Eine neue Welt
von Aaron Kunz
Kapitel 1
Es schüttete Liter um Liter Wasser aus dunklen Wolken, als schwarze Reiter auf ihren Rappen, die mehr tot als lebendig schienen, die Hügel hinab auf die stille Stadt Andophú zuritten.
Der Regen prasselte wie tausende von Schläge auf die Rüstungen und machte zusammen mit dem Schnauben und Schnaufen der Reiter und der Tiere ein grausiges Geräusch.
Leise wie Schatten waren die Reiter; niemand bemerkte sie, auch nicht, als sie vor dem Fluss, welcher die Stadt vor den gefährlichen Hügeln im Norden schützen sollte, angekommen waren. Der Führer der Reiter sprach einige rasche Befehle zu seinen Untergebenen und zeigte auf das Tor, welches der einzige Eingang zu der von Mauern umgebenen Stadt war.
Die Stadtwache an der Winde für die Zugbrücke schlief, als einer der schwarzen Soldaten die Mauer an einem Seilhaken hinaufkletterte. Dieser lachte heiser und stieß sein gezacktes Schwert tief in die Brust der schlafenden Wache. Nur kurz zuckte die Wache, versuchte zu begreifen, was gerade mit ihr passierte, verlor das Bewusstsein und starb im nächsten Moment.
Der Soldat bewegte sich still im Schatten der Wand, an welcher die Kette für die Brücke festgemacht war. Er ließ sie in Windeseile hinab und seine Gefährten stieben schon nach wenigen Momenten durch die Gassen der Stadt, wie eine Seuche, die sich in alle Ecken ausbreitete.
Vergebens versuchten ein paar wenige Einwohner sich schlaftrunken zu wehren. Doch sie alle wurden auf bestialische Art und Weise umgebracht. Überall brandschatzten, mordeten und stahlen die schwarzen Gestalten. Schreie hallten durch die kleine Stadt, überall plärrten Kleinkinder und mehrere Häuser brannten lichterloh.
Die Stadt hatte sich in trügerischem Frieden gewiegt und bekam nun, nach mehr als zwölf Jahrzehnten die Strafe dafür. Alle Männer, die versuchten hatten sich zu wehren, wurden getötet; Frauen und Kinder mitgezerrt und versklavt. Nun hatte das Übel auch sie erreicht und sie konnten es nicht mehr abwenden.
Nicht weit entfernt, auf einer großen, grünen Grasfläche südlich der Stadt hatten drei junge Leute ihr Zelt aufgeschlagen und erzählten sich nun im Kerzenlicht die bekanntesten Schauergeschichten.
Zwei Jungen und ein Mädchen waren es; allesamt siebzehn Jahre alt. Sie saßen auf ihren Matten, eingewickelt in ihre Decken. Der größere der beiden Jungen – er hieß eigentlich Galdior, doch da es bei seinem Volk üblich war, Namen auf die drei ersten Buchstaben abzukürzen, wurde er von allen nur Gal genannt – war gerade mitten in einer Geschichte, als er innehielt und horchte. Die zwei anderen taten es ihm gleich. Zuerst hörten sie nur den Wind heulen, doch wurden mit dem Wind auf einmal leise, herzzerreißende Schreie mitgetragen. Alle drei erstarrten.
"Was hat das zu bedeuten?", wisperte das Mädchen, welches Tinira hieß, jedoch, wie bereits vermutet, Tin genannt wurde. Die Jungen schüttelten den Kopf. Der dritte Junge, Bolmar, auch Bol, machte die Schnalle, die den Zelteingang zusammenhielt, auf und lief ins Freie.
Der Anblick war ein einziger Albtraum. Anzusehen wie ihre Stadt in Flammen stand, schien Bol extrem unwirklich. Tinira und Galdior traten hinter ihn und er hörte wie sie anfing zu weinen und Galdior scharf die Luft einsog. Bolmar hingegen starrte einfach nur auf das bizarre Bild, das sich ihnen bot. Nach einigen Sekunden wurde ihnen klar, dass sie etwas tun mussten und sie rannten wie drei Wahnsinnige auf die Stadt zu.
In einem dichten Gebüsch, etwa zwei Steinwürfe von der Zugbrücke entfernt, blieben sie liegen und sahen zu wie Reihe um Reihe der Reiter wieder aus der Stadt marschierten in Begleitung der Gefangen. Die Gefangen schritten in Dreierreihen, an Händen und Füßen gekettet, aus der Stadt. Das Erobern der Stadt hatte nicht lange gedauert. Schon bald waren die Reiter wieder in der Dunkelheit verschwunden.
Weinend und unter Schock liefen die drei Freunde auf die Stadt zu, unter der Brücke hindurch und in das Stadtzentrum. Auf dem großen Platz in der Stadtmitte machten sie Halt und beobachteten schluchzend das Chaos und die Verwüstung. Der Geruch von verbranntem Fleisch hing in der Luft und der Rauch biss ihnen in den Augen. Keiner sagte ein Wort. Immer noch nicht begreifend, was eben passiert war, liefen sie zu ihren Elternhäusern, von denen glücklicherweise keines abgebrannt war, wo sie aber wieder nur Zerstörung vorfanden. Sich an den Händen haltend gingen sie wieder auf die Straße als Tinira ein kleiner Schrei entfuhr. Vor ihnen lag ihre Großmutter mit blutverschmierter Brust auf dem Pflaster. Sofort sprang Tinira zu ihr. „Oma, was ist mit dir? Was ist passiert?“, fragte sie unter Tränen.
„Tin“, antwortete die Großmutter. Ihr Atem ging flach und schnell, doch sie sprach weiter: „Wie schön, du lebst. Du musst fliehen. Du musst sie warnen ... das nächste Dorf. Schnell ... geh!“
Ihre Augenlider schlossen sie sich und ihr letzter Atemzug liess sie in Form eines langen tiefen Seufzers raus. Tinira vergrub ihr Gesicht in den immer noch warmen Händen ihrer Großmutter und weinte. Galdior, der alles mitangehört hatte, kniete neben sie und legte ihr den Arm um die Schulter.
„Wir sollten ihren letzten Wunsch erfüllen und das nächste Dorf warnen. Sie werden uns dort sicher helfen“, sprach Galdior beruhigend und mit einer Sicherheit auf sie ein, die ihn selbst überraschte.
"Aber die ist weit entfernt. Wie wollen wir dort hinkommen?", warf Tinira mit Tränen überströmten Gesicht ein.
„Wir müssen sehen, dass wir irgendwo Pferde bekommen, dann können wir es schaffen“, antwortete er.
Nach kurzem Suchen fanden sie im Stall von Bolmars Vater drei völlig aufgeschreckte Pferde. Sie beruhigten sie so gut es eben ging, sattelten sie und stiegen auf. Aus einem Grund, den er später nicht mehr wusste, sagte Galdior, dass sie noch Waffen und Verpflegung bräuchten. Die anderen nickten zustimmend. Schnell beschlossen sie sich aufzuteilen. Jeder sollte zu sich nach Hause gehen und Verpflegung und Waffen suchen.
Als sie sich wieder trafen, hatten alle das, was sie brauchten. Tinira hatte den Bogen ihres Vaters gefunden, der normalerweise nur über dem Kamin hing, mit welchem sie aber sehr gut umgehen konnte; Bolmar hatte das mächtige Schwert mitgenommen, das er von seinem Großvater vererbt bekommen hatte und Galdior die Lanze seiner Ahnen, die unterhalb der Metallspitze ein eingearbeiteter Kristall hatte. Früher hatte er sie nicht anfassen dürfen, geschweige denn benutzen. Jetzt musste er unter Umständen beides. Jeder von ihnen hatte noch Verpflegung zusammengesucht.
Nun ritten sie im Galopp durch die Straßen und über die Felder in Richtung Nachbarstadt.
Unterwegs fragte Galdior seine Freunde: "Was glaubt ihr machen sie mit unseren Familien?"
"Ich weiß es nicht... Vielleicht werden sie irgendwo in eine Arena geschickt, um ihnen als Belustigung zu dienen, oder womöglich werden sie in Minen gebracht, wo sie schuften müssen und wie Tiere gehalten werden“, antwortete Tinira mit einer für sie seltsam monotonen Stimme.
"Wer sind diese Reiter überhaupt?", fragte Bolmar, "Ich fühle mich so hilflos."
Schweigend ritten sie die Stecke über flaches Gelände. Während sie so dahinritten, erwachte die Natur von ihrem Schlaf. Vögel fingen an zu singen und langsam machte die Dämmerung den Strahlen der Sonne Platz. Niemand ahnte etwas vom Schicksal, das die Stadt Andophù ereilt hatte.
Kurz vor Mittag sahen sie die Stadt schon und nur eine Weile später schritten sie durch das Tor in die Stadt hinein.
Von allen Seiten wurden sie angestarrt, als wären sie Monster. Doch ihnen war es egal. Sie waren müde, hatten Hunger und der Schock stand ihnen aufs Gesicht geschrieben. Neben dem Rathaus sahen sie sich um und beschlossen, erst einmal den Senator zu unterrichten. Hungrig und erschöpft banden sie die Pferde an und stolperten zum Rathaus hinüber.
Kapitel 2
"So sieht es also aus...", der Senator schloss die Augen und atmete laut aus. Sie saßen alle zusammen im Arbeitszimmer des Senators. Ausgelaugt und zutiefst gebeutelt von der Reise und dem Verlust ihrer Familie hockten die Drei auf unbequemen Stühlen, währenddessen der Senator hinter seinem Schreibtisch Platz nahm.
"Gut, ich werde mich mit den anderen Senatoren beraten. Nun zu euch; ihr habt dieser Stadt einen gewaltigen Dienst erwiesen, indem ihr uns gewarnt habt und wir sind euch von ganzem Herzen dankbar. Ihr könnt euch zur Schenke auf der anderen Straßenseite begeben. Dort wartet eine warme Suppe und Tee auf euch."
Beim Aufstehen seufzte der Senator und sagte mitleidig: "Es tut mir Leid was mit eurer Stadt und euren Familien passiert ist. Wir werden alles in unserer Macht stehende tun, um sie aus den Klauen des Bösen zu befreien. Ich kann euch allerdings nichts versprechen."
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite traten sie in die Schenke ein und konnten wie versprochen ihr Mahl zu sich nehmen. Während dem Essen sah sie der Wirt mitleidig an.
"Wenn ihr wüsstet wie Leid ihr mir tut. Sagt, falls ihr irgend etwas braucht."
"Danke", flüsterte Tinira. "Können wir hier übernachten?"
"Natürlich könnt ihr."
Sie bedankten sich und gingen auf ihre Zimmer, welche gemütlich, mit einem Kamin in der Ecke und einem bequem aussehenden Bett, bestückt waren. Nachdem sie sich eingerichtet hatten, saßen sie im Zimmer von Tinira um den Kamin und wärmten sich am knisternden Feuer. Draussen wurde es bereits dunkel. Sie hatten zuvor nicht gleich zum Senator gekonnt, da dieser mit auswärtigen Geschäften beschäftigt war. Man hatte sie nicht vorgelassen, obwohl sie ihr „Problem“ mehrmals vorgebracht hatten.
Bolmar sprach das aus, was alle schon seit der Ankunft in der Schenke beschäftigte: "Was glaubt ihr, wird der Senator tun?"
"Ich denke“, begann Galdior, den Blick auf seine Lanze gerichtet. „Er wird die Alten und Kinder in Sicherheit bringen und mit dem Heer hier bleiben, um auf die Reiter zu warten. Obwohl ich mich nach wie vor frage, woher er die Sicherheit hat, dass sie überhaupt dieses Dorf angreifen werden.“ Und als ein seltsamer Ausdruck sein Gesicht verzerrte, fügte er hinzu: „Ich würde zu gern wissen, ob die Lanze meiner Ahnen noch was taugt."
"Glaubst du etwa, er lässt dich mit dem Heer hier bleiben?", fragte Bolmar, der den Gesichtsausdruck richtig gedeutet hatte.
"Ich hoffe es. Ich will Rache üben." Ein zorniger Gesichtsausdruck machte sich auf Galdiors Gesicht breit. Nun sahen alle in die Ecke des Zimmern wo sie ihre Waffen abgelegt hatten. In der Spiegelung der Metallklingen und -spitzen wurde der tanzende Schein des Feuers reflektiert. Da beschlich sie alle eine dunkle Vorahnung, doch sprach keiner ein Wort darüber.
Sie diskutierten noch eine Weile, bis sie sich in verschiedenen Zimmer zur Ruhe legten.
Kapitel 3
Sie trafen sich wie abgemacht bei Sonnenaufgang unten in der Schenke zum Frühstück. Der Wirt tischte ihnen ein karges, jedoch nahrhaftes Essen auf. Sie bedankten sich für das Essen und liefen zum Rathaus hinüber. Dort erwartete sie ein nervöser Senator, der auf dem flauschigen Teppich vor seinem Schreibtisch hin und her lief.
"Endlich, seid ihr da! Ich habe ein paar wichtige Mitteilungen für euch." Der Senator wollte gerade Luft holen, um seinen Redeschwall fortzusetzen, als Bolmar ihm ins Wort fiel: "Dürfen wir mit dem Heer warten?"
Der Senator schaute sie verdutzt an: "Wieso ... ? Auf gar keinen Fall! Ihr begleitet die Wehrlosen zu den Höhlen und Grotten westlich der Stadt", antwortete der Senator prompt und schüttelt den Kopf, als er ihre missmutigen Gesichter sah. "Ich will keine Widerrede hören, es wäre verantwortungslos euch hier bleiben zu lassen und ausserdem würdet ihr nur im Wege stehen."
Alles Flehen half nichts, der Senator stellte sich stur. Ihre Aufgabe war, mit der Schar Frauen, Kinder und Greisen noch am selben Tag aufzubrechen, mit den übrigen Wächtern auf sie aufzupassen und dann in den Höhlen nördlich der Stadt Schutz zu suchen.
Mit geneigten Köpfen schlurften sie wieder zur Schenke hinüber. Sie bemerkten nicht einmal, wie die ganze Stadt in Aufruhr war und alle Vorbereitungen jeglicher Art traf. Der Wirt war bereits unterrichtet worden und hatte ihre Pferde satteln und Proviant sowie ihr sonstiges Gepäck bereit machen lassen. Recht herzlich verabschiedeten sie sich von ihm und bedankten sich noch einmal.
Auf dem großen Platz vor dem Tor hatten sich die Alten, Frauen und Kinder versammelt. Nach vielen Vorbereitungen, Glückwünschen und Verabschiedungen setzte sich der Zug endlich in Bewegung. Bolmar, Tinira und Galdior ritten mit einem enttäuschten Gesicht am Ende des Zuges. Sie kamen kaum vorwärts, weil immer wieder Pausen eingelegt werden mussten. Nach einem halben Tag erreichte der Zug die Hügel, die zu den Grotten und Höhlen führten und am frühen Abend des selben Tages konnten sie bereits ihr Lager in den Höhlen aufschlagen.
Die drei Freunde schlugen ihre Zelte jedoch, außerhalb der Hügel auf einer Anhöhe auf. Ihnen wurde ziemlich bald schrecklich langweilig. Die Zeit vertrieben sie sich mit Gedächtnisspielen – die unter anderem den Zweck hatten, dass sie sich von den Gedanken an die vorletzte Nacht ablenken konnten – bis Galdior die anderen fragte, ob sie Lust hätten noch ein Spaziergang in die Hügel zu machen. Die Reaktion der beiden anderen war ziemlich klar: Sie schauten sich an, nickten und Bolmar meinte: "Vielleicht können wir von weiter oben bis zur Stadt sehen."
Tinira sah ihn an und dann dorthin wo sie die Stadt vermutete. "Gut, gehen wir."
Sie machten sich auf den Weg und zuerst ging es nur leicht bergan, schon bald aber wurde es steiler und steiniger. Nachdem sie gerade ein sehr steiles Stück hinter sich gebracht hatten, hielten sie an, verschnauften und sahen sich um. Galdior zeigte mit der Hand auf die Spitze des Berges und sagte: "Von dort sehen wir sicher etwas." Bolmar, der schon schwer schwitzte und laut keuchte vor Anstrengung, warf die Hände in die Höhe, murrte und schritt weiter.
Nach kurzer Zeit zogen dunkle Wolken heran und plötzlich goss es vom Himmel hinab. Schnell suchten sie sich einen Unterschlupf und stolperten völlig durchnässt in eine riesige Höhle. Staunend betrachteten sie die steinigen Wände und Steine, die alle wunderschön natürliche Formen hatten.
"Wollen wir diese Höhle ein bisschen erkunden?", fragte Tinira.
"Wieso nicht ... Raus können wir ja doch nicht, solange es regnet."
Durch viele Ritzen und Löcher in der Decke und in den Wänden, der Höhle fiel Wasser und ein wenig Licht, gerade genug um sich zu orientieren. Die feuchten Wände glitzerten und funkelten im Licht.
Lange durchwanderten sie die riesigen Höhlen, bis sie in einen Raum gelangten, der alles vorhergegangene, übertraf. Die Decke lag weit über ihren Köpfen und der Raum hatte einen Durchmesser von vierzig bis fünfzig grossen Schritten.
Während sie hierher gekommen waren, hatte es aufgehört zu regnen und die restlichen Strahlen der lauen Abendsonne schienen durch eine einzelne Ritze über ihnen auf die gegenüberliegende Wand. Genau dort, wo die Strahlen auftraten, glitzerte etwas. Nicht ein Glitzern wie das der feuchten Steine im Tageslicht, nein ein Glitzern, das aussah, als wäre die Wand mit Diamanten gespickt. Das Glitzern zog sie auf eine unheimliche Weise an. Langsam gingen sie darauf zu. Zwei Schritte davor blieben sie stehen. Es waren Schriftzeichen, die wunderschön in den Stein gemeißelt worden waren.
"Kannst du entziffern, was da steht?", fragte Galdior Tinira, welche sich in alten Sprachen sehr gut auskannte.
Sie nickte: "Ich kann es versuchen."
Kapitel 4
Eine ganze Weile standen sie einfach da; das einzige, was man hörte war das abwechselnde, gleichmäßig Atmen. Die zwei Jungen sahen Tinira an und diese starrte auf die Inschrift.
"Ich bin mir nicht sicher, ob ich es richtig deute, doch so würde ich es übersetzen:
Von der Weissagung wird erzählt, dass in einem Zeitalter, wo
Das Dunkle die Überhand gewinnt, und finstere Gestalten
Die ehemals schönen Straßen von Ium durchstreifen,
Vier Menschen kommen werden, um die Welt vom Übel
Zu befreien.
Drei von ihnen werden hier stehen und diese Zeilen lesen
Eine Kraft und ein Zauber wird über sie kommen,
Der sie zu dem macht, was sie sein sollten. Sie werden das
Übel aus den Straßen treiben, so dass der Frühling blühen kann,
Ium wieder frei wird und in Frieden ruhen darf."
Nach diesen Worten flüsterte sie: "Wer ist wohl gemeint? O seht mal, die nächsten Zeilen sind in der allgemeinen Sprache geschrieben:
Der eine Junge schwingt die Lanze seiner Ahnen,
Sein Licht erstrahlt in der Finsternis.
Das Mädchen, die Intelligente, Pfeil und Bogen sind ihre Waffen.
Der Phönix selbst wird ihr Köcher beleben.
Der andere Junge, mächtig ist sein Schwert;
Aus Erde ist die Klinge geschmiedet, und diese beherrscht er.
Die Vierte, die Sanftmütige, die Stachel gürtet sie.
Ihr Wind versiegt nie.
Mit offenen Mäulern standen sie vor der Wand, auf der das Glitzern langsam verblasste. Eine kurze Zeit sprachen sie nichts. Dann aber fand als erster Galdior seine Stimme wieder: "Was hat das zu bedeuten? Sind wir etwa gemeint?"
"Keine Ahnung, sieht aber irgendwie schon so aus", stammelte Bolmar.
"Aber wer ist dann die vierte Person?", meldete sich Tinira.
Die anderen schwiegen.
In diesem Moment versank die Sonne hinter dem Horizont, die Schrift verblasste und die drei wurden nur noch vom spärlichen Mondlicht, welches immer wieder von dunklen Wolken durchbrochen wurde, erhellt. Scheinbar eine Ewigkeit standen sie vor der Wand, auf der nun keinerlei Schriftzeichen mehr zu erkennen waren.
"Wir sollten uns wieder auf den Weg machen", sagte Tinira, die als erste wieder aus der Starre erwachte.
Die zwei Jungen nickten schweigend und sie machten sich daran im Dämmerlicht den Ausgang zu finden. Nach viel Herumgetaste, waren sie wieder an der frischen Luft und machten sich an den Abstieg. Bis sie bei ihrem Lager waren, sprachen sie kein Wort.
Galdior warf frisches Holz in die Asche und schürte das Feuer. Bolmar wiegte sein wirklich schweres Schwert in den Händen. Tinira lag auf dem nassen Boden und starrte in den bewölkten Himmel. Ihr schien es gleichgültig, ob sie nun schmutzig wurde oder nicht.
"Wisst ihr, wenn wir tatsächlich für etwas bestimmt sein sollten, dann müssen wir uns schon Morgen auf den Weg machen. Sonst verpassen wir womöglich ... den Einstieg. Seid ihr dabei?", fragte er herausfordernd. Seine Stimme hatte eine Nervosität angenommen, die zwar ängstlich klang, aber ansteckend wirkte.
Langes Schweigen folgte, bis Galdior langsam seinen Kopf hob und im gleichen Tonfall Antwort gab: "Ja, ich bin dabei."
Schließlich setzte sich auch Tinira auf. Ihr schulterlanges, braunes und nun leicht verschmutztes Haar unterstrich die Intensität ihrer dunklen Augen. Einen kurzen Moment schien sie zu überlegen, dann schniefte sie mit der Nase, wobei sich niedliche Grübchen bildeten und sagte: "Ich auch."
Kapitel 5
Galdior stand unter dem bewölkten Himmel, auf einer einsamen Wiese. Die Grashalme reichten ihm bis zu den Hüften. Die Farben waren bleich – einfach alles, Blumen, Gräser, der Himmel, die Hügel, welche den Horizont schmückten, ja, selbst die Wolken schienen mit einem bleichenden Vorhang überzogen worden zu sein, ein unheimliches Spiel von Schwarz- und Weißtönen. Alles schien unecht.
Nachdem er an sich herunter gesehen hatte, wusste er, wieso er sich so schwer fühlte. Er trug eine schwarz glänzende Rüstung; er war zudem auch viel größer. An seinem Schatten bemerkte er, dass er noch etwas langes auf dem Rücken hatte. Er griff nach hinten und zog seine Lanze hervor.
