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Kapitel 27

Bolmars Weg in den Süden und seine Erlebnisse nach der Trennung

Er wanderte und wanderte, und hatte keine Ahnung wie viele Schritte er schon zurückgelegt hatte, immer am Fuß des Berges entlang.
Doch als es langsam dunkler wurde und die Dämmerung einsetzte, wurden ihm die Augenlider schwer wie Blei und die Beine schleifte er nur noch nach.
So sank er an einem Baum nieder und schlief, von Träumen des Selbstzweifels und der Unwissenheit gequält. Und als ihn dann am nächsten Morgen die Sonne die Nase kitzelte und er wach wurde, fühlte er sich nicht im mindesten ausgeruht.
Was er aber sicher fühlte und hörte, war sein Magen. Er hatte seit einem Tag nichts mehr gegessen und sein Mund war trocken.
So machte er sich also auf und fand nur wenige Schritte entfernt ein paar nicht ganz reife Beeren. Diese pflückte er und steckte sie ein, dann ging er weiter.
Bald schon hörte er das Rauschen eines Baches. Schnell bewegte er sich darauf zu und fand auch wirklich einen. An diesem kniete er sich nieder und trank, bis sein Durst gelöscht war.
Und wieder begann er zu marschieren immer in Richtung Süden, unterwegs fand er ein paar magere Früchte und Pflanzen, von denen er wusste, dass sie essbar waren.
Als die Sonne den höchsten Punkt am Zenit erreicht hatte, hielt er an. Es war unterdessen drückend heiß geworden worden und er schwitzte aus jeder Pore. Der dichte Wald, der sich zu allen Seiten hin erstreckte, schien die Strahlen der Sonne aufzusaugen und zu speichern.
Da er keine Gefahr fürchtete zog er seine Rüstung aus; es war ein befreiendes Gefühl wieder einmal nur im Unterkleid dazustehen und den Wind über die Haut streichen zu spüren. Das Gefühl immer noch genießend lief er ein paar Schritte umher.
Durch puren Zufall schweifte sein Blick über einen kleinen, runden Teich mitten im Wald. Langsam ging er darauf zu. Das Wasser lag ganz ruhig da und übte eine fast hypnotische Wirkung auf ihn aus. Er sank am Ufer nieder und sah sein Spiegelbild an. War er gealtert? Einige unschöne Narben waren auf seinem Gesicht zu erkennen und erinnerten ihn an die vielen Begebenheiten, die ihm im letzten Jahr widerfahren waren. Eine geraume Zeit saß er so da und starrte sein Spiegelbild an.
Ein Geräusch ließ ihn auffahren, das Knacken eines Astes. Er suchte angestrengt nach einem Anzeichen einer Präsenz und fand sie zuerst nicht.
Er wollte den Kopf gerade abwenden, als er links von ihm etwas vorbei huschen sah. Und diesmal war er sich ganz sicher, dass da irgend etwas gewesen war.
Vorsichtig stand er auf, bewegte sich mit dem Rücken zurück zu seiner Waffe und Rüstung. Stocksteif blieb er stehen, als auch aus der Richtung seiner Waffe und Rüstung ein Geräusch kam.
Schwer schluckend, den eigenen Herzschlag in den Ohren hörend, drehte er sich um. Vor ihm stand ein grauer Wolf mit heraufgezogenen Lefzen. Und mit ihm kamen von überall noch andere Tiere lautlos aus dem Wald. Doch es waren nicht nur Wölfe sondern auch ein paar Hunde, Hyänen und sogar ein riesiger Bär tappte aus dem Dickicht hervor.
Sein Instinkt war schneller als sein Verstand: er schnellte herum und rannte los. Hinter ihm brach ein Tosen los, als sich seine Feinde ebenfalls in Bewegung setzten und ihn verfolgten. Er rannte, sprang über einen umgefallenen Baum, rannte weiter, strauchelte über eine Wurzel, kam auf die Beine und sprintete von neuem los.
Tränen der Verzweiflung strömten aus seinen Augenwinkeln. Zweige peitschten ihm ins Gesicht und Dornen kratzten an seinen Beinen. Als seine Kräfte ihn langsam verließen und er schon nicht mehr ans Weiterleben dachte, wurde er von neuem überrascht.
Von vorne preschte eine weitere Gruppe wild zusammengewürfelter Tiere auf ihn los. Er hatte schon vor abzubremsen und sich einfach dem Tode hinzugeben, als der vorderste, ein riesiger Puma, den Mund aufmachte und sprach: "Renn weiter, Sohn, den Hügel hinauf bis zur Höhle." Nun war er völlig verängstigt. Das Tier hatte gesprochen!
Und wieder retteten ihn seine Instinkte, die ihn zu blindem Vertrauen zwangen. Er rappelte sich auf und rannte weiter; der entgegenkommenden Gruppe vorbei und weiter.
Als er über seine Schulter nach hinten sah, konnte er sehen, dass die zwei Gruppen aufeinander losgingen und sich heftig bekämpften. Die Angst stak ihm noch zu tief in den Knochen, um anzuhalten und zuzuschauen. Er preschte weiterhin den Hügel hinauf, bis er schließlich aus dem Wald herauskam und sich vor ihm eine grosse Höhle auftat. Dort brach er vor Erschöpfung und übermannt vom Schock zusammen.


