uutar-Moru.
Raar seufzte und sprach: „Ach, immer das Gleiche. Doch entschuldige mein Verhalten, Windfürstin, ich bin Raar-Fin-Sul, Tochter der Sonne und ich fühle mich geehrt den Schützling Uutar-Morus kennen zu lernen.“
„Von Dir hab ich gelesen, in den Memoiren meiner Vorgängerin“; sprach Reba. „ ... Und von dem ständigen Zwist zwischen Dir und Moru, welchen ihr bitte in meiner Gegenwart und zu unser aller Zufriedenheit unterlässt. Immerhin solange bis dies hier alles vorbei ist.“
Ihr Tonfall war so bestimmt, dass es ruhig war, bis man das leise Kichern von Tinira vernahm. „Finde ich eine wirklich gute Idee, Reba“, schmunzelte sie und wurde dann ernst. „Doch nun lasst uns unsere nächsten Schritte besprechen. Die Zeit ist gekommen, Zeichen sind geschehen.“
Bolmar
Erschöpft zog er den Vorhang zu seinem Gemach zur Seite und ließ sich auf sein Lager fallen. Es war ein harter Tag gewesen; er war mit einer kleinen Kompanie in einen Hinterhalt geraten. Ihr Auftrag war es gewesen – wie schon viele Male zuvor – feindliche Stellungen auszukundschaften. Irgendjemand schien geplaudert zu haben.
Es hatte ihn einige Mühen gekostet aus dem Schlamassel rauszukommen.
Vorsichtig zog er seine Rüstung, Teil für Teil, aus. Im Spiegel sah er eine große Anzahl blauer Flecken und Schürfungen.
Ein verirrter Pfeil hatte ihn durch den Sehschlitz seines Helms über dem Auge geschrammt. Der Schmerz ließ ihn zusammenzucken, als er sie vorsichtig berührte. Dann zuckte er müde mit den Achseln und legte sich auf sein Bett nieder.
Sein muskulöser, breit gebauter Körper hatte fast keinen Platz auf dem schmalen Bett, das mehr eine provisorische Pritsche war. In Gedanken ging er den Tag nochmals durch. Er hatte unnötige Fehler gemacht; Fehler, die ihm normalerweise nicht widerfuhren. Leise stieß er einen Seufzer aus, atmete tief ein und wieder aus.
Gerade als sein Bewusstsein in den Halbschlaf übergehen wollte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken und er wusste, dass er nicht mehr allein war.
Wieso konnte man ihn nicht einfach schlafen lassen? Musste man ihn nun schon im Schlaf attackieren?
Seine Augen durchforschten die Dunkelheit, doch er nahm nichts war, außer einem Lichtstrahl des Mondes, der durch die Öffnung im Fels schien. Nichtsdestotrotz wusste er, dass in der anderen Ecke etwas war, er spürte es.
Mit einer blitzschnellen Bewegung griff er nach seinem Schwert und sprang in die Ecke, um dem Jemand den Schädel von den Schultern zu hauen. Das Mondlicht explodierte, als Stahl gegen Stahl krachte.
„Wahrlich, es stimmt. Wär ich nicht wer ich bin, dann würde nun mein armer Kopf auf dem Boden umherrollen. Mit solch einer Wucht könntest du diesen Felsen hier spalten“, sagte Galdior und trat ins Licht. Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen. Bolmars angespannter Körper erschlaffte und er lachte leise.
„Schönes Wiedersehen ist das! Musstest du mich so erschrecken? Trotzdem, es tut gut dich zu sehen. Doch was führt dich hier her?“, sprach Bolmar. „Nein, warte. Ich weiß es. Ich habe es gesehen.“ Ein Bild zweier naher Sterne schoss durch Bolmars Gedanken.
„Richtig, richtig. Wir müssen uns sofort auf den Weg machen, mich dünkt, dass wir bald zwei gute Bekannte sehen werden. Wir müssen uns gleich auf den Weg machen. Es ist bereits zu viel Zeit verschwendet worden“, sagte Galdior.
Kapitel 37
Das Einhorn und der Schimmel trotten durch das Gras mit Galdior und Bolmar auf ihren Rücken. Sie waren die Nacht durchgeritten, hatten sich viel erzählt und Bolmar war fasziniert gewesen von dem Einhorn, hatte er doch geglaubt, dass das alles nur Gerüchte seien von dem
Einhorn und dem schwarzen Reiter. In der letzten Stunde waren sie schweigsam geworden. Vor ihnen war ein großer, roter Berg aufgetaucht.
Bolmar fragte: „Ist er das?“
Galdior nickte. Als sie genug nahe waren, streckte Galdior eine Hand in die Luft, worauf Bolmar ihn mit seinem typischen Was-soll-den-das-jetzt-bitte-Blick ansah. Galdior jedoch lächelte ihn einfach nur an.
Gleich darauf fing das Sonnenlicht sich in seiner Hand zu drehen, es schien als ob seine Handfläche alles Licht aus der Umgebung absorbierte und an einem Punkt ansammelte. Es dauerte nicht lange und seine Hand glich einer zweiten Sonne. Dann schwenkte er die Hand als Zeichen, dass sie ankamen. Sie mussten nicht lange warten, bald kam leichter Wind auf und sie sahen jemanden vom Berg herabfliegen.
Als Galdior den Wind auf seiner Haut spürte, schossen ihm vielerlei Bilder durch den Kopf; wie er damals Reba zum ersten Mal gesehen hatte, dann die Nacht bei den Felsen. Und da kam sie nun vom Wind getragen, die blonden, langen Locken flatternd im Wind; die blauen Augen strahlten noch immer die gleiche Hoffnung und Lebensfreude, die Galdiors Herz so heftig höher schlagen ließ, aus.
Und doch hatte sie sich verändert. Ihre Züge waren härter geworden und strahlten Würde aus. Das Kindliche war gewichen. Sie hatte sich zu einer Frau entwickelt.
Reba kam schlitternd zum Stehen. Bolmar fühlte sich ziemlich ungelegen, Reba beachtete ihn nicht einen Augenblick.
Sofort stieg Galdior von seinem Einhorn und lief zu ihr hin. Worte hätten diesen Moment mit Sicherheit zerstört, so standen sie sich gegenüber und sahen sich in die Augen, als ob sie es nicht nötig hätten zu sprechen. Galdior hatte nach wie vor seine Miniatursonne in der Handfläche; diese ließ er kleiner werden.
Er umarmte sie und strich ihr das Licht in die Locken. Solch ein Glänzen hatte man früher nicht gesehen und würde man auch in Zukunft nicht sehen. Die Spiralen und Kringel strahlten von selber ein wunderschönes, flackerndes Licht ab.
Die rührende Szene wurde von Tinira unterbrochen, welche immer noch auf dem Berg war. Plötzlich sah man sie vom Tempel nach unten in Richtung Erde springen. Reba fuhr zusammen und fluchte: „Was zur Hölle macht sie?!“
Zu ihrer aller Erstaunen explodierte Tinira zu einem Feuervogel und flog wie ein mächtiger Adler, eine Brandspur hinterlegend über die Felder. Nicht einmal der Windgürtel hielt sie auf. Ihr Schrei war so laut, dass man ihn noch weit entfernt gehört haben musste. Wie ihre Pfeile verwandelte auch sie sich plötzlich zurück und landete ein wenig unsanft. Doch sie stand auf und schaute in die Runde.
„Nun ja, ich habe die Landung noch nicht so oft geübt“, gab sie verlegen zu.
Galdior stiess erstaunt die Luft an, Bolmar lächelte in sich hinein und Reba sah sie nur mit hochgezogenen Brauen an.
Kapitel 38
„Können wir kurz eine Pause einlegen, mir brummt der Schädel“, reklamierte Bolmar und rieb sich die Stirn. Als Antwort bekam er einige Seufzer.
„Also“, begann Reba noch einmal von vorne. „Es ist ganz einfach. Du, Bolmar, und Galdior gehen mit der Hauptstreitmacht vor die Burg und zieht soviel Aufmerksamkeit wie möglich auf euch. In der Zwischenzeit versucht Tinira allein in die Stadt zu gelangen und die wichtigsten Ziele zu eliminieren. Und meine Wenigkeit wird mit ein paar wenigen Auserwählten von hinten gehen und das Bergwerk angreifen. Sobald wir die Stadt eingenommen haben, werden wir zusammen das Heer einschliessen und vernichten.“
„Dieser Plan kann so leicht schief gehen. Gibt es einen Plan B?“, fragte Bolmar.
Es blieb still. Bolmar stand auf und rieb sich seinen schmerzenden Nacken. Unerwartet fing er plötzlich an zu lachen. Galdior runzelte die Stirn und fragte: „Irgendwie versteh ich deinen Beweggrund nicht, um in dieser Situation zu lachen.“
„Wer hätte gedacht, dass wir einmal hier landen. Weit weg von unserem Heim, Pläne schmiedend. Und dabei wissen wir nicht einmal, ob unsere Familien noch leben“, antwortete Bolmar.
„Das weiß niemand. Doch handeln müssen wir, nicht nur um unseren Familien willen sondern auch um unserer Welt willen“, meldete sich Tinira.
Mit einer Hand an der Säule, den Rücken abgewendet von seinen Freunden, die immer noch auf dem Boden sassen, stand Bolmar da und sah hinaus in die Landschaft. Als ob ein Wall gebrochen wär, prasselten Tausende von Bildern auf ihn ein. Bilder von damals, von seinem Haus, seiner Mutter, die am Herd stand und kochte, seine kleine Schwester, die auf dem Schoss seines Vaters saß und glockenhell lachte. Er erinnerte sich daran, wie er gegessen hatte mit seinen Lieben und wie er nachher draußen gespielt hatte. Eine einzelne, große Träne kullerte seine Wange hinab. Schnell wischte er sie mit dem Handrücken beiseite und sprach: „Nun gut, machen wir uns auf den Weg.“
Sofort wurden Brieftauben losgeschickt, um Andréa, die Einhörner und sonstige Persönlichkeiten zu informieren. Gleich darauf zogen auch sie los. Kurz vor dem großen Moor mussten sie sich trennen; Tinira und Reba in den Norden und Galdior und Bolmar in den Süden.
Bolmar und Galdior
Sie brauchten nicht lange bis zu dem Treffpunkt mit Andréa. Das Heer bestand aus fünfhundert Tieren, alle mehr oder weniger zusammengeflickt. Galdior biss sich auf die Lippe. „Das ist nicht gerade viel ...“, dachte er laut. Bolmar zuckte darauf mit den Schultern und sagte: „Nun, es muss reichen.“
Mutlos ließ Galdior die Schultern hängen. Bolmar blickte ihn lange an und dann das Heer. Er biss grimmig die Zähne zusammen und stand auf einen Stein.
„Krieger, Ich gebiete Ruhe! Krieger hört mir zu!“, schrie er. Schnell beruhigte sich die Menge und es wurde still. Bolmar fuhr fort: „Es ist nun soweit. Dies wird der letzte Krieg sein. Und ich sage euch: Ich bin stolz auf euch, denn ihr kämpft für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt. Doch so muss ich euch auch sagen ... Dieser Feldzug gegen die schwarze Stadt wird eine Hinreise. Ihr dürft keine Rückreise erwarten. Ihr werdet sterben. So überlasse ich euch die Entscheidung. Jeder, welcher sich zu sehr fürchtet, Zweifel hegt oder Familie hat, soll hier bleiben. Ihm wird nichts nachgetragen, denn besonnen ist der, der hier bleibt.“
Niemand bewegte sich auch nur einen Zoll.
Bolmar lächelte stolz. „Ihr Wölfe, Bären und sonstiges Getier! Bei den Göttern werdet ihr unendlichen Ruhm erlangen, denn als Helden geht ihr in die Geschichte ein! Seid guten Mutes und voller Hoffnung! Wir werden keinen Stein auf dem anderen lassen! Lasst euren Schlachtruf ertönen, dass sich die dunklen Mächte in ihren Burgen fürchten!“
Auf Bolmars Wort brach ein Getöse los, lauter als jedes Horn oder jeder Knall. Wie eine Welle wogte der Schlachtruf über die Felder. Bolmar nickte zufrieden.
„Nun kommt! Sehen wir dem Tode ins Auge und schreiten der Verdammnis entgegen!“ Er sprang vom Stein, stieg auf sein Pferd und ritt los. Das ganze Heer folgte ihm. Mit Entschlossenheit und Tatendrang in den Herzen rannte das ganze Heer über die Ebene südlich des Moors entlang in Richtung Osten. Unterwegs begegneten sie kleineren Spähtrupps des Feindes, die von Bolmars Heer einfach überrannt wurden.
Erst als die Sonne bereits untergegangen war, schlug das Heer das Lager auf.
Mitten in der Nacht wurde Galdior wach und verliess sein Zelt. Der Himmel war klar, wurde nur von gelegentlichen Wolken durchzogen, die wie zerfetzte Segel aussahen, und die Luft schlug ihm kalt entgegen.
Er schlug einen Mantel um sich und ging ein paar Schritte. Bei einem Felsen sah er Bolmar hocken, der an den Himmel starrte. Neben ihm blieb er stehen. Beide sahen zu den zwei Sternen, sie leuchteten heller als der Mond.
Galdior legte seine Hand auf Bolmars Schulter. „Bolmar“, fing er zögerlich an. Er hatte das drängende Gefühl noch ein paar Wort sagen zu müssen, „sollten wir den nächsten Tag nicht überleben, sollst du wissen, dass du mir mehr bist als ein Bruder.“ Bolmar blieb ihm eine Antwort schuldig.
Endlos lange schienen sie dem Moor entlang zu reiten.
Nach etwa einer Woche zogen vom Moor her Nebelschwaden über sie hinweg und schon bald mussten sie langsamer reiten. Bolmar an der Spitze sah kaum den Kopf seines Pferdes.
Aus einem Grund, den sich Bolmar nicht erklären konnte, wurden sie nicht mehr angegriffen. Außer dem Atmen und Trampeln hörte man keinen einzigen Laut. Viele wurden nervös und sahen um sich.
Bolmar hatte kein gutes Gefühl bei diesem Nebel, er schien so lebendig. Plötzlich entblößte der Nebel einen Speer mit drei übereinander aufgespießten Köpfen nur wenige Schritte vor ihm. In ihm stieg die Kotze hoch. Einige Maden hatten sich die Häupter als Wohnsitz genommen und krochen aus allen Löchern.
Bolmar schloss für einen Moment die Augen und senkte seinen Kopf. Wer konnte nur so etwas tun? Galdior kam aus dem Nebel auf ihn zu und besah die Köpfe. Statt Galdior sprach sein Einhorn: „Verdammt ... das ist übel.“
Bolmar nickte leicht und wollte seinem Pferd gerade die Sporen geben, als er sah wie Zuzu die Ohren reckte. Auch Gladior hatte es bemerkt und fragte: „Was ist? Was hörst du?“ Zuzu liess ein leichtes Wiehern hören und deutete mit dem Kopf in den Nebel zu ihrer Rechten.
Bolmar und Galdior versuchten mit zusammengekniffenen Augen den Nebel zu durchdringen. Durch den weissen Nebel sah man ihre weissen Leiber erst, als sie nur noch zwei Schritte von ihnen entfernt waren und selbst dann erkannte man sie nur an den dunklen Augen, die wie hunderte schwarze Kohlestücke im Nebel auf Bolmar und Galdior zu tanzten. Das vorderste Einhorn lief zu Galdior und neigte seinen langen Hals, bis das Horn den Boden berührte. Die anderen taten es ihm gleich.