Immer noch verblüfft, hörte er von fern Hufschlag. Er blickte um sich und entdeckte etwa hundert Schritte linker Hand einen dichten Nadelwald. Aus diesem kamen immer schneller werdend, schwarze Flecken. Schon bald erkannte er, dass es die selben Reiter waren, die auch Andophù angegriffen hatten. Sie rasten mit einem unglaublichen Tempo auf ihn zu. Angstschweiß drang aus all seinen Poren und eine Furcht ergriff sein Herz; er wollte wegrennen doch es ging einfach nicht, er schien wie angewurzelt.
Die Reiter waren nur noch wenig entfernt, da ließ er vor Angst seine Lanze fallen, hob schützend die Hände vor den Kopf und schrie irgendetwas in einer ihm unbekannten Sprache. Die Worte bewirkten etwas, denn plötzlich wurde alles hell. Er war geblendet von dem Weiß, welches sie nun alle umgab. Die Helligkeit saugte jeglichen Schwarzton auf, als hätte jemand von oben einen gewaltigen Eimer mit weißer Farbe über sie ergossen.
Schnell schloss er die Augen und er spürte, wie er zu Boden sank. Nach ein paar Sekunden hob er seine Lider und erhob sich.
Unnatürliche Flecken tanzten vor seinen Auge, doch die waren ihm egal. Vor ihm lagen die schwarzen Reiter allesamt am Boden. Sie waren tot, vollkommen verkohlt.Ihre Leichen rauchten und sie waren noch schwarzer als zuvor.
Es war ein gänzlich schrecklicher Anblick.
Plötzlich schreckte Galdior hoch. Sein Körper war nass vor Schweiß. Doch alles war wieder beim Alten. Die Farben waren wieder voller Leben. Seine Freunde lagen links und rechts von ihm in der relativen Sicherheit des Zeltes.
Er atmete ein paar Mal tief durch, stand dann auf und lief nach draußen. Um ihn herum war nichts als Dunkelheit, jedoch wusste er, dass hinter seinem Rücken irgendwo die Höhlen mit den Flüchtlingen waren.
Nachdem er ein paar Schritte in die Dunkelheit gemacht hatte, hörte er ein leises Stöhnen. Schnell hastete er zurück zum Zelt. Warum ihn ein Seufzer, der eigentlich im Schlaf nichts ungewöhnliches war, so erschreckte, wusste er nicht. Tinira wälzte sich hin und her. Man konnte sehen, wie sich unter ihren Augenlider die Pupillen bewegten. Auch sie schwitzte und plötzlich, schwer atmend, öffnete sie die Augen.
"Tin, alles in Ordnung?", fragte Galdior.
"Ja, ich habe wohl nur schlecht geträumt, aber es schien so real."
Galdior wollte gerade Antworten und sie beruhigen, da meldete sich Bolmar aus dem Schlaf: "Nicht ... nein, verschwindet!"
Er schrie, verpasste Galdior beinahe eine Ohrfeige mit seiner Hand und wachte auf. Mit großen, starren Augen sah er seine Freunde auf.
"Was –?", fing Galdior an, doch sogleich wurde er von sich näherndem Hufschlag unterbrochen.
Sie standen auf, verließen das Zelt und starrten in die Dunkelheit. Ein Reiter des Heeres aus dem Dorf kam auf sie zu. Schlaff wie eine Puppe aus Stroh sass er im Sattel, den Kopf gesenkt. Die Hände hielten sich verkrampft an der Mähne des Pferdes fest. Als er fast bei ihnen war, fiel er wie in Zeitlupe vom Pferd. Schnell rannten sie zu ihm hin und sanken neben ihm auf die Knie.
"Er hat einen Pfeil in die Seite bekommen.", flüsterte Tinira, als sie seine blutende Seite betrachtete, worin noch der abgebrochene Schaft eines Pfeils steckte.
Der Mann stöhnte, packte Galdior am Kragen, zog ihn zu sich hinab und sprach mit heiserer Stimme: "Flieht, sie haben uns überrannt... waren zu zahlreich... Geht weg von hier!" Im nächsten Moment wurde seine Hand schlaff und seine Augen verloren an Ausdruck. Galdior schluckte. Er legte dem Mann seine Hände auf die Brust und schloss ihm die Augen.
"Bol, renn zu den Höhlen und benachrichtige die Wachen! Tin und ich werden unsere Sachen packen und die Pferde bereit machen."
Bolmar rannte so schnell wie er nur konnte zu den Höhlen. In der Zwischenzeit machten sich Tinira und Galdior bereit. Sie warteten schon ungeduldig, als Bolmar keuchend zurückkam.
"Die Wachen sagten, sie werden sich in den Höhlen verstecken. Sie würden nicht gefunden werden." Er stieg auf sein Pferd, "Ich riet ihnen ab, aber sie hörten nicht auf mich."
Galdior nickte: "Sollen sie doch, wir reiten."
"Und wohin?", fragte Tinira.
"In Richtung Osten, zu den Bergen hin. Wir reiten dem Waldrand entlang."
Aus der Richtung, wo die Stadt lag, wurde das Donnern von beschlagenen Hufen lauter und lauter.
"Sie kommen!"
Kapitel 6
Zwei Tage ritten sie nun schon in Richtung der aufgehenden Sonne. Gegen Mittag des dritten Tages rasteten sie bei einer großen Eiche in der nähe des großen Waldes. Der Himmel über ihnen war Grösstenteils blau und mit gelegentlichen Wolkenfetzen versehen. Sie ließen die erschöpften Pferde weiden und setzten sich in den Schatten des Baumes.
Mit einem traurigen Blick in ihre Nahrungstasche sagte Tinira: "Wir haben noch etwa für drei Tage essen. Wir sollten es besser einteilen."
"Wird nicht nötig sein. Morgen Abend sollten wir die kleine Siedlung Bamrú erreicht haben. Dort werden wir Nahrung aufnehmen können", entgegnete Galdior fast ein bisschen hochnäsig. "Lasst uns jetzt essen."
Tinira nahm einen halben Leib Brot aus der Tasche und Scheiben getrockneten Fleisches.
Eine halbe Stunde lang machten sie nichts anderes, als kauen und schlucken.
Die vollen Magen, die angenehme Wärme sowie der liebliche Anblick der Landschaft, welcher sich ihnen bot, führte unweigerlich dazu, dass einer nach dem anderen einschlief und bald hörte man nur noch gleichmäßiges Atmen.
Etwas Feuchtes berührte Galdiors Nase. Er machte die Augen auf und schaute in das lange Gesicht seines Pferdes. Erschrocken sprang er auf. Die Sonne hatte ihre tägliche Bahn schon fast beendet und die Schatten waren schon sehr lang. Doch dann lenkte etwas anderes seinen Blick auf sich. Von Osten kamen Reiter. Er hörte bereits ihr lautes Gejohle. So schnell es ihm seine müden Beine erlaubten, rannte er zu den anderen und schüttelte sie wach.
"Schnell in den Wald, da kommen Reiter", sprach er hastig. Die anderen brauchten sich nicht erst selbst zu vergewissern – auch sie hörten die Reiter. Sie sprangen auf, packten ihre Waffen und Taschen und rannten in den Wald.
In einem dichten Gebüsch, in Hörweite ihres Lagers, hielten sie sich versteckt. Die Reiter galoppierten genau zu ihrem Lager. Sie glichen Piraten, nur eben auf Pferden. Bis auf die Zähne bewaffnet und ganz klar ersichtlich ungepflegt, standen sie nun neben der Eiche und sahen sich genau um. Obwohl sie an der frischen Luft waren und zwischen den Räubern und Tinira mindestens einen Steinwurf Abstand war, konnte sie den Geruch von Schweiß und Alkoholausdünstungen wahrnehmen.
"Die sind sicher in den Wald geflüchtet", sprach einer, der sich wie der Anführer benahm und ganz nebenbei auch noch der Hässlichste und Grobschlächtigste war. "Ihr zwei bewacht unsere und ihre Pferde, ihr zwei geht von Osten in den Wald, ihr zwei von Westen und wir drei gehen gleich hier hinein“, wies er seine Leute an.
Seine Reiter führten aus, was er befohlen hatte und schon bald befanden sich die drei Freunde wieder auf der Flucht. Sie rannten wie aufgeschreckte Hasen, die von Jägern und ihren Hunden verfolgt wurden. immer Haken schlagend davon. Äste und Zweigen schlugen ihnen ins Gesicht, Dornen schürften ihre Beine auf. Überall, rechts, links und von hinten hörten sie Geschrei.
Plötzlich stolperte Bolmar über eine Wurzel und fiel in den Dreck. Galdior drehte um und rannte zurück, um seinen Freund zu Hilfe zu eilen. Er war gerade über ihm und wollte ihm aufhelfen, als einer der Männer eine Keule schwingend auf sie zu gestürmt kam. Ein Sirren erklang und im nächsten Moment hatte der Räuber einen Pfeil, der nur ganz knapp an Galdiors Kopf vorbei geflogen war im Oberschenkel. Jener fragte sich erst gar nicht wie Tinira so schnell ihren Bogen spannen und einen Pfeil schießen konnte. Er griff Bolmar unter die Arme, half ihm auf und sie rannten weiter.
Der Wald wurde immer dichter und schon bald war Rennen unmöglich. Bolmar und Galdior kämpften sich gerade durch ein paar dichte Büsche, als von oben eine Stimme kam: "Hier rauf schnell!"
Sie sahen nach oben und erkannten Tinira, die auf einem Ast saß. So schnell sie konnten, stiegen sie auf den Baum. Nur eine halbe Minute später kam der erste Verfolger angekeucht und lief tatsächlich unter ihnen hindurch. Ein paar weitere folgten.
Eine gute halbe Stunde, in der sie immer das Gefühl hatten jeden Moment entdeckt zu werden, warteten sie. Schließlich verstummte das Geschrei der Männer.
"Danke, für vorhin", flüsterte Bolmar Galdior zu. "Keine Ursache", antwortete dieser. "Aber du solltest eher Tinira danken. Hätte sie den Mann nicht aufgehalten, wären wir jetzt beide tot."
Die beiden Jungen schauten sie an. Sie schaute ihren Bogen an: "Ich weiß auch nicht... es ging sehr schnell. Ich wusste gar nicht, dass ich mit diesem Bogen so gut umgehen konnte. Es ging wie von alleine."
Eine Weile warteten sie noch still in ihren unbequemen Position und blieben, wo sie waren. Doch als es allmählich kälter wurde, machten sie sich auf den Weg. Schon bald fragte Galdior an Bolmar gewandt: "Verflucht, wo ist die Tasche mit der Nahrung?"
"Ich habe keine Ahnung. Ich dachte, du hättest sie", antwortete Bolmar, mit einem für ihn unpassenden, „Leck-mich-doch!“-Blick.
"Ich hab sie aber nicht!", schnauzte Galdior zurück. "Wir müssen noch einmal zurück zum Baum!" Schleunigst eilten sie zurück zum Baum, fanden ihn jedoch nicht mehr. Schließlich wollten sie umdrehen und zurück zu ihrer Ausgangspostion, fanden diese aber genau so wenig wieder. Sie hatten sich bereits heillos verirrt.
Kapitel 7
"Ich hab solch einen Hunger", murrte Bolmar. Alle drei lagen auf dem Bauch hinter ein paar Büschen, um auf ihr Essen zu warten und starrten auf die kleine Lichtung vor ihnen. Seit einem halben Tag waren sie in diesem einsamen Wald.
"Sei still, da kommt unser Essen!", zischte Tinira und spannte ihren Bogen. Ihr Arm zitterte stark unter der enormen Kraft, die sie aufwenden musste. Die Hirschkuh schien sie irgendwie zu wittern und machte bereits Anstalten davon zu rennen. Tinira schoss und traf sie in den rechten Hinterlauf, was sie aber nicht davon abhielt, in einem unglaublichen Tempo davon zu rennen. Sie rannten ihr hinterher so gut es eben ging.
Nach einer kurzen Jagd kamen sie auf einer weiteren Lichtung schlitternd zum stehen. Vor ihnen stand ein Fremder.
Er war groß, sehr groß, gut fünf oder sechs Ellen. Er war sehr athletisch gebaut, hatte blondes, schulterlanges Haar. Seine Augen waren azurblau. Er hatte schmale Lippen und eine spitze Hakennase. Seine Ohren standen in einem seltsamen Winkel ab und sein Hals war schon fast übernatürlich lang, genauso wie seine Beine.
"Wer, um alles in der Welt, hat euch Rotznasen erlaubt, in meinem Wald zu jagen?", fragte er mit einer tiefen, dröhnigen Stimme, die so gar nicht zu ihm passte. In seiner Hand lag der Hals der nun toten Hirschkuh. Der Mann machte einen angsteinflößenden Eindruck.
"Wir wurden von Räubern durch den Wald verfolgt, dann haben wir uns versteckt und konnten sie abschütteln, doch wir verirrten uns und –", platzte der zutrauliche Bolmar heraus, bis er von Galdior einen Klaps auf den Hinterkopf bekam. Darauf machte der Mann zwei Schritte auf sie zu, worauf die drei Freunde automatisch zwei Schritte zurück wichen.
Da sagte der Mann: "So so... und da dachtet ihr, ihr könntet doch einfach ein bisschen Wild in meinem Wald jagen?"
Die drei Freunde zitterten vor Angst, doch plötzlich, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, wechselte der Gesichtsausdruck des Mannes und er sagte: "Nun gut, ihr müsst müde sein, folgt mir!"
Und die drei folgten ihm, ohne ein Widerwort. Dieser Fremde, obwohl er ihnen so barsch begegnet war, hatte etwas an sich, das die drei nicht erklären konnten und auch nicht wollten. Der Mann ging voraus und bewegte seine Beine in solch einem Tempo, dass die Freunde ihre Mühe hatten, mit ihm Schritt zu halten. Auch bewegte sich der Mann in diesem Wald, als ob er jeden Winkel davon kennen würde.
Bevor sie kurz davor waren vor Erschöpfung zusammenzubrechen, kamen sie am Ziel an. Was sich vor ihnen Augen auf tat war wahrhaftig unglaublich, fast noch unglaublicher, als alles, was bisher auf ihrer kurzen Reise passiert war.
Da war einen liebliches Holzhäuschen mit Gardinen an den Fenstern, rechts davon ein großer Garten mit allen möglichen Arten von Blumen, Gemüse und Kräutern, welche in allen Farben blühten und links davon eine Art Anbau ganz aus rotem Stein mit einem sehr hohen Kamin. Das ganze befand sich auf einem grasigen Hügel ... mitten im Wald. Doch das war bei weitem noch nicht alles. Am Ansatz des Hügels war ein Graben ausgehoben worden, gute fünf Schritte breit und er begab sich, so weit sie sahen, um den ganzen Hügel. Innerhalb des Grabens befanden sich Holzpfähle mit einer metallenen Spitze. Eine Miniaturausgabe einer Zugbrücke schien der einzige Weg über den Graben zu sein. An einem Pfosten war eine Glocke befestigt. Das Licht des untergehendes Mondes machte das ganze noch viel unwirklicher und bizarrer. Der Mann lief zur Glocke und klingelte. Der Klang war hell und schön und auf einen sonderbare Weise bezaubernd.
Gleich darauf wurde einer der Gardinen beiseite geschoben und ein wunderschönes Gesicht schaute hinaus, das gleich darauf wieder verschwand. Das Echo der Glocke war noch nicht verstummt, da kam ein Mädchen in Nachtkleid aus der Tür getreten und lief die Strecke zur Brücke hinab. Auf halbem Weg stockte sie, als sie die drei Freunde sah.
"Paps, wer sind die?", fragte sie unsicher. Ihre Stimme war, was gar nicht zu ihr passte, rauh und trotzdem hatte sie eine gewisse Eleganz und Anmut. Ihre Augen waren genau so blau wie die ihres Vaters und auch genau so durchdringend. Ihr Haar war ebenfalls strohblond und reichte ihr bis zur Hüfte. Ihre Lippen waren voll und sie hatte eine kleine Nase. Rein äußerlich schien sie im gleichen Alter wie Galdior zu sein, und doch strahlte sie etwas aus, was sie älter und weiser erschienen lies. Sie schaute die drei Freunde an.
"Du musst keine Angst haben, sie sind keine Feinde. Ich habe sie ihm Wald aufgelesen", erwiderte ihr Vater.
Sie lief bis zum Graben und lies die Brücke hinunter. Der Vater dieses prächtigen Wesens überquerte das Brückchen und als er bemerkte, dass die Freunde stehen geblieben waren, drehte er sich um und sagte: "Nun kommt doch!", mit einem amüsierten Ausdruck auf dem Gesicht fügte er noch hinzu: "Ich heiße euch auf meiner „Burg“ Baldar willkommen!"
Kapitel 8
Für Randar und seine Familie schien es nichts ungewöhnliches zu sein, mitten in der Nacht aufzustehen, das Feuer im Kamin zu heizen und ein Mahl zuzubereiten.
Nun, Galdior, Tinira und Bolmar war das nur recht. Ihre Bäuche fühlten sich wie ewige Abgründe an, die endlich gefüllt werden mussten. Den Anblick, den die Hirschkuh über dem knisternden Feuer bot, war sowohl köstlich wie auch seltsam. Vor einer halben Stunde war sie ihnen noch davongerannt; Galdior lief es kalt den Rücken runter. Er saß mit seinen Freunden auf einer Holzbank an einem großen, hervorragend gezimmerten Holztisch.
Ihnen gegenüber saß der Mann, der sich zuvor als Randar vorgestellt hatte. Seine Frau Lira, die bis auf die Augenfarbe und ihrer Größe ihrem Mann sehr ähnlich sah, hörte man in der Küche herumwerkeln. Ihre Tochter, die Reba hieß, war daran den Tisch zu decken. Ihre Bewegungen waren graziös und elegant, als ob das Tisch decken ein Tanz wäre.
"Also, ihr macht auf mich nicht den Eindruck, als wären die Räuber euer größtes Problem. Ich würde gern erfahren, was drei Kinder so weit weg von jeglicher Zivilisation machen", forderte Randar sie auf und seine Augen stachen unter den Augenbrauen hervor. Galdior, der seine Augen, die wie Leim an Reba klebten, auf Randar richten musste, überhörte das sarkastische „Kinder“, fing an zu reden und erzählte was ihnen passiert war. Ihm war es egal, ob es gescheiter gewesen wäre nichts zu sagen. Dieser Mann, der ihm gegenüber saß, konnte nicht böse sein. Immer wieder fügten Bolmar und Tinira Bemerkungen hinzu. Bei der Passage in der Höhle, schien Randar ganz genau zuzuhören. Als Galdior geendet hatte, stand Randar auf und lief zum Feuer hinüber. Eine Weile stocherte er in die Glut.
Er sagte kein Wort und eine bedrückende Stille legte sich über den Raum. Die drei Freunde schauten sich an. Schließlich sprach Randar doch noch und sagte: "Nun, die Hirschkuh ist gut, lasst uns essen."
Ihnen wurde ein schon fast fürstliches Mal aufgetragen. Zuerst bekamen sie eine Pilzsuppe aufgetischt, danach ging es zur Hirschkuh über, und als sie eigentlich schon längst satt waren, brachte Lira kleine Erdbeertörtchen herein. Schließlich saßen sie alle da mit vollen Magen und tranken heißen Kräutertee. Der Tisch war übersät mit allem möglichen Geschirr.
Ein paar schweigende Augenblicke vergingen, wo man nur das Schlürfen des Tees hörte, da sagte Randar zu seiner Tochter, dass sie doch schnell die Waffen der Freunde holen solle.
"Was ist denn mit unseren Waffen?", fragte Tinira, der es gar nicht gefiel, dass jemand Fremdes ihre Waffen in die Hand nahm.
"Das wirst du gleich selber sehen", antwortete Randar.
Reba lief ins Nebenzimmer und holte die Waffen. Sie hielt nicht nur die Waffen der anderen, nein, sie hatte sich auch zwei kleine Schwerter umgelegt, eines auf jeder Seite. Auf dem Rückweg strauchelte sie, als sich die Lanze zwischen ihre Beine hackte. Sie flog direkt auf die Schneide von Bolmars Schwert zu, doch während sie fiel, passierte etwas höchst Ungewöhnliches.
Ihre Hände verschwammen, schienen auf einmal weg. Dann kam ein Sturm auf... im Esszimmer. Der Wind war so stark, dass der Tisch fast umkippte, mehrere Töpfe auf den Boden fielen und zu Bruch gingen. Doch das war bei weitem noch nicht alles; der kleine Orkan schien sich genau auf Reba zu konzentrieren und er sammelte sich unter ihr. Sie fiel nicht mehr, sie schwebte auf dem Wind und langsam richtete dieser sie wieder auf.
Sobald sie wieder stand verschwand der Wind so schnell wie er gekommen war. Langsam senkten die anderen ihre Arme wieder, die sie erhoben hatten, um sich von den umher wirbelnden Porzellanstückchen der Töpfe zu schützen.
Die drei Freunde starrten Reba mit offenen Mündern an. Sie war rot geworden und in ihren Händen hielt sie die kleinen Schwerter, die bevor sie gestürzt war, noch in ihren Scheiden gelegen hatten. Bolmar hatte eine klaffende Schnittwunde über die ganze Wange, er hatte seine Arme zu wenig schnell nach oben gezogen. Doch er schien es nicht einmal zu bemerken. Er versuchte, wie die beiden anderen zu begreifen, was eben geschehen war.
"Ich habe dir schon tausendmal gesagt, du sollst es nicht im Haus benutzen!", schimpfte Randar, was die drei Münder noch ein bisschen weiter öffnete.
"Aber Paps, ich wäre fast auf die Klinge gefallen! Die hätte mich halbiert!", verteidigte sich Reba.
Randar raunte irgend etwas Unverständliches und sprach darauf lauter: "Nun gut ... aber du räumst die Schweinerei auf!"
Reba nahm die Waffen wieder auf und brachte sie mit einem missmutigem Gesicht ihrem Vater. Sie lief in die Küche, holte einen Besen und machte sich daran die Scherben zu beseitigen. Ihre Mutter half ihr. Der Vater sah die drei Freunde an, die immer noch fassungslos und völlig verwirrt da saßen.
"Was habt ihr denn für ein Problem?", fragte Randar und machte dabei ein ziemlich genervtes Gesicht. Galdior schluckte schwer: "Was wir für ein Problem haben? Was hat sie für ein Problem?"
Der Geschichtsausdruck Randars änderte sich von genervt zu zornig: "Bursche, sie hat kein Problem, sie hat eine Fähigkeit, kapiert?"
Er ließ sie erst gar nicht antworten, sondern sprach gleich weiter:
"Gut, dass ihr nicht in die Hände der Räuber gefallen seid."
Galdior fragte nach dem Grund.