Kapitel 28

Als er seine Augen wieder öffnete lag er nicht mehr vor der Höhle; sofort kamen ihm alle Bilder wieder hoch, die ihn, bevor er ohnmächtig wurde, beschäftigt hatten.
Nun lag er auf einem Fell, zugedeckt mit ebenfalls einem Fell. Sofort versteifte er sich.
"Wo bin ich? Was ist passiert?", dachte er.
"Ganz ruhig, du bist in Sicherheit", sagte eine brummige Stimme und mit ihr erschien über ihm ein Gesicht eines Bären.
Seine Augen weiteten sich bei dem Anblick und er schluckte schwer. Bolmar stammelte: "Wieso ... wieso kannst du sprechen? Du bist ein Tier, du darfst gar nicht reden!"
Die anfängliche Angst vor dem Riesen verging rasch, denn auf eine Art und Weise, die er nicht zu beschreiben wusste, machte der Bär auf ihn keinen Eindruck der
Gefahr. Der Bär verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: "Kleiner, du musst ja sehr weit weg wohnen, wenn du noch nie ein sprechendes Tier gesehen hast. Ich würde dir, wenn ich denn befugt wäre dazu, die ganze Geschichte erzählen, wie die Tiere sprechen lernten – denn das ist ein höchst spannendes Thema in der Geschichte –, doch das muss warten. Ich soll dich zu unserer Fürstin bringen, sie sorgt für diesen Teil des Landes. Komm mit!"
Der Bär tappte weg, Bolmar stand auf und sah sich beim hinterher laufen um. Die Höhle, in welcher er gelegen hatte, war nur eine kleine Kammer gewesen. Diese Höhle war ein regelrechter Stollen, viele verzweigte Gänge führten weg.
An den Wänden hatte es in regelmäßigen Abständen Fackeln, die dem ganzen einen Hauch von einem Kerker verliehen. Wäre Bolmar allein dort unten gewesen, so hätte er sich zweifellos in dem Labyrinth verirrt.
Lange Zeit begegneten sie niemanden. Dann liefen sie eine gewundene Treppe hinab und kamen in einen großen Saal, in dem es zu und her ging, wie in einem Kriegslager.
Es gab allerlei Tiere, die sich die Krallen an Schleifsteinen wetzten oder die Zähne schliffen oder solche die sich Panzer anlegten oder sonstige Vorbereitungen trafen.
Alle diejenigen Tiere, die ihn kommen sahen, hielten in ihrer Beschäftigung inne und schauten ihm nach.
Der Bär führte ihn durch den ganzen Saal in einen zweiten und in noch einen, dann hing vor ihnen ziemlich unvermittelt ein Vorhang. Mit einer Geste machte der Bär Bolmar klar, dass er eintreten solle.
Bolmar trat am Bär vorbei durch den Vorhang; das Gemach war von Kerzenlicht erfüllt, überall lagen Landkarten herum. Auf der einen Seite des Raumes war ein Teppich ausgebreitet, der sehr bequem aussah und auf der andren Seite lag ein großer Futternapf am Boden. In der Mitte des Raumes stand eine gewaltige, weiße Wölfin, die gerade dabei war eine Karte zu studieren.
Dieser Anblick war wahrlich ein Staunen wert. Die Wölfin leckte mit ihrer Zunge zwanghaft nervös an ihren Eckzähnen herum, während ihr Kopf gesenkt war und sie mit Argusaugen die Karte studierte. Von Zeit zu Zeit strich sie über die Karte, um einem Weg zu folgen.
"Komm näher, Menschensohn, "sagte die Wölfin. Und wieder war Bolmar überrascht.
Obwohl er sich bereits – und das ist ganz logisch betrachtet ziemlich schnell für Bolmars Verhältnisse – an den Gedanken gewöhnt hatte, dass Tiere sprechen konnten, kam es ihm doch komisch vor, dass ein großer, gefährlich aussehender Wolf eine zarte und anmutige, weibliche Stimme haben konnte.
"Deine Rüstung und dein Schwert liegen unter dem Haufen Papier dort hinten", sagte die Wölfin und deutete mit dem Kopf nach rechts. Noch immer hatte sie ihn kein einziges Mal angeschaut.
Er machte einen grossen Bogen um sie herum zu dem angehäuften Stapel mit Karten und Briefen. Unter ihm sah er etwas blinken, rasch machte er sich daran sein Hab und Gut auszugraben.
"Zieh die Rüstung an, Menschensohn!", befahl die Wölfin ihm. Er tat es. Nun fühlte er sich schon viel sicherer. Bolmar zog das Schwert und sah es an, es glänzte immer noch genau so wie zuvor. Dieser Umstand beruhigte ihn und er wandte sich wieder der Wölfin zu.
"Wer ... oder was seid ihr, Herrin? Ihr seht aus wie ein Wolf und sprecht wie ein Mensch, wieso? Was sind das hier für Höhlen? Und wieso habe ich noch keinen einzigen Menschen gesehen?"; nun, da er sich in der Rüstung weniger fürchtete, sprudelten die Fragen nur so aus ihm heraus.
Die Wölfin sah ihn endlich an und sagte: "Hm ... das sind viele Fragen auf einmal. Mein Name ist Andréa. Was ich bin ... nun, ein Wolf, der zu reden gelernt hat. Und du fragst, warum es hier keine Menschen gibt? Nun, weil sie verfolgt wurden und ausgerottet wurden. Du bist mit großer Wahrscheinlichkeit einer der wenigen Menschen im Osten der Berge."
Bolmar sah zu Boden und erinnerte sich an die Worte, die der Alte auf dem Berg gesprochen hatte.
"Wieso kämpft ihr hier eigentlich so verbittert? Geht in den Westen und sammelt euch dort neu, dann könntet ihr sie womöglich besser bekämpfen", sagte er kleinlaut und einem spontanen Gedanken folgend.
"Für einen, der die Welt vom Übel befreien soll, scheinst du aber noch ziemlich grün hinter den Ohren zu sein."
Er sah sie erschrocken an. "Wieso wisst ihr von meinem Auftrag?", fragte Bolmar.
"Man erkennt dich an deiner Rüstung., dass du einer der Vier bist. Und du trägst das Erdschwert mit dir herum, dass macht es noch viel deutlicher."
Lange sprachen sie nun über die Zustände, die ihm Osten herrschten und auch wie die Tiere zu sprechen gelernt hatten.
Andréa sagte, dass früher, als die Welt noch jung war und die Götter die Menschen im Osten eingesetzt hatten, um die Erde zu beschützen, die Götter auch die Tiere im Osten machten. Genau wie die Menschen im Osten intelligenter, ehrgeiziger und mächtiger waren als die Menschen im Westen, so waren die Tiere im Osten klüger und geselliger als ihre Verwandten im Westen.
Sie waren zu Gefährten der Menschen gesetzt, doch sie hatten keine Stimmen. Dies betrübte die Tiere mit der Zeit so sehr, dass sie die Menschen darum baten, es ihnen beizubringen.
Die Menschen waren in der vergangen Zeit selbstsüchtig geworden und sahen sofort ihre Chance in der Bitte. Sie schlugen den Tieren hinter verborgenen und schlauen Lügen einen Pakt vor. Im Gegenzug für das sprechen lernen, sollten die Tiere auf ewig ihre Diener sein. Viele gute Menschen sahen die Absicht ihrer Brüder und versuchten die Tiere zu belehren, doch diese waren verblendet in ihrer Gier und stimmten dem Pakt zu.
Die Menschen hielten ihr Versprechen und brachten den Tieren das Sprechen bei und diese taten ihren Dienerdienst.
Mit der Zeit wurden die Menschen strenger und die Tiere wurden unterdrückt und ausgenutzt. Als dann die Kriege begannen, wurden die Tiere automatisch mit hineingezogen und kämpften gegen ihre eigenen Artgenossen.
Während den Kriegen flüchtete ein kleines Schmiedevolk mit seinen Tieren in den Westen und ließ sich dort nieder. Diese und sehr wenige andere waren die einzigen, die den Krieg der Menschen im Osten überlebt hatten. Große Gastgeschenke brachten sie den Menschen im Westen, als dass sie dort wohnen dürften.
Das Volk gedieh, wuchs und bald war es sehr mächtig. Dann spaltete sich das Brüderpaar, welches das Volk führte und es erwuchs wieder Krieg. Viele Menschen, fielen auf die dunkle Seite durch die listigen Reden des einen Bruders. Nur wenige durchschauten ihn, versuchten zu flüchten und sich zu verstecken. Doch der Bruder, der dem Bösen verfallen war, spürte sie auf und ließ fast alle hinrichten, die nicht zu ihm hielten und die fortan "die Treuen" auf der einen Seite und „die Abtrünnigen“ auf der anderen Seite hiessen. Schliesslich tötete der eine sogar seinen eigenen Bruder.
Eine große Menge der Tiere hatten von Anfang den bösen Bruder durchschaut und hielten zu den wenigen, die treu geblieben waren. Sie gehorchten nur ihnen, doch sollten alle Treuen vernichtet werden, so wäre es ihre Pflicht, denn sie sind durch den Eid gebunden, dem dunklen Bruder zu gehorchen. So versuchten sie das Gebirge vor den Feinden zu schützen, dass nicht die letzten der Getreuen auf der Ostseite der Berge vernichtet würden.