Das vorderste Einhorn hiess Salu und war das stärkste und grösste Einhorn der Schar. Es hatte Galdior viel Mühe, Geduld und guten Willen gekostet, bis er sein Vertrauen gewonnen hatte. Doch als er Salu erst auf seiner Seite gehabt hatte, war er zu einem seiner treusten Gefährten geworden. Salu hob seinen langen Kopf und sprach mit seiner tiefen Stimme: „Da sind wir, Fürst. Wir werden mit Euch kommen und wir scheuen weder Kampf noch Tod. Du bist unser Fürst und gehst uns voran. Treu werden wir dir folgen, in welch Schicksal auch immer.“
Galdior sah auf seinen Freund und sagte: „Salu, grosser General der weissen Schar, wie schön mit dir zusammen dem Ende entgegen zu reiten. So kommt, schliesst Euch uns an.“
Galdior klopfte Zuzu auf den Hals und er schritt weiter in den Nebel hinein, dicht gefolgt von Bolmar. Die weisse Schar nahm ganz hinten Position ein und sie sangen ein Lied ihrer Vorfahren, tief und schön wie der Ozean.
Gegen Mittag ließ der Nebel nach und die Erde unter ihnen wurde trockener. Nachdem sie durch einige Baumreihen hindurch geritten waren, kamen sie auf eine große Ebene, dessen Ende eine riesige, schwarze Mauer bildete. Kaum waren alle Reihen auf dem Feld waren, hörte man Trompetenschall im Inneren der Mauer.
Galdior ritt nahe an Bolmar heran und fragte: „Wir wurden entdeckt. Was nun?“ Das einzige was dieser entgegnete war ein Woher-soll-ich-das-wissen-?-Blick.
Dann jedoch sagte er: „Wir müssen das ganze Heer aus den Mauern locken, damit Tinira ihren Job machen kann.“
„Wieso sollte er uns nicht einfach mit Bogenschützen unter Beschuss halten?“
Bolmar lächelte.
„Der „böse Bruder“ hat zwei Probleme. Das erste ist: Er ist stolz; er wird es hassen, danach sagen zu müssen, dass er ein Heer nur mit Bogenschützen feig zerschossen hat. Zweitens: Er liebt es zuzusehen wie zwei Heere im Mann gegen Mann Kampf gegeneinander kämpfen. Dabei ist es ihm egal, ob seine Männer in Scharen fallen; Hauptsache ist, dass das andere Heer auch fällt. Wenn wir ihn fordern, wird er sein Heer herausmarschieren lassen, nur vielleicht nicht das Ganze. Komm, gehen wir anklopfen.“
Galdior und Bolmar trabten zur Mauer. Bolmar bereitete sich innerlich bereits darauf vor, was er sagen würde. Galdiors Einhorn schnaubte und schüttelte den Kopf.
„Ganz ruhig Junge. Wird schon“, flüsterte Galdior beruhigend auf sein Einhorn ein und tätschelte ihm den Hals. Wieder hörte man das Einhorn unnatürlich lange wiehern. Sein Reiter schluckte schwer.
Knapp dreißig Schritte vor der Mauer blieben sie stehen, der schwarze Wall war etwa fünf Mannesgrössen hoch und schien massiv. Bolmar nahm ein Horn hervor, sog die Luft tief ein und blies lange hinein. Der Ton war fest, tief und brachte die Erde zum zittern. Gleich darauf guckte eine Kopf auf der Mauer empor.
„Was wollt ihr? Verschwindet!“, schrie eine hohe, schrille Stimme.
Bolmar verzog das Gesicht. „Holt euren König! Ich spreche nicht mit einem seiner schmierigen Handlanger.“
Der Kopf zuckte zurück und man hörte und sah einige Minuten nichts. Dann jedoch tauchte wieder eine Gestalt auf der Mauer auf.
„Was tut ihr hier? Liegt euch so viel am Sterben?“, dröhnte eine tiefe Stimme zu ihnen hinab.
Bolmar schaute gekünstelt um sich und sagte: „Nun, bisher seh ich nichts, was mich auch nur annähernd in Gefahr schweben ließe. Ich würde sagen, ihr ergebt uns die Stadt freiwillig und euch wird von meiner Seite her nichts geschehen.“ Galdior lächelte verbittert; das war der grösste Bluff, den er je gehört hatte.
„Natürlich werde ich das ... natürlich.“
Der König schrie etwas zu seinen Männern hinunter und gleich darauf öffneten sich die schweren Toren mit einem quietschenden Geräusch. Der Anblick ließ Bolmar und Galdior den Atem stocken.
Reihe um Reihe von Tieren und allerlei fieser Kreaturen schritten aus dem Tor. Es waren Gestalten darunter, die keiner von ihnen je gesehen hatte; Mischungen von verschiedenen Tierarten, wie ein Löwe mit einem Wolfskopf.
Das dunkle Heer teilte sich und kreiste das viel kleinere Heer Bolmars ein. Galdior sagte mit einem hoffnungslosen Unterton in der Stimme: „Das ist etwa das fünffache an Kriegern, die wir zur Verfügung haben.“
Sein Freund ignorierte ihn und schrie wieder zum König hinauf, welcher unterdessen wieder auf der Mauer erschienen war: „Wollt ihr mich demütigen? Das ist doch hoffentlich ein Witz! Was soll dieser Haufen heruntergekommener Köter?“
Lange kam keine Antwort, doch dann öffnete sich das Tor ein weiteres Mal und herausgelaufen kamen seltsame Gestalten. Es waren Hexen und Magier, die ununterbrochen irgendwelches Zeug brabbelten und ihre Stäbe und Stöcke schwangen. Knapp fünfzehn waren es an der Zahl und doch schienen sie reichen Respekt im Volk zu genießen, denn die sonstigen Krieger machten ihnen ehrfürchtig Platz. Bolmar knirschte mit den Zähnen und sagte danach: „Das sind immer noch nicht alle ...“
„Willst du noch was, Bolmar, Boldars Sohn? Ich könnte, wenn es dir beliebt, auch noch die Sklaven meiner Bergwerke ins Feld führen. Deine reizende Mutter hätte sicher ihre Freude daran gegen ihren eigenen Sohn kämpfen zu müssen“, höhnte der König vom Wall herunter. Und als hätte jemand ein Schalter umgelegt, fingen plötzliche alle aus dessen Heer an Bolmar zu verspotten. Vor den Kopf gestoßen, senkte Bolmar den Kopf.
Ins Unermessliche wuchs das Geschrei an; Bolmars Augenlider zuckten, seine Kiefermuskeln hüpften auf und ab. Eine innere Ruhe durchströmte Galdior, während Bolmars Nasenflügel bebten. Ein Wummern und Brummen erfüllte die Luft; langsam nahm das Gespött ab. Das Zittern wurde immer stärker. Niemand sagte mehr ein Wort. Ohne den Kopf zu heben, stieg Bolmar von seinem Pferd und lief ein paar Schritte Richtung Tor.
Das Beben verstärkte sich. Regen setzte ein und Bolmar blieb stehen. Dicke Regentropfen prasselten auf die beiden Heere hernieder. Das Beben hatte sich wieder gelegt. Plötzliche umhüllte eine dunkle, triefende Wolke Bolmar und gleich darauf konnte er die Präsenz einer Macht spüren, unvergleichlich zu allem, was er bisher getroffen.
„Wurm. Nichtsnutz. Versager. Niemand. Meine Macht ist unbegrenzt, deine schon. Verzieh dich so schnell du kannst. Diese Chance gewähr ich dir nur ein einziges Mal“, sprach eine giftige, tödliche Stimme, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Bolmar neigte den Kopf. Finstere Gedanken umgaben sein Ich. Gedanken der Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Selbstmitleid, Trauer, ein Nebel, dick wie Blut legte sich über ihn. Bilder jagten durch seinen Kopf. Schmerz. Pein. Verwüstetes Land, sumpfige Gewässer, alle Wälder abgebrannt. Seine lachende Schwester. Leichen. Niedergebrannte Häuser. Braches Land. Gottlosigkeit. Seine lachende Schwester. Dunkelheit.
Die Stimme ertönte wieder: „Geh Heim. Du taugst nichts. Nicht gegen mich.“ Seine lachende Schwester. Wieder seine Schwester. Nur ein letztes Mal wollte er das Lachen seiner Schwester sehen.
„Gib auf! Unnützes Wesen. Verlierer!“ Nur einmal.
Galdior fiel vom Einhorn, als die Druckwelle über ihn hinwegfegte. Sich auf einen Arm abstützend stand er auf. Das riesige Tor und ein Großteil der Mauer war nur noch Schutt und Asche. Die Erde war rund um die finstere Stadt aufgerissen.
Als sich der Staub gelegt hatte, sah man Bolmar auf einer Erdwall stehen, mitten in den Trümmern. Sein Schrei schnitt die Luft wie ein Schwert durch Stoff: „Ich werde dir niemals gehorchen, niemals werde ich dem Guten den Rücken kehren! Ich werde dir einen Grund geben, mich zu fürchten.“
Mit verkrampftem Gesicht lief Bolmar zurück zu Galdior, den Rücken zur Stadt gewandt. Mit ehrlicher Bewunderung bestaunte Galdior seinen Freund. Als Bolmar die Hälfte der Strecke überwunden hatte, tauchten hinter ihm plötzlich schwarze Reiter auf. Sie schienen aus dem Nichts zu kommen und ritten direkt auf Bolmar zu.
„Pass auf!“, schrie Galdior, doch es war bereits zu spät. Ein schwarzer Reiter schwang sein Schwert und steckte es tief in Bolmars Rücken, bevor dieser auch nur merkte, dass er in Gefahr war.
Mit weit aufgerissenen Augen und fassungsloser Miene starrte Bolmar die Spitze des gezackten Schwertes an, das aus seiner Brust ragte. Seine Hände waren mit Blut verschmiert.
Galdior konnte gerade noch erkennen wie sein Freund in die Knie ging, das Leben aus seinen Augen wich, als jener von Reitern verdeckt wurde.
Der Schock übermannte Galdior und er kam erst wieder zu sich, als sein Einhorn die Initiative ergriff und davongerannte. Sofort nahm Galdior die Zügel in die Hand, wandte sich um und preschte den Reitern entgegen. Um ihn herum war ein Getümmel losgebrochen und die Schlacht hatte ihren Anfang gefunden.
Kapitel 39
Tinira saß auf einem kleinen Baum und wurde nach und nach immer unruhiger. Vor ihr lag diese verfluchte Stadt, bei der sich alles entscheiden würde.
„Wenn nur dieser dumme Vogel bald zurückkommt“, dachte sie. Vor mehreren Tagen hatte sie eine Krähe losgeschickt, die berichten sollte, wann die Schlacht begann. Unendliche Momente – so schien es – wartete sie.
Plötzlich erschien am Horizont ein kleiner, schwarzer Fleck, der schnell näher kam. Schon von weitem hörte man die krächzige Stimme schreien: „Es hat begonnen!“
Sofort sprang Tinira vom Baum, packte ihren Bogen und schwang ihn um. Wenige Augenblicke später explodierte sie in einer Wolke aus Feuer und Rauch.
Nur wenige Ellen über dem Boden flog sie auf die schwarze Mauer zu und immerzu hoffte sie, dass sie nicht entdeckt würde und dass die ganze Besatzung zum anderen Ende des Ringes beordert worden war.
Sie steuerte auf den Turm zu, der ihr am nächsten lag. Dann flog sie nahe an der Mauer hinauf und versuchte auf der Plattform zu landen. Es gelang ihr halbwegs. Sofort richtete sie sich auf und besah ihre Umgebung.
Die Stadt war wahrlich ein Meisterwerk der Architektur.
Der äußere Ring der Mauer fasste den Ausläufer einer kleineren Hügelkette ein, deren höchster Punkt neunhundert Schritt über dem Meer lag. Die Stadt selber lag etwa auf Meereshöhe.
Inmitten der Hügelkette lag ein eingesunkenes Tal, auf der gleichen Höhe wie die Stadt. Sie sah es von ihrer Position natürlich nicht, wusste jedoch von seiner Existenz.
Dort befand sich das Bergwerk und das Gefangenenlager der Stadt auf einer kleinen Insel im Zentrum eines Sees. Zu den umliegenden Hügeln hin war das Gefangenenlager gut abgeschirmt und geschützt. Von der Stadt führte ein Kanal durch die Hügel bis zum See.
Der Eingang zum Kanal in der Stadt war von einem weiteren Mauerring eingefasst. Alle Häuser, Tempel und öffentliche Gebäude waren innerhalb der ersten und ausserhalb der zweiten Mauer. Der Palast des Königs war oberhalb des Kanals auf einer eingesenkten Ebene gebaut und wenn man von weitem hin sah, so schien es, als ob er majestätisch über der großen Stadt schweben würde.
Mit einem Ruck löste Tinira sich aus ihrer Starre, wurde jedoch gleich wieder abgelenkt, als sie das verschrottete Mauerstück auf der anderen Seite der Stadt sah.
„Was ist dort hinten nur los?“, flüsterte sie vor sich hin. Schnell riss sie sich zusammen und konzentrierte sich wieder auf ihre Aufgabe. Geduckt, dass sie auch ja nicht gesehen wurde, rannte sie auf dem Wall von Zinne zu Zinne und dann geschwind eine Treppe hinab. Nach nur ein paar Augenblicken schlich sie zwischen den schmutzigen Häusern hindurch, in welchen normalerweise die Mittelschicht der Bevölkerung lebte.
„Was geht hier vor? Wo sind all die Leute hin?“, fragte sie Raar.
„Ich weiß es nicht. Womöglich wurden sie in Sicherheit gebracht, in eine versteckte Burg ... Ich weiss es auch nicht“, antwortete Raar. Als Tinira die dunklen Gassen und verlassen Plätze durchschritt, bekam sie immer mehr das Gefühl, dass hier schon sehr lange niemand mehr gewohnt hatte.
Es war so still, dass jedes Rascheln, jedes Knacken zu einem potentiellen Feind wurde. Umso mehr erschrak sie, als der Himmel donnerte und gleich darauf dicke Regentropfen fielen. Gefährlich nahe schienen Blitze einzuschlagen.
Immer weiter arbeitete sie sich zum inneren Wall vor. Oft musste sie sich vor einzelnen Patrouillen schwarzer Ritter verstecken. An einer Hauswand klebend, spähte sie um die Hausecke und sah den inneren Wall vor sich. Dieser war von einem großen Platz umgeben, den man nur sehr schwer überqueren konnte, ohne von den Wachen gesehen zu werden. Tinira biss sich auf die Lippe.
Wie sollte man da unbemerkt hinüber kommen?
Das Tor zum Kanal war geschlossen und auf der Mauer sah sie zwei Wachen. Sie sah auch eine Art Glocke, die wohl dazu diente, Alarm zu schlagen. Nur langsam beruhigte sie sich, atmete ein paar Mal tief ein und aus, dann legte sie zwei Pfeile an die Sehne und spannte. Lange wartete sie bis die beiden Wachen den gleichen Abstand hatten. Die Sehne sirrte und bevor die zwei Wachen wussten was geschah, fielen sie röchelnd zu Boden.