"Weil sie dann nie mehr zu Räubern brauchen. So ist das."
Galdior setzte ein fragende Miene auf.
„Die Waffen sind wahrscheinlich mehr wert, als die ganze Stadt, aus der ihr kommt. Ich kannte sogar die Leute, die diese Waffen geschmiedet hatten."
"Sie kannten unsere Vorfahren?", fragte Tinira.
Randar machte ein abschätziges Gesicht und sagte: "Mein Ururgroßvater und sein Bruder eure Vorfahren?, dass ich nicht lache!"
Kapitel 9
"Ihr... Ihr Ururgroßvater und sein Bruder?", stammelte Galdior, der immer mehr glaubte, dass er in einem Traum festsitzt
"Ihr habt wirklich keine Ahnung, was? Haben euch, denn eure Eltern nichts erzählt?" Die Gesichter der Freunde verfinsterten sich beim Gedanken an ihre Eltern.
"Oh, tut mir Leid, das war keine Absicht. Nun, ich werde euch eine kleine Lektion in Geschichte geben", entschuldigte sich Randar und sprach weiter: "Vor etwa 170 Jahren kamen meine Vorfahren über die Berge, um sich in diesem Land anzusiedeln.
Eure Vorfahren nahmen uns sehr freundlich auf und als Geschenk gaben meine Vorfahren ihnen diese Waffen. Sie waren sehr dankbar dafür, dass sie hier bleiben konnten, denn östlich der Berge gab es damals viele üble Kreaturen und das Land war brach.
Meine Vorfahren waren ausgezeichnete Schmiede, die es verstanden aus verschiedenen Metallen, Rüstungen, Waffen und Haushaltsgeräte herzustellen.
Mein Ururgroßvater und sein Bruder waren die Ältesten unseres Volkes. Einige Jahre lang lebten sie in Frieden hier, westlich der Berge, stellten viele unglaubliche Rüstungen und Waffen her. Jede war besser als die vorherige. Und dieses Land wurde ein Land des Friedens, da keine Macht stark genug war, um es mit unseren Waffen und Rüstungen aufzunehmen und da unser Volk sehr gerecht war. Doch dann geschah etwas, was nicht hätte geschehen dürfen." Sein Gesicht verfinsterte sich. "Mein Ururgroßvater schuf mit Hilfe eines Zaubers eine mächtige Waffe, Trabuk, die alles vorhergegangene übertraf. Sein Gemüt verfinsterte sich, denn der Zauber beherrschte nicht nur die Waffe, sondern auch deren Träger. Er wollte die Alleinherrschaft über unser Volk. Natürlich ist klar, was nun kommt. Es bildeten sich zwei Parteien. Die meines Ururgroßvaters und die seines Bruders.
Mein Ururgroßvater wurde völlig wahnsinnig und zettelte einen Bürgerkrieg an. Immer wieder gab es Auseinandersetzungen. Bald wurde daraus ein richtiger Krieg. Fünfzig Jahre nachdem mein Volk hierher kam, gab es eine Schlacht. Die Schriften von damals erzählen, dass die Erde zitterte unter den Schritten von tausenden Soldaten. Die Luft war schwer vom Staub der aufgewirbelt wurde. Der Klang der Schwerter, die aufeinander trafen, soll so Laut gewesen sein, dass sich ganze Felsbrocken von den Bergen lösten und hinunterdonnerten. Schließlich vernichteten die Soldaten meines Ururgroßvaters die seines Bruders.
Tausende waren gefallen. Auch auf der Seite meines Ururgroßvaters war der grösste Teil der Soldaten gefallen. Als sich die Soldaten meines Ururgroßvater an der Beute ihrer gefallen Brüder machen wollten, kriegten sie sich selbst in die Haare und reduzierten sich nochmals um ein Drittel.
Doch das genügte meinem Ururgroßvater immer noch nicht. Er lies jedes Kind, jede Frau und jeder Greis hinrichten, der sich zu seinem Bruder bekannte hatte. Mit dem Rest, der übrig blieb, wanderte er, soviel ich weiß, zurück über die Berge und ward nie mehr gesehen." Randar hatte wässrige Augen bekommen.
"Ich und meine Frau sind von den wenigen, die das ganze überlebt haben. Wir waren damals beide noch Kinder. Ihr fragt euch vielleicht, wie das ganze zeitlich aufgeht, aber zur Zeit dieses Krieges war mein Ururgroßvater 150 Jahre alt. Ich stamme aus einem langlebigen Volk, müsst ihr wissen."
Sie saßen eine Weile alle schweigend da. Auch Reba hatte sich unterdessen gesetzt und mit ihren zerzausten Haaren und dem leicht schmutzigen Gesicht sah sich noch viel besser aus, fand Galdior.
"Hmm... Also theoretisch müssten doch dort, wo die Schlacht statt gefunden hat, tausende Waffen und Rüstungen herumliegen? Oder täusche ich mich?", fragte Tinira.
"Nun, nicht ganz. Jede Rüstung und jede Waffe war, mit einem Zauber belegt, der sie zu Asche werden lässt, sobald sein Träger starb. Das sollte verhindern, dass jemand mehr als nötig Waffen besaß. Darum nennt man diesen Ort auch, Aschental", antwortete Randar.
"Nun, aber in dem Fall müssten doch unsere Waffen auch längst zu Staub verfallen sein", meinte Bolmar.
"Wieder muss ich widersprechen. Eure Waffen sind etwas Besonderes. Nicht nur von der Machart her, sondern auch von ihrem Zauber. Von der Machart sind sie ähnlich wie Trabuk, jedoch schwächer. Ihr Zauber jedoch ist unvergleichlich. Die Waffen können nur von bestimmten Personen gebraucht werden, und zwar von denen, die dafür bestimmt sind. Es gibt nur noch eine Waffe, die von solcher Machart ist und die befindet sich an der Hüfte meiner Tochter." Die drei Freunde schauten zuerst sie sich an und dann auf Rebas Hüfte.
Sie hingegen starrte aus dem Fenster in die Nacht hinaus.
Kapitel 10
"Die vierte Person...", flüsterte Bolmar.
"Ganz genau. Das erklärt dann wohl auch die Sache mit dem Wind. Ich hätte da aber noch eine Frage ... Was habt ihr nun vor?", fragte Randar.
Galdior antwortete für alle drei, als er sagte: "Nun, wir werden versuchen, die schwarzen Reiter zu finden und unser Familien und unser Volk zu retten."
Randar lachte auf diese Worte hin so laut, dass alle anderen heftig erschraken.
Er lachte sie eine ganze Weile aus. Die drei Freunde sahen ihn beleidigt an. Er hörte so abrupt auf wie er angefangen hatte.
"Das ist doch hoffentlich ein Witz, oder? Ihr wisst nicht einmal, wie mächtig eure Waffen sind und ihr wollt sie bereits benutzen? Ihr wollt allen Ernstes in ein Lager voller dunkler, schwarzer Reiter, von denen jeder Anfänger euch töten könnte, hinein und so ganz ohne Probleme euer Volk und eure Familien retten?", sagte er schmunzelnd. Die drei Freunde sahen sich beschämt an.
"Was sollen wir denn sonst machen? Wir haben kein Zuhause und nichts ... nur noch diese ... Zauberwaffen", murmelte Bolmar und schaute mit einem fast angewiderten Blick auf ihre Waffen.
"Nun ihr könntet euch im Umgang mit euren Waffen üben, dann könnte euer ursprünglicher Plan vielleicht sogar Realität werden", antwortete Randar. "Und ich hätte auch eine Lösung für das Problem mit eurem Zuhause. Dieses Haus ist größer als ihr denkt. Ihr könntet hier bleiben, lernen zu kämpfen und die Macht eurer Waffen kennenlernen; lernen zu jagen und notdürftige Reparaturen an euren Waffen vorzunehmen. Wie fändet ihr das?"
Galdior schüttelte abweisend den Kopf. "Ich will meiner Familie nicht die Treue brechen, hier bleiben, essen, schlafen währenddessen sie womöglich schuftet und gefoltert und gequält wird. Das würde mir das Herz brechen", entgegnete Galdior.
"Soll ich dir einmal sagen, was sie dir alles brechen werden, wenn du einfach so ihr Lager stürmst und sie dich erwischen?", meinte Randar. "Und was fände deine Familie wohl besser, zusehen wie du gefoltert wirst, oder wissen, dass du in Sicherheit bist?"
Galdior schwieg. Seine Augen wurden feucht und er schluckte schwer: "Ich will .. ich ...- " Er stütze die Ellbogen auf dem Tisch ab, legte das Gesicht in die Hände und fing hemmungslos an zu schluchzen.
Dies konnte doch nur ein Traum sein? Oft hatte er Geschichten gelesen, die genau von solchen Dingen handelten: Zauberwaffen, böse schwarze Reiter, Familien,die verschleppt werden. Aber er hätte sich nie träumen lassen, dass er selbst einmal Teil einer solchen Geschichte werden würde.
Sein Körper bebte. Auch Tinira liefen die Tränen das Gesicht hinab. Bolmar blickte mit einem höchst seltsamen Gesichtsausdruck ein Loch in die Wand.
Reba und Lira hatten das Zimmer während des Gespräches bereits verlassen. Randar schaute sie nach einander an und sagte: "Es ist spät, lasst uns zu Bett gehen. Wir können morgen weiter reden. Lira hat euch ein Zimmer eingerichtet. Doch bevor ihr euch Schlafen legt, solltet ihr euch noch waschen. Es stehen Badewannen im Zimmer nebenan bereit." Mit diesen Worten stand er auf, warf sich seine Jacke um und verließ das Haus.
Die drei Freunde taten wie ihnen geheißen wurde. Zuerst badete Tinira, dann die beiden Jungen. Nach gut einer Stunde lagen sie in ihren Betten. Schon nach ein paar Minuten hörte man Bolmar schnarchen und auch Tinira's regelmäßiger Atem war zu hören. Galdior lag auf dem Rücken und fixierte einen Punkt an der Decke. Ein Gedanken jagte den anderen. Er lag da und dachte nach bis spät in die Nacht, erst spät fand er endlich Schlaf, dieser jedoch war nicht sonderlich erholsam.
Am Morgen erwachte er vor allen anderen. Er fühlte sich wie gerädert. Rasch zog er sich an und lief die Treppe hinunter. Bei jedem Schritt knarrte die alte Holztreppe gefährlich laut und Galdior hatte Mühe damit keinen all zu großen Lärm zu machen.
Es war noch dunkel im Esszimmer und auch in den anliegenden Zimmern war niemand zu sehen. Möglichst ohne ein Geräusch zu machen, öffnete er die Haustüre und trat in die Dunkelheit. Ein frischer Wind schlug ihm entgegen. Ein Moment lang orientierte er sich in seiner Umgebung, dann lief er zu einem hohen Felsen, der sich an der höchsten Stelle des Hügels befand und kletterte hinauf. Er saß da, dachte nach und sah in Richtung der aufgehenden Sonne.
Seine Gedanken wanderten zurück in seine Kindheit, als er mit seiner Mutter fangen gespielt hatte und wanderten seine ganze Reise, von seinem Dorf zu ihrer Ankunft bei Randar, und zum Gespräch vom gestrigen Abend. Was sollte er nur tun?
Langsam wurde es heller. Von seiner erhöhten Position hatte er einen hervorragenden Blick über das ganze Land bis zu den Bergen im Osten. Die Sonne ging weit südöstlich auf und die wenigen Wolken, die wie Fetzen den Himmel bedeckten, färbten sich blutrot. Um ihn fingen Vögel an ihre Lieder zu pfeifen; das ganze Land erwachte. Der Anblick versetzte ihn in eine Art Trance. Auch die Natur schien den wundervollen Anblick zu genießen.
Er dachte an seine Familie und an seine Freunde. Die Sonne war bereits zur Hälfte aufgegangen. Die Luft roch angenehm nach Tau. Ein Adler flog weit über ihm durch sein Blickfeld. Er beachtete weiterhin nur die Sonne und fällte seinen Entscheid.
Kapitel 11
Bolmar roch frisches Brot und Orangensaft. Er rieb sich seine Augen, stand auf, ging ein paar wacklige Schritte und knallte geradewegs in einen Türpfosten. Er grunzte, öffnete seine Augen zur Gänze und lief die Treppe hinab. Eigentlich würde er lieber schlafen, doch dieser himmlische Geruch, der ihm in die Nase stieg, zwang ihn förmlich dazu ins Esszimmer zu gehen.
Unten traf er Galdior und Randar an, die in einem Gespräch vertieft waren. Lira stand in der Küche. Als Galdior ihn bemerkte, hob er den Kopf und sagte: "Na, guten Morgen. Gut geschlafen?"
"Wie ein Stein", antwortete Bolmar und sah Galdior genauer an. "So wie's aussieht, du dafür nicht, hm?"
Galdior schnaubte: "Bei deinem Geschnarche war das auch nicht möglich."
Bolmar nickte, er war zu müde, um etwas Fieses zu erwidern. Er setzte sich auf einen Stuhl und legte den Kopf auf die Tischplatte.
Gleich darauf hörte man ihn wieder regelmäßig atmen.
"Das glaubt man erst, wenn man es sieht. Der Junge schläft auf einer Tischplatte. Lira, bringst du mir doch, bitte, schnell mein Pulver", sprach Randar. Gleich darauf kam Lira in das Esszimmer und schüttelte den Kopf, als sie Bolmar sah. Sie reichte Randar ein Rundes Schächtelchen. Dieser öffnete es und nahm sich eine Brise auf den Zeigefinger. Das Pulver war rötlich und roch erbärmlich. Galdior musste sich die Nase zu halten, um nicht erbrechen zu müssen. Randar hielt dem schlafenden Bolmar den Zeigefinger unter die Nase. Dieser atmete einen großen Teil ein.
Draußen am Waldrand rannte ein Fuchs vorbei und schaute exakt in diesem Moment zum Haus hinauf, als Bolmar wie ein Wildgewordener aus der Tür gerannt kam. Er schrie wie am Spieß, rannte blindlings in den Wald hinein und tauchte seinen Kopf in den nächsten Bach. Hinter ihm kam Randar gemächlichen Schrittes zur Tür hinaus, während man Galdior im Haus schallend lachen hörte.
Bolmar hob prustend den Kopf aus dem Wasser, setzte sich auf seinen Hosenboden und verschnaufte. Sein Kopf war hochrot, einer Tomate nicht unähnlich.
Randar lief zu ihm hin und sagte: "Na, bist du jetzt wach? Das ist mein Mittel, um aufzuwachen. Toll nicht?" Bolmar schaute ihn mit einem missbilligenden Blick an.
Nachdem er seinen Kopf noch ein weiteres Mal in den kalten Bach gehalten hatte, stand er auf und lief zurück ins Haus. Innen lag Galdior auf der Bank und kugelte sich immer noch vor lachen.
Bolmar setzte sich auf den Hocker und Lira brachte ihm ein Glas Wasser. Er trank es in einem Zug runter. Galdior setzte sich wieder hin. "Ha ha, Junge, Junge, du hättest dein Gesicht sehen sollen!", sagte er immer noch lachend.
Tinira kam die Treppe hinunter gerannt: "Was ist los? Ist etwas passiert?" Galdior schüttelte es vor lachen und auch Bolmar stimmte mit ein. Tinira sah an sich herunter. Die Hose war falsch herum angezogen und die Bluse falsch zugeknöpft. Sie wurde rot und rannte die Treppe wieder hinauf.
Nun kam auch Reba aus dem Nebenzimmer. Ihr Anblick entlockte den Jungs mehr erstaunen als lachen. Sie war eine wirkliche Spassbremse, jedoch nicht im negativen Sinne. Man sah ihr an nichts an, dass sie eben gerade eine Nacht geschlafen hatte. Sie war noch genau so bezaubernd wie am Abend zuvor.
"Hast du wieder jemanden von deinem Pulver probieren lassen?", lächelte sie ihren Vater an. "Wer war denn diesmal das Opfer?"
Bolmar hob die Hand. Reba lachte: "Mach dir nichts daraus, das musste kommen."
Unterdessen kam auch Tinira wieder die Treppe hinunter. Sie setzten sich alle an den Tisch. Randar ergriff das Wort: "Nun, ich hab mit Galdior heute Morgen noch einmal das Thema von gestern Abend aufgegriffen und er wäre jetzt auch dafür, dass ihr hier bleibt und übt. Was meint ihr dazu?"
Er sah Tinira und Bolmar an. Sie stimmten beide zu. Randar machte ein erfreutes Gesicht, als er weiter fuhr: "Sehr schön, dann fangen wir gleich heute an. Doch zuerst nehmen wir das Frühstück zu uns."
Nachdem sie gefrühstückt hatten, führte Randar sie hinaus. Die Sonne stand unterdessen ganz am Himmel und erwärmte die Luft um sie. Es war ein herrlicher Morgen.
Nach dem Stand der Sonne musste es bestimmt schon etwa zehn Uhr sein. Randar ging zum Anbau hinüber. Die anderen folgten ihm. Der größte Teil des Anbaus nahm eine Art großer Offen ein. Daneben stand ein Amboss und eine Zange. In der Ecke lehnte ein großer Vorschlaghammer. "Das ist meine Schmiede, hier geh ich dem Erben meiner Ahnen nach", sagte Randar.
"Woher nimmst du das Metall?", fragte Galdior.
"Auf der Westseite dieses Hügels, hat es einen zweiten Weg in den Wald, der direkt zu ein paar Stollen führt, wo ich der größte Teil meines Metalls hernehme. Manchmal kaufe ich aber auch Metall von umherziehenden Händlern", antwortete Randar.
Sie gingen wieder nach draußen.
"Wartet hier, ich hole eure Waffen", sprach Randar. Ein paar Minuten kam er wieder hinaus mit ihren Waffen.
"Tinira, hinter der Schmiede hat es eine Zielscheibe, die du gebrauchen kannst", wies Randar sie an. Sie holte die Zielscheibe und stellte sie auf. Gleich darauf fingen sie an. Randar brachte ihnen alles bei was er wusste und es war gleich klar, dass Reba bereits geübt war im Umgang mit Waffen, ganz im Gegensatz zu den anderen.
Kapitel 12
Galdior stach mit seiner Lanze zu und sprang gleichzeitig nach rechts. Bolmar taumelte immer noch als die Waffe auf ihn zugerast kam. Er machte eine Pirouette nach rechts und lenkte die Lanze ab. Mit der linken Hand packte er die Lanze und zog sie, und somit auch Galdior, näher zu sich heran. Er sprang und stieß beide Füße in Galdiors Brust, der durch den heftigen Schlag nach hinten geworfen wurde.
Bolmar war gerade über ihm und wollte ihm die Schwertspitze an den Hals halten, um seinen Sieg klar zu machen, da klingelte es bei der Brücke.
Bolmar half Galdior auf die Füße und sie liefen zur Brücke hinab. Dort stand Tinira, die einen Hirsch und ein paar Kaninchen über die Schulter geworfen hatte.
"Hast du etwa gerade verloren Galdior?", fragte sie mit einem überraschten, nichtsdestoweniger amüsiertem Geschichtsausdruck. Galdior murmelte etwas Unverständliches und lief wieder den Hügel hinauf, als sie im Wald ein seltsames Geräusch hörten. Er drehte sich um und sah Reba heranrennen.
Sie machte sich nicht die Mühe zur Brücke zu rennen, sondern sprang mit einem riesigen Satz über den Graben ... und landete genau auf einer Holzspitze, von welcher sie wiederum absprang einen Überschlag machte und vor Galdior auf die Füße kamen
"Sie kommen ... etwa vierzig Mann auf Pferden. Ein Dutzend mit Bögen bewaffnet", keuchte sie.
Verdammt, dachte Galdior, sie waren in letzter Zeit vermehrt angegriffen worden, aber noch nie von solch einer Menge.
"Tinira, bringe das Essen rein und gib Randar Bescheid! Bolmar nimm die Brücke rauf! Reba du weißt, was du zu tun hast." Reba nickte und sprintete über die Brücke wieder in den Wald. Bolmar zog die Brücke hinauf und rannte zum Haus hinauf. Galdior folgte ihm.
Innert weniger Sekunden würde das sonst so friedliche Häuschen eine kleine Festung werden. Aus der Schmiede kamen Tinira und Randar bereits mit den Blachen aus festem Leder, das zuvor mit Wasser bespritzt worden war. Sie zogen sie über die Schmiede und über das Häuschen. So war das Anwesen vor Feuerpfeilen geschützt.
Randar rannte wieder in die Schmiede und holte eine Art Schild für Tinira heraus. Diesen postierten sie in der Nähe des Steins. Tinira machte ihre Pfeile bereit und überprüfte die Sehne ihres Bogens. Randar holte noch drei weitere aufstellbare Schilde heraus und stellte sie verteilt auf dem Hügel auf. Bolmar und Galdior nahmen die dicken Stoffhüllen von ihren Waffen, welche sie gebraucht hatten, damit sie sich im Freundschaftskampf nicht verletzten und suchten Deckung hinter einem der Schilde. Randar holte seinen Jagdbogen und begab sich ebenfalls hinter einen Schild.
Nun begann das lange Warten. Keiner sagte ein Wort, es war einfach still. Von fern hörte man sich rasch nährenden Hufschlag und schließlich auch das Gejohle der Räuberbande. Die ersten Pfeil der feindlichen Bogenschützen, die sich in den nahen Büschen versteckt hielten, sirrten durch die Luft. Bolmar wagte einen Blick auf Tinira. Sie spannte ihren Bogen und schoss, der Pfeil flog in einem steilen Winkel in den Himmel. Dieser hatte den höchsten Punkt erreicht, als Tinira etwas Unverständliches murmelte.
Der Pfeil schien zu explodieren und raste in Richtung Wald. Er schien gänzlich zu brennen und an den Seiten bildeten sich Flügel ab. Immer schneller wurde der Pfeil und nahm immer mehr die Form eines brennenden Vogels an. Bald war das Licht, das von dem Feuervogel ausging so grell, dass man nicht mehr hinsehen konnte.
Ein schriller Schrei erfüllte die Luft und brachte das Herz aller Anwesenden für kurze Zeit zum Stillstand. Alle schauten auf den Pfeil der sich jetzt ganz als Vogel entpuppt hat. Dieser schien ein Eigenleben entwickelt zu haben, sobald er den Waldrand erreicht hat, flog er einen Bogen um den ganzen Hügel. Die Luft brannte förmlich.
Der Angriff der Räuber kam ins stocken. Pferde scheuten, stiegen auf die Hinterbeine und warfen ihre Reiter ab. Viele Pferde rannten vor Schreck blindlings in den Graben und in die Holzspitzen und brachten ihren Reitern den Tod.
Der Feuervogel flog noch eine Runde, verflüchtigte sich langsam und sank dann in die Büsche nieder.