Kapitel 29

Tiniras Weg in den Norden und ihre Erlebnisse nach der Trennung

Anfangs war sie durch lichte Wälder gewandert hatte, hatte sich Nahrung besorgt und ihren Durst an frischem Quellwasser gestillt. Doch umso weiter sie den Berg hinauf wanderte, umso karger wurde die Landschaft. Bald schon hatte es nur noch vereinzelt ein paar kaputte Tannen gehabt, die sich verkrampft an der steinigen Erde festhielten. Auch war der Weg immer steiler geworden und nun drohte ihr auch noch die Nahrung auszugehen.
An einem großen Felsen legte sie eine Rast ein, um zu verschnaufen und um die Aussicht, was das einzige Positive an ihrer derzeitigen Lage zu sein schien, zu genießen.
In einiger Entfernung konnte sie im Süden das kleine Wäldchen ausmachen und die vier Wege. Den Tunnel konnte sie jedoch von ihrer Position unmöglich sehen.
Mit einem Seufzer stand sie wieder auf und kraxelte weiter, denn unterdessen brauchte sie neben den Beinen auch die Arme um weiterzukommen.
Als glaubte, kein Bein mehr vor das andere setzten zu können, ihre Hände aufgeschürft waren und bluteten und sie dachte, sie müsse gleich sterben vor Erschöpfung, änderte sich die Situation vollkommen.
In einem Moment auf den anderen stand sie oben, auf einem Plateau, dass ziemlich lang war, jedoch nicht sonderlich breit.
Sie war doch recht verwirrt, hatte sie doch nicht erwartet, dass ihr Weg so abrupt enden würde. Von ihrem Standort aus sah man weit, vor allem wenn die Luft klar war; ganz weit hinten im Osten, sah sie etwas glitzern. Erstaunt sog sie die Luft ein.
War es denn möglich? Waren die Sagen des großen Ostmeeres also doch wahr? Das Meer, das immer ruhig sei, dessen Grund schimmert wie Gold in der Sonne, in dem sich Fisch tummeln, deren Augen Rubinen glichen und dessen Schuppen harter waren, als jeder Schuppenpanzer? Das Meer, in welchem Pflanzen wachsen, die Früchte tragen, die glänzen wie Silber und saftiger seien, wie keine Frucht an Land? Das Meer, in welchem Menschen mit schuppigen Schwänzen aus Edelsteinen leben, die in riesige Städten unter Wasser bewohnen? Wo jeder Tag ein Fest sei, zur Ehre der Götter, die einst über das Meer fuhren? War es denn tatsächlich möglich?
Doch etwas erstaunte sie noch mehr, sie schwitzte. Sie hatte regelrecht heiß in ihrer Rüstung. Langsam drehte sie sich um und sah in den Westen. Langsam machte sie die Augen zu und noch mal auf. Was war nur mit ihr los? Schnell drehte sie sich um. Doch sie sah alles ganz genau. Wieder wendete sie sich dem Westen zu.
Die Berge flimmerten, waren verschwommen. Sie konnte keine klare Konturen erkennen, nur ein einziges Flimmern. An ihren Augen lag es also nicht, doch was war es dann? Sie machte einen vorsichtigen Schritt nach vorne und sah auf der Westseite des Plateaus hinunter. Sie zuckte zusammen. Zwei Dinge versetzten ihr einen Schlag, so dass sie fast nach hinten viel. Zum einen der unglaubliche Anblick, der sich ihr darbot.
Unter ihr tat sich ein kesselrundes Tal auf. In dessen Mitte lag ein See, in dessen Mitte wiederum eine kleine Insel und auf dieser schien es zu brennen. Zum anderen schlug ihr eine Hitze entgegen, die sie zwang einen Schritt zurückzuweichen. Sie fühlte sich so, als ob sie eben einen riesigen Wasserkessel, der über dem Feuer hing, hinaufgeklettert sei und über dessen Rand in das brodelnde Wasser geschaut hätte.
Im nächsten Augenblick gefror sie zu Eis.
"Mein Kind", hörte sie eine säuselnde und vom Wind getragene Stimme sprechen. "Mein Wappen trägst du, mein Zeichen, du führst mich in die Schlacht. Oft hast du meine Kraft gebraucht in letzter Zeit, und doch kannst du sie nicht beherrschen? Bist du eine der versprochenen Vier? Bist du die Person, die mich entfesselt? Meine Befreierin? Komm herab! Eile geschwind!"
Tinira stand da und in ihr tobte der Krieg zwischen Vernunft und Neugierde gemischt mit Vorahnung.
Bevor sie wirklich wusste, was geschah, rutschte sie bereits auf der Innenseite des Tals herab. Die Wände waren steil und mit den Füßen voran rutschte sie geschwind herab. Die Hitze schlug ihr entgegen wie eine Wand und sie wurde immer stärker.
Bald wurde der Boden ebener und sie konnte laufen. Doch kam sie nur langsam vorwärts, es war ihr, als ob sie eine Wand vor sich her stoßen müsse.
Sie kam dem See immer näher und bald sah sie eine Brücke die vom Ufer zur Insel führte. Auf der Insel stand ein einzelner, verbrannter Baum, dessen Stamm sich nach schon einem Schritt gabelte. In der Gabelung war ein Nest aus Gold gebaut worden, doch diese Tatsache sah man eigentlich nicht.
Alles wurde von einem feurigen Strahlen überleuchtet. Die Konturen des Vogels waren unscharf, jedoch war er klar an der Gliederung der Flügel zum Körper erkennbar. Es war der Phönix.