„Guter Schuss, jetzt aber schnell rein da!“, meldete sich Raar in Tiniras Gedanken.
Tinira setzte alles auf eine Karte und sprintete zur Mauer. Kurz bevor sie angelangt war, sah sie sich noch einmal um, um sicher zu gehen, dass sie nicht entdeckt worden war. Dann explodierte sie leise – als sie ihm Norden unterwegs gewesen war, hatte sie gelernt ihre Explosion zu unterdrücken. Der Knall war dann nicht lauter als ein unterdrücktes Flüstern und es wurde kaum Licht abgegeben. Allerdings konnte sie so nicht gerade weit fliegen und flog die Mauer hinauf. Sachte ließ sie sich auf der anderen Seite wieder herunterfallen.
Für einen kurzen Augenblick ruhte ihr Blick auf den zwei Leichen. Sie hasste das. Wann endlich würden sie befreit von Krieg?
Sie seufzte und wandte sich wieder ihrer Mission zu. Vor ihr lag der Kanal ruhig da. Im Wasserbecken, worin der Kanal endete lagen vier große Boote angebunden.
„Wir müssen alle diese Boote gleichzeitig durch den Kanal bringen ...“
Tinira blieb Raar vorläufig eine Antwort schuldig.
Lange überlegte sie angestrengt, bis sie schließlich auf eine Lösung kam, die zwar waghalsig war, aber klappen konnte.
Die Seile, die die Boote hielten waren nur über die Anbindepfeiler geworfen. Sie lief den Steg entlang und band jedes Schiff los, behielt jedoch die Seile in den Händen.
Der Kanal war zirka zehn Schritte breit, was genau reichen sollte, ja musste, um alle Boote nebeneinander hindurch zu bringen.
Mit den Seilen in den Händen nahm sie drei Schritte Anlauf, sprintete los, sprang und explodierte. Als sich die Seile spannten, wurde sie mit einem Ruck zurückgerissen, konnte aber trotzdem genug Geschwindigkeit aufbauen, um nicht ins Wasser zu stürzen.
Nach und nach wurde sie immer schneller. Die Boote hinter ihr schaukelten und krachten gefährlich oft und heftig aneinander.
Tinira wurde zur Sonne in mitten des Kanals und innerhalb weniger Sekunden hatte sie einen Großteil der Strecke zurückgelegt. Plötzlich endete der Kanal und Tinira war wieder an der frischen Luft.
Vor ihr lag die Insel mit der kleinen Festung. Langsam bremste sie ab und verlor an Höhe. Kurz vor dem Land liess sie die Seile los, dann versuchte sie zu landen und überschlug sich wie immer einige Male. Jemand griff ihr unter die Arme und hob sie hoch. Es war Reba, deren schmutziges Gesicht sie anlächelte. Hinter ihr standen ein paar Tiere, das waren wahrscheinlich die, welche ihr geholfen hatten.
„Ich glaube nicht, dass die alle Platz finden“, murmelte Tinira, als sie das vierhundertköpfige, grüne Heer sah, das sich vor der Festung niedergelassen hatte.
Kapitel 40
Missmutig stapfte sie den Berg hinauf. Es war kein richtiger Weg vorhanden, sie musste sich nach ihren Gefühlen einen Weg durch diesen dichten Wald bahnen.
Keuchend lehnte Reba sich an einen Baum und sah ein weiteres Mal auf ihre Gefährten; wild entschlossene Tiere, die nur darauf warteten ihren Feinden in den Hintern zu treten.
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Es waren zwar nur zwei Dutzend, doch es würde reichen. Mehrere Tage waren vergangen seit sie sich von Tinira getrennt hatten und seither waren sie tagelang durch dichtes Buschwerk, immer aufwärts gewandert.
Reba erwartete, dass sie jeden Moment den obersten Punkt der Hügelkette erklommen haben mussten.
Tatsächlich nach nur einer weiteren Stunde mühsamen Steigens, konnte Reba auf die Festung in mitten des Sees hinuntersehen.
Kurz darauf trat ein schlanker, äußerst intelligenter Puma neben sie und fragte mit seiner weichen Stimme: „Fürstin, wie gelangen wir über diesen gewaltigen See und ohne, dass sie uns sehen?“
Seine Augen waren dunkel und strahlten eine Kampfeslust aus, die man nicht bändigen konnte. Reba schwieg lange und sah wieder zum See.
„Das wirst du sehen, doch nun lasst uns gehen. Ich will so schnell wie möglich nach unten.“
Als die Sonne gerade ihre letzten Strahlen in die Welt hinaussandte, waren sie nur noch wenige Schritte vom Ufer entfernt. Mit leisen, schnellen und trotzdem vorsichtigen Schritten huschten sie von Baum zu Baum, um nicht von den Wachen auf der Festung gesehen zu werden.
Wie abgesprochen, sprangen auf ein Zeichen hin alle zu Reba. Nun kam der knifflige Teil der Mission: Irgendwie musste sie schaffen alle gleichzeitig in die Luft zu erheben, doch ohne, dass die in der Festung es merkten.
Mit schnellen, ausholenden Bewegungen ihrer Stachel verfrachtete sie alle in die Luft. Das Luftkissen war schwer zu halten und Reba gelang es nur mit Müh und Not nicht abzustürzen. Unterdessen waren auch die letzten Sonnenstrahlen weg und Finsternis machte sich in dem Tal breit.
Sie hatten nur ein kurzes Zeitintervall, um zu landen, vom Untergehen der Sonne bis die Wachen die Fackeln entfachten. Schnell flog Reba mit ihrer Fracht auf die Insel.
„Schnell drückt euch an die Mauer, bis ich das Tor geöffnet habe“, raunte Reba den anderen zu. Diese nickten und Reba machte sich mit schnellen Bewegung wieder in die Luft davon. Das Zeitfenster schloss sich langsam, überall auf der Mauer erhellten Fackeln die Dunkelheit. Ohne ein Geräusch landete Reba auf der Mauer und duckte sich gleich.
Langsam und ohne ein Geräusch sah sie zum Tor hinab, zwei Wachen liefen vor ihm hin und her. Sonst war der Hof menschenleer; es schienen alle Gefangen in ihren Zellen zu sein. Ziemlich in der Mitte des Hofs führte eine Absenkung des Bodens unter Holzstreben in den Untergrund.
„Das muss die Mine sein“, dachte Reba. Schnell sah sie sich um. Zuerst musste sie die Wachen auf dem Wall und in den Türmen ausschalten, jedoch gab es da ein Problem: die Wachen trugen alle Fackeln. Sie musste so schnell sein, dass keine andere Wache Alarm schlug, wenn auf der anderen Seite plötzlich Lichter verschwanden. Mit ein paar tiefen Atemzügen atmete sie ein und wieder aus, dann rannte sie los.
Auf der anderen Seite des Gefängnisses fielen der Wache auf dem Turm immer und immer wieder die Augen zu. Wann kam endlich die Ablösung? Schwer auf seine Lanze gestützt, blickte er in die dunkle Nacht hinaus.
Ganz am Rande seines Blickfeldes verschwand plötzlich ein Licht. Schnell drehte er sich um und starrte auf die andere Seite der Mauer.
Sollte dort nicht eine Wache stehen? Weiter links auf einem Turm ging wieder ein Licht aus. Der Reihe nach gingen alle Lichter auf der Mauer aus.
Die Wache griff mit der Hand nach hinten und suchte die Glocke, während er immer noch den ausgehenden Lichter nach schaute. Verzweiflung kroch in ihm hoch, als die Fackel der Wache, die ihm am nächsten war, erlosch. Endlich bekam er die Glocke zu fassen, riss sie hervor und wollte gerade anfangen wie wild zu läuten, da stand vor ihm eine Gestalt ganz von Wind umhüllt und sie hielt seine Glocke in der Hand. Verwirrt sah er von seiner leeren Hand zu ihr. Mit ihren Lippen formte die Gestalt ein tut-mir-Leid und schlug ihm auf den Kopf, sodass er sofort das Bewusstsein verlor.
Keine Zeit verschwendete Reba, sondern sprang sofort von der Mauer in Richtung der Wachen am Tor. Diese bemerkten zu spät, dass nicht eine Wolke, sondern ein ziemlich gefährlicher Mensch ihnen das Mondlicht stahl.
Mit ein paar kräftigen Bewegungen waren sie ausgeschaltet. Reba war sich sicher, dass es sich noch zum Negativen wenden würde, da sie die Wachen nur bewusstlos geschlagen hatte, anstatt zu töten. Doch sie brachte es nicht über sich, wehrlose Personen hinterhältig umzubringen.
Sie atmete wieder tief ein und öffnete dann das Tor. Mit einem Nicken begrüßte sie die Tiere, die in den Hof strömten. Wie abgesprochen teilten sie sich in Zweiergruppen auf und liefen auf die verschiedenen Eingänge zu, welche zu den Zellen und somit zu den Gefangen führten.
Mit gemäßigtem Schritt stolzierte die Wache die Zellenblöcke entlang, während er ein Liedchen pfiff, das er noch aus seiner Kindheit kannte.
Ein dreckiges Lächeln verzog seinen Mund, als er in die Zellen sah, wo Menschen zusammengepfercht auf einem Haufen lagen. Zwischendurch schauten ihn ein paar ausdruckslose Augen an. Er lachte und pfiff weiter.
Plötzlich vernahm er hinter sich ein Geräusch, wirbelte herum und griff im gleichen Moment nach seiner Waffe.
Einige Momente horchte und schaute er in den Gang, den er eben noch entlang marschiert war.
Beschämt über seine Furcht zuckte er mit den Achseln und drehte sich langsam wieder um. Ein kleiner Schrei entfuhr ihm, als da ein Fremder vor ihm stand.
Zwei grosse Pranken umschlossen ihn von hinten, sodass er zu keiner Bewegung mehr fähig war. Sein Zähneklappern konnte man im ganzen Zellenblock hören. Der Fremde vor ihm hob das Visier an und ein wunderschönes, weibliches Gesicht kam zum Vorschein. Sie sah zu den Gefangenen hinüber und schüttelte den Kopf.
„Bitte ... lasst Gnade walten!“, meldete sich die Wache. Der Schlag kam so schnell, dass er ihn nicht einmal mehr sah. Das letzte, was er wahrnahm war der zornige Ausdruck in ihren Augen.
Reba schlich sich auf den Hof hinaus zum Tor. Immer wieder sah sie über die Schulter auf den Strom Gefangener, der sich langsam hinter ihr her bewegte.
„Wenn das nur gut geht“, dachte Reba.
Gebückt und im Schatten der Mauer schlichen sie zum Ausgang. Mit einer leisen Bewegung versuchte sie das Tor aufzustossen. Verdutzt hielt sie inne. Das gleiche Tor, das sie vorhin noch so mühelos aufgestossen hatte, liess sich nun keinen Zoll verschieben. Verzweiflung machte sich in ihr breit und sie war kurz davor in Panik auszubrechen.
„Es ist zwecklos,“ meldete sich eine schmierige Stimme. Reba schnellte herum und sah, dass sich auf der ganzen Mauer Wachen mit Bögen verteilt hatten. Diese zielten nicht etwa auf sie, sondern auf die Gefangenen.
„Ich rate dir nicht einmal den Versuch zu unternehmen dich zu bewegen, ansonsten sind diese Leute tot,“ sagte wieder die Stimme, doch noch immer konnte Reba das passende Gesicht nicht ausfindig machen. Auch sah sie die Gesichter der Wachen, die sich schwarz vom Mondlicht abhoben, nur schemenhaft.
„Und nun wirst du gemässigten Schrittes deine Waffen in der Mitte des Hofes ablegen und –“, unterbrochen von einem Wachen, der ihm etwas zu raunte, drehte er sich plötzlich um und hob ein Fernglas an. Wieder wurden unverständliche Worte gewechselt.
Plötzlich hörte man ausserhalb der Mauern plätschernde Geräusche, wie sie nur Wasser erzeugen konnte.
Dann drehte sich auf Kommando des Mannes der gesprochen hatten, ein Teil der Wachen ab und fing an auf Feinde zu schiessen, die Reba nicht sah.
Ihr Kinnladen fiel hinunter, als sie das Ziel sah, worauf die Wachen ihre Pfeile abschossen. Da kam, majestätisch und würdevoll Prinz Karun auf der Welle dahergeritten. Das Mondlicht verlieh dem Wasser ein milchiges Aussehen. Seine Axt schimmerte im Licht der Sterne und man hörte seinen anschwellenden Schrei durch das Tosen der Wellen.
Zu Rebas Entsetzten fingen die einen Wachen an ihre Bögen ganz zu spannen und auf die Gefangenen zu zielen.
Ihre Stimme hallte von den Mauern wider, als sie zu den Gefangen schrie, sie sollten wieder zurück ins Gefängnis. Noch bevor die ersten anfingen sich zu bewegen, flogen schon die Pfeile und ihr Sirren klang in Rebas Ohren wie der Tod persönlich.
Ihre Reaktion war ein bisschen zu spät gekommen. Der grösste Teil der Pfeile hatte sie mit einem kontrollierten Windstoss beseitigen können, doch einer war durchgekommen und stak nun im Beine einer älteren Frau. Die nächsten paar Sekunden waren der pure Albtraum. Sie musste es schaffen alle Pfeile abzuwehren, doch immer wieder kamen einzelne Pfeile durch und verfehlten nur selten ihr Ziel. Unter hysterischem Geschrei rannten die Gefangenen wieder zurück.
Das Gefängnis, das sie so lange gequält hatte, war nun ihre Zuflucht geworden.
Ausserhalb der Mauern kämpften die hundert Bogenschützen von Sagra verbissen gegen die wenigen Wachen auf der Mauer.
Prinz Karun sprang von seiner Welle, hob die Axt an und zielte auf den Kopf des Anführers der Wache.
Mit einem Ruck blieb Karun in der Luft stehen. Er hatte einfach angehalten – mitten in der Luft. Der Anführer der Wache hatte seine Hand erhoben und sprach: „Du wirst nie mehr ein Ärgernis sein. Heute stirbst du.“
Dann liess er die Hand fallen und somit flog auch Karun hinunter. Der Aufprall liess Karun aufschreien. Etliche Stellen seiner Rüstung hatten sich in seine Haut gebohrt und Verletzungen und Prellungen hinterlassen.
Er war noch immer benommen und schmeckte Blut in seinem Mund, als er ein weiteres Mal von seinem Gegenüber auf der Mauer durch eine Handbewegung hochgehoben wurde. Plötzlich sprang Reba auf den Anführer zu. Dieser jedoch hob nur seine andere Hand und hielt dann beide in der Luft.
Mit einer schnellen Bewegung schleuderte er Karun gegen Reba. Sie überschlugen sich mehrere Male auf der Mauer. Reba stand mit zittrigen Beinen auf, Karun hingegen blieb bewusstlos liegen.
Rebas Helm war scheppernd davongeflogen. Langsam raffte sie sich auf und griff sogleich von Neuem an. Winde kamen auf, zuerst nur leicht dann immer heftiger, doch schienen sie dem Anführer nicht annähernd etwas auszumachen. Mit zwei plötzlichen Handbewegungen hielt er Rebas Arme still. Kläglich musste sie mitansehen, wie nach und nach Ro und Ru aus ihren Händen rutschten und wegflogen.