Die Reiter hatten sich in der Zwischenzeit neu formiert und rannten wiederum auf den Graben zu. Die ersten Reiter hatten den Graben bereits überquert und nun preschte etwa ein Dutzend Reiter den Hügel aufwärts. Es schossen keine Pfeile mehr auf den Hügel zu; das konnte nur heißen, dass Reba ihre Aufgabe erwartungsgemäß ausgeführt hatte und die Bogenschützen zum Schweigen gebracht hatte.
Galdior kam hinter dem Schild hervor und sprang den Reitern entgegen. Hinter den Reitern kam Reba aus dem Wald gerannt. Die Reiter, obwohl es sechsmal so viele waren, saßen in der Falle. Vom Hügel kam Galdior und vom Wald Reba und von der Seite schoss Randar seine tödlichen Pfeile ab.
Reba sprang mit einem gewaltigen Satz über den Graben. Sie machte einen Schritt und sprang auf das erste Pferd. Sie landete hinter dem Reiter und trieb ihm einer ihrer Dolche in die Seite. Der Reiter sackte zusammen und Reba stieß ihn zur Seite.
Dem Pferd die Füße in die Seiten treibend, ritt sie von hinten auf die Reiter zu. Bevor diese überhaupt merkten, dass sie da war, waren bereits zwei weitere tot.
Ihre blitzartigen Bewegungen ließen die Stachel wie graue Flecken in der Luft verschwimmen. Der Kampf währte nicht mehr besonders lange. Bald lagen alle Reiter tot oder halb tot am Boden.
Galdior nickte Reba und Randar fröhlich und ein wenig stolz zu. Doch das Glücksgefühl dauerte nicht viel länger an, als er merkte, dass am anderen Ende des Hügels Bolmar und Tinira immer noch zu kämpfen schienen.
Galdior und Reba rannten ihnen zu Hilfe. Bolmar stand in mitten von etwa sieben Reitern, völlig am Ende seiner Kräfte. Er parierte Schlag um Schlag und konnte selbst keinen Treffer mehr landen. Galdior wollte ihm gerade zu Hilfe eilen, da geschah etwas Sonderbares, für die Verteidiger jedoch sehr Erfreuliches.
Bolmars Schwert fing in seinen Händen an zu vibrieren. Bolmars Lippen bewegten sich stumm und plötzlich stieß er sein Schwert in die Erde. Galdior ging in die Knie. Der Boden unter seinen Füßen bebte und zitterte. Unter den fünf Reitern tat sich der Boden in einer Wolke aus Staub und Dreck auf und sie fielen ins Nichts. Sie waren wie weggezaubert. Man hörte sie weit unten schreien.
Da füllten sich die Löcher wieder, das Beben hörte ebenfalls auf. Das einzige, was noch daran erinnerte, dass dort einmal ein paar Reiter gestanden hatten, waren leichte Unregelmäßigkeiten auf der Erdoberfläche.
Kapitel 13
Alle schauten auf Bolmar, dieser zog sein Schwert aus der Erde und sah es verblüfft an. Mit einem Ruck drehte er sich zu den restlichen Reitern um. Diese machten keinen Hehl aus ihrer Angst, ließen die Waffen fallen und ergriffen gleich die Flucht. Galdior lief zu Bolmar, welcher immer noch sein Schwert in der Hand drehte und es mit einem Ausdruck entschlossener Grimmigkeit betrachtete.
"Der Zeitpunkt hätte nicht besser sein können", sprach Galdior.
"Das kannst du laut sagen, jetzt bist du der einzige, der seine Fähigkeit noch nicht entdeckt hat." Ein schadenfrohes Grinsen verzog Bolmars Gesicht. "Du hast ja schon immer ein bisschen länger gebraucht."
"Witzbold, komm wir gehen den Hügel räumen."
Eine Weile waren sie damit beschäftigt, alle Leichen auf die übriggebliebenen Pferde zu binden. Sie führten die Pferde in den Wald, von dort aus würden sie nach Hause reiten. Dort würden dann die Räuber ihre toten Kameraden selber bestatten können.
Sie nahmen die Blachen wieder hinunter und verstauten sie, ebenso wie die Schilde. Es war ein Wunder, dass keiner verletzt war. Irgendwie hatten sie den Angriff alle lebend überstanden.
Schließlich rief Randar sie ins Haus und sie setzten sich an den Tisch. Randar ergriff das Wort: "Ich glaube, die Zeit ist gekommen. Ich weiß nicht wie lange ihr hier noch sicher seid. Irgendwann wird es den Räubern gelingen uns zu überwinden. Seit knapp einem Jahr seid ihr nun hier und ich habe euch alles beigebracht, was ich weiß. Nun, liegt es bei euch. Was meint ihr?"
Die vier Freunde sahen sich an. Dann meldete sich Galdior: "Aber allein gegen die Räuber haben du und Lira keine Chance ..."
Randar schüttelte den Kopf: "Die Räuber sind nicht hinter mir her. Als ihr ihnen an dem Tag, als ihr hier ankamt, entkommen seid, waren sie in ihrem Stolz verletzt und darum greifen sie nun dauernd an. Sobald ihr weg seid, werden sie diesen Hügel nicht mehr behelligen."
Tinira schüttelte den Kopf: "Aber ... aber ... das kommt so plötzlich und was ist mit Reba?" Reba betrachtete still die Holzplatte. Randar sah sie an: "Ihr seid nicht die einzigen, die Weissagungen bekommen habt. Als Reba geboren wurde, hatte man mir gesagt, dass sie diejenige wäre, die unser Volk rächen würde. Darum wird sie mit euch gehen. Um ihr Schicksal zu erfüllen."
Sie schwiegen. Randar fuhr fort: "Ihr werdet morgen aufbrechen. Keine Widerrede. Nun geht zu Bett, denn euch erwartet ein langer Tag."
Er stand auf und lief aus dem Haus. Reba seufzte leise, als ginge ihr die Entscheidung ihres Vaters gänzlich gegen den Strich und lief ebenfalls weg, in ihr Zimmer.
"Ich hatte gefürchtet, dass es kommen würde, aber nicht so schnell", sagte Bolmar. Galdior nickte. Er stand auch auf und stapfte die Treppe hinauf. Die beiden anderen folgten ihm.
Scheppernde Geräusche weckten Tinira auf. Sie hockte auf und sah, dass Galdior auch bereits wach war.
"Was passiert da unten?", fragte Tinira schläfrig. Galdior zuckte mit den Schultern. Er schüttelte Bolmar. Dieser drehte sich um und murmelte etwas Unverständliches.
Dann hörte man wie irgend ein Ding, welches unglaublich massig zu sein schien, auf den Boden geworfen wurde. Bolmar schrak unter einem Schwall von Schimpfwörtern auf.
Er runzelte die Stirn. "Macht Randar gerade Frühlingsputz, oder was?", reklamierte er.
"Am Tag unserer Abreise, wohl kaum ... Wir finden es allerdings nicht raus, wenn wir hier bleiben. Gehen wir nachsehen." Sie machten ihr Bett, zogen sich an und stiegen die Treppen nach unten.
Wäre Randar tatsächlich mit dem Frühlingsputz beschäftigt gewesen, wären sie wohl weniger überrascht gewesen, als das was sich nun vor ihnen ausbreitete.
Da lagen vier ganze Rüstungen auf dem Boden ausgebreitet. Es war alles vorhanden, Brust- und Rückenpanzer, Kettenhemd, Helm, Bein- und Armschoner und sogar ein Umhang. Eine Rüstung war ganz schwarz, sie sah aus als wären einfach schwarze Platten über einander gelegt worden. Alles war schwarz außer einem kleinem, weißen Kristall an der Stirnplatte des Helms. Die Rüstung musste wirklich massiv sein, denn die Platten wirkten schwer und auf eine Art unzerstörbar.
Daneben lag eine leichter aussehende Rüstung, die Farbe war nicht wirklich zu definieren, sie schien auf den ersten Blick beige, doch wenn man den Blickwinkel wechselte, schien sie dunkelbraun. Ein Armschoner war dicker und größer als der andere. Der Helm war hoch und nach oben spitzte er sich zu.
Die dritte war von solch strahlendem Gold, dass, wenn die Sonne darauf schien, man fast nicht hinsehen konnte. Auf dem Brustpanzer war ein brennender Vogel abgebildet. Der Helm hatte sogar die Form eines brennenden Vogels.
Die vierte schien auf den ersten Blick, eine simple, wenn auch gleichwohl sehr schön, graue Rüstung. Doch sah man genauer hin, konnte man kratzähnliche Spuren auf den Oberfläche erkennen, die sich über die ganze Rüstung ausbreiteten.
Kapitel 14
"Was zur Hölle ...", begann Galdior.
"Nichts zur Hölle, das sind eure Rüstungen. Ihr werdet sie brauchen. Zieht sie an, sie passen euch", beendete Randar. Reba war auch schon unter dem Türrahmen erschienen. Sie brachte ihr Mund nicht mehr zu.
Randar hatte mit keinem Wort erwähnt, wem welche Rüstung gehörte, doch jeder schien es zu ahnen. Nach einer halben Stunde standen sie da, alle in voller Rüstung. Randar nickte. Es schien im zu gefallen, was er sah.
"Ein paar kurze Erklärungen, fragt nicht danach, woher ich die Rüstungen habe, akzeptiert sie einfach. Bolmar du hast vielleicht schon erkannt, dass dein linker Arm dicker ist. Er soll als Schild dienen. Galdior, der Kristall auf deinem Helm ist der gleiche wie der an deiner Lanze. Zu den beiden anderen Rüstungen sollte eigentlich alles klar sein. Diese Rüstungen sind von gleicher Art wie eure Waffen. Einmalig. Also lasst sie nirgends liegen und tragt sie soviel es geht. Draußen stehen gesattelte Pferde bereit. Ich habe euch Proviant eingepackt. Los geht's." Die vier Freunde starrten ihn mit offenen Mündern an.
"Wollt ihr Wurzeln schlagen?", fragte Randar gereizt und bevor sie sich richtig bewusst waren, was geschah, saßen sie bereits auf ihren Pferden. Randar drückte jedem die Hand. Bei Reba hielt er an. Er drückte ihr einen langen Kuss auf die Stirn.
Eine einzelne Träne rollte sein hartes Gesicht hinab Sein Innerstes schien vor Schmerz verzerrt zu sein. Auch Reba weinte.
Randar versetzte ihrem Pferd einen Klaps und sie setzten sich in Bewegung. Bevor sie überhaupt wussten, was mit ihnen passierte, liefen sie durch das Dickicht des Waldes. Niemand sagte auch nur ein Wort. Da liefen sie, Reba, Galdior, Bolmar und Tinira. Keiner wusste, wohin sie gingen, keiner wusste was sie machen würden, sobald sie aus dem Wald raus waren, keiner wusste, was ihnen widerfahren würde.
Kapitel 15
Sie hatten den nördlichen Waldrand erreicht. Als sie zwischen den Baumreihen hervorschritten und das Dickicht verliessen, schien ihnen die Sonne warm und freundlich ins Gesicht. Galdior drehte sich zu den anderen um.
"Ich schlage vor, wir gehen nach Norden und fragen uns durch. Was meint ihr?", fragte er.
"Gute Idee, nur ... was fragen wir?", erwiderte Tinira.
Galdior zuckte mit den Schultern und ritt weiter nach Norden. Bolmar seufzte und tat es ihm gleich und auch die beiden Frauen setzten sich in Bewegung.
Schier endlos ritten sie den Weg entlang, obwohl dieser Weg eher ein Trampelpfad war. Er zog sich in einer fast geraden Linie nach Nordosten.
Der Himmel war nur leicht bewölkt und bläulich grau. Rechts und links des Weges erstreckte sich eine schier unendliche Graslandschaft. Weit im Osten konnte man das grosse Gebirge erkennen. Weder ein Baum noch ein Strauch war zu sehen, nur kniehohes, grün-gräuliches Gras, das mit dem Wind wiegte.
Die Monotonie der Farben um sie, versetzte alle in eine Art von Trance. Jede Minute schien eine Ewigkeit zu gehen. Anfangs versuchten sie noch, sich mit Spielen zu unterhalten, doch mit der Zeit ritten sie einfach nur schweigend ihren Weg, der genau so unendlich lang schien, wie die Zeit.
Kurz vor Sonnenuntergang des dritten Tages wurde die Landschaft kahler und der Pfad stieg an und zog sich schlängelnd zwischen bizarr aussehenden Felsformationen hindurch. Bei einem grossen Felsen, welcher aussah, als würde er jeden Moment umstürzen, weil er so schräg war, hielten sie an und schwangen sich aus den Sätteln.
Allen schmerzte der Rücken und ganz besonders das Gesäß. Bolmar konnte nur noch auf der Seite liegen. Sie brauchten lang, um ein Feuer zu machen, denn es hatte nur wenige Sträucher in dem felsigen Gelände und diese gaben nicht gerade viel her.
Doch durch die vielen Dinge, die sie bei Randar gelernt hatten; unter anderem auch wie man mit wenig Holz ein schönes Feuerchen hinkriegt, schafften sie es. Nach einer halben Stunde prasselte ein kleines aber feines Feuer in ihrer Mitte. Den Pferden hatten sie das Zaumzeug, den Sattel und die Taschen abgenommen und ließen sie frei herumlaufen.
Sie zogen die Rüstungen zum grössten Teil aus und legten sie neben sich ins Gras. Reba sah sie einen Augenblick an und schüttelte den Kopf.
"Wo hatte er nur diese Rüstungen her ... sie passen so gut zu uns, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass er sie nicht gemacht hat", murmelte sie.
"Vielleicht hat er sie ja selbst gemacht?", fragte Bolmar.
"Ich kenne meinen Vater. Er kann Schäden beheben und kleinere Dinge selbst schmieden. Aber das ... Die Rüstungen sind massiv und trotzdem leicht, sie sitzen perfekt und sie sind so wunderschön ... Nein, so etwas kann mein Vater garantiert nicht schmieden."
Galdior nickte. "Das würde dann bedeuten, dass er sie von jemandem bekommen hat, oder dass er sie schon lange hatte und wusste, dass wir kommen ..."
Plötzlich fingen alle an durcheinander zu reden, bis Galdior plötzlich mit für ihn ungewohnter aufbrausender Stimme rief: "Still, seid sofort still!"
Die anderen sahen ihn mit offenen Mündern an. Tinira setzte gerade dazu an, ihn anzuschnauzen, was er sich eigentlich erdreiste, so mit ihnen zu reden, da erhob er sich, lief langsam zu seiner Lanze, die an der Felswand lehnte. Er schien aufmerksam zu lauschen. Plötzlich drehte er sich um und lief zu seiner Rüstung, zog sie an, lief zurück zu seiner Lanze, ergriff sie und sprang aus sein Pferd. Er machte sich nicht einmal die Mühe es zu satteln, sondern hielt sich mit der freien Hand einfach an der Mähne fest. Bolmar sah ihn verwirrt an: "Was-?"
Tinira brachte ihn mit einem schnellen Seitenblick zum schweigen.
Galdior preschte ins Tal hinab. Als er die Felsen zum größten Teil hinter sich gelassen hatte, lenkte er das völlig erschreckte Tier einen Bogenschuss weit ins Gras hinein. Er sprang ab und rannte noch einmal ein paar Schritte, bis er anhielt, seine Lanze mit beiden Händen packte und in die Höhe Streckte.
Sofort erfüllte ein Brausen die Luft. Über seinem Kopf sammelten sich dunkle Wolken. Sie schienen aus dem Nichts zu kommen und verdeckten das Sonnenlicht.
Sein Pferd rannte weg, es schien zu begreifen, dass sich etwas Übles zusammen braute. Die Wolken über Galdiors Kopf waren schwarz, nicht grau oder ein helles schwarz, nein, sie waren pechschwarz, und doch hatten sie einen sonderbaren weissen Schein.
Im nächsten Moment begann sich in den Wolken direkt über Galdior ein Trichter zu bilden. Aus dem Trichter zuckten weiße, gezackte Blitze und endeten in Galdiors Lanze. Der Kristall fing an zu leuchten in einem strahlenden Weiss, dass viel heller war als gewöhnliches Weiss, und dennoch eigentlich so gar nicht beschrieben werden konnte.
Plötzlich senkte Galdior die Lanze, deren Spitze leuchtete wie ein nicht ganz so weit entfernter Stern und zielte auf den Boden in einiger Entfernung. Die Lanze schien sich in einem einzigen gewaltigen Strom aus grellen Lichtblitzen zu entladen.
Die Freunde, die die ganze Szene mit ansahen, mussten die Augen zukneifen, um nicht geblendet zu werden. Als sie diese wieder öffneten, war dort, wo vorher noch Gras war und wo Galdior hinzielte ein kreisrunder Krater von etwa zehn Schritten.
Doch die einmalige Vorstellung war noch nicht zu Ende. Galdior reckte die Lanze ein weiteres Mal in die Luft und wieder schien sie sich aufzuladen. Als es fertig war, machte Galdior jedoch keine Anstalten die Lanze zu senken, sondern richtete sich auf und schien Luft zu holen. Es sah aus, als ob er seine Lanze erdrücken wollte, als wollte er rein durch Konzentration seine Waffe auseinander brechen lassen.
Im nächsten Augenblick schien Galdior, oder besser gesagt, seine Lanze zu explodieren. Die Erschütterung war gewaltig. Die grellweiße Druckwelle breite sich mit unglaublicher Geschwindigkeit in alle Richtungen aus. Der Klang war kaum wahrnehmbar, so laut war er und ständig war die Luft von diesen hohen, zwitschernden Tönen erfüllt, die ebenfalls von der Lanze ausgingen.
Die verdrängte Luft, welche der Welle voraus ging, riss Tinira, Bolmar und Reba von den Füßen und schleuderte sie gegen den Felsen.
Kapitel 16
Bolmar schmeckte Blut, als er wieder zu sich kam. Er öffnete die Augen und sein Blick klärte sich, und doch ... stimmte etwas nicht. Das Bild vor seinen Augen stand auf dem Kopf!
Er lag in einem gefährlich seltsamen Winkel auf seinem Kopf und seinen Schultern. Leicht stieß er sich ab und fiel auf die Seite. Zittrig stand er auf ... zu schnell, wie es schien. In einer Sekunde auf die andere saß er wieder. Ihm war schrecklich schwindlig.
Ein weiteres Mal richtete er sich auf, diesmal langsamer. Er schwankte ein paar Schritte und taste an seinem Kopf herum und fand eine Schnittwunde über der linken Schläfe, welche stark blutete und extrem schmerzte.
Es kümmerte ihn jedoch nicht, denn die Sorge um seinen Freunde war alles, was er in diesem Moment an Gefühlen wahrnahm. In der Nähe lagen Reba und Tinira. Neben ihnen sank er auf die Knie und überprüfte ihre Lebensfunktionen. Beide atmeten noch.
Auch sie hatten jegliche Prellungen und kleinere Wunden. Erleichtert seufzte er auf und fing an Tinira zu schütteln. Als alles Schütteln nichts brachte, holte er die Wasserflasche und spritze ihr ins Gesicht. Sie kam prustend zu sich.
"Was ist passiert?", flüsterte sie nach ein paar Sekunden. Bolmar schüttelte den Kopf. "Kümmere dich um Reba. Ich seh nach Galdior", antwortete er, stand auf und drehte sich um. Nach wenigen Sekunden erstarrte er: Galdior lag mitten auf dem Feld und er rührte sich nicht, doch es war nicht die Tatsache, dass Galdior da lag, sondern worin er lag. Um Galdior herum war in einem Kreis von etwa hundert Schritt Radius alles braun oder schwarz; alles verbrannt. Kein Grashalm war mehr zu erkennen. Alle Steine, die nicht weit genug entfernt gewesen waren, waren zu Staub zerfallen. Der Rest war rußig schwarz.
Bolmar löste sich aus seiner Erstarrung und rannte wie vom Blitz getroffen die Anhöhe hinab.
Die verbrannte Erde war steinhart. Er schnaufte und keuchte, als er bei seinem daliegenden Freund ankam.
Vorsichtig dreht er ihn auf die Seite. Galdiors Gesicht war verkrampft. Nach einer kurzen Inspektion des restlichen Körpers sah er, dass alle Muskeln an Galdiors Körper mehr oder weniger verkrampft waren.
Bolmar bettete den Kopf seines Freundes in seinen Schoss und lauschte. Galdior atmete noch, was Bolmar aufseufzen liess und ihn schwer erleichterte.
Dann sah er zu Galdiors Waffe hinüber; sie sah noch genau so aus, wie frisch aus der Schmiede. Nun wusste er, warum Galdior am längsten gebraucht hatte ... Seine Fähigkeiten waren verheerend.
Hinter ihm kam Tinira auf ihrem Pferd. Das Tier hatte eine blutige Schramme über die linke Seite des Halses. Sie legten Galdior auf das Pferd und gingen zurück.
Etwas Feuchtes, Schweres lag auf seiner Stirn, als Galdior die Augen aufmachte. Er wollte sich an die Stirn fassen, doch er war nicht dazu fähig. Seine Kraft reichte kaum einen Finger zu bewegen.
Die Mondsichel prangte über ihm und die Sterne glitzerten, wie ein Meer aus kleine Glasfragmenten, die Licht reflektierten. Keine Wolke trübte das atemberaubend schöne Bild. Ein Duft von Wind, der Blütenstaub mit sich trug, stieg ihm in die Nase. Die Atmosphäre war so unglaublich schön, dass Galdior unweigerlich seufzen musste und seine Schmerzen für einen kurzen, wunderbaren Moment vergaß.
"Bist du wach?"
Galdior drehte, entgegen aller Schmerzen, überrascht seinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. Die Schönheit der Sterne verblasste im Vergleich dazu, was er sah. Rebas Gesicht schien im Mondlicht zu leuchten.
Er wollte ihr etwas sagen, aber er war dazu nicht fähig. Alles was er herausbrachte war ein hohes Krächzen. Reba schüttelte den Kopf: "Nein, sag nichts. Du musst dich schonen, hier trink." Sie hielt ihm den Wasserbeutel an die Lippen und er trank. Er spürte, wie die kühle Flüssigkeit seinen trockenen Hals hinabfloss. Reba nahm den Beutel wieder weg und legte ihn beiseite.
"Was ... was ist passiert?", flüsterte Galdior mit müder Stimme. Ihr Gesichtsausdruck war schwierig zu deuten. Angst mischte sich mit Unglauben und Bewunderung. „Kannst du dich nicht mehr erinnern? Du bist explodiert", antwortete sie mit einem feinen Lächeln.