Kapitel 30

"I ... Ich kann nicht näher kommen! Ich verbrenne!", schrie Tinira zur Insel hinüber. Sie stand auf der Brücke nur nochein kleines Stück vom Baum entfernt. Die Hitze umgab sie ganz und hüllte sie ein. Die Arme schützend vor dem Gesicht war sie auf die Knie gesunken. "Vertraue", säuselte der Phönix. "Vertraue auf deine Rüstung! Sie ist von mir, sie wird meine Kraft aushalten!"
"Für ... was brauchst du mich überhaupt?", kreischte Tinira.
"Ich werde Rache nehmen an den dunklen Mächten, die mich gebunden haben an diesen Baum. Verflucht haben sich mich, damit ich ihnen nicht im Wege stehe. Nur wenn ich wieder meine Rüstung beseele, komme ich raus!"
Tinira fluchte, kämpfte sich wieder auf die Füße und stapfte weiter auf die Insel zu. Bald war sie völlig von einem Feuersturm umgeben.
Nun sah sie nichts mehr, sie stapfte einfach weiter in die Richtung, in der sie den Baum vermutete. Die Hitze wurde unerträglich, sie sengte ihre Haut.
"Gut, mein Kind nur noch ein kleines Stück!", sprach der Phönix.
Plötzlich ließ die Hitze nach, Tinira fiel nach vorne auf die Knie und jemand Zweites füllte ihre Rüstung. Das Gefühl war unbeschreiblich; es war wie wenn man in einem engen Raum mit jemand anderem hockt und nur durch einen Vorhang getrennt ist; man fühlt die Präsenz der anderen Person und man kann auch mit ihr sprechen, jedoch sieht man sie nicht. So etwa fühlte sich Tinira in ihrer Rüstung.
Sie öffnete die Augen und sah sich um, sie kniete neben dem Baum, der Phönix war weg.
„Wo ist es hin?“, fragte sich Tinira.
„Ich bin hier Kind“, sagte eine Stimme neben ihr. Tinria drehte sich um die eigene Achse, es war niemand zu sehen.
"Wo bist du?", fragte sie laut.
„In deiner Rüstung, die Rüstung des Phönix, mein Gefäß“, sprach die Stimme. Tinira wurde still. Sie dachte: „Kannst du jetzt jeden meiner Gedanken lesen?“
„Nein, nur die, welche direkt an mich gerichtet sind“, sprach der Phönix.
„So, ist das ... Übrigens, wie soll ich Euch nennen? Habt Ihr einen Namen?“, dachte Tinira.
„Nun, ja, natürlich habe ich einen Namen. Ich heiße Raar-Fin-Sul. Und wie heißt du? Und, bitte, lass die Höflichkeitsflosken. Wir teilen eine Rüstung, ich bin auf dich angewiesen und du auf mich. Also lassen wir das doch.“
„Gern. Ich heiße Tinira. Dein Name ist schwierig ... kann ich dir einfach Raar sagen? Was bedeutet dein Name?“
„Natürlich, sprich mich mit dem Namen an, den du für richtig hältst. Was mein Name bedeutet? Er bedeutet: Tochter der Sonne. Weißt du was dein Name bedeutet?“
„Nein ... Was denn?“
„Er heißt: Entfesslerin oder Freisezterin. Du hast deinem Namen Ehre getan. Sei stolz drauf!“
„Danke ... Wo sollen wie jetzt hingehen? Was machen wir?“
„Ich denke, du brauchst Übung. Durch mich sind deine Fähigkeiten um das Vielfache gestiegen. Schiess einen Pfeil ab, dann wirst du es sehen.“
Tinira überlegte nicht lange und tat es. Sie nahm einen Pfeil und legte ihn auf die Sehne. Den Bogen gespannt zielte sie in den Himmel und schoss ab.
„Nun entfessle ihn“, gebot Raar ihr.
Der Pfeil explodierte, es war völlig anders. Der Sonnenvogel war größer, heller und schrie lauter, als die, welche Tinira bis jetzt entfesselte. Sie konnten ihn nun auch viel besser kontrollieren.
„Versuche ihn zu spalten“, sagte Raar. Tinira spaltete den Sonnenvogel mehrere Male und konnte sie immer noch perfekt kontrollieren.
„Ich glaube nicht, dass ich noch Übung brauche, ich habe das Gefühl, ich beherrsche es perfekt“, sagte Tinira, ziemlich stolz auf ihr Können.
„Kind, du kannst noch gar nichts, du hast erst einen Kieselstein aufgehoben und angesehen, dabei liegt vor dir ein ganzer Berg.“
Auf diese Worte ließ Tinira den Bogen sinken. Erst ein Kieselstein von einem ganzen Berg? Weit hinten plumpsten die Phönixe in den See.
„Lass uns gehen, Tinira, es wird Zeit.“
Tinira lief los, immerzu redend mit Raar. Diese sagte ihr viel, was sie bisher noch nicht gewusst hatte, über die Anfänge der Zeit und anderen längst vergessenen Dingen.