„Was willst du mit ein bisschen Wind gegen mich ausrichten?“ Auf eine leichtes Zucken seiner Finger erhob sich ein loser Stein, flog auf Reba zu und traf sie an der Schulter.
Der Schlag fegte Reba von den Füssen. Doch wieder erhob sie sich und versuchte möglichst den Schmerz zu verdrängen.
Ihr Blick fiel auf den grünen Stein, der an einer Kette festgemacht war und um den Hals des Anführers baumelte. Sie sprintete los und versuchte nach dem Stein zu greifen, ohne wirklich zu wissen warum. Der Anführer tat diese Handlung als eine weitere verzweifelte Tat Rebas ab und stoppte sie, um sie dann mit einer wegwerfenden Geste seinerseits wegzuschleudern.
Reba jedoch hatte ihr eigentliches Ziel erreicht. Als sie sich ein weiteres Mal aufrichtete glänzte das Amulett in ihrer Hand. Der Anführer wurde rot vor Zorn und forderte zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch den Stein von Reba zurück. Keinen Augenblick zögerte Reba und schmiss die Kette von der Mauer.
Ein Schrei wurde seiner Kehle entlockt und der Anführer stoppte durch seine Fähigkeit das Amulett in der Luft. Auf diese Gelegenheit hatte Reba gewartet. Sie nahm einen weiteren Versuch und rannte auf ihn zu, während um sie herum immer noch Pfeile flogen und der Kampf tobte.
Ihr Versuch endete in einer weiteren Niederlage.
Der Anführer hatte sie früh genug bemerkt und rechtzeitig gestoppt. Plötzlich kam aus einer anderen Richtung ein Schwall Wasser, welcher den verdutzten Anführer in die Luft hob und von den Füssen riss. Reba drehte sich um und sah, dass Karun wieder auf die Füsse gekommen war.
Sie rannte los, hob ihre Stachel auf, sprang mit einem Satz hinunter, um dem Anführer den Rest zu geben. Als sie näher kam, stellte sie fest, dass ein Racheakt nicht mehr von Nöten war. Der Helm des Anführer war ihm in der Luft vom Kopf gerissen worden und der Hinterkopf war beim Aufprall auf einem Stein gelandet. Mit einem angewidertem Blick sah sie in das ausdruckslose Gesicht ihres Feindes, während sich das Blut in einer Lache auf dem Boden ausbreitete.
Kapitel 41
Das Gefecht währte nur noch kurz. Bald waren alle Verteidiger entweder tot oder hatten sich ergeben. Ein Räuspern brachte Reba dazu, sich abzuwenden. Karun der Prinz von Sagra stand hinter ihr, die Axt auf den Rücken gebunden.
„Das war knapp“, sprach er mit einem Seitenblick auf den toten Anführer. „Wie sieht dein weiteres Vorgehen aus, Reba?“
„Das kommt ganz darauf an“, antwortete sie.
Karun zog seine Augenbrauen hoch, antwortete jedoch nicht mehr.
Später nach einem kargen Mahl stand Reba vor dem Gefängnis und starrte auf den Ausgang des Kanals aus dem Tinira irgendwann auftauchen musste. Tinira hatte ihr zuvor erklärt, dass der Kanal von der Stadt durch den Berg zur Insel führe und mit Booten durchquert werden konnte.
Das feine Geräusch von laufenden Tatzen näherte sich ihr von hinten.
„Herrin, worauf warten wir?“, fragte der Puma. Tinira gab keine Antwort und blickte weiterhin auf den Kanal.
Plötzlich erschien ein Lächeln auf Rebas Gesicht, als ein Lichtpunkt sichtbar wurde und wuchs. Keine Minute später stürzte Tinira auf Reba zu.
„Ich glaube nicht, dass die alle Platz finden“, murmelte Tinira, als sie sich aufrappelte, Reba mit einem Lächeln begrüsst hatte und dann das vierhundertköpfige, grüne Heer sah, das sich vor der Festung niedergelassen hatte. Karun verneigte sich leicht vor Tinira, als er sie sah. „Guten Abend, Tinira. Lass das mit dem Transport nur meine Sorge sein. Geht ihr mit den Schiffen; ich werde für mich und meine Männer einen eigenen Weg finden“, sprach er mit ruhiger Stimme. Tinira nickte und runzelte verwirrt die Stirn.
Keine Minute später waren Tinira, Reba und ihre Tiere auf die Schiffe verteilt. Mit ein bisschen Unterstützung von Reba brauchten sie nicht lange, um durch den Kanal zu kommen. Auf der anderen Seite sprangen sie von den Booten und sicherten sofort die Umgebung. Nichts hatte sich, seit Tinira dort gewesen war, verändert. Die Leichen der Wachen lagen immer noch in ihren, nunmehr grösseren, Blutlachen. Von weit her hörte man Kriegsgeschrei und irgendwo in der Stadt krächzte ein Vogel in die Nacht hinaus.
Währenddessen zog sich das Wasser im Kanal immer mehr zurück, bis nur noch der trockene Boden zurückblieb. Nach einer Weile hörte man schnelle Schritte durch den Kanal hallen und bald kamen die ersten Krieger Sagras angerannt. Sie zogen sich an den Seilen hoch und bezogen sofort Position. Immer mehr kamen, bis es schliesslich still wurde. Dann kam auch das Wasser wieder und an seiner Spitze ritt Karun auf einer Welle.
In den darauffolgenden Minuten besprachen sie was nun zu tun sei. Schnell kamen sie zum Schluss, dass Karun und seine Männer, sowie Tinira und die Tiere zur Schlacht hinzustossen sollten. Reba sollte den Berg hinauf zum königlichen Palast, um dort soviel Informationen zu sammeln wie möglich.
Kapitel 42
Die Luft war geschwängert vom Geruch von frischem Blut und erfüllt mit Geschrei. Auf dem Schlachtfeld vor der schwarzen Stadt lagen Leichen verstreut, hauptsächlich Tiere aller Arten.
Galdior stand breitbeinig über Bolmars Leiche und wehrte verbissen die Angriffe der schwarzen Reiterei ab. Beinahe das ganze Heer, das mit Galdior geritten war, war entweder tot oder so schwer verletzt, dass es nicht mehr zum Kämpfen zu gebrauchen war. Der Rest der übrig geblieben war, hatte sich etwa vierzig Schritte von Galdior entfernt versammelt und versuchten zu überleben.
„Ich muss zu ihnen, jetzt“, dachte Galdior. Dann schnappte er sich Bolmars Leiche, hievte sie über die Schulter und bahnte sich den Weg zu seinen Kämpfern, stetig den Schlägen und Hieben seiner Feinde ausweichend.
Zweimal sackte er in die Knie, niedergedrückt von der Last der Verzweiflung, nicht etwa der Last seinen toten Freundes. Es schien ihm eine Ewigkeit zu dauern, bis er zu seinen Kämpfern durchgedrungen war. Diese begrüssten ihn freudig und nahmen sofort Bolmars Leiche in ihre Mitte.
Am Anfang der Schlacht hatte Galdior die dunklen Magier ausgeschaltet, denn er hatte gewusst, dass von ihnen die grösste Gefahr ausging. Doch nun fing er an unter dem Druck, den die gegnerischen Krieger ausübten, zu brechen. Sie waren mehr als das zwanzigfache an der Zahl und hatten ihn und seine Tiere von allen Seiten er eingekreist. Seine Schläge wurden unpräzise, aber er parierte so oder so nur noch.
Alle Hoffnung war gewichen; es würde keinen Sieg für das Gute geben, die Finsternis hatte am Ende doch gesiegt.
Inmitten der Selbstvorwürfe und der Hoffnungslosigkeit durchschnitt ein schriller Schrei seine trüben Gedanken. Galdior blickte auf und sah sie.
Noch nie hatte er so viele Feuervögel auf einmal gesehen. Es waren etwa dreissig, sie flogen durch die gegnerischen Reihen und brachten Tod und Zerstörung.
Die Krieger und Galdiors Kommando erhoben ihre Stimmen und jubelten den Feinden ins Gesicht. Ein riesiger Grizzlybär sprang vor Erleichterung auf und ab, sodass der Boden unter seinem Gewicht zu zittern began.
Gleich darauf kamen die ersten Männer Sagras hinter der zerstörten Mauer zum Vorschein und rannten den eingeschlossenen Verbündeten zu Hilfe.
Nun wendete sich das Blatt rasch: Galdior und seine Streiter blühten auf und schlugen sich eine Bresche durch die Feinde, Tiniras Phönixe flogen durch die Gegend, und Sagras Männer hatten wenig Mühe die müden Feinde niederzustrecken.
Bald waren nur noch die schwarzen Reiter übrig, die umso verbissener kämpften und nicht zu ermüden schienen. Nun, da er kaum noch um sein Leben zu fürchten hatte, stieg in Galdior der Zorn über den Tod seines Freundes wieder auf und über all die Gefallenen, die ihr Leben gelassen hatten. Er wollte in diesem Moment nichts anderes als Rache.
Seine Lanze sauste auf und ab und tötete eine Menge der schwarzen Reiter. Nach einem erbitterten Kampf lagen alle Reiter auf dem Boden. Galdior stand über ihnen, den Kopf und die Lanze gesenkt. Es war vorbei.
Tinira, Galdior und Karun standen um die Leiche von Bolmar unfähig etwas zu sagen. Nach einer Weile sprach Karun: „Ich werde ein paar meiner Männer befehlen ihn zu bewachen. Wir sollten gehen. Beenden wir diesen Krieg.“
Tinira wischte sich ihre Tränen aus den Augen und nickte. Galdior hingegen bückte sich und nahm seinem Freund den Helm ab und betrachtete dessen ruhiges Gesicht. Er atmete tief ein, stand auf und lief Richtung Stadt. Karun und Tinira folgten ihm schweigend.
Kapitel 43
Rebas Beine schmerzten.
Die Treppen, die sich links und rechts des Kanals, aus welchem sie gerade gekommen war, befanden, schienen ewig den Berg hinaufzuführen. Die ganze Angelegenheit erschwerte sich zusätzlich dadurch, dass sie immer im Schatten gehen musste, um vor allfälligen Blicken feindlicher Wachen sicher zu sein.
Im Schatten eines kahlen Baumes zog sie ihren Helm ab und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiss von der Stirn.
Nach langem, weiteren Treppensteigen erhob sich vor ihr eine gewaltige Mauer und ein Tor. Sie beschloss zuerst der Mauer entlang zu gehen. So wandte sie sich nach links und ging immer im Schatten dem Mauerverlauf entlang. Mit einiger Enttäuschung musste sie feststellen, dass die Mauer an einen Felsen endete. Rasch machte sie kehrt um und rannte zurück, am Tor vorbei und auf die andere Seite. Dort erwartete sie exakt das selbe.
In einem Rausch von Tatendrang und Neugierde fing sie an den Felsen zu erklimmen.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie auf gleicher Höhe wie die Mauer war. Hinter einem grossen Stein sah sie hervor und staunte nicht schlecht, als sie sah, dass der Palast, der sich innerhalb der Mauern befand, zwischen zwei Ausläufern eines Berges dahinter steckte. Der Palast war schwarz, genau wie der Platz davor.
Die Luft roch nach Tod und Verwesung.
Reba wurde schwindlig und sie musste sich festhalten, um nicht zu stürzen. Im Hof lag ein Tümpel, der alles Licht rundherum zu verschlucken schien.
Allerdings sah Reba nicht eine Wache.
„Ist auch gar nicht nötig,. Da geht so oder so keiner freiwillig rein“, dachte sie.
An der Mauer wuchs ein efeuähnliches Gewächs empor und auch sonst war sie sanierungsbedürftig. Rebas Augen wanderten zurück zum Palast, der direkt in den Berg verlief.
Plötzlich fing der dunkle Teich auf dem Hof an zu wabbern und zu blubbern. Gerade als Reba sich anfing zu fragen, was da vor sich ging, erhob sich etwas Seltsames aus dem Teich. Zuerst war es nur ein Klumpen, der langsam an die Oberfläche kam. Nach und nach kamen immer mehr Formen, die Reba nur allzu bekannt waren. Aus diesem Tümpel kam ein Mensch – oder etwas, was wie einer aussah – gekrochen. Er räkelte und streckte sich, als würde er sich in seiner Haut unwohl fühlen. Tatsächlich schien er sich in einer Art Sack zu befinden. Nach einiger Anstrengung schaffte es die Person sich aus seiner Hülle zu befreien.
Reba erkannte nicht genau, ob es ein Mann oder eine Frau war. Das meiste des Körperaufbaus schien menschlich, doch die Haut war schwarz genau wie die Augen und die langen Haare, die fast so lang waren wie sein Körper.
Reba zuckte zusammen, als die Tür zum Palast mit einem Knall geöffnet wurde. Ein prunkvoll gekleideter Mann kam heraus und hinter ihm ein paar Diener, die Rüstungsteile und ein langes Schwert dabei hatten.
Die Diener hielten ehrerbietig Abstand von dem Wesen, doch der Mann, der im Palast eine hohe Stellung innehaben musste, lief direkt und ohne Furcht auf das Wesen zu und fing es an zu betasten und zu betrachten, als ob er Ware auf einem Markt begutachten würde.
Nachdem er anerkennend genickt und es anscheinend als gut befunden hatte, klatschte er zweimal in die Hände und sofort traten die Diener nach vorne und begannen dem Wesen die Rüstung anzuziehen. Sie passte wie angegossen und das Wesen – so unmöglich es auch schien – bewegte sich als ob es nie ohne gewesen wäre.
Keine fünf Minuten nachdem die Diener auf den Hof gekommen waren, verzogenen sie sich wieder ins Haus.
Das merkwürdige Wesen war wieder allein. Es zog sein langes Schwert hervor und betrachtete es genauer. Die Klinge des Schwertes war innen grau und die Schneide schwarz. Mit einem heiseren Lachen, das Reba das Blut in den Adern gefrieren liess, steckte das Wesen sein Schwert zurück in die Scheide auf dessen Rücken, schob das Tor auf und ging die Treppe hinunter.
Rebas Gedanken rasten.
Was sollte sie nun tun? Sollte sie es tatsächlich wagen in den Palast hineinzugehen? Und was würde sie tun, wenn sie erst einmal drinnen war? Nach ein paar Sekunden schüttelte sie den Kopf und gestand sich ein, dass es nicht viel Sinn machen würde, viele Informationen zu sammeln, aber am Schluss gefangen genommen zu werden und so niemandem mehr die Informationen weitergeben zu können.
Schnell fasste sie den einzigen, ihr richtig erscheinenden Entschluss: Sie würde die Treppen hinuntergehen, das Monster zur Strecke bringen und dann gemeinsam mit den anderen den Palast stürmen.
Bevor sie es wirklich schnallen würde, wäre der Krieg vorbei und das Leben konnte friedlich weitergehen. Mit einem Gefühl eines nahenden Endes und einem siegessicheren Lächeln auf den Lippen begann sie den Abstieg von den Felsen.
Kapitel 44
Als er die Stadt unter sich betrachtete, schüttelte er bedächtig den Kopf.
Die Menschen hatten nichts gelernt, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Hätten sie damals auf ihn gehört, würden sie nun in Wohnungen aus Diamanten und Gold wohnen und sie bräuchten sich nicht mehr um ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Doch zu dieser Zeit hatten die Menschen einstimmig das Gefühl gehabt, auf Reichtum verzichten zu können und stattdessen den Tugenden zu folgen.