Er runzelte die Stirn und sah sie an, dann drehte er seinen Kopf und betrachtete wieder die funkelnden Sterne. Die Eindrücke kurz vor seiner Bewusstlosigkeit zuckten durch seine Gedanken, die unglaubliche Kraft in seinen Armen, das Zittern der Lanze, die Gänsehaut und die explosionsartige Entweichung seiner Kraft in einem blendenden Weiß.
Oder war es die Kraft seiner Lanze und seiner Rüstung gewesen?
"Wie lange war ich bewusstlos?", fragte er.
Reba antwortete nicht gleich, sondern legte sich neben ihm auf den Boden, dann sprach sie: "Keine Ahnung", sie deutete mit dem Finger zu einer gewissen Anordnung von Sternen. "Das sind Tandra und Erdaor. Es heißt, dass Tandra, nachdem sie zu unrecht gehängt worden war durch die Liebe Erdaors wiederbelebt worden sei. Ich erzähle dir ihre Geschichte, damit du ein bisschen von den Schmerzen abgelenkt wirst.
Tandra und Erdaor sollen sich innig geliebt haben, seit sie Kinder gewesen waren. Sie hatten nur Augen für sich und kümmerten sich nicht um andere Leute und deren Angelegenheiten. Ihr ganzes Wesen war nur auf die Liebe zwischen ihnen gerichtet, ihre Körper wurden abhängig. Ihre Liebe sei so stark gewesen, dass die Erde zu blühen begann, verdorrte Bäume wieder Frucht brachten, wenn sie Hand in Hand des Weges kamen und wenn sie zusammen im Fluss schwammen, dann spritze und sprudelte das Wasser um sie herum in riesigen Fontänen, als würde es sich über ihr Glück freuen und der Flussgott selbst kam, um zu schauen.
Auch nach vielen Jahren wurde ihre Liebe nicht schwächer, ganz im Gegenteil, sie wurde von Tag zu Tag stärker. Selbst alles Licht sammelte sich bei ihnen, denn Licht geht immer dorthin, wo die Liebe groß ist. So wurden sie immer heller, jeden Tag freute sich das Licht der Sonne, wenn sie aufstanden und wenn sie zu Bett gingen schauten die Sterne durch die Fenster und wachten über ihnen.
Doch wenn sie in die Stadt gingen, wurden die Leute von ihrer Anwesenheit geblendet. Normale Leute konnten ihnen nicht zu nahe kommen, sonst starben sie, da sie eine Liebe fühlen konnten, welche sie nicht ertrugen. Jedoch, dort wo Liebe ist, ist der Hass genau so.
Die Leute waren so voller Neid über Tandras und Erdaors Glück, dass sie Tandra als Hexe abstempelten und als sie alleine am Fluss war, stellten sie ihr einen Hinterhalt. Denn die Zeit, die Tandra am Fluss verbrachte, war die einzige Zeit des Tages, in der sie getrennt von Erdaor war. Ihre Liebe umgab sie so nur noch minder.
Sie wurde in die Stadt geschleppt und ging mit ihren Peinigern, ohne sich zu wehren. Und als sie schon am Galgen hing, war das einzige, was sie zur Menge sagte, dies: „So soll es denn eben sein. Ich werde nicht nachtragend sein.“
Erdaor sei gerade dabei gewesen, dass Essen zu bereiten, als seine Geliebte starb. In dem Moment, wo das Leben aus Tandra wich, zerbrach auch sein Herz, ein Schrei tief aus seinem Innern entwich ihm. Er rannte wie einer, der von Sinnen ist, in die Stadt, wo er seine tote, hängende Frau vorfand.
Als die Leute ihn sahen, flüchteten sie sich in ihre Häuser, da sie seinen Zorn nicht spüren wollten. Doch Erdaor kümmerte sich nicht um die Leute, sondern rannte direkt auf den Galgen zu. Seine Angst gab ihm die Kraft, den Strick um Tandras Hals mit bloßen Händen zu zereißen.
Er hielt sie in seinen Arme, weinte und schrie vor Schmerz und die Natur trauerte mit. Jede Blume welkte, die Bäume sangen Trauerlieder und die Tiere weinten. Erdaors Tränen fielen auf ihr Gesicht und wurden zu Perlen aus purem Gold. Und er küsste sie, ein letztes Mal, wie er dachte, doch als er dies tat, da durchströmte seine unvergängliche Liebe ihren Körper. Ihr toter Körper erzitterte bei seiner Berührung, seine Lebenskraft verteilte sich in ihrem Körper und ihr Herz wurde erquickt.
Als sie nun ihre Augen öffnete, hatte ihre Liebe ein nie gekanntes Mass erreicht. So präsent, unüberwindbar, wie auch unbesiegbar war sie, dass die Naturgewalten aus den Fugen gerieten. Der Boden erbebte und aus dem Boden, welcher mit Steinplatten belegt worden war, wuchsen aller Arten Blumen, wie es sie später nie geben würde und früher nie gegeben hatte, bis zu hundert Schritte in die Luft. Alle Gewässer traten über ihre Ufer, die Winde gingen in neue Richtungen und wirbelten durcheinander. Die Sterne verließen ihre Plätze und die Planeten und Monde wurden aus ihren Laufbahnen gerissen. Damit die Welt nicht vernichtet wurde, wurden die beiden Liebenden entrückt, in eine unbekannte Sphäre, in der ihre Liebe leben und gedeihen durfte. Das einzige, was noch an sie erinnert, sind die Sterne, die sich um ihrer Gedenken Willen, zu einem Ebenbild der Liebenden geformt haben.“
Kapitel 17
Ein paar Sekunden blieben sie einfach ruhig. Nachdem Reba gesprochen hatte, schienen die Sternen noch mehr zu glimmen und zu glitzern. Ihre Worte hatten ihm gut getan.
Reba hatte die Geschichte so bildlich formuliert, dass Galdior die Tränen kamen.
"Die Geschichte hat mir meine Mutter erzählt, wenn ich nicht schlafen konnte. Zugegeben, sie ist ein wenig kitschig, doch ich bin dann immer sofort eingeschlafen", flüsterte Reba.
Wieder war es einige Momente still, bis eine gigantische Sternschnuppe am Zenit erschien. Reba jauchzte: "Wir dürfen uns etwas wünschen!"
Für einen kurzen Augenblick schlossen beide ihre Augen und wünschten sich etwas. Dann drehte sich Galdior auf die Seite und sah Reba an. Sie tat das selbe. Nun lagen sie da und schauten sich gegenseitig in die Augen. Galdior wusste später nicht mehr wie lange sie dagelegen hatten und sich ihre persönlichen Wünsche und Träume aus den Augen gelesen hatten. Nach einer Ewigkeit, wie es schien seufzte Galdior und drehte sich um. Wiederum betrachtete er die leuchtenden Sterne. "Reba, ich wol-", setzte er an, wurde jedoch von ihrem sanften Atmen unterbrochen. Er lächelte. Sie war eingeschlafen.
Galdior seinerseits hatte nicht viel Schlaf gefunden. Als der erste Streifen Gold über den Bergkuppen erschien, war er bereits emsig dabei das Frühstück zu machen, obwohl er immer noch von Schmerzen geplagt wurde. Als er fertig war, weckte er die anderen. Er hatte das Gefühl, dass sie heute früh los mussten, warum wusste er selber nicht genau. Tinira gähnte: "Geht es dir wieder besser?"
Galdior nickte. Während dem Essen sagte Bolmar: "Galdior, uns fehlt ein Pferd. Das heißt, zwei von uns müssen sich eines teilen." Galdior runzelte die Stirn. "Wieso fehlt uns ein Pferd?", fragte er.
"Es ist davon gerannt, als du explodiert bist. Übrigens, hast du dir die Verwüstung schon angesehen, die du angerichtet hast?", sagte Bolmar. Galdior verneinte. Nach dem Essen gingen Galdior und Bolmar die Anhöhe hinunter. Galdior konnte nicht glauben was er sah.
Diese Zerstörung hatte er angerichtet? Das durfte nicht wahr sein. Er erschauderte.
"Das ist ... Gehen wir wieder zurück", sprach er. Bolmar nickte und belegte seinen Freund mit einem kaum definierbaren Blick.
Zehn Minuten später waren sie wieder alle unterwegs und ritten die felsige Anhöhe bergan. Der Hügel stellte sich als weniger groß heraus, als sie bis zu diesem Augenblick gedacht hatten. Bald ritten sie wieder in ein Tal hinab, über eine kleine Brücke, die über einen sprudelnden Bach führte und auf der anderen Seite wieder hinauf. Das wiederholte sich mehrere Male, bis sie endlich wieder flaches Gelände unter den Füßen hatten.
Als die Sonne bereits tief am Horizont weilte, ritten sie durch ein kleines Wäldchen. Um sie herum pfiffen die Vögel ihre Lieder. Mitten in diesem „ländlichen Frieden“, wie es Bolmar ausdrückte, wollten sie gerade absitzen und etwas essen, als sie von weit her Kampfgeräusch vernahmen.
Ein paar Sekunden herrschte Stille und alle horchten. Langsam ritten sie wieder los und auf die Geräuschquelle zu. Das Bild, das ich ihnen bot, als sie aus dem Wald heraustraten, war schrecklich. Zwei Kutschen standen in mitten von einem Berg aus Leichen. Die Verteidiger, in grün gekleidet, schien nicht mehr all zu lange standhalten zu können. Die Angreifer waren in der Überzahl.
Diese sahen barbarisch aus, jedoch nicht menschlich. Im Durchschnitt waren sie etwa sieben Ellen groß, breit gebaut und hatten Arme, die ihnen fast bis zu den Knien reichte. Sie hatten grobschlächtige, schartige Schwerter und Rüstungen, welche die Bezeichnung fast nicht verdienten. Es waren einfache, übereinander gelegte Metallplatten.
Galdior schrie, um den Schlachtlärm zu übertönen, zu seinen Freunden: „Sollen wir eingreifen? Gegen wen?“
Seine Frage wurde ziemlich rasch beantwortet. Vor ihm lag einer der Verteidiger, dessen linkes Bein unter der Hüfte abgetrennt worden war, der jedoch noch lebte, auch wenn nicht mehr lange.
Galdior musste sich anstrengen, um ihn verstehen zu können. Er sagte: „Helft uns! In einer der Kutschen ist unser König. Helft uns, wenn ihr für Gerechtigkeit kämpft!“
Tinira musste nicht mehr wissen und sprang vom Pferd - sie hatte es sich mit Bolmar geteilt - lief zu einem Baum und kletterte hinauf.
Die drei anderen ritten auf die kleine Schlacht zu und griffen die Riesen von hinten an. Bevor sie ganz dort waren, hatten bereits drei der Giganten einen Pfeil im Hals.
Galdior brüllte, schwang seine Lanze und stieß sie dem Erstbesten zwischen die Schulterblätter. Rebas Arme verschwanden, man sah nur die toten Riesen, die sie hinterließ. Auf der anderen Seite der Kutschen war ein Verteidiger stark in Bedrängnis gekommen. Er schien jemanden mit seinem Leben zu beschützen.
Bolmar ritt um die Kutschen herum und half ihm. Erst jetzt schienen die Riesen ihre Anwesenheit bemerkt zu haben und sie wehrten sich wie sie nur konnten. Bolmar kämpfte gerade gegen einen dieser Riesen und wollte ihm den Todesstoß versetzen, als ein anderer Hüne, der einen ebenfalls hünenhaften Morgenstern schwang, von hinten auf ihn zu kam.
Der Aufprall der Waffe auf Bolmars Rüstung, war heftig. Bolmar wurde aus dem Sattel geschleudert und gegen die Kutschenwand geworfen.
Jede andere Rüstung wäre zerschmettert gewesen, so nicht aber die Bolmars. Nur ein paar leichte Kratzer waren zu sehen. Diese Tatsache schien den Hünen nicht zu stören, er trat auf Bolmar zu und wollte im gerade den Schädel einschlagen, als man eine Sehne sirren hörte und der Riese sogleich einen Pfeil im Hals hatte. Er sackte zusammen und Bolmar wäre unter ihm begraben worden, hätte er sich nicht rechtzeitig zur Seite gerollt. Sogleich stand er auf und kämpfte erbittert weiter.
Galdior und Reba standen Rücken an Rücken und erschlugen so viele, dass sich um sie herum die Leichen türmten. Galdior rammte einem seine Lanze in den Bauch, wollte sie wieder herausziehen und sich dem nächsten zuwenden, der eine seltsame Feder unter dem Helm geklemmt hatte und sich von rechts genähert hatte.
Doch der Riese mit der Lanze im Bauch lachte heiser und bösartig und hielt die Lanze mit beiden Händen fest, sodass Galdior keine Chance hatte sie hinauszuziehen. Er geriet in Panik. Von rechts kam der andere mit der Feder immer näher.
Galdior wusste, dass Tinira ihm keinen Schutz bieten konnte, da er genau in ihrer Schusslinie stand. In einer panischen Attacke ließ er die Lanze los und rannte dem sich nähernden Hünen mit der Feder entgegen. Dieser schien dieses Manöver überhaupt nicht erwartet zu haben. Galdior spürte wie die Luft aus dem Körper des Riesen entwich, als er ihn mit der Schulter genau in den Magen traf.
Der Getroffene stand einen Moment gekrümmt da, vergeblich nach Luft ringend. Galdior holte weit aus und schlug mit aller Kraft in das Gesicht des Giganten. Dieser verzog nicht eine Miene, obwohl Galdiors Handschuh gepanzert war, sondern wurde richtig wütend.
Er lachte Galdior boshaft an. Ihm lief Blut aus dem Mund, trotzdem erhob er sein Schwert, das mehr nach einem einfach Stück Eisen aussah, als nach einem richtigen Schwert und schlug zu. Galdior reagierte blitzschnell, er duckte sich und wich dem Hieb nur um haaresbreite aus.
Der Hüne wurde durch die eigene Wucht seines Schlages und des Gewichts seines monströsen Schwertes nach vorne geworfen.
Galdior nutzte die Gunst der Gelegenheit und kickte dem Riesen sein gepanzertes Schienbein in die Kniekehle. Das wirkte, denn dieser sackte zusammen, ließ jedoch ein weiteres wütendes Knurren hören.
Galdior sprang auf seinen Rücken und umschlang seinen Hals mit seinem Arm. Er versuchte in zu würgen, doch dass schien den Riesen genau so wenig zu beeindrucken, wie der Faustschlag von vorhin. Er bekam Galdior bei den Schulterblättern zu fassen und schleuderte ihn vor sich auf den Boden. Galdior dachte schon, sein letztes Stündchen hätte geschlagen, als der Hüne über ihm stand, das Schwert mit beiden Händen umklammert und kurz davor zuzustossen, doch so weit kam es nie. Reba sprang dazwischen und trieb dem Riesen einer ihrer Stachel in den ungeschützten Hals. Das Opfer fiel nach hinten. Galdior atmete erleichtert auf. Der Kampf war vorüber.
Kapitel 18
Die vier Freunde verneigten sich tief.
Der Mann vor ihnen strahlte solch eine Würde aus, dass man ihnen nicht zu sagen brauchte, dass er ein König war. Er trug eine silberne Rüstung und einen azurblauen Mantel, der seine leuchtenden, weisen Augen unterstrich.
Während des Kampfes war er bei seiner Frau in der Kutsche geblieben. Nichts lieber hätte er getan, als sich im fairen offenen Kampf zu verteidigen, jedoch hatte seine Frau verlangt, dass er bei ihr blieb.
Dieser türmte sich nun vor ihnen auf und sagte: "Kinder, Kinder steht auf! Ihr habt mir und meiner Gemahlin das Leben gerettet, ich weiß nicht, wie ich Euch das danken soll", sprach der König. "Ich bin König Rammud von Sagra. Meine Stadt liegt hinter den Hügeln westlich von hier. Ich würde mich sehr geehrt fühlen, wenn ihr meine Gäste wärt ... und ich akzeptiere kein Nein."
Galdior sah ihn mit offenem Mund an. Ein König bat sie seine Gäste zu sein?
Dem König war sein offener Mund keines Falls entgangen und mit einem müden Lächeln sagte er: "Nun, wenn ihr nicht wollt ..."
Galdior setzte sofort an: "Aber ... aber ... natür-" Tinira versetzte ihm einen derben Stoß in die Seite. Galdior führte sich – das hatte er schon früher bewiesen – in Gegenwart von hohen Persönlichkeiten immer sehr unfähig auf. Und Tinira, die bei allen und jedem immer einen möglichst guten Eindruck hinterlassen wollte, hasste diese Tatsache.
"Natürlich, nehmen wir Eure Einladung an Majestät. Wir fühlen uns zutiefst geehrt", sprach sie zum König. Dieser nickte amüsiert.
Er gab rasche Befehle an seine Männer, die Verwundeten und die Leichen auf die Pferde zu legen und mitzunehmen. Unter grosser Anstrengung wurden die Wagen wieder auf die Räder gestellt und in Betrieb genommen. Nur eine kurze Zeit später ritt Galdior neben dem Wagen des Königs und sprach mit ihm.
"Wir waren gerade auf Reisen, um Staatsgeschäfte abzuschließen, als ich Meldung bekam, dass die Uklugs unsere Grenzen gestürmt hätten, im Land umherstreiften und Leute angriffen. Wir machten uns sofort auf den Weg und hier kurz vor unserem Ziel lauerte eine Gruppe von diesen Kreaturen uns auf und überfiel uns. Wärt ihr nicht gekommen ...", sprach der König.
"Wer sind diese Uklugs, mein König und wieso lebt Ihr in Streit mit ihnen?", fragte Galdior, dessen überschwängliche Ehrfurcht einem gesunden Respekt gewichen war.
"Die Uklugs sind ein barbarisches Volk, wie es im Buche steht. Der Streit zwischen uns besteht, seid es unsere Völker gibt. Wir wissen nicht einmal mehr den Grund, warum wir kämpfen. Bis vor kurzem, waren wir ihnen überlegen, da sie über kein taktisches Geschick verfügten und nur mit ihrer Stärke kämpften.
Doch nun haben sie einen Führer und der Junge ist nicht dumm. Er krempelte das ganze Heer um, baute Schmieden, bildete Offiziere aus, mobilisierte das ganze Heer. Nun sind sie uns nicht nur in ihrer Anzahl und Stärke überlegen, sondern sind auch noch organisiert, wenn auch bei weitem nicht so gut wie unser Heer."
Der König seufzte. Ein Krieger holte zur Kutsche auf und sagte: "Mein König, wir sind gleich da, noch ein Hügel." Der König nickte: "Reite voraus und melde unsere Ankunft. Es sollen vier zusätzlich Zimmer bereit gemacht werden."
Der Reiter preschte los und verschwand hinter dem nächsten Hügel. Der König lächelte Galdior an. "Woher kommt ihr?", fragte er.
"Drei von uns kommen aus der Stadt Andophù im Süden und sie mit der grauen Rüstung kommt aus dem großen Wald im Süden", antwortete Galdior.
"Und was hat euch dazu bewegt auf Reisen zu gehen?"
Galdior starrte gerade aus. Wieder lief die Szene, vor seinem geistigen Auge ab, wie Kolonne um Kolonne der Leute aus der Stadt geschleppt werden.
Er schluckte. "Die Stadt wurde angegriffen, wir befanden uns zu diesem Zeitpunkt nicht der Stadt. Darum geschah uns nichts", sagte er.
Der König sah ihn eine Weile mit einem mitleidigem Gesicht an. Obwohl er viel aus dem, was Galdior eben gesagt hatte, nur erahnen konnte, schien er zu verstehen, was geschehen war. "Es tut mir Leid, das zu hören. Und doch werden wir später auf dieses Thema zurückkommen müssen. Unter Umständen betrifft es auch mein Volk."
Galdior wollte gerade etwas anfügen, als sie hinter dem letzten Hügel hervorkamen und er die Stadt sah.
Er hatte das Meer noch nie gesehen, geschweige denn eine Stadt auf dem Meer. Die Stadt lag auf einer Insel, auf einer Meerzunge, welche sich bis tief ins Land hineinzog. Soweit Galdior sah, gab es drei Brücken die zur Stadt führten.
Doch das, was dem ganzen Bild ein solch bizarres Aussehen gab und Galdior veranlasste mehrmals hinzuschauen, war die Farbe der Stadt. Anfangs zog er noch die Möglichkeit in Betracht, dass das ganze nur auf Grund der Abendsonne so aussah, verwarf jedoch diesen Gedanken ziemlich schnell.
Es musste der Stein sein, woraus ein Grossteil der Stadt und die Mauer gemacht war, der so blutrot leuchtete und die Stadt aussehen liess, als ob jemand einen Bottich mit Blut über ihr ausgeleert hätte.
Weiter befand sich die Stadtmauer nicht etwa auf der Insel, sondern auf dem Land. Die Mauer grenzte die ganze Spitze der Meereszunge ein. Außerhalb der Mauer lagen viele Felder, die durch eine gewaltige Anzahl an Bächen bewässert wurden. Und auf den Feldern waren Bauern, die gerade dabei waren, ihre Ernte zusammenzupacken, um danach in die Stadt zu gehen.
Als sie die königlichen Kutschen sahen, rannten viele von ihnen und die Kinder, die den Nachmittag damit zugebracht hatten auf den Feldern zu spielen, ihnen entgegen, blieben jedoch stehen, als sie sahen, in welcher Verfassung sich der Trupp befand.
Sie sahen verstört zu ihnen hoch, als der Trupp an den Leuten vorbei zog. Man hörte nur selten ein, „Lang lebe, König Rammud“, oder etwas in der Art.
Die Mauer sah von nahe noch viel gewaltiger aus. Sie war ganz aus dem roten Stein und sie musste mindestens zehn Schritte hoch sein.
Die Wehrgänge wurden durch monströse Zinnen geschmückt. Auf dem Tor war eine Flagge aufgehängt worden. Das Fallgitter war noch oben, sodass sie ohne Probleme passieren konnten.
Auf den Mauern patrouillierten Bogenschützen mit hohen Helmen und riesigen Langbögen. Ihre grünlichen Rüstungen hoben sich von den roten Mauern gut ab.
Das, was zuerst wie eine Brücke ausgesehen hatte, war in Wirklichkeit ein Tunnel. Rechts und links maßen die roten Mauern knapp fünf Schritt in die Höhe.
Nur das halbrunde Dach bestand nicht aus dem roten Stein, sondern aus gefärbten Glasfragmenten. Die Abendsonne schien in tausend verschiedenen Farben auf die roten Wände. Hinter der Tunnelbrücke stand noch ein Tor, das wie das erste offen stand. Die vier Freunde trauten ihren Augen nicht, als sie in die Stadt hineintraten.
Für einen kurzen Moment verschwammen die Formen und Umrisse vor ihren Augen. Die Explosion von allerlei knalligen Farben, die sich ihnen öffnete, überlastete ihre so oder so schon müden Augen.