Kapitel 31

Rebas Weg in den Nordosten und ihre Erlebnisse nach der Trennung

Die Landschaft tat sich vor ihr auf wie eine Blüte im Frühling. Zuerst sah Reba in den Süden, dort schlängelte sich ein Fluss, der Große Fart, in den Osten und teilte sich bald. Der eine Teil floss in den Süden, der andere weiter in den Osten. Der, welcher in den Osten floss, teilte sich wieder in hunderte kleine Arme, die alle ein Sumpf spiesen. Darüber lag dichter Nebel.
Als sie weiter in den Nordosten blickte, erkannte sie einen einzelnen großen Berg, dessen höchster Punkt ein riesiges Hochplateau zu sein schien. Er hatte keine richtigen Ausläufer und glich auch sonst nicht wirklich einem Berg, doch wie würde man sonst ein großes unförmiges Ding mitten in der Landschaft bezeichnen?
Ihr Weg führte ohne Umweg geradewegs zu ihm. Reba überlegte nicht lange, sondern ging los, immer dem Weg nach.
Der Gedanke, dass sie bis weit hin sichtbar war – denn die Landschaft um sie herum war eine große Steppe – kam ihr zu spät. Zuerst waren es nur kleine Flecken, die sich vom Horizont abzeichneten, doch sie wurden schnell größer und bald konnte man die Umrisse von Reitern erkennen.
„Verdammt ich war unvorsichtig, sie sollten mich nicht sehen. Ich verschwinde besser ... wie lange brauche ich wohl, bis ich beim Berg bin?“, dachte sie.
Und sie verschwand. Ihre Rüstung bremste ihre Geschwindigkeit nur leicht ab. Sie hatte keine Ahnung wie schnell, dass sie gerade rannte, aber es musste sehr schnell sein. Ihre Beine machten riesige, Sprünge, und waren doch nicht zu sehen.
Immer näher rückte der Berg zu ihr heran. Der Gegenwind wurde immer stärker und Reba wurde langsamer.
„Was ist los? Wieso werde ich immer langsamer?“, fragte sie sich. Bald rannte sie nur noch in normaler Geschwindigkeit. Der Wind peitschte ihr ins Gesicht. Er schlug sie mit unsichtbaren Fäusten, als wollte er sie daran hindern den Berg zu erreichen. Sie sah über ihre Schulter zurück, und stellte mit Erschrecken fest, dass die Reiter ihre neue Position ausfindig gemacht hatten und nun auf sie zu ritten.
„Ich muss zu diesem Berg, und zwar schnell! Wieso stellt sich der Wind gegen mich? Ich muss ihm befehlen wegzugehen!“, dachte Reba mit einem grimmigen Gesichtsausdruck.
Sie versuchte den Wind von ihr weg zu lenken; anfangs hatte sie das Gefühl, dass es klappe, doch dann schien eine andere Kraft dagegen zu halten und sie musste um die Herrschaft über den Wind kämpfen.
Sie kämpfte sich langsam vorwärts, es war, als wenn sie eine Tür zustoßen wollte und jemand auf der anderen Seite dagegen drücken würde.
Wieder schaute sie zurück. Die Reiter war nun schon ganz nah und schossen ihre Pfeile auf sie ab, doch das brachte nicht viel, denn sie wurden vom Wind einfach zurückgeworfen.
Dann erreichten auch die Reiter den Windwall und kamen nicht mehr weiter. Bei dieser Gelegenheit nahm sie die Reiter gleich genauer unter die Lupe. Es schienen einfache Räuber oder Söldner zu sein, schlecht ausgerüstet und ausgebildet. Reba frohlockte in Gedanken und warf sich erneut gegen den Wind und befahl ihm zu weichen.
Auf ein Mal fiel sie nach vorne aufs Gesicht. Der Sturm hatte schlagartig nach gelassen. Schnell stand sie auf und drehte sich zu ihren Verfolgern um. Diese hatten es aufgegeben und hatten sich zurückgezogen.
Reba verschnaufte eine Weile, dann wandte sie sich wieder dem Berg zu und blieb mit offenem Mund stocksteif stehen.
Es war ein Käse. Der Berg war feuerrot und durchlöchert wie ein Käse. Durch die Löcher pfiff der Wind verschiedene Töne, die sich zu einer Melodie einten.
Langsam schritt sie den Weg entlang, weiter auf den Berg zu. Er schien nicht natürlich, und doch war er wunderschön.
Der Weg führte direkt in den Berg hinein, von Loch zu Loch.
Reba, mehr als je zuvor dazu angestachelt, auf das Plateau zu kommen und zu sehen was der Berg birgt, eilte dem Weg nach.
Das Innere des Berges glich einem luftig gebackenen Brot: überall Löcher, durch welche der Wind seine Melodie pfiff. Reba kam kaum mehr aus dem Staunen raus, und doch zwang sie sich selbst zur Eile.Durch hunderte von Löchern stieg sie.
Außer Atem kam sie schließlich zu einer Treppe, die aus dem Berg herausführte und dann in einer Drehung weiter oben wieder hineinführte. Mit mehreren Schritten auf einmal nehmend rannte sie die Treppe hinauf. Auf der obersten Stufe blieb sie stehen.
Vor ihr hatte sich ein Balkon, der von Säulen umringt war, aufgetan. Die Säulen schienen aus reiner Zierde diesen Balkon zu schmücken.
Das Sonnenlicht brachte die Marmorsäulen zum Glitzern und Reba konnte von ihrer Position aus sehr weit über die Ebene sehen.
Auf der anderen Seite des Balkons führte ein Gang weiter hinauf. Sie tat den ersten Schritt zwischen den Säulen hindurch und gleich kam ein wirbliger, warmer Wind auf, der einem lebendiger vorkam, als ein normaler Wind. Er strich Reba über die Haut wie eine zärtliche Hand und klang wie eine Melodie bei einem Sommerabendfest, leicht und beschwingt, sorgenfrei.
Das Laub auf dem Marmorboden wurde aufgewirbelt und tanzte mit dem Wind. Immer näher kamen sich die Blätter, berührten sich an den Blattspitzen wie Menschen sich an den Händen nehmen und nahmen langsam die Form eines mächtigen Zentaur an.
"Was, o Menschenkind, willst an einem Ort wie diesem? Unberührt seit langem ist er und nur von einer der Mächtigen am Ende der Gezeiten, kann er betreten werden. Nimmer wirst du wiederkehren zu denen, die lieb dir sind! Denn gesehen hast du ein Wunder der Götter. Ich bin Uutar-Moru Wächter der zehn Säulen und Beschützer des Windes", sprach der Zentaur mit einer klaren, alles durchdringenden Stimme.
Dann formten sich die Blätter neu und der Wind blies weiter. Er stürmte Reba plötzlich unfreundlich um die Ohren. Sie stand steif da, nicht glaubend, was sie sah. Der Zentaur schwang ein langes Schwert, das keine materielle Form hatte.
Einem Orkan gleich sauste das Schwert auf sie nieder, zischend und die Luft zerschneidend. Schlagartig erwachte sie aus der Starre. Mit einer Bewegung kaum sichtbar von Auge, zog sie die Stachel aus den Scheiden und blockte das Windschwert ab. Der Ton, der dabei entstand, klang zwei aufeinander treffender Weingläser ähnlich, nur nicht zärtlich und beschwingt, sondern rau und unbändig.
Der Zentaur schien verwirrt und schritt ein paar Schritte rückwärts.
"Wie ... Herrin! Verzeiht eurem alten Knechte! Nicht erkannt habe ich Euch. Zu lange war ich allein, ohne eine andere Person. O verzeiht mir!", stammelte der Zentaur. Mit einer vorsichtigen, kontrollierten Bewegung senkte sie die Stachel.
"Wovon sprecht Ihr?", fragte Reba.
"O ich alter Tor! Vergessen habe ich alles, was Ihr mir beigebracht! Nun denn so sag ich's. Ich bin der, der Euch von eurer Vorbestimmung erzählt. Ihr seid die Nachfolgerin meiner ehemaligen Meisterin. Doch kommt! Folgt eurem alten Diener! Ich geleite euch zu Eurem Gemach. Dort wird sich's klären!"
Uutar-Moru drehte sich und ging, oder besser schwebte auf die Tür hinter ihm zu. Reba immer noch betäubt vor Verwunderung folgte ihm nach.
Die Treppe führte weit nach oben und beständig blies der Wind in Form des Zentaur vor Reba her. Sie kam sich vor wie einem mythischen Traum voller sagenhaften Gestalten.
Endlich kamen sie oben an. Sie standen vor einem gewaltigen Tempel, der durch zwanzig Säulen begrenzt war. Er hatte keine Wände nur ein Dach. In der Mitte stand ein Bett, daneben ein gewaltiger Pult und dahinter ein noch gewaltigeres Regal, welches sich von einem zum anderen Ende zog.
Uutar-Moru sprach: "Willkommen zu Hause, Herrin!"


Kapitel 32

Galdiors Weg in den Südosten und seine Erlebnisse nach der Trennung.