Angewidert zog er die Mundwinkel runter und spie auf die Treppe. Nun schien seine Hilfe doch willkommen zu sein, immerhin für eine Seite der Menschen.
Er, der tiefgründige und unerschütterliche Bote der ewigen Gestade würde nunmal dem, der ihn gerufen hatte helfen. Sein Lohn würde unermesslich sein, wenn er erst mal die Gunst unter den Menschen erlangt hatte.
Langsam nahm er Tritt um Tritt und wurde sich zusehends sicherer, dass nichts ihn nun noch stoppen konnte. Auch nicht die kleine Ratte, die seit seiner „Geburt“ auf dieser Welt immer in der Nähe gewesen war.
Versteckt hatte sie sich, hinter den Felsen. Doch um die würde sich sein Meister kümmern. Seine Aufgabe bestand allein darin, zur Schlacht hinzuzustossen und seinem Meister den Sieg zu bringen ... und den Kopf eines bestimmten Menschen.
Die Rüstung und das Schwert, das ihm gebracht worden war, erschwerten seinen Körper ungemein und es war ihm ein Rätsel wie man so etwas Tag für Tag tragen konnte. Ein leicht resigniert klingender Seufzer drang aus den Tiefen seines Körpers heraus. Während er mit der Hand über den Arm fuhr, wurde ihm bewusst wie angewiesen er auf die Waffe und die Rüstung war ... zumindest anfangs. Er würde sie solange benutzen, bis sein ausgewachsener Körper seine eigene Rüstung und sein eigenes „Schwert“ hervorgebracht hatte. Und dann würde ihn niemand mehr aufhalten – nicht einmal die kleine Ratte, die ihm hinterher schlich. Er konnte ihren Atem hören und ihre Nähe spüren. Wie töricht von ihr zu denken, dass sie ihn beschatten konnte. Nun ja, auch ihre Zeit würde kommen.
Nicht einen weiteren Gedanken verschwendete er ihrer und lief weiter, nun in schnellerem Schritt, die Treppen runter.
Nach einigen Minuten sah er unter sich ein grosse Gruppe von Leuten durch die Stadt auf ihn zu gehen. Nicht etwa, dass er auf Hilfe angewiesen war, aber es würde doch ein Kampf werden, wenn denn nicht nur Menschen dabei waren.
Er wusste nicht wie viele da auf ihn zu marschierten, doch er wusste, dass er stehen bleiben musste.
Wieso sollte er zu ihnen gehen? Sollten sie sich abmühen, die Treppen hinaufzuklettern, um dann vor ihm auf die Knie zu fallen und um ihr Leben zu winseln. Und so hatte sein Körper auch genug Zeit sich weiterzuentwickeln. Dieser Kampf würde sicherlich in die Geschichte dieser Welt eingehen.
„Und ich weiss jetzt schon, wer siegreich sein wird“, flüsterte er.
„Wer ist das? Ist das Reba?“, fragte Galdior Karun. Dieser kannte die Antwort auch nicht. Galdior, Tinria und Karun stiegen Tritt um Tritt nach oben, und die schwarze Person blieb in einiger Entfernung über ihnen stehen.
„Halt! Tinira, bleibt sofort stehen! KEINEN SCHRITT WEITER!“, schrie Raar in Tiniras Kopf. Sofort hielt sie Karun und Galdior zurück und beinahe wären sie nach hinten gestürzt.
Der Blick Galdiors war kaum zu deuten, doch das war Tinira egal und sie sagte im gebieterischsten Ton, den sie aufbringen konnte: „Halt! Da stimmt was nicht!“
Karun und Galdior konnten nicht erraten, was in Tinira vorging, doch ihr ungläubiger Blick verriet nichts Gutes. Plötzlich zog sie einen Pfeil, legte ihn auf die Sehne und schoss ihn in die Lüfte.
Wie so viele Male zuvor explodierte der Pfeil und wurde zu einem Feuervogel, der in einem riesigen Tempo auf die schwarze Kreatur stürzte. Doch gegen Tiniras Willen machte der Phönix eine Kurve und verpuffte weit weg in der Luft. Tinira keuchte schwer. Was war das für eine Kreatur, die ihre Vögel leiten konnte?
„Ich sage es dir. Es ist der Bote der ewigen Gestade, Bûr, die Verkörperung des Bösen und zweifellos gerufen vom Herrscher dieses Palastes, der die Spitze dieses sündigen Berges schmückt. Schick die anderen weg, das ist kein Gegner für Sterbliche.“
Tinira drehte sich um und schrie so laut sie konnte: „Schnell zieht euch zurück, wenn euch euer Leben lieb ist! Geht! Bleibt in der Stadt und versorgt die Verwundeten! Und mischt euch nicht ein! Geht!“
Tiniras vor Schreck aufgerissenen Augen waren genug Beweis für die Soldaten und Tiere, um zu wissen, dass das keineswegs ein schlechter Scherz war. Sie drehte sich um und ignorierte die fragenden Blicke Galdiors und Karuns.
„Galdior und Karun auch", befahl Raar.
„Los, ihr auch! Vertraut mir! Geht!“, befahl Tinira ihnen, doch es war schon zu spät. Die Kreatur hatte sich ihnen unbemerkt genährt und war nur noch ein knappes Dutzend Schritte entfernt und sie schien ihren Blick auf Karun gerichtet zu haben.
Galdior nickte Tinira zu und wollte gerade die Flucht ergreifen, was ihm sehr widerstrebte, als er sah, dass Karun auf das Wesen starrte. Von einem Moment auf den anderen fiel Karun auf die Knie, Blut floss aus seinen Mundwinkeln, seine Augen waren starr und der Atem setzte aus. Tinira schrie: „Schnell Galdior, bring ihn runter, jetzt, bevor es zu spät ist!“
Galdior reagierte sofort, er packte sich Karun, schleuderte ihn über die Schulter und rannte die Treppen hinunter.
Kapitel 45
In der Nähe eines kleinen Wäldchens im Nordwesten der finsteren Stadt schien das Leben normal abzulaufen. Keine Kriegsgeräusche, kein Wiehern von Pferden, keine Leichen, die den Boden säumten, nur diese friedliche, absolut Ruhe.
Zwischendurch fiel ein Blatt langsam schwebend auf die Humusschicht. Die Blätter fingen an sich in der feinen Brise zu bewegen, wie ein einziges. Die Brise wurde stärker, die Bewegungen der Blätter wurden heftiger und die Stille wich dem fernen Dröhnen eines Sturmes. Das Dröhnen kam näher, fing an den Boden zu erschüttern. Blätter wirbelten umher in einem endlosen hektischen Tanz. Der Sturm, der durch das Wäldchen fuhr erschütterte alles, neigte selbst die stärksten Bäumen. Und das Dröhnen nahm Form an.
Wie tausend Hufe klang der Wind und immer wieder erklang die Stimme: „Windfürstin, haltet durch!“
Uutar-Moru hatte zum Krieg gerüstet.
„Sieh ihm nicht in die Augen! Vermeide jeglichen Blickkontakt und vertraue mir!“
Tinira nickte und schloss ihre Augen. Ausser ihrem Atem hörte sie die bedächtigen Schritte der Kreatur.
Sie hörte ein leises Lachen und eine böse Stimme, die sagte: „Ich sehe wie schon einmal zuvor. Die Waffen der Windfürstin, Ro und Ru. Doch ... habe ich diese nicht eben vor langer Zeit getötet? Wie kommt das? Wieso schaust du mir nicht in die Augen, wenn ich nicht mit dir rede, Kind?“
„Schaue ihm auf keinen Fall in die Augen! Vertraust du mir? Tinira, vertraust du mir?“
„Ich weiss nicht ... wieso ...“,dachte Tinira verwirrt.
„Tinira, vertraust du mir?“
„Nun ja, ja, ich vertraue dir“, antwortete Tinira.
„Gut, denn das hier wollte ich nie.“
„Was denn? Was wo –“, fragte sich Tinira, doch plötzlich wurde ihre Rüstung heiss, viel heisser als sonst, selbst wenn sie sich selbst als Phönix entfachte. Die Hitze umgab sie, war in ihr drin und schien sich zu sammeln. Im nächsten Augenblick entwich alles Angestaute explosionsartig nach aussen. Dann wurde der Schmerz unerträglich, schlimmer als je zuvor. Und sie spürte nichts mehr.
Reba konnte sich kaum bewegen. Zu viel war in den letzten fünf Minuten passiert. Der Sturz hatte ihr einen kleinen Schrei entlockt, doch was nun geschah schockierte sie vollkommen.
Tinira war gerade explodiert! Ohne ersichtlichen Grund war sie grösser geworden, ihre Rüstung fing an zu brennen und plötzlich war sie nicht mehr sie selbst. Die Gestalt die ihren Körper umgab, brannte, war pures Feuer, in Form einer wunderschönen Frau, die schrie wie ein Vogel.
Die schwarze Kreatur hatte die Explosion von den Füssen gerissen und mehrere Stufen weit hinaufgeschleudert. Es schien dieses Szenario nicht voraus gesehen zu haben. Durch das Getöse des Feuer hindurch konnte Reba die Stimme der Kreatur hören und wie sie sagte: „Du schon wieder! Hat man dich nicht weggesperrt? Musst du dich schon wieder einmischen? Hinfort mit dir!“
Reba konnte nicht glauben, was sie hörte. Schon wieder?, rezitierte sie im Geiste die Kreatur. Doch wirklich weit kam sie mit ihren Gedanken nicht, denn unterdessen war schwacher Wind aufgekommen und bevor sie verstand, um was es sich handelte, wurden sie alle ein weiteres Mal von den Füssen gerissen.
Sie sah wie Tinira oder das was einmal Tinira gewesen war, umgefallen war und die Kreatur war ein weiteres Mal zurückgeschleudert worden. Der Wind wirbelte Blätter umher und ein unglaubliches Brüllen erfüllte die Luft.
Reba erkannte die tiefe Stimme sofort.
Wobei jedes Sausen ihre Worte zu unterstreichen schien, sagte diese: „Du Finsternis! Welch Tor hat dich heraufbeschworen? Wer hat dich geholt? Bûr, so sehen wir uns wieder und hoffentlich nie mehr für lange Zeit!“ Dann ebbte die Stimme ab und der Wind und die Blätter sammelten sich neben Reba auf der Treppe. Uutar-Moru war endlich erschienen.
„Uutar, was ist hier los? Was tust du hier? Was ... was ... ist mit Tinira?“
„Das ist Bûr, er ist böse. Ich bin gekommen, um ihn zu richten. Tinira wurde von Raar-Fin-Sul, da nur wir beide ihn töten können, übernommen.“
„Ist sie ... tot?“
„Nein, nicht ganz“
„Dann bringen wir's endlich zu Ende!“, sagte Reba, stand auf und stellte sich neben Uutar, den Blick fest auf die schwarze Kreatur gerichtet. Uutar-Moru wurde ruhig und sagte leise: „Meisterin, ihr habt nicht zugehört. Nur ich und Raar-Fin-Sul können ihn besiegen. Menschen können ihn nicht besiegen, denn genau wie wir ist er nicht von dieser Welt. Ihr werdet eure Aufgabe erfüllen, wegen der ihr gekommen seid. Ich werde mich um ihn kümmern. Geht jetzt! Stürzt den finsteren Thron!“
Reba sah ihn lange an. Immer mehr wurde ihr bewusst, dass dies kein schönes Ende nehmen würde. Ihr Kopf neigte sich und eine Träne rollte ihr der Wange entlang.
„Ich werde meine Bestimmung erfüllen. Werden wir uns wiedersehen?“, fragte sie unter Tränen.
„Natürlich, Meisterin. Auf bald, geht jetzt!“, antwortete Uutar-Moru.
Reba drehte sich um und rannte die Treppen hinauf.
Uutar-Moru schrie einen Schlachtruf, brauste auf die böse Kreatur zu und fegte sie von der Treppe. Bûr flog die Felsen herab und landete weit unten seitlich der Treppe in einer Böschung. Sofort sprang Uutar-Moru hinterher. Tinira, oder Raar, fassten sich ihrerseits wieder und sprangen ebenfalls die Böschung runter.
Kapitel 46
Galdior trat einen Schritt von der Leiche Karuns zurück. Keiner der Heiler und Ärzte hatte noch etwas für ihn tun können. Nun standen sie um ihn herum und klagten und mit ihnen das ganz Heer Sagras.
Immer wieder hallten die letzten Worte Karuns durch seinen zerrütteten Geist.
„Nun sollst du meine Weissagung erfahren, Galdior. Es wurde gesagt, dass ich in den Armen, dessen sterben werde, welcher die Neue Welt sehen wird. Bring es zu einem Ende mein Freund und wenn du an den Gestaden der neuen Welt ankommst, gedenke meiner.“
Oh, er würde seiner gedenken.
Um sich hörte er wie durch einen Schleier das Wehklagen der Männer Sagras. Wie viele waren schon gefallen? Seine Hand zitterte und brachte die Lanze zum Vibrieren. Er musste es jetzt beenden. Jetzt oder nie.
Wie ein Wahnsinniger drehte er sich um und spurtete die Treppen hinauf, mehrere Stufen auf einmal nehmend.
Reba stand vor dem schweren Tor wie schon einmal zuvor. Sie hatte sich keine Mühe gegeben auch Feinde zu achten. Erstens, weil sie glaubte, dass so oder so keine da waren und zweitens, weil es ihr wirklich von Herzen egal war.
Sie suchte vergeblich nach einer Türklinke oder ähnliches, also beschloss sie es auf die konventionelle Art und Weise zu machen.
Das Tor zersplitterte und wurde aus den Angeln gerissen. Die Einzelteile lagen im Hof verstreut. Reba steckte ihre Waffen wieder weg und lief langsam in den Hof.
Genau wie vorhin, als sie zwischen den Felsen versteckt war, herrschte auch jetzt eine Totenstille. Nichts rührte sich, nur ein leiser Wind strich über ihre Haut.
Zuerst ging sie nahe an den Teich heran, ging sogar in die Knie, um ihn genauer betrachten zu können. Die gänzlich schwarze Oberfläche schien hart zu sein, und doch irgendwie flüssig. Sie wollte den Teich berühren und führte ihre Hand zur Oberfläche.
Doch bevor ihre Fingerspitzen die Oberfläche auch nur berührten, wurde sie von einem unheimlichen Gefühl beschlichen, als ob sie wusste, dass sie ihre Finger verlieren würde, sobald sie unter der Oberfläche waren. Schnell stand sie auf und wich ein paar Schritte zurück. Dieser Teich war nicht normal und eigentlich wollte sie gar nicht genauer wissen, um was es sich handelte.
Sie schlich sich an die Palasttür heran.
Die Tür war riesig und aus Bronze und wie schon beim vorherigen Tor, war auch hier keine Klinke ersichtlich. Auf der Tür waren Schriftzeichen und Figuren zu sehen, die Reba einen Schauer einjagten. Als sie gerade die Hand ausstrecken wollte, um die Tür aufzustossen, ging diese wie durch Geisterhand von alleine auf. Dahinter erstreckte sie ein weiter Korridor, der sich viele Male verzweigte. An den Wänden hingen Fackeln, die es jedoch kaum schafften, die Dunkelheit zu vertreiben. Der Boden schien aus Marmor zu sein und jeden Schritt, den Reba machte, ähnelte einem Donnergrollen.