In dieser Stadt war der Begriff „farbig“ anders definiert. Etwas nicht farbiges gab es in den Gassen und Strassen von Sagra nicht. Alles war farbig, die Kleider der Leute, die Märkte, gewisse Hauswände, einfach alles, was nicht gerade aus dem roten Stein gemacht war, und sogar der war zum Teil mit anderer Farbe bedeckt. So viele Farben, und dazu auch noch solch leuchtende, hatte niemand von ihnen je gesehen.
Ihnen wurde beinahe schwindelig.
Während sie durch die Strassen ritten sogen die vier Freunde die Kultur Sagras in sich auf, wie trockene Schwämme Wasser aufsaugen; die alten Männer, die Pfeife rauchend und Tee trinkend zusammensassen, dem König kurz zu nickten und sich dann wieder ihren scheinbar tiefsinnigen Gesprächen zu wandten, Kinder, die schreiend Fangen spielten und von ihren Müttern, welche sich weit zum Fenster herauslehnten, zum Essen gerufen wurden.
Der Palast des Königs war schon von weitem gut sichtbar. Er war nicht nur das höchste Gebäude und am höchsten gelegen, sondern auch das einzige, welches weder farbig war noch aus dem roten Stein bestand. Es war aus festem, weißem Marmor.
Kapitel 19
Vor dem Palast wurden den vier Freunden die Pferde abgenommen und als ihnen der König anbot noch eine Weile mit ihm zusammenzusitzen, und Tee zu trinken, verneinten sie alle einstimmig. Sie sagten, dass seien müde und wollten gleich ins Bett.
Der König führte sie durch den Palast und zeigte ihnen in einem kurzen Rundgang das Innere des Anwesens. Es hatte viele Pflanzen, da waren auch allerlei Atrien und Brunnen.
Man sah selten irgendwelche Diener und diese hielten sich immer dezent zurück, waren jedoch immer bereit auf einen Wink des Königs zur Stelle zu sein.
Während sie staunend alles betrachteten, hallten ihre beschlagenen Stiefel durch den Marmorboden im ganzen Haus.
Ihre Gemächer waren bezaubernd, wenn auch im Vergleich zum restlichen Palast kleinlich. In jedem Zimmer stand ein hohes, bequemes und vor allem großes Bett, der Boden war mit einem flauschigen Teppich ausgelegt. An jedes Zimmer grenzte ein Waschraum, in welchem eine Wanne und Kannen mit heißem und kaltem Wasser bereit standen.
Ihre Zimmer lagen ganz oben im Palast auf der Westseite, wodurch sie alle eine wunderschöne Aussicht auf das Meer hatten. Auch hier waren, jedes Zimmer, jeder Teppich sowie Bett und die Fliesen im Waschraum, nicht farbig, sondern strahlte, wie der ganze Palast, in einem reinlichem weiss.
Tinira zog ihre Ausrüstung aus und fand eine schönes, seidenes Nachthemd auf ihrem Bett vor. Ihr Unterkleid, das sie normalerweise unter der Rüstung trug, zog sie aus und streifte sich das Nachthemd über.
Sie stand ans große Fenster und sah der sinkenden Sonne hinterher. Als diese völlig untergegangen war, schaute sie die nähere Umgebung des Palastes im Lichte der Fackeln und Öllampen, die nun nach und nach angezündet wurden, genauer an.
Auf der Rückseite hatte man einen Park anlegen lassen, in dessen Mitte ein riesiger Springbrunnen stand. Der Weg, der durch den Park führte war mit roten Mosaikplatten ausgelegt, was gut zu den grünen Hecken passte. Direkt hinter dem Park hatte es keine Häuser mehr, es führte nur ein schmaler Weg zu einem großen Hafen hinunter. Auf beiden Seiten des Weges endete die Rückseite der Insel in Klippen, was ein Angriff mit Schiffen völlig unmöglich machte. Tinira fragte sich eine Zeit lang, wie dann der schmale Weg zum Hafen entstanden sein könnte, bis etwas anderes ihre gesamte Aufmerksamkeit forderte.
Ein wenig vom Hafen entfernt schien etwas im Meer zu treiben. Da nur noch spärlich Licht vorhanden war, musste sie sich sehr anstrengen, um etwas zu erkennen.
Sie zuckte mit den Schulten und war gerade im Begriff sich umzudrehen und zu Bett zu gehen, als sie erkannte, dass auf diesem treibenden Ding kleine, leuchtende und flackernde Punkte erschienen. Konnte es sein, dass es Fackeln waren?
Sie sah noch genauer hin, als sie bemerkte, dass immer eine nach der andere ausgehen zu schien und dann wieder zu leuchten begann. Konnte es sein, dass auf dem Meer eine Mauer erbaut wurde? Und wofür eine Mauer, wenn doch die Klippen schon zu Genüge schützten?
"Ich denke, dass die Insel früher größer war und ein Teil davon abgebrochen ist." Tinira zuckte erschrocken zusammen. Sie fuhr herum, Galdior stand nur einen Schritt hinter ihr.
"Was fällt dir ein, mich so zu erschrecken?", zischte Tinira, immer noch zitternd vor Schreck.
Galdior antwortete: "Tut mir Leid, aber die Türe war noch offen und ich wollte eigentlich nur fragen, ob du morgen in der Frühe auch auf die Klippen üben kommst und um danach mit dem König im Park zu frühstücken."
"Ja, ich komme. Aber wo ist dieser abgebrochene Teil, wenn es stimmt was du sagst? An der Mauer vorbei kommt so eine Masse nicht so einfach und sie werden ihn auch unmöglich herausgezogen haben."
"Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung. Am besten wir fragen den König beim Frühstück. Ich für meinen Teil gehe jetzt schlafen. Gute Nacht", sagte Galdior und lief aus dem Zimmer, die Türe leise hinter sich schließend. Tinira schwieg und sah noch ein Weilchen zur Mauer, dann legte sie sich schlafen.
Angenehm warme Sonnenstrahlen kitzelten ihre Nase, als sie gähnend erwachte. Einige Momente noch genoss sie das bequeme Bett, die Ruhe und einfach die Tatsache des langsamen Erwachens.
Sie drehte ihren Kopf und öffnete die Auge, kniff sie aber gleich wieder zu, da die Sonne ihr genau ins Gesicht schien. Voller Elan schwang sie ihre Beine aus dem Bett, rieb sich die Augen und stand auf.
Wie jeden Morgen räkelte sie sich und knackte ihre Halswirbel durch. Die Sonne war erst gerade aufgegangen, also konnte es noch nicht später als halb sieben sein. Nun, bei Tageslicht sah sie ihren Verdacht bestätigt, es war wirklich eine Mauer, und was für ein Prachtstück. Ebendiese war auch aus dem roten Stein und zog sich in einem leichten Bogen durch die ganze Meerenge.
Tinira ging in den Waschraum und wusch sich, dann legte sie die Rüstung an. Sie wollte gerade aus der Tür, als es klopfte; Bolmar – ebenfalls in voller Montur – stand vor der Tür. Die beiden grüßten sich und gingen, dann so leise wie möglich, dass sie auch ja niemanden weckten, aus dem Haus und in den Park.
Die Luft war erfüllt vom Zwitschern der Vögel und dem Plätschern des Springbrunnens. Es war ein allgemein schöner Anblick, wie der Tau auf den Büschen klebte und in der Morgensonne glitzerte.
Die Luft war so frisch, dass man die Reinheit fast spüren konnte. Nach all den Strapazen der vergangenen Tage, schien ihnen dieser friedliche Park wie eine Oase des ewigen Friedens aus dem sie nie wieder weg wollten. Sie liefen bis ans Ende des Parks, als Bolmar plötzlich anhielt und den Zeigefinger an die Lippen presste. Stimmen drangen zu ihnen hinüber. Tinira reckte ihr Kopf hinter der Hecke hervor und runzelte die Stirn.
Galdior und Reba saßen nebeneinander an der Klippen; sie lachten laut. Tinira gab Bolmar ein Zeichen und sie gingen langsam auf die beiden zu.
Bolmar sagte: "Guten Morgen, ihr beiden. Gut geschlafen?"
Er und Tinira setzten sich neben die anderen und sahen auf das ruhige Meer, welches glitzerte und funkelte in den Strahlen der Morgensonne, hinaus. Sie verbrachten einige Momente in Schweigen und genossen im Stillen die Schönheit des weiten Meeres, das sich in weiter Ferne leicht krümmte, bis Galdior in die Hände klatschte und laut sagte: "Fangen wir lieber an, sonst schlafen wir hier noch ein."
Als sie noch bei Randar gewohnt hatten, hatten sie sich einen Trainingsplan gemacht, den sie nun durchzogen: Zuerst: Ausdauer und Muskelaufbau, dann Nahkampf ohne Waffen, dann der Kampf mit Waffen und schließlich Training der Fähigkeiten.
Nach fast einer Stunde und einer halben schwitzten sie unter ihren Rüstungen, die sie zuerst abgezogen und nach dem Nahkampf Training wieder angezogen hatten, wie im Hochsommer. Als sie nun beim Fähigkeiten Training angekommen waren, sagte Galdior schnaufend zu den anderen: "Mir ist letztens eine Idee gekommen. Habt ihr euch schon mal gefragt, ob wir unsere Fähigkeiten irgendwie ... formen können?"
"Wie meinst du das?", fragte Tinira.
"Na, zum Beispiel Reba, du kämpfst manchmal fast rasend und du beherrschst den Wind. Glaubst du nicht, dass das irgendwie zusammenhängt? Ich denke, du könntest vielleicht mal versuchen durch den Wind schneller zu rennen."
Reba sah ihn mit gerunzelter Stirn an. "Ich muss aber zuerst ein bisschen warm werden. Ich finde das Meer so wie so zu ruhig", murmelte sie.
Sie lief sehr nah an die Klippe und hob ihre Stachel. Ein paar ruckartige Bewegungen folgten, die das ganze friedliche Szenario schlagartig änderten.
Der Wind fing an den Klippen zu reiben und erzeugte seltsame Töne. Weit unten sah man wie das Wasser anfing sich zu bewegen.
Durch das Getöse hörte Reba Galdior rufen, sie solle versuchen ein Wirbelsturm zu erzeugen. Zuerst gelang es ihr nicht richtig, doch als sie ihre Waffen in die richtigen Richtungen schwang, erhob sich langsam ein kleiner Wirbelsturm. Ziemlich schnell bemerkte sie, dass er aus den Fugen zu geraten schien, brach die Übung ab und ließ ihre Stachel sinken.
So plötzlich wie er gekommen war, legte sich der Wind wieder und die Wellen wurden ruhiger.
Galdior nickte, als sie sich umdrehte: "Genau so hab ich mir das vorgestellt. Jetzt will ich mal probieren.“
Dunkle Wolken sammelten sich über ihnen und der Stadt. Galdior hob die Lanze in die Luft und wieder zuckten Blitze hinab, diesmal jedoch weniger und in kontrollierbarem Masse. Er schien sie auch nicht gleich wieder loszuwerden, sondern sammelte sie in der Lanze. Gleich darauf schien die Spitze zu glühen und zu wachsen.
Galdior rannte zu einem nahen Stein und hieb ihn ohne große Mühe in einem Streich in zwei Teile. Er nickte und lief zu den anderen zurück, die ihn alle ziemlich erstaunt ansahen.
Tinira schien ein Licht aufgegangen zu sein, denn sie sagte, dass ihr gerade was eingefallen sei.
Sie lief zur Klippe und spannte ihren Bogen. Der Pfeil flog in einem hohen Bogen durch die Luft. Der Pfeil entbrannte und wuchs zu einem kreischenden Feuervogel, ... der sich gleich darauf teilte.
Plötzlich waren es zwei Feuervögel aus einem Pfeil, doch das war noch nicht alles. Die zwei Feuervögel teilten sich wiederum und dann waren es schon vier, dann acht.
Nun schien Tinira aber Schwierigkeiten zu haben, ihre Vögel unter Kontrolle zu halten. Einer schwenkte, schien sich selbständig zu machen und flog auf die drei anderen Freunde zu.
Tinira bemerkte es zu spät, der Vogel war nur noch ein wenig von den anderen entfernt. Sie waren wie fest gewurzelt und die Haut von Bolmar begann bereits Blasen zu werfen von der Hitze des Vogels, doch genau diese Schmerzen holten ihn in die Wirklichkeit zurück. Gleich darauf befanden sich Galdior, Reba und Bolmar im Schatten.
Vor ihnen türmte eine zehn Schritt hohe Mauer aus Erde und Stein. Bolmar sass auf seinen Knien, das Schwert in den Boden gerammt.
Kapitel 20
Tinira kam um den Erdwall herumgerannt und fragte geschockt, ob es den anderen gut ginge. Sie nickten.
Bolmar war gerade dabei das Schwert wieder aus der Erde zu ziehen, als Reba sagte: "Warte noch kurz, Bolmar! Ich will etwas versuchen." Sie nickte ihm zu. "Danke übrigens!"
Bolmar schwieg, ließ das Schwert stecken und zog seinen Helm ab. Seine Haut hatte einen ungesunden rötlichen Farbstich.
Reba rannte zur Mauer und sprang. Zuerst sah es aus als würde sie einfach gegen die Mauer klatschen, doch dann machte sie eine plötzliche Bewegung mit ihren Stachel nach unten, Wind sammelte sich unter ihren Füßen und katapultierte sie direkt auf die Mauer. Einige Momente wankte sie auf der Mauer, konnte sich dann aber stabilisieren.
Galdior rief hinauf: "Und wie kommst du jetzt wieder runter?" Sie deutete ein Zucken mit den Schultern an.
"Lasst mich das regeln!", rief Bolmar. Ein Getöse brach los, als sich die Mauer wieder ins Erdinnere zurück zog. Als sie wieder alle beieinander standen, fragte Galdior was sie nun machen sollten.
"Mir vielleicht erklären, wo ihr das gelernt habt?" Ein fremder Mann schritt würdevoll auf sie zu und durchbohrte sie förmlich mit seinen Blicken.
Sie wussten nicht, wie lange er schon dort gestanden hatte und ihnen zugeschaut hatte. Die Freunde tauschten ein paar Blicke aus, dann nickte Tinira.
"Ich wüsste wirklich nicht, was Sie das anginge", sagte sie in höflichem aber bestimmten Ton. Der Fremde krauste die Stirn. Er hatte eine große bläuliche Axt an seiner Seite. Diese zog er hervor und bewegte sich gemäßigten Schrittes auf die Klippen zu.
Beim vorbeigehen sagte er zu den anderen: „Nun, ihr müsst wissen, ich bin Prinz Karun und das ganze verhält sich so ...“
Plötzlich und ohne Vorwarnung sprang er von den Klippen. Die anderen versuchten ihn noch zurückzuhalten, doch es war schon zu spät. Fassungslos sahen sie ihm nach, wie er in der Tiefe langsam immer kleiner wurde und dann ganz verschwand.
Völlig schockiert wichen die vier Freunde von der Klippe zurück.
„Was ist gerade passiert?“, stammelte Bolmar. Die Antwort auf seine Frage kam in Form einer gewaltigen Welle die Klippen herauf. Ohne Vorwarnung türmte sich plötzlich eine tsunamiähnliche Welle vor ihnen auf. Zu oberst stand oder besser gleitete der Prinz mit seiner Axt in der Hand. Mit einem gewaltigen Satz sprang er wieder an Land und die Welle verschwand hinter den Klippen.
Der Prinz wischte sich das Wasser aus dem Gesicht und sagte: „Hättet ihr nun die Freundlichkeit, mir zu sagen, woher ihr das könnt?“
Galdior nickte und gab eine rasche, wohlüberlegte Antwort. „Das ist eine lange Geschichte ... Prinz. Wir werden sie euch gern beim Frühstück erzählen.“
Mit einem zufriedenen Blick entgegnete der Königssohn: „Das geht in Ordnung. Kommt folgt mir.“
Er packte die Axt wieder an seine Seite und lief los, die Freunde hinterher. Auf dem Weg zum Palast fragte Bolmar Galdior leise: „Traust du ihm etwa?“
„Nun, ich weiß nicht wieso ... aber ja, ich vertraue ihm.“
Nachdem sie ihre Rüstungen ausgezogen hatten, setzen sie sich zum Prinz und dem König an einen Tisch, den sie zuvor übersehen hatten.
Der König klingelte mit einem kleinen, goldenen Glöckchen und bald kamen die Diener hineingeströmt, legten ihnen Geschirr vor, tischten Essen auf und füllten ihre Gläser mit frisch gepresstem Orangensaft. Die Freunde konnten wirklich nur staunen.
Da waren Buttergipfel, frischer Zopf sowie helles und dunkles Brot, Getreideflocken, Kuh- und Ziegenmilch, braun gebratener Speck, gekochte Eier, kalter Schinken und alle Sorten von Aufstrichen.
"Greift zu! Es hat genug für alle", sagte König Rammud fröhlich und öffnete die Arme mit einer einladenden Geste.
Das ließen sich nicht zweimal sagen. Dieses Frühstück war wahrlich eines Königs würdig. Unter Missachtung aller höflichen Formen stopften sie das Essen in sich hinein, waren bald fertig und platzten auch schier aus allen Nähten.
Der König faltete die Hände und sprach, während er auf einem Zahnstocher herumkaute: „Nun, Galdior, ich wäre sehr erfreut, wenn ihr mir erzählen könntet, wieso ihr geflüchtet seid, was ihr erlebt habt und ..."
„ ... und woher ihr diese Fähigkeiten habt“, beendete der Prinz. Dieser erntete gleich einen scheltenden Blick seines Vaters. Um die Spannung zu lockern, stimmte Tinira sofort bei und fing anstatt Galdior an zu erzählen.
Die anderen steuerten hin und wieder etwas bei, doch der König unterbrach sie nie.
Als sie fertig war, schaute der König sie nacheinander genau an. Er atmete tief ein und sagte dann: "Das ist ... kaum zu glauben. Ich hab nur einmal über solche Reiter etwas vernommen, und zwar in meiner Kindheit, bei meinem Geschichtslehrer. Er erzählte mir von dem alten Volk östlich der Berge, das seien auch solch dunkle Reiter, aber dass sie nun schon offen angreifen, hab ich nicht gewusst. Sie müssen mit Schiffen gekommen sein." Er strich sich über den Bart, legte den Kopf nach hinten und sah nachdenklich in den Himmel. "Das ist schlecht ... wir haben Mühe mit einem Krieg, ein Zweifrontenkrieg hätte verheerende Auswirkungen."
"Aber Eure Stadt sieht sehr wehrhaft aus. Sie könnte einer Belagerung bestimmt lange standhalten, oder?", fragte Tinira.
"Das kann schon sein, trotzdem, irgendwann wird jede Stadt eingenommen. Das eine Stadt nie eingenommen wird, gibt es nur in Märchen und Geschichten", antwortete der König, ohne sich über den Gedankensprung zu wundern.
Tinira meldete sich wieder zu Wort: „Wenn ihr die Frage entschuldigt Prinz ... wo habt ihr eure Fähigkeit gelernt? In unserer Weissagung ward von euch kein Wort gesprochen.“
Und so also fing der Prinz an zu erzählen, er holte weit aus, doch unterschied sich sein geschichtlicher Hintergrund wenig von dem, der anderen.
Auch zu ihnen seien Leute des Schmiedevolkes gekommen und hätten mächtige Waffen mitgebracht. Die mächtigste unter diesen sei Torban die Wasseraxt gewesen. Diese nun schenkten sie dem Prinzen, obwohl man damals noch gar nichts von einem Königssohn wusste, denn König Rammud war damals erst zwanzig Jahre alt und noch kinderlos gewesen. Und auch der Prinz erhielt beizeiten eine Weissagung, doch verriet er sie nicht. Als er geendet hatte, trat Schweigen ein und jeder hing seinen Gedanken nach.
Über ihnen pfiffen die Vögel ihr Lied und unter ihnen hörte man das Meer gegen die Klippen klatschen. Als es begann ungemütlich zu werden, brach Tinira das Schweigen.
"Übrigens, ich habe gestern Abend die Mauer auf dem Meer entdeckt. Wenn Ihr mir die Frage erlaubt, zu welchem Nutzen dient sie? Die Klippen sehen doch schon sehr hoch aus ..."
Der König lächelte: "Ich denke, ihr habt es bereits erraten. Als mein Großvater - möge er in Frieden ruhen - hier her kam, konnte er gerade dabei zusehen, wie ein mächtiger, überhängender Teil der Insel im Meer verschwand. Später wurde dieser abgetragen und zum bauen verwendet. So entstand auch die Mauer und viele Gebäude."
"Das rote Gestein ...", murmelte Tinira. "Ich habe noch eine Frage. Haben alle diese Wege zur Insel schon bestanden oder hat Euer Großvater die auch gebaut?"
"Fragt nur, ich antworte gern. Die Nordbrücke hat schon bestanden, die zwei anderen haben wir errichtet."
Eine Weile blieb es still, doch dann fragte Bolmar: "Mein König, woher kommen diese Uklugs?"
Der König machte ein bekümmertes Gesicht und sagte: "Vom nördlichen Ausläufer des Mittelgebirges."
"Wieso hassen sie Euch so?"
"Ich bin mir nicht sicher. Die Uklugs hegen schon sehr lange einen Groll gegen uns, doch seit sie diesen unbekannten Anführer haben, scheinen sie noch wütender zu sein. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte er sie durch anstachelnde Reden für sich gewonnen. Ich –"
Die Vögel flogen kreischend davon, als die Tür zum Palast aufflog und ein Diener hereinstürzte. Der König fuhr auf, stieß dabei seinen Stuhl um und griff dorthin wo normalerweise seine Waffe hing. Jetzt griff er ins Leere.
Der Diener kam angekeucht und sagte: "Mein König, die Uklugs sammeln ein großes Heer auf der Westseite des Lichterwaldes. Sie sind jetzt schon zu viele, um sie zu schätzen und es kommen immer mehr dazu."
Ganz im Gegensatz zu seinem Diener blieb der König ruhig und sprach gelassen: "Nun, ich habe nichts anderes erwartet. Diener, mach mein Pferd und die meiner Gäste bereit! Schickt Boten zu allen umliegenden Dörfern und sammelt das Heer, wir reiten aus!"
Er wandte sich zu den Freunden. "Es geht los, sie greifen uns tatsächlich an. Wollt ihr uns helfen und für das Gute einstehen, so reitet mit mir in die Schlacht", seine Ausdrucksweise unterstrich seine Würde. Sie brauchten sich nicht abzusprechen, sie stimmten zu. Der König nickte: "Sehr gut. Ich wusste, dass ich auf euch zählen kann. Macht euch bereit. Ich erwarte euch vor dem Palast."