Lange genoss er das Schauspiel, das sich unter ihm zutrug.
Galdior saß auf der Klippe, der Gabor-id-Tal und blickte auf den Fart, der sich unter ihm in den oberen und den unteren Fart teilte. Seine Füße baumelten über dem Abgrund und nachdenklich strich er sich mit der Hand über die Narben in seinem Gesicht, die er aus dem Kampf mit dem Meister der Kälte herausgetragen hatte.
In der Tiefe spritzte das Wasser gegen die Klippen und klang wie ein fernes Donnern. Galdior hatte eigentlich vorgehabt nur eine Weile hier zu bleiben, doch irgendwie gefiel es ihm an diesem Punkt zu hocken, in der Landschaft herumzuschauen und zu träumen.
Im Westen lagen die Berge und Wälder, im Norden sah er einen einzelnen Berg, den er zwar seltsam fand, um welchen er sich jedoch nicht weiter kümmerte. In seinem Rücken führte die Klippe steil bergab, nördlich zu den Mooren, südlich in eine weite Steppe mit viel hohem Gras und wenig Bäumen.
Schließlich stand Galdior dann doch auf und stieg dem unteren Fart entlang den Weg hinab. Tief in Gedanken versunken, nachsinnend darüber, was wohl noch vor ihm liegt, wanderte er über Stock und Stein.
Als die Sonne untergegangen war, wurde der Weg leichter zu begehen und er lief in einem flotteren Tempo weiter. Er hielt sich immer direkt am unteren Fart, am Nordufer.
Der Fluss floss leicht dahin, sich um nichts sorgend, sich nicht kümmernd um der Welten Lauf.
Eine scheinbare Ewigkeit schlurfte er; das Geräusch des Wassers zu seiner Rechten und den Blick auf den Boden vor ihm gerichtet. Nicht wenig erschrocken war er daher, als er vor sich ein Wiehern hörte. Er blickte auf und schaute einem schneeweissen Pferd in die Augen. Wie angewurzelt blieb er stehen. Galdior starrte das Pferd an, nicht etwa weil er noch nie eins gesehen hatte, sondern weil einerseits ein langes, gedrehtes Horn dessen Kopf schmückte, welches etwa eine Elle lang war und andererseits, die klugen Augen, die ihn direkt anschauten.
"Sehr vorsichtig scheinst du ja nicht zu sein, aber eine wahrhaft schöne Rüstung hast du an!", sprach das Pferd mit einer doch sehr überraschend tiefen Stimme.
Die Augen weit aufgerissen, die Hand bereit nach seiner Waffe zu greifen, antwortete er: "Wieso? Wieso kannst du sprechen?"
"Na, hör mal!", sagte das Einhorn mit einem bestürzten Gesichtsausdruck. "Ich bin ein Einhorn, Einhörner können immer sprechen!"
"Tut ... Tut mir Leid! Ich war nur nicht darauf vorbereitet. Hast du einen Namen? Woher kommst du?"
"Was stellst du denn für Fragen? Klar, habe ich einen Namen, Zuzu. Meine Herde weidet weiter südlich, ich bin nur hierher gekommen, um ein bisschen alleine zu sein. Und du?"
"Nun, ich bin so was, wie auf der Durchreise ohne festes Ziel. Kann ich ein Stück mit dir kommen?"
"Klar, du kannst mich zurück zu meiner Herde begleiten, wenn du möchtest."
Galdior nickte und zusammen machten sie sich auf den Weg in Richtung Süden. Sie redeten viel miteinander und lachten auch. Schnell lernten sie sich näher kennen.
Als Galdior gerade mitten in der Erzählung seiner bisherigen Reise steckte, wurde mit dem Wind ein schriller Schrei mitgetragen. Zuerst hatte es Galdior nicht einmal bemerkt, doch dann sah er wie Zuzu stocksteif stehen blieb, erstarrt von Kopf bis Fuß.
Zuzus Augen sahen erschrocken umher. Wieder erklang ein Schrei, diesmal lauter und klarer. Zuzu öffnete weit seine Augen.
"Dieser Schrei kam aus dem Süden! Schnell spring auf! Ich fürchte Schlimmes!"
Galdior zögerte nicht lange, sondern sprang auf Zuzus Rücken, währenddessen dieser bereits losrannte.
Ohne Sattel zu reiten war sich Galdior eigentlich nicht gewöhnt und mehr als einmal hatte das Gefühl, als stürze er, doch Zuzu schien ihn auf seinem Rücken zu balancieren.
Auf einer Hügelkuppe blieb Zuzu stehen. Unter ihnen tobte das Chaos. Überall kämpften weiße Einhörner gegen grobschlächtige, überdimensional grosse Hyänen.
Im Gras lagen verstreut aufgespießte und überrannte Hyänen und tote oder verletzte Einhörner. Von letzteren waren es deutlich mehr.
Zuzu machte einen Satz nach vorne. Aus seinen Augen sprühte haßerfüllter Zorn. Galdior sprang kurz entschlossen ab, machte eine Rolle und rappelte sich wieder hoch. Die Auswahl war groß.
Zu seiner Rechten sah er ein Einhorn, das sich verzweifelt gegen sechs Hyänen wehrte. Die Hyänen schienen mit ihr zu spielen. In Galdior stieg kalter Hass hoch. Sofort sprintete er auf die Gruppe los; mit einer einzigen Bewegung fegte er drei Hyänen weg. Das Einhorn machte einen Satz nach vorne durch die freie Lücke und Galdior beendete das Leben der anderen drei Raubtiere. Keine Zeit verbrachte er damit, den Danksagungen des geretteten Einhorns zuzuhören. Sofort eilte er zur nächsten Gefahr, er war wieder ganz in seinen Element.