Sie wusste später nicht wie lange sie diesen Gang entlang geschritten war, an zahlreichen Fackeln und Abzweigungen vorbei, doch es erschien ihr eine Ewigkeit, bis sie das Ende des Ganges erreichte hatte und vor einer gewaltigen Tür stand, die eine eigene unüberwindbare Präsenz hatte.
Allen Mut zusammennehmend, machte sie einen Schritt auf die Tür zu und versuchte sie aufzustossen, doch diese gab nicht nach. Sie probierte alle möglichen Tricks, die es gab, um eine Tür aufzubringen. Schlussendlich zog sie ihre Stachel hervor und schwang sie gegen die Tür.
Das Ergebnis war zugleich verwirrend als auch erschreckend. Der Wind wurde von der Tür zurückgeworfen und traf Reba mit voller Wucht, sodass sie von den Füssen gehoben wurde und nach hinten flog. Sie beschloss einen anderen Eingang zu, was auch immer hinter dieser Tür lag, zu suchen.
Er keuchte schwer und musste sich einen Moment ausruhen, nachdem Galdior durch die zerfetzte Tür in den Hof trat. Nur wenig Zeit gönnte er sich und rannte gleich weiter. Und im Gegensatz zu Reba liess er sich von dem schwarzen Teich nicht aufhalten, sondern spurtete gleich weiter.
Wenige Augenblicke später rannte er den gleichen Gang entlang wie zuvor Reba und auch er landete schliesslich vor der mächtigen Tür. Er spürte, dass diese Tür ihm nicht freiwillig zeigen wird, was dahinter ist. Galdior packte seine Lanze, schloss die Augen und konzentrierte sich. Tiefe Furchen bildeten sich auf seiner Stirn, als sich immer mehr Licht um die Spitze der Lanze sammelte.
Um Galdior herum schien es dunkler zu werden. Das gesammelte Licht explodierte in einem Blitz aus Helligkeit und die Tür fing an zu stöhnen und zu knarren wie unter Schmerzen. Doch dann öffnete sie sich endlich.
Reba hatte keine Ahnung wo sie sich befand.
In dem Wirrwarr von Gängen hatte sie sich unwiderruflich verirrt. Sie rannte um jene Ecke, dann um eine weitere und noch um eine und war wieder dort, wo sie losgerannt war. Erschöpft liess sie sich neben einer Fackel zu Boden gleiten.
Verzweiflung machte sich in ihr breit. Immer wieder schaute sie nach recht und nach links. Schweissperlen schmückten ihr sonst so hübsches Gesicht, das nun seltsam verzerrt und erschreckt aussah.
Ihre Pupillen waren bis aufs Äusserste erweitert, versuchten die Dunkelheit zu durchdringen, die von überall her auf sie eindrückte. Sie klebte wie Spinnweben in jeder Ecke und selbst das Licht der Fackeln schien eine Abart der Dunkelheit zu sein.
Wie ein gehetztes Tier drückte Reba sich an die Wand. Langsam machte sich Panik in ihr breit. Und plötzlich wollte sie nur noch weg vom diesem Ort.
Sie wollte sich gerade am Fackelhalter hochziehen, als dieser quietschend unter ihrem Gewicht nachgab. Mit rudernden Bewegungen versuchte sie das Gleichgewicht zu halten, doch es nützte nichts. Mit einem Aufschrei fiel sie nach hinten in einen Schacht. Sie überschlug sich mehrmals und stürzte immer weiter den engen Schacht hinab. Ihre Reise wurde durch eine Wand beendet, an welcher sie sich den Kopf anschlug.
Als Reba wieder zu sich kam, schmerzte ihr Hinterkopf, als hätte jemand ihr eine Gusseisenpfanne über den Schädel gezogen.
Wider ihrer Schmerzen fielen ihr sofort zwei Dinge auf.
Erstens: Sie sah nichts.
Zweitens: Sie spürte von rechts einen leichten Luftzug. Nachdem sie sorgfältig alles abgetastet hatte, beschloss sie dem Luftzug zu folgen.
Der Schacht war so klein, dass sie gezwungen war auf allen Vieren hindurch zu kriechen und noch immer war es stockfinster. Sie konnte rein gar nichts erkennen. Immer weiter und weiter kroch sie.
Einmal hinauf dann wieder hinab, bis sie sich nicht mehr im Klaren war, was oben und unten war. Mit einem Mal wurde der Luftzug stärker und als sie um die nächste Ecke bog, konnte sie das rote Leuchten der Abendsonne erkennen. Sie krabbelte wie ein Kleinkind dem Ausgang entgegen.
Als ihr Kopf schliesslich fast im Freien war, musste sie die Augen zukneifen.
Schnell kroch sie aus dem Schacht und war sich zuerst nicht ganz sicher wo sie sich befand. Langsam gewöhnten sich ihre Auge an das Licht und die Aussicht verschlug ihr den Atem.
Weit unter sich sah sie den See mit der Insel und dem Gefängnis, wo sie noch vor nicht all zu langer Zeit gekämpft hatte. Um den See herum erhoben sich die zwei Hügelketten und dahinter das Ostmeer.
Es war unglaublich schön.
Das Ostmeer breitete sich nach links und rechts aus, scheinbar unendlich in die Ferne. Der Anblick liess Reba blinzeln. Ihre Augen erkannten keinen Horizont, doch ihr Verstand wehrte sich mit Händen und Füssen gegen diese Vorstellung. Schnell wandte sie ihren Blick ab; sie würde sich später um dieses „Problem“ kümmern.
Die laue Abendsonne liess die Wellen und Wogen rötlich schimmern. Nach einigen Moment des Geniessens wurde ihr bewusst, dass sie eigentlich keine Ahnung hatte, worauf sie stand. Schnell sah sie sich um.
Hinter ihr türmte sich der karge Berg steil auf. Sie jedoch stand auf einer leicht gewölbten Ebene aus behauenem Stein, wie man es auf Dächern vorfand.
Ihr Gehirn fing an zu arbeiten.
„Ich muss mich auf dem Dach des Palastes befinden“, dachte sie. Die Möglichkeit, dass sie sich oberhalb des Raumes befand, in welchen sie vorhin versucht hatte hineinzukommen, jagte ihr einen nervösen Schauer über den Rücken.
„Was ist da unten? Ich muss es herausfinden! Und wenn es das Letzte ist, das ich tue!“
Kapitel 47
Eine Welle von Bosheit und tiefer Finsternis schlug Galdior aus dem Raum entgegen. Er musste sich merklich dagegen stemmen, um hineinzugelangen.
Weit vor sich konnte er die Umrisse eines Thrones sehen. Die Fackeln an den schwarzen Marmorsäulen links und rechts von ihm spendeten nur karges Licht und durch ihr Flackern schienen die Schatten, die wie Hyänen auf den richtigen Augenblick warteten, um loszuschlagen, noch gespenstischer zu werden.
Galdior lief langsam vorwärts und seine Schritte hallten durch den riesigen Raum.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nichts Lebendes gesehen, geschweige denn gehört. Die Augen zu Schlitzen verengt, versuchte Galdior den Thron vor sich genauer zu erkennen.
„Du bist also gekommen?“, donnerte eine böse Stimme aus Richtung Thron. Galdior versteifte sich sofort.
„Ich weiss, dass das Ende nah ist, doch solang ich hier regiere, wird niemand übers Ostmeer kommen. Und du wirst mich nicht aufhalten können. Du hast dein eigenes Todesurteil unterschrieben, als du hierher kamst.“
Galdior hörte wie hinter ihm die Tür zuschlug und plötzlich, leise wie Katzen, traten zwischen den Säulen Armbrustschützen hervor.
Er versuchte sie zu zählen, kam jedoch nicht weit, denn plötzlich erhob sich eine massige Gestalt aus dem Thron und machte ein paar Schritte auf Galdior zu. Auf sein Kommando kamen vier Soldaten mit einer schweren Kiste auf ihn zu und stellten sie vor ihm ab.
Nicht fähig sich zu rühren, starrte Galdior auf die Kiste, woher die ganze Bosheit in diesem Raum ausging. Erst in diesem Augenblick, als der dunkle König sich bückte, um die Kiste zu öffnen, wurde Galdior bewusst wie gross der König war. Und tatsächlich war dieser etwa vier Köpfte grösser als Galdior. Seine Grösse rührte aber nicht von seiner Körpergrösse her, sondern von seiner Rüstung, die wie ein Panzer seinen ganzen Körper umgab.
Die Kiste gab ein quietschendes Geräusch von sich, als sie geöffnet wurde und sofort strömte ein Geruch von Fäulnis und Tod durch den Raum. Der Schein der Fackeln wurde trübe, noch trüber als zuvor.
Der König zog einen riesigen Dreizack heraus, der eigentlich gar keinen Platz haben konnte in der Kiste. Und er wurde zunehmend länger, ja, er wuchs tatsächlich. Galdior erwachte schlagartig aus seiner Starre und fing an das wenige Licht an der Spitze seiner Lanze zu sammeln. Doch der König schien das vorausgeahnt zu haben. Mit einer Handbewegung wurden alle Fackeln von den Soldaten abgenommen und gelöscht.
Galdior stand in fast vollkommener Dunkelheit; das einzige, was noch Licht spendete, war die Spitze seiner Lanze. Er hörte Schritte, dann sah er etwas vorbeihuschen und im nächsten Moment wurde ihm seine Lanze aus den Händen gerissen und erlosch.
Die Finsternis umgab ihn wie eine zweite Haut, sie lachte ihn aus, verhöhnte ihn. Und da kam auch schon der erste Schlag mit solch einer Wucht, dass sein Helm eingedellt wurde. Sein Gegner musste unheimlich schnell sein, denn bevor Galdior auf dem Boden auftraf, spürte er eine Kick in den Rücken und er wurde ein weiteres Mal durch die Luft geschleudert.
Er schlug gegen eine Säule und flog zu Boden. Um ihn herum hörte er die Soldaten lachen.
Gerade als er wieder genug Kräfte hatte, um aufzustehen hörte er ein Sirren und etwas Metallisches schlug ihn wieder zu Boden.
Seine Hände tasten und er konnte die Zinke des Dreizacks füllen, der ihn am Boden festnagelte. Sein Hals befand sich zwischen zwei der drei Zinken, die tief im Boden steckten. Vergeblich versuchte er sich zu befreien und Licht zu sammeln. Er war dem finsteren König hilflos ausgeliefert.
Was hatte er sich nur dabei gedacht, hierher zu kommen? Seine Gedanken wurden unterbrochen, als er spürte wie der Dreizack anfing zu surren und zu vibrieren. Galdior schrie, als das Surren so laut wurde, dass ihm beinahe die Trommelfelle platzten.
Es fühlte sich an, als ob Reissnägel in seinem Kopf wären. Der Dreizack saugte jegliches Leben aus ihm heraus mit einer Gier wie sie Galdior noch nie gesehen oder gespürte hatte.
In diesem Augenblick war er der festen Überzeugung, dass es ihm zu Ende ging.
Sie hatte alles versucht, um durch die Decke zu kommen, sie zu zerstören oder immerhin ein wenig zu beschädigen, doch die Decke wollte nicht nachgeben.
Seit einer Weile versuchte sie nun schon durch die Decke zu gelangen ohne Erfolg.
Dann ging die Sonne unter und die ersten Sterne fingen an zu leuchten. Am hellsten schien die liegende Acht, die fast so hell wie der Mond leuchtete.
Reba nahm noch einmal einen Anlauf. Sie spürte, dass die zwei Sterne, die dort am östlichen Horizont prangten, irgendetwas mit ihren Kräften zu tun hatten. Mit einem riesigen Satz sprang sie in die Luft, liess sich vom Wind noch ein Stück hinauftragen und liess sich dann fallen.
Sie musste beide Schwerter gleichzeitig schwingen, obwohl sie nur zu gut wusste, dass dies gefährlich war. Mit ihren Bewegungen entfachte sie einen Sturm und sie schrie wie nie in ihrem Leben zuvor. Um sie herum wurden Steine losgelöst, der Berg fing an zu knacken und zu stöhnen und plötzlich, als die Strecke zum Dach immer kleiner wurde, bildeten sich Risse auf der Oberfläche des Daches.
Durch ein Schleier von Verzweiflung und Tod hörte Galdior das seltsame Knacken über sich. Auch die Bosheit, die ihm das Leben aussog, schien es zu bemerken und sich abzuwenden.
Galdior kam wieder an die Oberfläche des Bewusstseins und öffnete die Augen. Alle um ihn herum sahen zur Decke, sogar der König starrte hin. Der plötzliche Lichteinfall und die Wucht mit der die Deck zusammenbrach zwangen den König die Arme vor die Augen zu halten.
Galdior hörte ihn schreien: „Ahh, wer wagt es Licht in die verborgenen Hallen zu bringen!“ Selbst Galdior fragte sich, was da vor sich ging, als er im Sternenlicht das schimmernde, goldene Haar Rebas erkannte.
Nur einen Lidschlag später war sie auch schon wieder weg. Dann wurde der König plötzlich von den Füssen gerissen und sein Dreizack gleich mit ihm.
Galdior sah Reba noch immer nicht, nichtsdestotrotz erblickte er zu seiner Rechten seine Lanze und auf diese rannte er nun mit schwachen Beinen zu. Hinter ihm erklang Rebas Stimme: „Galdior komm unter das Licht! Schnell!“
Und er hatte wirklich vor ihrem Rat zu folgen, doch kaum hatte er seine Lanze wieder in der Hand, als sich auch schon der König vor ihm auftürmte. Den ersten Schlag konnte er noch abblocken, der nachfolgende Schlag in den Magen jedoch nicht.
Galdior segelte durch die Luft und wurde erst durch die Wand gebremst. Noch während er geflogen war, hatte er gesehen wie der König seinen Dreizack geworfen hatte. Durch schnelles kopfeinziehen war er dem Dreizack entkommen. Dieser steckte nun über ihm in der Wand. Galdior reagierte sofort; stand auf und rannte los, die Lanze fest in der rechten Hand. Sie verschwamm, als er sie auf den König hinabsausen liess. Dieser blockte mit der linken Hand und in einer drehenden Handbewegung packte er die Lanze, sodass Galdior nicht fliehen konnte. Und da war auch schon das gepanzerte Bein auf dem Weg zu Galdiors Gesicht. Dieser liess die Lanze los, um den Kick mit beiden Armen abzuwehren. Und obwohl es sich anfühlte, als wenn die Knochen nachgäben, holte er mit aller Kraft aus und kickte gegen das stehende Bein des Königs.
Für einen Moment schien der Koloss in der Luft zu schweben, um dann nur umso härter auf dem Boden aufzuschlagen. Sofort hechtete Galdior nach seiner Lanze und konnte einen kurzen Blick auf Reba erhaschen, die unter dem Beschuss aller Armbrustschützen war und mit Ro eine Art Windschild aufgebaut hatte.
Die Faust schien aus dem Nichts zu kommen und traf Galdior hart im Gesicht. Und noch bevor er überhaupt reagieren konnte, hatte ihn die Hand des Königs bereits am Hals gepackt und hob ihn ohne Mühe in die Luft.