Kapitel 21
Bald ritten sie an der Seite des Königs durch die beschäftigte Stadt. Auf der Hinreise hatten sie gar nicht bemerkt, wie groß die Insel war und wie viele Einwohner sie hatte.
Überall liefen Leute herum, Soldaten bellten Befehle, Pferde wurden gesattelt. Die Kriegsvorbereitungen waren in vollem Gange. Die ganze Stadt schien auf Reisen gehen zu wollen.
Galdior schielte zum König herüber, der majestätisch auf seinem Pferd saß und ein mächtiges Schwert an der Seite trug.
Die Waffe war riesig und hatte ein Muster auf dem Griff, genau so wie auf der Klinge, wie ein Feuermeer, überall waren züngelnde Flammen abgebildet. Auch schimmerte die Klinge rötlich, ebenso die Rüstung, die der König trug. Galdior sah keinen Helm, was ihn ein bisschen erstaunte.
Sie hatten unterdessen das nördliche Stadttor erreicht, als aus einer Seitengasse der Prinz geritten kam. Seine Aufmachung glich der seines Vaters, nur trug der Prinz seine bläuliche Axt auf dem Rücken.
Der König sprang vom Pferd und rannte die Stufen hinauf aufs Tor zu. Die Freunde folgten ihm auf Schritt und Tritt. Hinter den großen Zinnen hatte man Holzkisten hingestellt, damit man aufs Land hinaussah. Mehrere Soldaten in grünen Rüstungen standen auf jenen.
Als jedoch der König nahte, machte man ihm und den Freunden ehrfürchtig Platz.
Zuerst sahen sie nur weite Felder, auf denen noch der nächtliche Tau glitzerte und das Funkeln des Flusses in der lauen Morgensonne.
Die Natur schien unberührt wie eh und je, doch als ihre Blicke weiter wanderten, vorbei an dem satten Grün der Bäume und den sanften, im Wind wiegenden Gräser, erblickten sie eine Staubwolke, die das ganze Land hinter dem Wald bedeckte ... und das Glitzern von Waffen und Rüstungen.
Es sah aus als ob, der ganze nordöstliche Horizont in Metallplatten gekleidet sei. Bolmar erschauerte.
"Mein König, wie viele sind es?", fragte er. Der König ließ ihn lange warten, doch sagte er schließlich im Flüsterton: "Unzählbar viele. Wisst ihr, viele Menschen und andere Kreaturen und Lebewesen, die einen klaren Geist besitzen, wollen Macht. Sie wollen Macht, um Macht ausüben zu können. Alle trachten sie nach Macht und dafür schicken sie ihr ganzes Volk in den Krieg. Sie wollen, dass andere für sie sterben, damit sie später einmal herrschen können, damit sie sich später bereichern können. Der Krieg ist ein Machtgeschäft."
Der König sah traurig aus. Man sah ihm an, dass er es im voraus bereute, seine Leute in eine Schlacht zu führen, weil er wusste, dass ein große Zahl von ihnen sterben würde.
Tinira wollte gerade fragen, was der König nun zu tun gedenke, da, als hätte er ihre Gedanken erraten, erläuterte ihnen sein Plan und fügte noch an: „Jeder von uns wird bei einem Heer an vorderster Front sein", er zeigte dabei alle außer Tinira. "Du, Tinria, wirst bei den Schützen bleiben."
Dann sprach er wieder zu allen. "Jeder von euch wird der erste sein, der angegriffen wird und der letzte, der sich zurückzieht. Wenn nun einer von euch Angst hat, soll er sich melden."
Alle vier hoben zögernd die Hand und erwarteten bereits einen Tadel des Königs, doch ganz im Gegenteil nickte dieser und sprach: "Sehr gut. Das hatte ich gehofft. Wenn man vor der Schlacht nicht genug Angst hat, ist man übermotiviert und begeht Fehler, die sich negativ auf sich selber und auf das ganze Heer auswirken. Ihr könnt euch nun noch ausruhen, wenn ihr wollt. Ich werde beizeiten nach euch schicken." Er sah sie nacheinander noch einmal an und sagte dann: "Ich bin froh, dass ich nicht der einzige bin."
Mit diesen verwirrenden Worten ließ er sie allein, um noch weitere Vorbereitungen zu treffen. "Was meint er mit, 'ich bin froh, dass ich nicht der einzige bin'?", fragte Bolmar den Prinzen, der immer noch neben ihnen stand und auf das Feld hinaussah. Dieser zuckte nur belanglos mit den Schulten. Dann drehte er sich um und lief, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, die Treppe hinab.
Galdior blickte ihm Kopf schüttelnd nach und sah ein weiteres Mal zum Wald.
Im Laufe des nächsten Tages kamen immer mehr Krieger, die aus den umliegenden Dörfern stammten, in die Stadt.
Am Mittag bliesen mehrere Männer von den höchsten Dächer der Stadt schmetternd ihre Hörner. Langsam entleerte sich das ganze Heer in die nördliche „Tunnelbrücke“, wie sie Bolmar für sich nannte. Das Heer stellte sich in vier Gruppen auf, genauso wie es der König befohlen hatte und im Gleichschritt bewegte sich das Heer vor den Fluss. Die vier Freunde ritten an vorderster Front mit dem König. Dieser hatte noch immer keinen Helm auf.
Der Hörnerklang ebbte ab und bald waren alle Krieger in Position. Die Schützen waren, wie erwartet, die vordersten.
Das ganze Heer stand ruhig da, niemand sprach ein Wort, alle sahen zum Wald, dessen Anfang nur ein grosser Steinwurf vom Fluss entfernt war.
Dunkle Wolken sammelten sich über der Stadt und bevor dieser Umstand überhaupt von irgend jemandem bemerkt wurde, goss es bereits auf sie herab.
Die Stimmung im Heer war seltsam. Man hörte nur das Trommeln der Regentropfen auf den Rüstungen, das Murmeln des Flusses, der bis zu diesem Zeitpunkt noch ruhig dahin geflossen war, jedoch nur wenig später ein Gemisch aus Blut und Wasser befördern würde, gelegentliches Schniefen einer Nase und das unruhige Stampfen der Hufe.
Es schien ewig zu dauern, bis die ersten gegnerischen Reihen aus dem dichten Wald hervortraten.
Der Boden vibrierte unter dem Gewicht der rennenden Uklugs. Sie sahen aus wie eine einzige Mauer, die nur darauf wartet, dass man versucht, sich gegen sie zu stellen.
Nun entstand auch Unruhe im Heer Sagras. Die Stimmung war plötzlich aufgeregt, als schienen sich alle auf den Kampf zu freuen.
Die Uklugs liefen in offener Formation auf den Fluss zu. Als die ersten von ihnen ihren Fuß in ihn setzten, gab der König einem Untergebenen ein Zeichen. Dieser winkte mit einer Fahne jemandem hinter dem Heer zu. Wieder erklang Hörnerschall und die Schützen spannten ihre gewaltigen Langbögen.
Der König hob die Hand und schlug sie nach unten. Alle Schützen schossen in perfekter Präzision synchron zu einander ihre Pfeile ab. Die Uklugs bewegten sich in der Zeit langsam watend durch den Fluss.
Ihre sonst vorteilhafte Körpergröße erwies sich nun als strategisch unpraktisch, denn sie boten größere Ziele. Für einen kurzen Moment verdunkelte der Pfeilschwarm die Sonne, sauste aber gleich darauf auf die Gegner nieder. Viele Uklugs versanken in den Fluten, andere wiederum schienen die Pfeile nichts auszumachen. Obwohl die Pfeile in ihrer Brust steckten, in ihren Beinen oder sogar in ihren Köpfen, rannten sie weiter auf das Heer zu.
Ein weiteres Mal spannten die Schützen ihre Langbögen und schossen. Das Ergebnis war noch verheerender, als es beim ersten mal gewesen war. Hunderte Uklugs sackten zusammen unter der Wucht der armlangen Pfeile.
Sobald die Uklugs die Pfeile die Reichweite der Langbögen unterlaufen hatten, kamen die Armbrustschützen zum Einsatz. Die erste Reihe der Uklugs wurden durch die dicken Bolzen wie Fliegengewichte von den Füßen gerissen und nach hinten geschleudert. Da die Armbrustschützen zu lange gebraucht hätten, um nachzuladen, ließ der König den Befehl geben, dass sich die Schützen zurückziehen sollen.
Dann, begleitet von den Hörnern auf der Mauer, sprach der König zu seinem Heer: "Die Zeit ist gekommen, dass euer Schwert wieder Blut schmecken darf. Ich gebe euch nun noch die letzten Befehle: Beschützt euer Eigentum; beschützt eure Familie; beschützt eure Freunde; beschützt das, was ihr liebt; beschützt euer Vaterland! Auf ihr tapferen Krieger, zieht eure Schwerter und zieht mit eurem König in den Krieg!"
Der König schwang sein feuerrotes Schwert über den Kopf, gab seinem Pferd die Sporen und rannte wie ein Verrückter den herannahenden Uklugs entgegen und mit ihm das ganze Heer. Der Aufprall zwischen den Kriegern von Sagra mit ihren grünen Rüstungen und den Hünen der Uklugs in den dreckigen, schwarzen und zusammengebastelten Rüstungen war gewaltig. In den ersten paar Momenten wurde gekämpft wie wild.
Die Krieger hackten um sich, obwohl sie in ihrer Hast nichts sahen. Nach wenigen Minuten verbitternden Kampfes erklang heller Hörnerschall. Das war das Zeichen, dass die Schützen ihre Position erreicht hatten und dass sich die Infanterie zurückziehen musste, was sie auch unverzüglich tat. Langsam, so dass man es kaum bemerkte, zogen sich die Truppen von Sagra zurück. Schon nach wenigen Augenblicken flogen die ersten Pfeile über ihre Köpfe.
Galdior hatte einem Riesen den Schädel gespalten und wollte sich gerade dem nächsten zu wenden, als dieser auch schon einen langen Pfeil im Hals hatte. Gleich darauf erklang ein hoher, herzzerreissender Schrei. Galdior musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, was in jenem Moment über seinen Kopf flog. Doch den anderen ging es nicht so. Viele sahen sich um und suchten die Quelle des Geräusches. Dies nutzte Galdior aus und tötete viele, die sich seiner Anwesenheit gar nicht bewusst waren.
Bald flogen drei strahlende Feuervögel durch die Luft und brachten Tod und Verwüstung in den hinteren Reihen der Uklugs. Doch die Verwirrung hielt nicht lange an und bald kämpfte man wieder im gewohnten Muster.
Um Bolmar verschwanden die Geräusche, sein Unterbewusstsein blendete alle Schreie und hässlichen Geräusche aus. Immer mehr hieb er sich in ein stetiges Muster des Tötens. Zuschlagen, blocken, einen Ausfallschritt machen und wieder schlagen. Seine Rüstung war gesprenkelt mit Bluttropfen und um ihn war der Boden mit Leichen übersät. In seinen Ohren hörte er seinen eigenen, rasenden Puls schlagen. Reflexe beherrschten seine Bewegungen.
Lange konnte man nicht sagen, wer gewinnen würde. Nach einer Weile schienen die Truppen von König Rammud die Sache in die Hand zu nehmen, da erklangen von weit her im Süden laute, rasselnde Hörner, welche die von Sagra ohne Mühe übertönen konnten.
Exakt in diesem Moment schlug sich ein Bote zum König durch und sagte ihm Folgendes: "Mein König, die Uklugs sind mit Schiffen vom Meer her eingedrungen. Wir haben sie erst spät bemerkt, als sie bereits den Hafen eingenommen hatte. Die Stadt ist in Gefahr, mein König."
Der König antwortete nicht, sondern blies zwei hohe Töne in sein kleines Horn, das er immer an der Seite trug. Das Signal schien allgemein bekannt zu sein. Sofort zog sich der Teil des Heeres, welches direkt dem König unterstand und ein Teil der Reiter unter Führung des Prinzen, zurück zur Stadt.
Auf diesen Moment schienen die Uklugs nur gewartet zu haben; sie droschen mit neuer Kraft auf ihre Feinde ein und aus dem Wald strömten sie, wie Beinen aus einem Bienenstock. Schon nach kurzer Zeit waren die Truppen Sagras so stark in Bedrängnis, dass sie von drei Seiten eingeschlossen waren. Das Heer war merklich geschrumpft. Bald und ohne, dass es beabsichtigt war, befanden sich Reba, Galdior und Bolmar nah beieinander.
Bolmar schrie zu Galdior hinüber: "Es wird Zeit!"
Galdior nickte. Kurz darauf verdichteten sich die dunkle Wolken am Himmel über ihnen, die Erde fing an zu beben und Reba war bereits nicht mehr zu sehen. Sie raste durch die gegnerischen Reihen, so schnell, dass man sie nicht einmal annähernd erkennen konnte. Man sah nur, wie Uklugs mit aufgeschlitzten Hälsen, schwer blutend in die Knie gingen.
Bolmar kniete auf dem Boden und konzentrierte sich auf sein Schwert. Er trieb die Erde wellenförmig von sich weg, direkt in die Reihen seiner Feinde. Hunderte Uklugs wurden von purer Erdmasse erdrückt.
Galdior rannte durch die gegnerischen Reihen wie ein Pflug durch Erde, die Lanze hatte er von sich gestreckt, strahltend wie eine kleine Sonne. Die verbündeten Truppen fassten wieder neuen Mut und stürmten den verwirrten Feinden entgegen.
Nach einer Weile zog Bolmar sein Schwert aus der Erde und sofort legten sich die Wellen wieder. Gleich darauf kam auch Reba schlitternd neben ihm zum stehen. "Wo ist -", fing sie an, wurde jedoch von Etwas unterbrochen.
Dieses Etwas war nicht ein Ereignis oder sonst etwas Physisches, es war viel mehr ein Gefühl, dass alle auf dem Schlachtfeld zu befallen schien. Langsam ließen alle von einander ab und sahen zum Wald hin, in welchem das seltsame Befinden seinen Ursprung zu haben schien.
In selbigem rührte sich Etwas, der Wald schien langsam kälter zu werden und an den hinteren Baumreihen bildeten sich bereits leichte Eisschichten. Der ganze Wald erlebte einen plötzlichen Kälteeinbruch. Nicht lange darauf sah man auch die Ursache.
Er saß auf einem Schimmel mit weißen Augen, in denen der pure Hass glänzte; zudem machte es den Eindruck, als wäre der Schimmel mehr tot als lebendig.
Die Rüstung des Ritters schimmerte leicht hellbläulich und er trug einen riesigen Morgenstern. Langsam kam er näher geritten, dann hielt er an und rief seinen Truppen, den Uklugs, etwas Unverständliches zu. Diese drehten sich sofort um und fingen wieder an zu kämpfen mit einem Ausdruck von Furcht, gemischt mit Hass in ihren Augen.
Kapitel 22
Galdior war gerade durch die letzte Reihe der Uklugs gebrochen und wäre womöglich in den Fluss gefallen, wäre er nicht vor Schreck sofort still gestanden, als die Gestalt aus dem Wald geritten kam.
Nachdem die eisige Gestalt seinen Männern einen Befehl zu rief, sah sie ihn lange und durchdringend an.
"Wasss tussst du hier? Du wagssst esss mich heraussszufordern, du Narr?", fragte er mit einer kalten und Angst einflössenden Stimme.
Sein Gesicht war nicht zu erkennen, hinter dem Visier schien die Finsternis zu herrschen.
"Ich werde dir zeigen, wasss esss heissst, sssich mit dem Meissster der Kälte einzulasssen." Gemächlich ritt er weiter auf Galdior zu. Dieser stand wie angewurzelt da. Er erwachte erst aus seiner Starre, als der Fluss vor ihm anfing zu zu gefrieren.
Er musste diesen "Meister der Kälte" vom Schlachtfeld weglocken, sonst war die Stadt und alle seine Bürger in Gefahr. Galdior rappelte sich auf, rannte auf den schon fast vollständig vereisten Fluss, sprang auf eine der zahlreichen Eisschollen und kam so ans andere Ufer. Kaum hatte er wieder festen Boden unter den Füßen sprach der Ritter wieder: "Du bissst wirklich ein Tor, Galdior, Galdions Sohn!"
Genau in diesem Augenblick brach hinter ihm eine Getöse los. Galdior drehte sich mit einem Ruck um und sah gerade noch wie riesige Eisberge sich aus dem Fluss auftürmten und in die Höhe schossen, sodass ihm der Zugang zum Schlachtfeld und somit zu seinen Freunden verwehrt blieb.
Langsam drehte er sich wieder um und konnte im letzten Augenblick der gewaltigen Waffe noch ausweichen. Der Morgenstern hatte ein Loch in das Eis geschlagen. Der Ritter kehrte sich wieder in seine Richtung, doch statt nochmals anzugreifen, stieg er gemütlich vom Pferd. Galdior packte seine Lanze fest mit beiden Händen und griff an.
Die Lanze sauste hinab und der Ritter blockte sie mit dem Arm, den er zum Schutz vorübergehend zu Eis hat gefrieren lassen. Der Eisarm hatte die Klinge gebremst wie ein Schild aus massivem Metall.
Mit einer schnellen Bewegung sprang Galdior zurück und brachte sich neu in Position. Schnell hob er die Lanze und lud sie auf, um gleich darauf wieder loszupreschen. Diesmal fegte der Ritter die Lanze mit seinem Morgenstern zur Seite und sie flog aus ihres Trägers Hand.
Der "Meister der Kälte" hob seine freie Hand und auf den Fingern bildeten sich eisige, zugespitzte Enden. Er holte aus und hinterließ auf Galdiors Gesicht fünf lange Kratzer, die sich von der rechten Seite der Stirn diagonal bis zur linken, unteren Seite des Gesichts zogen und stark bluteten. Durch den Schlag wurde Galdior weggeschleudert und er landete auf dem hart gefrorenen Boden.
Nach einer kurzen Zeit der Benommenheit, die der „Meister der Kälte“ eigentlich hervorragend hätte nutzen können, um Galdior zu töten, sie jedoch aus scheinbarer Güte oder Freude am Spiel verstreichen liess, rappelte sich Galdior wieder auf.
Mit zitternden Beinen schleppte er sich zu seiner Waffe und hob sie auf; dieser Kampf musste beendet werden, bevor er zu schwach war, um es zu tun.
Blitze zuckten vom Himmel und luden den weißen Kristall auf, dann richtete Galdior die Waffe auf den Ritter, welcher ruhig da stand und ihn still ansah. Die Blitze entluden sich und hinterliessen einen rauchenden Krater, dort wo der Ritter eben noch gestanden hatte. Vom Ritter war nur noch der Morgenstern zu sehen, der im Krater lag. Galdior atmete auf, er hatte es – "Ich bin hinter dir, mein Freund!"
Galdior drehte sich erschrocken um die eigene Achse, und tatsächlich da stand der Ritter ohne Morgenstern, nichtsdestotrotz unversehrt hinter ihm.
Sofort schlug dieser mit einer Hand ein weiteres Mal die Lanze fort, mit der anderen packte er Galdior beim Hals und hob ihn hoch. Galdior strampelte und versuchte sich aus dem eisigen Griff loszuwinden, doch dieser ließ nicht nach; er schielte zu seiner Lanze die unerreichbar weit weg lag.
Der Ritter folgte seinem Blick und zischte: "Du Narr, deine Fähigkeiten ssstecken nicht in deinen Waffen, sssondern in dir, die Waffe issst nur Mittel zum Zweck. Du bist nur ssso ssstark, wie du deine Fähigkeiten beherrssschssst, Narr."
Der Griff um seinen Hals wurde noch stärker und langsam zogen schwarze Balken in sein Blickfeld und das Bild vor seinen Augen fing an zu verschwimmen. Die Kälte der Hand an seinem Hals verursachte Kälteverbrennungen, und hätte Galdior es gekonnt, so hätte er laut aufgeschrien.
Er sah gezwungenermassen in den schwarzen Himmel und wie in einem Daumenkino ratterten Eindrücke und Bilder durch seinen geistiges Auge. Sein erstes Spielzeug, spielen mit den Eltern, das brennende Andophù, Bolmar, der auf seinem Pferd neben ihm herritt, und sein verhängnisvoller Traum; hier nun stockten seine Gedanken und ihm kam ein Geistesblitz, er packte die Hand seinen Gegners, was diesen allerdings nicht sondern interessierte und es eher als ein Zeichen der Schwäche deutete. Galdior konzentrierte sich auf den Kristall auf seinem Helm und raunte etwas vor sich hin. Sofort begann seine Rüstung sich aufzuladen und der Kristall auf seiner Stirn begann grell zu leuchten.
Bolmar rannte auf die Eiswand zu, da explodierte Galdior. Die Druckwelle warf Bolmar auf den Rücken, genau so wie der Rest der Truppen. Dank der Eisbarrikade wurde aber der größte Teil der Explosion abgehalten und nur eine immense Druckwelle mit feinsten Eispartikeln fegte sie von den Füßen.
Auf der anderen Seite war der größte Teil der Bäume verbrannt und gewisse waren ausgerissen worden.
Als Bolmar wieder zu sich kam und über den Fluss sah, tat sich ihm ein Bild des Schreckens auf. Der Flusslauf war nicht mehr klar zu erkennen, ein riesiger Krater befand sich dort, wo früher der Fluss gewesen war. Der Krater begann sich nun langsam mit dem heranfliessenden Wasser zu füllen. Das Schlimme an der Sache war, dass Galdior mir großer Wahrscheinlichkeit noch bewusstlos im Krater lag.
Bolmar sprintete auf den Krater zu und tatsächlich sah er, als er den Krater erreicht hatte, zuerst Galdiors Lanze und dann noch Teile der Rüstung, die aus dem steigenden Wasser ragten.
Halb strauchelnd rannte Bolmar hinunter, watete ins Wasser und konnte Galdior gerade noch rechtzeitig aus dem Tümpel ziehen. Auf dem Rückweg hinauf nahm er auch noch dessen Lanze mit. Wieder oben legte Bolmar Galdior ab und überprüfte seinen Puls; er war noch da, zwar nur schwach, doch er war noch spüren. Sofort legte er ihn auf die Seite und Galdior spuckte das Wasser aus, das er geschluckt hatte. Dann sah er seinen Freund, der mit besorgtem und Tränen verschmiertem Gesicht über ihm kniete.
"Ist ... ist er ... tot?", fragte Galdior mit leiser, schmerzverzerrter Stimme. Bolmar sah nochmals zum Krater, er hatte zwar nichts gesehen, doch hatte es eindeutig nach verbranntem Fleisch gestunken. Er wendete sich wieder seinem Freund zu und nickte. Galdior lächelte leicht und wurde dann erneut bewusstlos.