Galdior stieß mit dem Rücken an eine Felswand. Er war gefangen. Vor ihm näherte sich ein monströses Exemplar einer Hyäne.
"Gib auf! Ich bin der Hyänenfürst! Nie besiegt im Kampf. Gib auf!", knurrte die Hyäne zwischen zusammengebissenen Zähne.
Galdior war nicht wirklich überrascht, weder über die Tatsache, dass die Hyäne sprach, noch über die Verwegenheit derselben, wenn man besah, dass sie praktisch alleine war. Doch er entgegnete nichts, die Lage war gefährlich.
Er hatte seine Lanze vorhin durch einen ungeschickten Zug verloren. Jetzt stand er mit erhobenen Fäusten da und schätzte seinen Gegenüber ab. Dieser näherte sich Galdior im Zickzack. Mit zwei schnellen Blicken suchte Galdior irgendeine Möglichkeit zur Flucht – da war keine.
Endlose Minuten vergingen, immerzu hielten sich die beiden im Blick. In einem gewaltigen Satz griff die Hyäne an. Ihr Sprung war kaum wahrzunehmen mit menschlichen Auge. Galdior konnte sich nur noch auf die Seite fallen lassen. Der Hyänenfürst war schnell, er gab Galdior keine Zeit aufzustehen.
In einem Moment war er über ihm und nagelte Galdior mit seinem immensen Gewicht am Boden fest. Mit geschickten Bewegungen seiner plump aussehenden Pranken streifte der Hyänenfürst Galdior den Helm vom Kopf und schleuderte ihn beiseite. Speichel tropfte von den Lefzen der Hyäne auf das Galdiors Gesicht. Der Hyänenfürst sah seine Narben an und sagte: „Dich hat schon einmal jemand anderes gekratzt, oder? Wer war es?“
„Der Meister der Kälte. Du kennst ihn vielleicht, ihr gehört doch alle zum selben beschissenen Rattenpack ...!“
Die Hyäne knurrte. „Für das, dass du ziemlich tief in der Scheiße steckst, hast du ein reichlich großes Mundwerk“, sprach sie.
Während dem Kampf hatte die Dämmerung Einzug gehalten und der Mond stand bereits am Himmel. Der Hyänenfürst wollte gerade seine Pranke erheben und Galdior weitere Narben hinterlassen, da wandte Galdior seinen Kopf ab und schloss verängstigt die Augen.
Die Stimme des alten Mannes, der ihn durch den Tunnel in den Osten geführt hatte, erklang in seinem Kopf. Galdiors Geist schaltete in Tausendstel Sekunden. Er sah zum Mond.
Der Mondschein brach durch die Wolkendecke auf das Schlachtgetümmel. Die Pranke flog auf Galdiors Gesicht zu.
Ein kaltes Kribbeln lief durch Galdiors Körper bis in seine Zehen und Finger und erfüllte ihn mit einer nie gekannten Kraft.
Mit einem einzigen Heben seines Brustkorbs katapultierte er den Hyänenfürst zehn Schritte in die Höhe. Dieser fand sich plötzlich in der Luft wieder, blickte sich verwirrt um und als er gerade wieder zu fallen begann, war Galdior neben ihm. Die Hyäne kniff die Augen zu. Galidor war nicht wiederzuerkennen, er leuchtete, ja, jede Faser seines Seins strahlte dieses tanzende, weiße Mondlicht aus.
Wie Galdior sich in diesem Moment fühlte, war für ihn im Nachhinein schwer zu beschreiben, er schien jede Zelle zu spüren und er fühlte sich federleicht, obschon er von dieser unglaublichen Kraft durchströmt war. Was aber wirklich seltsam war, war, dass er alles negativ sah, als hätte man alle Farben umgedreht. Und er liebte es, diese Stärke, dieses Gefühl die Welt verändern zu können.
Er lachte seinem Gegner schallend ins Gesicht. Die Hyäne fand das überhaupt nicht komisch, sie zitterte wie ein geprügelter Hund und im Angesicht dieses Gottes, der da neben ihr flog und ihr ins Gesicht lachte, leuchtend wie ein Stern am fernen Horizont, wurde ihr Angst und Bang.
Der erste Schlag bemerkte sie erst, als sie mit zwanzigfacher Fallgeschwindigkeit in Richtung Boden sauste. Der Aufprall des Hyänenfürsten verursachte ein Krater im Boden. Obwohl unnötig, landete Galdior über ihm, zog die Faust zurück, lachte noch einmal schallend und verschwand zu einem weißen, milchigen Klecks in der Luft. Die Erschütterung im Boden war noch einen Tagesritt weiter weg zu spüren.
Der Hyänenfürst war tot und langsam verblasste das Licht um Galdior.


Kapitel 33

Er sog die frische Nachtluft tief ein, in dieser Nacht hatte er viel gelernt. Er hatte erkannt, was seine Aufgabe in diesem letzten Krieg war: es hatte definitiv mit diesen Einhörnern zu tun. Auch hatte er viel erkannt in Bezug auf sich und seine Fähigkeiten.Es war ihm, als ob er bisher ein Bild gesehen hätte, wovon nur die Ecke bemalt war, nun aber war es bis zur Hälfte fertig.
Das überraschende Auftauchen der Einhörner, oder besser der sprechenden Einhörnern, in seinem Leben machte ihn immer noch ein wenig konfus.
Galdior hatte sich in dem Kampf von zuvor sofort zurecht gefunden, obwohl im Grunde genommen nur Tiere gegeneinander kämpften. Und trotzdem sah er ihren fast menschenähnlichen Geist in ihren Augen glitzern.
Das Kribbeln in seinen Gliedern hatte sich zurückgezogen. Galdior starrte immer noch zum Mond, als er Trampeln hörte, er wandte sich um.
Zuzu hatte eine tiefe Schramme am Hals und von an seinem Horn klebte frisches Blut, doch sonst schien es ihm gut zu gehen.
„Taru, unser Fürst, muss mit dir reden“, sagte er. Galdior nickte und folgte ihm. In einem Kreis von trauernden Einhörner lag Taru. Galdior blieb außerhalb des Ringes stehen. Leise erklang die Stimme Tarus: „Bringt mir den Auserwählten!“
Die Einhörner machte Galdior Platz und er kniete sich neben dem alten Einhorn nieder.
„Licht umgibt dich, Galdior, Lichterfürst, gross werden deine Werke sein, führe die Einhörner ins Ende, beende das Übel. Ich werde sterben. Heil dir Galdior, Lichterfürst und letzter Fürst der silbernen Schar!“, Tarus Augen blickten in die Unendlichkeit und ein Lächeln verzog das Pferdegesicht.
Galdiors Tränen glitzerten im Mondlicht, als sie auf Tarus Gesicht fielen. Lange kniete er neben ihm, er hatte ihn zwar nie gekannt, doch schien es ihm, als wäre es so.
Von hinten meldete sich eine Stimme: „Herr, was sind Deine Pläne? Du bist von nun an unser Fürst, mögest Du uns in Krieg und Verderben führen, so werden wir Dir doch folgen.“ Dann in einem einstimmigen Chor riefen die Einhörner mit ihren tiefen und hohen Stimmen: „Heil Dir, Galdior, Lichterfürst, 77. Fürst der silbernen Schar, in Licht wie in Finsternis, folgen wir Dir!“
Galdior stand auf und antwortete: „In den Krieg werd ich euch führen, doch nicht in Verderben noch in Finsternis. Das Licht geht uns voraus und nichts wird es aufhalten können.“