In dieser Situation sah er wieder zu Reba, die plötzlich Ro stillhielt, eine Rolle machte und Ru in Richtung der Säulen zu ihrer linken schwang. Galdiors Augen weiteten sich, als die Säulen ineinander zuammenfielen.
Der Teil der Decke, der durch diese Säulen gestützt wurden, bröckelte hinunter. Galdior nutzte das kurze Zeitfenster, das ihm der König gab, indem dieser entsetzt zu dem Schutthaufen hinübersah und zog die Füsse an, um sie dann mit voller Wucht in das Gesicht des Königs zu schmettern. Der Schlag liess den König ein paar Schritte zurücktaumeln und Galdior war wieder frei.
Im nächsten Moment passierten gleich mehrere Dinge auf einmal. Die Säulen, welche noch standen bekamen plötzlich ein Schnitt und standen nur noch durch die Statik. Der König schien langsam richtig wütend zu sein und rechts von ihm rannte Reba unter einem Pfeilhagel zum Ausgang.
Galdior verstand, was er zu tun hatte. Er sammelte ein wenig Licht an der Spitze der Lanze machte einen Ausfallschritt und schlug dem König mit der Breitseite der Lanze auf den Bauch. Die Entladung des Lichts schleuderte diesen in die nächste Säule. Der Aufprall reichte, um die Säule instabil werden zu lassen, sodass diese nach vorne umkippte und wie ein Dominostein die nächste Säule umwarf. Nun stürzte endgültig alles zusammen.
Doch das bekam Galdior kaum mehr mit. Er rannte bereits durch die offene Tür, die Reba anscheinend geöffnete hatte und den Gang entlang, währenddessen hinter ihm alles einstürzte.
Kapitel 48
Galdior lag auf dem Bauch, umgeben von Staub und Schutt.
Der Berg war in sich zusammengebrochen. Jemand griff im unter die Schultern und zog ihn weg. Es dauerte eine Weile, bis er wieder stand.
Neben ihm war Reba, sie hatte den Helm abgenommen und ihre Locken waren von einer Staubschicht überdeckt. Durch den Staub über den Trümmern sah man die zwei Sterne, die sich langsam zu überdecken begannen.
„Es ist vollbracht“, sagte Galdior mit einem Seufzer. Er drehte sich um und erstarrte.
Hinter ihm aus dem Trümmerhaufen erklang ein bedrohliches Surren und er hörte Reba aufschreien. Man brauchte ihm nicht zu sagen, was es war.
„Es ist noch nicht vollbracht“, dachte er.
Seine Rüstung gab dem Dreizack nach und dieser durchstiess ihn. Die blutigen Zinken ragten grotesk aus seinem Bauch heraus. Ungläubig starrte Galdior auf die Spitzen herab. Ein Schwall von Blut kam aus seinem Mund.
Die Zeit reichte nicht, um das Bewusstsein zu verlieren, da wurde der Dreizack schon wieder hinausgezogen. Die Hacken an den Spitzen rissen Fleisch, Haut und Fetzen von Organen heraus. Der Schmerz war unbeschreiblich.
Dann sackte Galdior zusammen und seine Lanze schepperte zu Boden. Seine Augen sahen nur noch Rebas entsetzten Blick.
Reba verstand nicht, was gerade passiert war.
Galdior lag in seinem eigenen Blut und neben ihr lachte sein Mörder, der anscheinend noch nicht tot war. Wie betäubt schaute Reba zum König hinüber, der zwischen den Trümmer stand und lachte.
Dort wo früher einmal sein rechter Arm war, befand sich nun ein ausgefranster Stumpf, der stark blutete. Dies schien ihn nicht daran zu hindern mit dem Dreizack auf Reba einzustechen. Doch diese, von Zorn beflügelt wich dem Dreizack aus, packte ihn und zog einmal kräftig daran.
Der König stolperte vorwärts, verlor die Balance und purzelte den Schutthaufen herab, bis vor Rebas Füsse. Reba holte mit beiden Armen aus und wollte dem König die Stachel in den Kopf rammen.
Erstaunlicherweise hatte dieser noch die Kraft auszuweichen, sodass Ro und Ru im Boden stecken blieb. Der König nutzte die Chance und versetzte Reba ein Tritt, der sie umwarf. Sie flog bis kurz vor dem Teich. Schnell hob sie ihren Kopf und sah, dass der König bereits wieder auf den Beinen war und seinen Dreizack aufgehoben hatte.
„Haha, hier wird auch dein Leben ein Ende nehmen, Abtrünnige!“
Der König nahm sich sehr viel Zeit zum Zielen und tatsächlich wäre dieser Wurf angekommen, wenn nicht plötzlich Galdior wieder auf wackligen Füssen gestanden hätte. Er rannte mit der Schulter voran in den König hinein. Reba sprang so hoch sie konnte und der König stolperte unter ihr hindurch und blieb am Rand zum Teich stehen.
Dass Reba plötzlich vor dem König landete, schien diesen ungemein zu verwirren. Sie sah ihn einen Augenblick an, dann schnellte ihre flach angewinkelte Hand nach vorne, traf den König mit voller Kraft an der Brust und liess diesen in den Teich fallen. Sein Schrei erstickte, als er vom Teich eingesaugt wurde. Nicht eine Sekunde später hörte man von weither einen gedehnten eisigen Schrei, der einem das Blut in den Adern gefrieren liess.
Uutar-Moru fragte sich ernsthaft, was vor sich ging. Noch vor wenigen Sekunden hatte er daran gezweifelt, lebendig aus dem Kampf hervorzugehen.
Bûr schien unbesiegbar und unermüdlich, während er immer mehr Kraft verlor. Dann langte sich Bûr plötzlich an den Kopf, als ob er starke Kopfschmerzen hätte, schrie wie am Spiess und in nächsten Augenblick verfiel er zu Asche.
Dann brach plötzlich Raar-Fin-Sul in sich zusammen und so auch Tinira. Gleichzeitig hörte er über sich ein Rauschen. Da kam Reba mit einem Menschen in ihren Armen herangeschwebt. Sie landete weich auf dem Gras neben Uutar-Moru. Ihre Stimme war wie eine traurige Symphonie, die bei der kleinsten Berührung zu zerbrechen schien. Sie sagte: „Es ist vorbei Uutar-Moru. Es ist endgültig vorbei.“
Dann ging sie wie ein Schatten zu Tinira hinüber und legte Galdior neben ihr ins Gras.
Wie ein Grashalm, das abgeschnitten von jeglicher Wasserquelle ist, knickte Reba über Galdior zusammen. Ihre Tränen fielen wie Regentropfen und platzten auf der Rüstung auf.
Dieser Anblick, der in späteren Zeiten aufgeschrieben und gemalt werden würde, blieb Uutar-Moru noch lange in Erinnerungen. Reba gebeugt von Trauer und Leid, weinend über Galdiors Leiche, dessen Gesicht eine ruhiges Licht ausstrahlte, als ob er etwas wüsste, dass allen anderen verborgen blieb, neben ihm Tinira in einer Welt zwischen Tod und Leben.
Die ganze Szenerie getüncht in rötliches Dämmerlicht, das langsam dem Licht der Sterne Platz machte erschien Uutar-Moru gänzlich ungewöhnlich.
Kapitel 49
„Wo bin ich?“
„Gute Frage. Ich bin mir nicht sicher.“
„Bin ich tot?“
„Nein ... und ja. Du oder besser Ich bin zusammengebrochen. Und da ich dich übernommen hatte, habe ich dich mitgerissen.“
„Wohin mitgerissen?“
„In eine Zwischenwelt, die eigentlich nur für Phönixe bestimmt ist.“
„Aha, aber für mich hat sie eine Ausnahme gemacht? Wieso sehe ich nichts?“
„Weil nichts da ist.“
„Super, aber mich selbst sollte ich doch eigentlich sehen. Ich bin ja da!“
„Nicht ganz. Dein Körper existiert in dieser Welt nicht.“
„Ach, Scheisse! Ich weiss, warum hier keine normalen Leute hinkommen. Da stirbt man ja vor Langweile.“
„Hmm.“
„Raar, kann ich wieder zurück?“
„Nein, zumindest nicht ohne Konsequenzen.“
„Was für Konsequenzen? Würde ich eine andere Person gefährden?“
„Nun, nein, niemand anderen, aber dich selbst. Dein Leben würde ständig an einem seidenen Faden hängen und nichts könnte das ändern. Andauernde Schmerzen würden deine täglichen Begleiter sein. Du würdest eine Last für deine Mitmenschen sein, eine Plage, die sich verkrampft an ihrem letzten bisschen Leben festhält.“
Einen Moment der Stille, in dem Tinira an etwas dachte, das sie in den Memoiren ihrer Vorgängerin gelesen hatte, legte sich über sie.
„Raar, stimmt es, dass ein genügend mächtiger Träger eines Phönix' sein Leben unter Einbüssung des eigenen transferieren kann?“
„Nun ja ... das stimmt schon ...“
„Aber? Was kann schiefgehen?“
„Wenn du zu wenig mächtig bist, kann es sein, dass du zwar dein Leben einbüsst, jedoch die Übergabe nicht funktioniert.“
„So ... ist denn gerade einer in der Nähe, der ein wenig Leben von mir gebrauchen könnte?“
„Ja schon, aber ich muss trotzdem davon abraten. Es ist zu –„
„Wer? Raar, wer ist es?“
„Der Lichterfürst, Galdior, seine Lebenszeichen sind vor wenigen Minuten erloschen.“
„Gut dann bring mich zurück. Sofort.“
'Ja, Herrin. Sofort.'
Unterdessen funkelten die Sterne hell und fröhlich über der Ebene und beschienen Reba, die auf Galdiors Brust eingeschlafen war, erschlafft von der Trauer.
Explosionsartig kehrte Luft in Tiniras Nase und füllte die Lungen. Der unglaubliche Schmerz kehrte mit all den anderen Gefühlen zurück, die zum Leben gehörte. Nur wurde der Schmerz nicht schwächer, er blieb, hockte in ihren Knochen und ihren Muskeln, brummte in ihrem Kopf wie ein Bienenstock.
Tinira spürte langsam wieder das Gewicht ihres Körpers, der Boden, auf dem sie lag und die kalte Luft, die ihr über die Nase strich. Anfangs war der Blick noch verschwommen, die Formen unklar, doch bald lichtete sich der Schleier und sie konnte die tausend Sterne über sich sehen. Sie spürte, dass man ihr den Helm entfernt hatte. Unter einiger Anstrengung richtete sie sich auf und schaute auf Reba und Galdior, die neben ihr lagen.
Galdior war bleich, tot, jedoch strahlte er eine gewisse Würde und Ruhe aus. Rebas Brustkorb hob und senkte sich. Sie schlief wirklich, doch ihr Gesicht war verzerrt vor Anstrengung und dem Leid, das ihr widerfahren war.
Ganz in der Nähe stand Uutar-Moru, so bewegungslos, dass man ihn kaum erkannte. Aufgrund eines Gefühls, dass ihr riet schnell vorwärts zu machen, schenkte Tinira ihm keinerlei Aufmerksam, sondern richtete ihr Sinn auf die Aufgabe, die vor ihr lag.
„Was wird mit dir passieren?“, fragte Tinira Raar leise.
„Nachdem dein Körper zu Staub zerfallen ist, werde ich entweder weiter in der Rüstung hausen oder ausfahren.“
Tinira nickte. Es konnte losgehen.
Uutar-Moru betrachtete die Szene aus einiger Entfernung. Es hatte ihn wenig überrascht, dass Tinira plötzlich wieder aufstand. Er hatte das schon einmal beobachtet bei ihrer Vorgängerin. Nun wurde er jedoch Zeuge von etwas, das er nie für möglich gehalten hätte. Tinira hatte gerade Reba von Galdior runter und neben ihn gelegt.
In diesem Moment packte sie seinen Kopf zwischen ihre Hände und sah ihm in die Augen. Ohne Vorwarnung fing Tinira an zu brennen, verwandelte sich in eine lebendige Flamme, wurde zu einer kleiner Sonne.
Uutar-Moru erkannte einen Teil von Raar-Fin-Sul in ihr in jenem Augenblick. Die Ränder der Blätter, die Uutar-Morus Gestalt ausmachten, wurden schwarz. Eine Säule aus Feuer und Licht stieg von ihr auf und liess die Nacht herum zum Tage werden. Noch weit entfernt sah man die Feuersäule.
Und in dieser Feuersbrunst war auch Galdior, doch sengte ihm die Hitze nicht ein Haar. Uutar-Moru glaubte zu verbrennen, wenn er noch länger dort blieb, doch schien es ihm die Situation nicht zu erlauben, sich wegzubewegen.
Würde er doch dieses Spektakel sicherlich nie mehr erleben, sollte er jetzt die Flucht ergreifen.
Gefolgt von einer letzten Welle der Hitze schrie Tinira Galdior ihr Leben ins Gesicht. Der Schrei war hoch und lang gezogen, gespannt wie ein Seil zwischen zwei Pferden. Dann war es vorbei. Tinira verbrannte ohne etwas zu hinterlassen.
Ihre Rüstung fiel in sich zusammen und schepperte auf Galdiors Rüstung.
Kapitel 50
Während Reba noch schlief, war Uutar-Moru sehr fleissig gewesen.
Alle hatten akzeptiert, dass solange Reba schlummerte, er das Kommando über alle Truppen und Zivilisten übernahm. Zuerst hatte er die Krieger, die übrig geblieben waren, in zwei Gruppen aufgeteilt und die eine gleich einmal schlafen gehen lassen. Mit der anderen Hälfte hatte er sofort ein Massengrab ein wenig vom Strand entfernt zwischen zwei Hügeln ausgehoben und die Toten hineingelegt, jedoch noch nicht ganz zugeschüttet. Auch sie sollten die letzte Ehrerbietung empfangen dürfen.
Sehr zur Missgunst vieler Krieger hatte er auch die Leichen aller Feinde sammeln und auf einem Haufen verbrennen lassen. Mehr als nur einmal sagte Uutar-Moru, dass im Tode alle gleich seien und dass auch sie ein anständige Bestattung verdient hätten. Dann hatte er einen Schichtwechsel befohlen, hatte die schlafen lassen, die bisher gearbeitet hatten und hatte die anderen geweckt.
Mit den frischen und ausgeruhten Soldaten begann er nun die ehemaligen Gefangenen und Verschleppten aus Andophù und den umliegenden Dörfern zu katalogisieren. Nach einigen bürokratischen Mühen konnten schon bald Familien wieder zusammengefügt werden oder aber es wurden Benachrichtigungen vom Tod der Verwandten überbracht. Von letzteren waren es deutlich mehr. Uutar-Moru listete jeden auf, sogar jene, die in den Bergwerken gestorben waren.
Nebenher sandte er Boten aus, die Siedlungen oder kleineren Dörfern die Botschaft des Falls der dunklen Stadt bringen sollten. Nicht selten wurden diese unter Schimpf und Schande weggejagt. Manchmal aber, wurden sie freundlich aufgenommen, froh darüber, dass die Tyrannei ein Ende genommen hatte. In diesen Fällen schlossen sich nicht selten ganze Familien und Siedlungen den Boten an und liefen mit ihnen zum Strand.
Im Halbschlaf wurde Reba nur wenig die Umstände ihrer Situation bewusst. Durch einen Schleier von finsteren Gedanken und Müdigkeit spürte sie, dass ihr Kopf auf grasig, erdigem Boden ruhte und mehrere Grashalme ihre Nase kitzelten.