Kapitel 34

Reba

Der Wind strich ihr durch das lange, blonde Haar und wirbelte es auf. Dunkle Augenringe rahmten ihre blauen Augen ein. Sie hatte sich tagelang durch alte Papiere ihrer „Vorgängerin“ gearbeitet, die nun alle verstreut herumlagen. Eben hatte sie eine alte Schriftrolle durchgearbeitet, worin die Ereignisse frühster Zeit aufgeschrieben waren.
Uutar-Moru hatte ihr aufgetragen alles genau durchzulesen, was er ihr brachte. Nun war sie fertig, stand auf und machte ein paar Schritte im Tempel umher.
Sie strich mit ihrer Hand über die Marmorsäulen. In den letzten Tagen waren ihr die Augen geöffnet worden. In dieser Welt, in der sie so lange gelebt hatte, gab es viel mehr, als sie sich jemals vorgestellt hatte.
Erschrocken drehte sie sich um, Uutar-Moru hatte sich, wie schon viele Male zuvor, ihr unbemerkt genähert.
„Seid Ihr bereit? Habt ihr alles gelesen?“, fragte er.
Sie nickte. Uutar-Moru machte ihr ein Zeichen ihm zu folgen. Er führte sie tief in den Berg hinein zu einer Tür. Dort blieb er ehrerbietig stehen und senkte seinen Kopf.
„Das Ende hat begonnen. Nur der Windfürstin ist es gestattet die Tür zu öffnen“, sagte er.
„Was befindet sich da drin?“, fragte sie.
„Ist euch noch nie aufgefallen, dass die Scheiden eurer Stachel zu lang sind für die, welche ihr nun tragt? Nun geht hinein. Erbt den Schatz.“
Reba fragte nicht weiter nach; sie wusste, dass er nicht mehr sagen würde. Mit großer Sorgfalt stemmte sie sich gegen die Tür. Diese quietschte und öffnete sich langsam.
Der Raum dahinter war rund. Nichts zierte die steinernen Wände oder den Boden. Überall hingen Spinnweben und es roch moderig. Nicht ein Windlein regte sich. Ein einziger Lichtstrahl fiel durch ein Loch in der Decke auf eine Konsole, die aus dem gleichen roten Stein Material bestand, wie der Rest des Berges.
Reba machte ein paar Schritte auf die Konsole zu. Auf ihr lagen zwei lange Stachel, welche in zwei perfekte Formen im Stein gelegt worden waren. Hinter ihr trat Uutar-Moru in den Raum.
„Dies sind Ru und Ro, der Ostwind und der Westwind. Euer Eigen, Windfürstin, gebraucht sie nur für Gutes und Gerechtes. Dies sind die Worte, die einst einer sprach, welcher mächtiger ist“, flüsterte Uutar-Moru in ihrem Rücken.
Reba betrachtete die Stachel, sie glänzten gespenstisch im fahlen Licht.
Der eine, Ro, leuchtete heiss und rot wie der Abendwind im Westen, das andere, Ru, rein und kalt wie der Morgenwind im Osten.
Mit einer schnellen Bewegung griff sie nach ihnen und schwang sie in großen Kreisen. Sie waren federleicht, doch waren die Klingen so scharf, dass sie sogar Luft zu schneiden schienen. Uutar-Moru hob beschwichtigend die Hände und sagte: „Herrin passt auf! Ihr habt keine Ahnung, was ihr bewirken könnt mit dieser Macht, die Ihr in Euren Händen haltet. Geht hinaus in die Ebene!“
Reba zuckte mit den Schultern und rannte nach draußen. Tatsächlich war sie neugierig, was sie denn bewirken konnte. Als sie beim Balkon war, machte sie sich nicht die Mühe alles hinunterzurennen. Sie nahm kräftig Anlauf und sprang. Sofort bildete sich unter ihr ein Luftkissen, worauf sie nach unten glitt. Sie setzte auf dem weichen Boden auf und sprintete weiter.
Hinter sich hörte sie Uutar-Moru rufen, sie dürfe nicht beide Stachel gleichzeitig benutzen. Reba runzelte die Stirn. Etwa drei Bogenschüsse von ihrer Behausung entfernt hielt sie an und sah sich um. Rundherum tat sich Steppenlandschaft auf.
Sie zückete Ro, der Westwind, und packte ihn fest mit beiden Hände. Ro vibrierte vor Vorfreude wieder aktiv sein zu können. Mit schnellen, kontrollierten Bewegungen schwang sie das kurze Schwert.
Mit einem Seufzer kam ein Wind von Westen auf, heiß und stark wie eine große unsichtbare Faust, fegte er über die Ebene. Immer weiter und heftiger schwang sie Ro, und immer stärker wurde der Wind. Er riss mit Gewalt Gräser aus und zerrte an den einzelnen Bäumen. Mit einem Ruck ihres Arms brachte sie den Wind zum Schweigen.
Ro zurück in die Scheide schiebend nahm sie Ru zur Hand. Ru fühlte sich wesentlich kälter an denn Ro. Sie fing ihn an zu schwingen und ganz leise kam eine Brise auf, die dem Boden entlang Reba um die Beine pfiff. Immer schneidender wurde die Brise, doch noch immer war sie nur als leises Pfeifen zu hören. Umso länger sie Ru führte, umso kälter und schärfer wurde der Wind. Bald fühlte er sich wie tausend Messer an, die gleichzeitig auf die Haut einstachen. Reba schrie leise auf, als sie merkte, dass Ru sogar fähig war tatsächlich Sachen zu schneiden. Sauber abgetrennte Gräser und Äste flogen ihr um die Ohren.
Nun schob sie Ru wieder zurück und überlegte lange. Sie würde eine Zeit benötigen, bis sie beide vollkommen unter Kontrolle hatte, doch sicher würde ihr Uutar-Moru dabei helfen.


Kapitel 35

Tinira

Das Lagerfeuer prasselte hell und warm, und so war es Tinira auch zu Mute. Sie lag im Gras und schaute zu den Sternen, die da blinkten und leuchteten.
„Siehst du die zwei großen Sterne ganz im Osten, die welche ganz nahe beieinander sind?“
Tinira nickte, ja, sie sah sie. Sie waren die größten und hellsten und sie waren außergewöhnlich weiß.
„Sie zeigen die Richtung, woher die Götter zurückkommen werden.“
„Und wann wird es soweit sein, Raar?“, fragte Tinira.
„Wenn die beiden zu einem verschmelzen.“
Tinira dachte eine Weile darüber nach und fiel dann in einen unruhigen Schlaf. Nach nicht all zu langer Zeit wurde sie von Raars Stimme wieder geweckt.
„Tochter, schnell wach auf! Wir bekommen Besuch; versteck dich in den Büschen dort!“
Ihre Reaktion war blitzschnell; Tinira schreckte auf und rannte mit drei gewaltigen Sätzen hinter die nahen Büsche.

Nank war noch sehr jung und bereits Kommandant einer ganzen Wolfseinheit. Dies hatte zur Folge, dass seine Arroganz größer war als seine Intelligenz.
Langsam trottete er an das heruntergebrannte Feuer heran. Vorsichtig beschnüffelte er den Boden rund um das Feuer. Er nahm den Geruch auf und zog voller Zufriedenheit die Lefzen zurück.
Der Geruch war eindeutig; es war ein Menschenkind hier gewesen, und zwar vor nicht all zu langer Zeit.
„Lunk und Fink, ihr geht in die Büsche dort“, befahl er seinen Untergebenen. „Tonk und Ank ihr geht den Hügel hinauf. Die anderen durchstöbern das ganze Gebiet nach eigenem Gutdünken. Denkt daran wir brauchen sie lebend, sonst -“ Ein schriller Schrei unterbrach seine Stimme.
Die Wölfe sahen alle gleichzeitig in den Himmel, dort nämlich entfachte sich gerade ein dreifacher Feuervogel. Bevor das Rudel reagieren konnte, stürzten die Vögel mit rasender Geschwindigkeit auf sie herab. Der schnellste Phönix erwischte Nank genau in die Brust und schleuderte nach hinten.
Das Rudel löste sich aus seiner Starre und rannte um ihr Leben. Mit solch einem Gegner hatten sie es noch nie zu tun gehabt. Trotzdem fielen noch zwei weitere Wölfe durch die zwei übrig gebliebenen Phönixe. Noch lange hörte man ihr Jaulen, auch dann noch, als Tinira wieder aus den Büschen kam.
„Die kommen wieder, und zwar schneller als uns lieb sein wird. Am besten brechen wir in Richtung Norden auf.“
„Wieso in den Norden?“
„Ich werde dir eine Fähigkeit beibringen, für welche wir Schnee brauchen werden, um dich abzukühlen.“
„ ... um mich abzukühlen?“
„Ja, mein Kind. Du wirst brennen.“

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Tag der Veröffentlichung: 30.03.2010

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