Nach einigem Nachdenken erkannte sie auch den Geruch, der ihr, seit sie aufgewacht war, in die Nase gestiegen war. Es roch nach verbrannter Erde und Gras. Doch das Detail, welches sie am meisten störte, war die Tatsache, dass ihre Hand sich in regelmässigen Abständen rauf und runter bewegte. Ebenso erfühlte sie die Beschaffung des Etwas, das ihre Hand zu dieser Bewegung veranlasste.
Sie spürte die Kälte und Härte von geschmiedetem Metall.
In weiter Ferne hörte sie den Klang von Stimmen und so manchem Geschrei. Der Versuch etwas zu verstehen schlug fehl. Plötzlich erfüllte das Brummen eines Insektes die Luft und Reba hörte wie es vor ihr im Gras landete. Die Neugierde trieb sie dazu die Augen aufzumachen und sich das Ding genauer anzusehen.
Ihr Hirn reagierte in Bruchteilen von Momenten.
Sofort richtete sie sich auf und starrte mit aufgerissenen Augen die Person an, die vor ihr im Gras lag. Natürlich hatte sie, als die Augen geöffnet hatte, nicht nur die grosse Fliege gesehen, welche Reba mit ihren grossen und runden Augen angesehen hatte sondern auch die Gestalt dahinter.
Ihre Hand ruhte noch immer, obgleich nun zitternd vor Furcht, auf Galdiors Brust. Nicht einen Moment fragte sie sich, wieso er lebte. Nicht einen Augenblick.
Oh, seine Träume waren schwer.
Wie drückende Wolken aus Schwermut und Finsternis zogen sie ihn weiter nach unten, in hunderte von Dimensionen, jede bedrückender und schwerer als die vorherige. Und doch plagte ihn das ständige Gefühl noch nicht angekommen zu sein.
Wenn er später versuchte das Gefühl zu beschreiben, sagte er stets nur: „Ich fühlte mich, als ob ich um den heissen Brei herum schwimmen würde.“
Immer weiter wurde er weggezogen und fing doch bald wieder an seinem Ausgangsort an. Er wurde über den einen Bildrand hinweg geschoben und kam auf dem gegenüberliegenden Rand wieder ins Bild rein.
Mitten in diesem Strudel, in dem er, so dachte er, schon ewig nur ganz im äussersten Ring schwamm, tauchte eine leuchtend brennende Person auf. In gewisser Weise kannte er ihr Gesicht, ihre Stimme und ihre Art und doch spürte er, dass sie nicht gleich war wie er und dass er sie sicherlich noch nie gesehen hatte, nicht in dieser Welt, in der er wie blinder Fisch umhertaumelte.
Eine andere Konsistenz machte ihre Persönlichkeit aus, als ob sie aus einem komplett anderen Material wäre als er. Sie war plastischer, ja sie hatte eine Festigkeit,die ihm zur Gänze fehlte.
„Wer seid Ihr Herrin?“, fragte er mit schüchterner Stimme.
„Ich bin das Leben, das dir fehlt.“
„Wie kommt Ihr an diesen ungewöhnlichen Ort? ... Wie komme ich an diesen Ort?“
„Es war nie daran gedacht worden, dass eine Bestimmung stärker als der Tod sei. Du bist an einem Ort, an welchem du nicht sein dürftest. Mit meiner Hilfe wirst du diesen Gestaden entrinnen.“
Eine ganze Weile sprachen sie miteinander. Um genau zu sein, sprach eigentlich nur die brennende, leuchtende Person und er hörte zu. Obgleich er so gut wie nichts von dem verstand, was sie sagte, konnte er doch von ihren Worten nicht genug bekommen.
Jedes Wort, das sie sprach stärkte ihn, machte ihn mehr so wie sie. Immer mehr wurde er sich bewusst, dass er langsam wieder an die Oberfläche seines Bewusstseins trieb, raus aus dem Strudel, weg von den schweren Träumen, die ihn gefangen hielten.
Zum Ende sagte die brennende Person noch folgendes: „Meine Aufgabe ist erfüllt. Der Lichterfürst hat sein Schicksal erfüllt und der Träger schwindet. Doch versprich mir noch eine Sache: „Suche einen neuen Träger.“
„Ja, doch was – „
Im nächsten Augenblick befand er sich unter einem Wasserfall. Das Wasser schlug auf sein erhobenes Gesicht und es wusch jeglichen Schmutz, den die schweren Träume zurückgelassen hatten, ab.
Galdior war wieder unter den Lebenden.
Kapitel 51
Mit einem Ruck öffnete er die Lider, doch die Nässe auf Galdiors Gesicht blieb. Nur eine Handbreit von seiner Nasenspitze entfernt, befanden sich Rebas weinende Augen.
Ihre Tränen fielen auf seinen Nase und Wangen und kullerten ins Gras hinunter. Nicht im Entferntesten begriff er, was gerade vor sich gegangen war, aber er begriff nur zu gut wen er über sich hatte.
Mit zitternden Händen nahm er Reba in seine Arme. Ihr Körper vibrierte, so sehr weinte sie. Auch Galdior kamen mittlerweile die
Tränen. Weder in seiner Vergangenheit noch in seiner Zukunft gab es einen Moment, in dem er glücklicher war.
Uutar-Moru stampfte mit einem Bein auf, was eigentlich nur er wusste, denn jeder andere sah nur, dass sich die Anordnung der Blätter ein klein bisschen veränderte. Und selbst wenn es jemand bemerkt hätte, so hätte doch mit Sicherheit nur eine Person verstanden, was er damit ausdrückte.
Schon eine ganze Weile suchte er in den zahlreichen Listen eine Familie, welche die zwei Waisenkinder aufnehmen könnte. Sie hatten alle ihre Eltern verloren und hatten weder Geschwister noch sonstige nahe Verwandte, bei denen sie hätten untergebracht werden können.
Hinter sich erklang ein unterdrücktes, leises Kichern.
„Was“, begann Reba, die mit Galdior hinter Uutar-Moru in das niedrige, weisse Zelt getreten waren, „bedrückt dich denn, ehrenwerter Moru, auf dass du so stampfen musst?“
Uutar-Moru war nicht überrascht.
Seine Herrin hatte ihn schon immer wie ein Buch gelesen. Keine, noch so kleine Geste oder Bewegung konnte er in ihrer Gegenwart tun, ohne dass sie es sofort bemerkte. Leise rauschend drehte er sich zu Reba und Galdior um.
„Nun, zum ersten, schön, dass ihr auch schon wach seid“, sagte er, verneigte sich vor Reba und nickte Galdior leicht zu – was diesen merklich verwirrte –, „zum zweiten, versuche ich eine Familie zu finden, die zwei Waisenkinder aufnehmen könnte.“
Reba wollte gerade eine schnippisch, neckende Bemerkung machen, als ein Bote in das Zelt platzte. Im ersten Moment jagte sein gehetzter Blick von einem zum anderen, da er nicht wusste, wer das Kommando hatte. Schliesslich wandte er sich doch Uutar-Moru zu und sagte mit grimmiger Stimme: „Herr, ein grosser Schiffskonvoi nähert sich von Norden. Den Wappen nach sind es Leute aus Sagra, aber es hat auch ein paar Unbekannte dabei. Gleichzeitig treffen immer mehr Menschen aus der Umgebung ein, die unseren Eilboten gefolgt waren. Was sind Eure Befehle?“
Nach einem Seitenblick auf Reba und Galdior antwortete Uutar-Moru: „Nun, ich würde sagen, heissen wir sie doch einfach willkommen!“
Nur wenige Minuten später, standen Galdior, Reba, Uutar-Moru und ein Dutzend Krieger am Strand und begrüssten das ankommende Ruderboot.
Ein junger Offizier stieg aus und begrüsste Reba und die anderen nach alter Sitte.
Von ihm erfuhren sie, dass König Rammud von Sagra schon eine Weile krank gewesen war und während der Überfahrt auf dem Schiff dahingeschieden war. Mit ihm sei auch sein Feuerschwert gegangen, das sich mit lautem Zischen zu Staub verflüchtigte. Auf dem Sterbebett hatte Rammud den jungen Offizier noch so manche Nachricht für allerlei Personen aufschreiben lassen – und ihn danach zum Führer des Volkes erklärt. Zu diesem Zeitpunkt hatte der König bereits – von einer Quelle, die der junge Offizier nicht kannte – gewusst, dass sein Sohn ebenfalls gestorben war. Und diese Gewissheit, so meinte der Offizier, hatte ihm zum Ende den Tod gebracht.
Der Offizier im Übrigen hiess Joia und war trotz seines jungen Alters bereits General. Sie schwatzten noch eine ganze Weile, nachdem die führenden Personen sich ins Zelt zurückgezogen hatten.
„Bei den Nordhäfen wartete unsere gesamte Schiffsflotte.“, erzählte General Joia, während er sich unablässig am Kopf kratzte. „Wir indes zogen durch das ganze nördliche Land und schickten Boten in alle Himmelsrichtungen. Vielen Menschen – aber auch anderen Völkern wie den Uklugs, mit welchen wir unterdessen einen Friedensvertrag abgeschlossen haben – berichteten wir, dass das Ende nah war.
Auf diesen Ruf folgten viele und sie kamen alle zu den Nordhäfen. Eine riesig grosse Menge, kaum überschaubar. Doch mindestens genau so viele blieben auch zurück, weigerten sich mit uns zu kommen.“
Nach einigen Sekunden und mehreren Seufzern seinerseits fuhr er fort: „An einem lauen Sommerabend bestiegen wir die Schiffe. Ein günstiger Wind brachte uns schnell den Nördlichen Fjorden entlang in Richtung Osten. Unterwegs begegneten wir nicht selten kleineren Schiffen. Sie alle waren einmal Einwohner dieser verfluchten Stadt gewesen und waren vor Wochen zuvor geflüchtet. So sehr schienen sie sich zu schämen, dass sie nicht mit unseren Diplomaten reden wollten, sondern jedes Mal, fluchtartig das Weite suchten.“
Joia wollte gerade von neuem ansetzten, als in ein durchdringendes Tuten mit dem Wind mitgetragen wurden. Reba und die anderen waren sich unsicher, was dies bedeuten möge, doch Joia verstand es augenblicklich.
Mit einem Satz war er auf den Beinen und aus dem Zelt gestürmt, die anderen folgten ihm zögernd. Das Tuten war von Joias Schiff der Grashalm (in Sagra war es zu diesen Zeiten üblich gewesen, die Schiffe mit möglichst unpassenden Namen zu taufen) gekommen. Es war das allgemeine Signal einer unbekannten Gefahr oder unerwarteten Situation.
Alle erkannten sofort: Bei den Schiffen stimmte etwas nicht. Diejenigen, welche dem offenen Meer am nächsten waren, hatten bereits die Anker gelichtet und trieben auf den Strand zu – zum Teil nur haarscharf an den anderen Schiffen vorbei.
Irgendetwas musste ihnen mächtig Angst gemacht haben. Wieder erklang das Horn der Grashalm, nun noch lauter als zuvor. In den Ton fielen andere Hörner mit ein und es schwoll an zu einem Schmettern, das man vorher selten gehört hatte.
Noch während der Ton in der Weite verhallte, lichtete sich im Hintergrund der Schiffe der zähe, unnatürliche Dunst, welcher sich im Laufe der vergangenen Tage dort gesammelt hatte. Zuerst durchstiessen vier Galleonsfiguren den Nebel – auf Höhe der Ausgucksposten der Schiffe Sagras, dann traten die gewaltigen Buge aus dem Nebel.
Das Holz der Planken schimmerte in Sonnenlicht wie grobes Glas, die Galleonsfiguren schienen sich, wenn man zu lange hinsah, fort zu bewegen, mit kräftigen Schlägen ihrer Flügel in den Himmel, als würden sie allein das mächtige Schiff durch die Meere ziehen. Jeder von ihnen hatte ein Krone, bestückt mit allerlei kostbarem Schmuck, auf dem Haupt und eine Waffe, fest gepackt mit beiden Händen vor der Brust. Doch im Gegensatz zu den Waffen der Galleonsfiguren der Schiffe Sagras, waren diese nicht von Rost zerfressen und unscharf, sondern dünn wie ein Blatt Papier, so scharf, dass die Luft vor Schmerz schrie, wenn die Klingen durch sie hindurch fuhren.
Als die mächtigen Bauwerke aus dem Neben aufgetaucht waren, hatte sich sofort ein kleineres Schiff – die Öllampe – zwischen die Grashalm und die vermeintlichen Feinde geschoben und nun gab sie Kostproben ihres Waffenarsenal ab – jedoch nur als Warnung und nicht einmal die nähere Umgebung der Schiffe aus dem Nebel.
Ein weiteres Mal erzitterte das Horn der Grashalm und der Ton klang in diesem Moment beinahe ängstlich. Doch er verfehlte sein Ziel nicht: Joia erwachte aus seiner Starre und rannte zum Strand hinunter, gefolgt von Reba, Galdior und Uutar-Moru.
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, sprang General Joia ins Boot und ruderte, wie von einer Schar Haie verfolgt, zur Grashalm. Reba hatte Galdior und Uutar-Moru angewiesen die Armee vorzubereiten, nicht etwa auf einen Kampf, sondern eher auf einen Empfang. Denn ihr weiser Geist hatte längst erraten, dass es sich bei den Schiffen nicht um menschliche Konstruktionen handeln konnte.
Joia war bereits ein Stück vom Ufer weggepaddelt, da hob Reba von Strand ab, liess sich die wenigen Schritte bis zu seinem Boot auf dem Wind tragen und landete dann unsicher vor ihm. Noch während sie versuchte das Gleichgewicht zu behalten, sprach Joia durch zusammengebissene Zähne zu ihr: „Kommt, helft mir! Ich muss augenblicklich zur Grashalm.“
Darauf konnte Reba eigentlich nur nicken und das Spiel begann von neuem. Mit einer flüssigen Bewegung zuckte Ro aus seiner Scheide und heisser, starker Wind begann die kleine Nussschale vorwärts zu treiben. Als Joia versuchte mit Paddeln mitzuhelfen, wurden sie ihm aus der Hand geprellt und entlockten ihm einen unterdrückten Schrei.
Immer näher kam die Grashalm, die im Vergleich zu den gewaltigen Schiffen im Hintergrund wie ein Rettungsboot erschien.
Plötzlich wurde Rebas Aufmerksamkeit auf die Schiffe aus dem Nebel gelenkt. Diese waren in der Zwischenzeit nach und nach aus dem Nebel gekommen und ihre Buge ragten nun gänzlich aus dem Nebel. Auf der linken Seite des Bugs eines jeden, der vier Schiffe trafen nun die Sonnenstrahlen auf seltsame Zeichen, die im mittäglichen Sonnenlicht anfingen zu wabbern und zu glühen. Umso länger sie der Sonne ausgesetzt waren, umso klarer wurden ihre Konturen.
Rebas Unterkiefer klappte nach unten und Ro fiel scheppernd in das Boot. Die Zeichen brannten sich nun mit aller Helligkeit in Rebas Netzhaut: Die Allmächtige, die Unergründliche, die Heilige und die Ewige.
Die Göttlichen hatten die Gestade der Erde erreicht.
Tag der Veröffentlichung: 30.03.2010
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