Kapitel 23
Bolmar ließ Galdior von zwei Soldaten in die Stadt bringen. Der Kampf mit den übrigen Uklugs war keine große Sache mehr und bald floh der Rest von ihnen in den kleiner gewordenen Wald.
Reba und Bolmar gaben allen Soldaten das Zeichen sich zu sammeln und zur Südseite der Stadt zu marschieren. Das Trüppchen war nur noch ein Bruchteil dessen, was aus der Stadt marschiert war. Trotzdem mussten sie ihrem König zu Hilfe kommen. Die Schützen hatten sich bereits auf den südlichen Teil des Walls zurückgezogen.
An vorderster Stelle des mickrigen Heeres liefen Bolmar und Reba und mutmaßten still, was wohl im Süden vorgefallen war.
Während sie so liefen, wurde der Boden immer sumpfiger und matschiger und bald hatte es richtige Pfützen und kleinere Teiche. Es glich einer Sumpflandschaft ... und doch ... da waren auch abgebrannte Baumstümpfe verkohlte Steine. Reba runzelte die Stirn: "So sah diese Gegend heute Morgen aber noch nicht aus ... was war hier geschehen?"
Bolmar blieb ihr die Antwort schuldig, weil er es genau so wenig wusste wie sie. Von fern hörten sie Kriegslärm und beschleunigten ihren Schritt. Nicht lange mussten sie gehen, bis die ersten Leichen auftauchten, Verbündete wie Feinde.
Viele der Leichen der Uklugs und wenige der Soldaten Sagras sahen aus wie Schwämme völlig vollgesogen mit Wasser und hatten Brandspuren. Nach ein paar weiteren Schritten sahen sie die kleine Schlacht, die einen schrecklichen Anblick bot.
Die beiden Freunde sahen nur Uklugs, die sich um den König und seinen Sohn scharten und versuchten sie klein zu kriegen. Jemand schrie vom Wall, dass nur noch der König und der Prinz und die höchsten Offiziere am Leben waren ... mitten in der Menge und dass ihnen langsam die Kräfte ausgingen.
Bolmar und Reba sprinteten los, ihr kleines Heers mit ihnen. Den Kopf nach hinten legend schrie Bolmar der Truppe zu, sie sollten sich kurz gedulden und ihren Angriff abwarten. Sofort verlangsamten sie fragend ihren Schritt.
Er hingegen beschleunigte und sah nach rechts, dort wo eben noch Reba gerannt war, befanden sich nun nur noch ihre Fußabdrücke. Der matschige Boden schien ihre Geschwindigkeit nur minimal gebremst zu haben, wie der Wind preschte sie durch die feindlichen Reihen.
Verdammt bis ich dort bin ist die Schlacht vorbei, dachte Bolmar mit einem amüsierten Blick auf den Kanal, den Reba in die Feinde getrieben hatte. Sein Schwert steckte bis zum Griff in der weichen Erde. Die Erde hob sich in Wellen mehrere Dutzende Schritte über den Boden, mit Bolmar an der Spitze. Die Erdmasse verdunkelte die Sonne, so gewaltig war sie. Die Uklugs sahen erschrocken nach oben, kurz bevor sie von der riesigen Erdwall erdrückt worden. "König Rammud, kommt!", schrie Bolmar zum König. Dieser und seine Getreuen ließen von ihren Gegnern ab und rannten zu Bolmar.
Gleich darauf erhob sich die Erdmasse wieder in die Höhe, so schnell, dass alle, die sich um Bolmars Schwert versammelt hatten, in die Knie gingen. Reba erhob sich mit einiger Mühe und sah über den Rand nach unten. Die Uklugs waren nur noch winzige Kreaturen, die alle verwirrt nach oben sahen.
Weiter links konnte man in die Stadt hineinsehen und dass Frauen und Kinder zu dem Berg aus Erde und Schlamm hinüberblickten. Reba schwang ihre Stachel über ihrem Kopf. Ihr Schrei ging im Getöse, das um sie herum herrschte, unter, doch die Folgen waren klar erkennbar: Die Luft über den Uklugs begann zu zirkulieren und verwandelte sich einen Tornado.
Auch der Prinz war unterdessen wieder aufgestanden und hob seine Axt. Zuerst sah es aus, als ob die Wirkung, die der König erhoffte hatte, wirklich eintreten würde, doch die wenigen Liter Wasser, die er zu bewegen versuchte, fielen wieder auf die Erde, als ihn seine Kräfte verließen. Doch im Grunde genommen machte das nichts.
Der Tornado erledigte die Uklugs, ohne einen am Leben zu lassen. Langsam senkte sich die Erde unter Bolmars Führung wieder. Unterdessen war dieser gehörig ins Schwitzen gekommen. Sie kamen unten an und erblickten die Verwüstung unter den Uklugs. Tatsächlich war keiner am Leben geblieben.
Kapitel 24
Einer der zwei Wachen versperrte ihm den Weg und fragte barsch: "Was willst du? Der König erwartet niemanden."
Krabur seufzte und streckte der Wache, die ein monströses Schwert an der Seite trug, eine Urkunde hin, die ihn als einen königlichen Boten auswies.
Die Wache sah sich das Dokument nur kurz an und nickte. Sofort schob die zweite Wache die beiden schweren Torflügel auf.
Krabur lief hindurch; die Halle erstreckte sich weit auf alle Seiten. Rechts und links standen dunkle Marmorsäulen, an jeder waren Fackeln befestigt, die den Weg zum Thron des Herrschers führten. Seine Schritte gaben das einzige Geräusch von sich. Kraburs Rüstung war reich verziert mit der Geschichte seiner Vorfahren und das dunkle, harte Metall glänzte im Schein der Fakeln.
Vor den Stufen zum Thron ging er in die Knie und senkte sein Haupt.
"Mein König, ich habe eine dringende Nachricht für Euch. Wollt Ihr sie denn hören, so lasst mich sie Euch vorlesen", sprach er mit leiser Stimme.
Der dunkle König brummte ein paar unverständliche Worte, machte jedoch kein Anzeichen, weder mit der Hand noch mit dem Kopf, dass Krabur sich erheben dürfte.
Dieser nahm langsam den Brief zur Hand und begann vorzulesen. Der König wirkte nachdenklich, als Krabur fertig war.
"Ich habe geahnt, dass er scheitern würde", sagte der König und schien sich der Anwesenheit des Boten nicht mehr wirklich bewusst zu sein.
"Dieser Trottel, von einem Statthalter war nicht einmal fähig genug, um ein Heer barbarischer Uklugs ins Feld zu führen und die Schlacht zu gewinnen. Er dachte wohl er könnte mit seinem, ach so starkem Eis alles und jeden besiegen. Und doch bin ich erstaunt, dass es nicht möglich war diesen Rammud zu überwinden."
Der König stand auf und lief die Treppen hinunter zu Krabur. Mit einer schnellen Bewegung entriss er ihm den Brief und besah ihn genauer. "So sind sie denn gekommen, die vier Kinder, zu nehmen, nach was sie suchen! Ha, sollen sie kommen, ich hege keine Angst!", schrie der dunkle Fürst in seinen finsteren Hallen, die sein Herz spiegelten.
Doch in Wirklichkeit zitterte, als er an die Weissagung dachte, die ihm als Kind gelehrt wurde.
Kapitel 25
In Sagra wurden die Gefallenen nicht beerdigt, sondern in kleine, hölzerne Schiffe mit einem Mast und einem silbernen Segel gelegt und in Richtung Westen zur untergehenden Sonne gestoßen. So würden die Toten mit der Sonne am Ende der Welt niedersinken.
An diesem Tag nach der Schlacht lagen mehr als zehntausend Schiffchen in der Meereszunge vor der Insel. Das ganze Volk stand auf den Klippen und sangen das Lied der Toten, das immer gesungen wurde, wenn ein Schiffchen den Hafen in Richtung Westen verließ.
Einfach und doch herzzerreißend war die Melodie, so traurig und schön, dass kein Auge trocken blieb. Selbst die Tiere gaben keinen Laut von sich, nichts war zu hören, nur dies Lied. Die Wolken weinten über den Verlust der tapferen Soldaten und Tränen vermischten sich mit Regen.
Als das Lied geendet hatte, warf jeder eine weiße Lilie hinab auf das ruhig daliegende Meer. Und von den Schiffchen aus sah es aus, als würden abertausend Schneeflocken fallen. Das Meer war nun nicht mehr tiefblau, sondern von einem weiß, in dem sich nur das braune Holz der Schiffchen abgrenzte.
Der König stieg auf einen Felsen und rief mit lauter, durchdringender Stimme: "Schließ deine Augen stolzes Volk von Sagra, gedenke deiner Toten, ruhmreich gefallen im blutigen Krieg gegen das Böse, um zu schützen, was ihnen lieb war!"
Hier senkten alle ihre Köpfe und schlossen mit Tränen in den Augenwinkeln ihre Lider. Der König wandte sich dem Meer zu und sah in den Himmel. Tränen schossen ihm in die Auge. Neben ihm stand sein Sohn, den Kopf gesenkt und dieser hob seine Axt. Er murmelte die Worte, die so vielen seiner Feinde das Leben genommen hatten.
Das Wasser begann sich zu bewegen und die Schiffe schwammen langsam aus der Bucht hinaus mitsamt den Blumen. Nach wenigen Minuten waren sie schon nur noch braune Punkte, kaum erkennbar von Auge.
König Rammud sprang vom Felsen und bahnte sich schluchzend seinen Weg durch sein Volk. Das ganze Volk weinte nun mit dem König, denn es waren wenige, welchen das Übel verschont geblieben, einen nahen Verwandten verloren zu haben.
Langsam wanderten alle in die Stadt und in ihre Häuser, und an diesem Abend rannte kein Kind lachend durch die Straße, kein Kaufmann pries seine Ware an, keine Eilboten ritten geschwind zum König. Alle trauerten, um die Verstorbenen. Und die Sonne glühte blutrot, als sie hinter den Wolken hinunterkam und ins große Westmeer tauchte.
Am nächsten Morgen ließ der König die vier Freunde zu sich rufen. Als sie in sein Gemach traten, stank es nach abgestandener Luft, als ob seit sehr langer Zeit niemand mehr ein Fenster aufgemacht hätte. Zuerst sahen sie keine Menschenseele, doch dann erklang aus dem Schlafzimmer ein leises Schlottern und eine Stimme sagte: "Kommt ins Schlafzimmer!"
Sie sahen sich mit gerunzelter Stirn an. Als sie den Vorhang, welcher das Gemach des Königs von den übrigen der Wohnung trennte, bei Seite schoben, sahen sie den König, wie er auf dem Bett lag: eine Decke über den Schultern und Zitternd. Sofort eilten sie an seine Seite: "Mein König, was ist geschehen? Seid ihr krank?", fragte Tinira in ehrlicher Sorge.
"Nein, ich hab letzte Nacht in 'das wissende Feuer' geschaut und das zehrt ein bisschen an den Kräften. Doch das ist Nebensache; ihr müsst sofort los. Im Osten braucht man eure Kräfte, dort verschlimmert sich die Lage zunehmend. Der Kampf zwischen Gut und Böse wird immer heftiger."
Die Freunde sagten nichts, was sollten sie auch? Der König fuhr fort: "Reitet geschwind den Bergen entgegnen. Sucht nach einem alten und weisen Mann, er wird euch weiterhelfen. In der Zeit werde ich versuchen, die Uklugs zu einem Bündnis zu bewegen, damit der Westen gesichert werden kann. Meine schnellsten Pferde sollt ihr bekommen."
Ohne noch viel mehr Worte zu verschwenden, geleitete König Rammud sie zum Stall. Die Straßen waren noch immer menschenleer, nur der Wind piff durch die Mauerritzen, als sie wieder einmal zu Pferd aufbrachen.
Sie ritten lange ohne zu rasten unter den dichten Wolken, und bald wurde die Gegend immer mehr hügeliger und so entschwand auch Sagra ihren Blicken. Umso näher sie dem Gebirge kamen, umso schöner dünkte sie die Landschaft.
Lichte Wälder wurden von grasigen Höhen abgelöst, die wiederum in kleine und große Flüsse mündeten. Flüsse waren reich an Fischen, die satt und groß geworden waren.
Mehrere Tage lang war das Wetter klar und schön. An einem wurde es so warm, dass sie in einem Wäldchen rasten mussten, um die Tiere nicht zu überanstrengen. Die ganze Landschaft lag wild und unberührt da, sodass sie manchmal, wenn sie sich eine Zeit lang still verhielten, ein Reh sahen oder sogar einem Bären beim Fischen zuschauen konnten. Auf diese Weise ritten sie die Tage hindurch.
Ziemlich unerwartet trafen sie dann, als die Sonne sich in den Westen aufmachte, auf eine Straße, die einfach so begann ohne ersichtlichen Grund. Sie folgten ihr, obwohl doch sehr misstrauisch.
Nachdem sie gutes Stück Weg geritten waren, sahen sie einen alten, statuenähnlichen Mann seitlich des Weges steif dastehen. Verwundert über das Talent des Künstlers dieses Werkes blieben sie stehen, um es genauer zu betrachten. Nicht wenig erschrocken waren sie, als der Greis plötzlich seine Augen öffnete. Bolmar fiel vor Schreck von seinem Pferd.
Des Greises Stimme war ein wenig krächzend als er sagte: "Da kommt ihr ja endlich, Kinder. Ich warte schon ne ganze Weile auf euch. Bewegung jetzt, vor Sonnenuntergang müssen wir bei meiner Hütte sein." Er ließ ihnen keine Zeit zu fragen, sondern rannte in einem höllischen Tempo los. Galdior seufzte.
"Ich hab das Gefühl, er will, dass wir ihm folgen", sagte er. Tinira seufzte ebenfalls und preschte dann als erste los.
Eine ganze Weile ritten sie im Galopp den Berg hinauf, beständig dem alten Mann nach, welcher es schaffte den Berg gleich schnell hinaufzurennen auf seinen eigenen zwei Beinen, wie die vier Freunde auf ihren Pferden.
Nach einer Weile ließen die Kräfte der Pferde nach, doch es war auch gar nicht mehr von Nöten. Sie hatten ihr Ziel erreicht: Eine kleine friedlich daliegende, ziemlich kaputte Holzhütte. Gleich daneben türmte sich hoher Fels auf, und in diesem hatte es einen Höhleneingang.
Die Freunde stiegen ab und kümmerten sich gleich um ihre Pferde. Dann traten sie in die Holzhütte ein, dort saß auch schon der wartende Greis. Er rauchte eine lange Pfeife und blies Ringe in die Luft. Ewig lange schon schien er auf sie zu warten und alles gerade auf diesen Moment ihrer Ankunft vorbereitet zu haben. Seine Bewegungen und Ausdrucksweisen waren so durchdacht, als hätte er sie schon jahrelang geübt.
Kapitel 26
Mit einer Geste lud der alte Mann sie ein auf den klapprigen Stühlen Platz zu nehmen.
Die Holzhütte war sehr spartanisch eingerichtet. Ein Holztisch, vier kaputte Stühle, die es nicht mehr lange zu machen schienen, ein Lager aus Stroh und Heidekraut und ein kleiner Kamin waren alles, was die Hütte zierte.
Von der Decke hingen noch Pfannen und Töpfe aus Gusseisen, auch die machten den Eindruck, als ob sie schon lange nicht mehr gebraucht worden seien. In jeder, wirklich jeder Ecke hingen Spinnweben, die bereits mehrere Generationen Spinnenfamilien überlebt zu haben schienen. Das Dach knarrte und knirschte bei dem leisesten Anzeichen von Wind und liess diesen durch zahlreiche offene Stellen hineinpfeifen.
"Kinder, was habe ich lange auf euch gewartet. Die Welt verändert sich, vor allem der Osten. Das Dunkle wird größer, die Finsternis wird stärker", sprach der Alte. Er seufzte, betrachtete seine Rauchringe und fuhr mit einem zufriedenen Lächeln fort.
"Aber da ihr nun da seid, gibt es nichts mehr zu befürchten und ich kann in Ruhe schlafen gehen.“
Kauzig beschrieb den Alten nur sehr ungenügend, er war regelrecht psychopathisch, wenn auch nicht zwingend negativ. Seine Haare standen vom Kopf weg und schienen schon eine Weile kein Wasser mehr gesehen zu haben. Die Augen traten ungleichmässig zu den Höhlen heraus und keiner der vier Freunde konnte sagen, ob sein brauner Hautteint von zu viel Sonne oder Schmutz kam.
"Wieso glaubst du das?", fragte Galdior. Ihm war in der Anwesenheit des Mannes sichtlich unbehaglicher geworden. Man brauchte ihm nicht zu sagen, dass dies der Mann war, den sie aufsuchen sollten. Der Alte senkte seine stahlblauen Augen auf Galdior. "Diese Frage ist einfach ... Galdior."
"Wieso kennt ihr meinen Namen? Ich haben ihn euch nicht genannt." Galdior wusste im Nachhinein nicht mehr warum er in Höflichkeitsformen gewechselt hatte. Der Greis wurde immer unheimlicher.
"Glaubst du im Ernst, ich habe vierhundert Jahre gelebt, um danach nichts zu wissen? Die Welt hat auf ihre Retter gewartet, denn sie wird alt und will nicht in Dreck und Schande sterben. Sie windet sich, wenn sie das Übel betrachtet, das die Menschen ihr gebracht haben. Bevor das geschah, war sie wunderschön in Licht gekleidet, eine Stätte der Götter, wo jeder Tag ein Fest war und jedes Fest war schöner und fröhlicher als das Vorherige", sagte der Alte und gestikulierte dabei heftig mit den Händen in der Luft, als würde er eine eingeübte Geschichte erzählen.
"Der Geschickteste unter den Göttern schuf in alten Tagen das Geschlecht der Urmenschen. Primitive Wesen, nicht intelligenter als Schoßhunde. Doch die Götter lehrten sie und als der Tag kam, wo die Allmächtigen wegziehen wollten, um neue Stätten zu finden, um auf ihnen zu feiern, da hinterließen sie den Menschen die Erde, dass sie sie verwalten und pflegen würden. Zu groß schien die Aufgabe und zu klein das Verantwortungsgefühl der Menschen. Als sie unter sich waren, entdeckten sie Urgewalten, stärker und mächtiger als sie selber. Und Kriege entbrannten und die Welt sah nicht mehr aus wie zuvor." Er sah traurig zu Boden. "Was passierte dann?", fragte Tinira leise.
"Fast die ganze Menschheit, die noch nicht sonderlich groß gewesen war, wurde vernichtet. Nur wenige, kleine Gruppen, die sich von Anfang an, versteckt gehalten hatten, um den Kriegen zu entgehen, überlebten. In der mächtigsten gab es berühmte Schmiede und sie kamen in den Westen, um sich eine neue Existenz zu erbauen. Von einem Brüderpaar wurde das Volk geführt und sie kamen mit gewaltigen Gastgeschenken zu den Völkern westlich der Berge, die zwar von Anfang an da gewesen waren, doch zuvor nie wirklich wichtig gewesen waren und nur wenig zur Sprache gekommen waren. Ich weiß nicht welcher kluge Gott voraus geschaut hat und noch ein zweites Geschlecht erschaffen hatte ..."
Er wollte gerade weiter sprechen, als er die wissenden Mienen auf den Gesichtern seiner Zuhörer sah.
"Ich sehe, es ist unnötig weiterzureden. Wem seid ihr begegnet, der die Geschichte des Schmiedevolkes kannte? Es muss denn, einer aus ihrem Geschlecht gewesen sein ..."
"Im großen Wald sind wir Randar begegnet", sagte Galdior, dann deutete er auf Reba. "Sie ist seine Tochter."
Der Alte blieb ruhig, doch seine klaren Augen ruhten nun ganz auf Reba.
"Natürlich, es ist mir gleich aufgefallen, dass Ihr anders seid", sprach er zu Reba. "Doch hatte ich mir nicht erhofft, jemals wieder eine solch hohe Persönlichkeit zu sehen." Reba und die anderen sahen ihn ziemlich verdutzt an, als er sich niederbeugte und ihre Hand küsste. "Wie kommt ihr drauf, dass -", fing Reba an.
"... Ihr sehr wahrscheinlich die letzte wahre Prinzessin des ehrenhaften Volkes seid?", beendete der Greis. "Ganz einfach: die deines Volkes, die immer ehrenhaft und treu zu den Göttern gehalten hatten, waren systematisch verfolgt und vernichtet worden. Die Dunklen Mächte unter Führung des abtrünnigen Bruders wollten schon immer die Alleinherrschaft über die Erde und da sie nicht mehr zu den Mächtigen gezählt werden, ist die Chance sehr groß, dass Ihr die letzte Prinzessin seid. Deswegen werde ich Euch als eine solche ansprechen, denn falls ihr es tatsächlich seid, würde ich in Ungnade fallen, täte ich es nicht."
Eine ganze Weile blieb es ruhig, bis Bolmar leise sagte: "Dann ist Randar ..." Er hielt inne, als er den nickenden Greis ansah. Wahrscheinlich waren sie also, ein ganzes Jahr lang von einem König beherbergt worden, ohne dass sie es gewusst hatten. Alle starrten ganze zwei Minuten lang Löcher in die Luft, versuchend die Neuigkeiten zu verdauen.
Schließlich fasste sich Galdior und fragte den Greis: "Euch umgibt sehr viel Sonderbares, Greis, wieso zum Beispiel wusstet ihr, dass wir kommen würden?"
"Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als euch zu erzählen, wofür ich hierher geschickt wurde", antwortete er seufzend mit einem Gesichtsausdruck, der eine Mischung aus Stolz und Vorfreude darstellte, als hätte er gehofft, dass die Frage käme.
"Als die Götter vor einiger Zeit hierher kamen und sahen, dass sich die Welt nicht zum Guten und Schönen entwickelt, hießen sie mir auf der Erde zu weilen und irgendwann vier Kinder auszuwählen, die die Welt säubern sollten und sie rein machen sollten für ihre Abdankung und die Wiederkunft der Götter. Dann werden diese Gericht halten über die Übeltaten der Menschen und die dunklen Geister aus der Erde austreiben. Doch bis dahin ist noch ein weiter Weg und ihre Ankunft ist noch weit entfernt, darum seid ihr hier. Eure Aufgabe besteht darin das Übel aufzuhalten und es zu beseitigen. Nur aus diesem Grund seid ihr hier und tragt diese Waffen und diese Rüstungen." Ein weiteres Mal blieben die Münder offen.
Tinira schüttelte irritiert den Kopf und sagte: "Aber ... aber wieso wir?"
Nur schüttelte der Greis seinerseits irritiert den Kopf und antwortete: "Hast du mir nicht zugehört? Ich habe euch erwählt, euch diese Rüstungen und Waffen gegeben und euch hierher geführt."
"Aber die Waffen haben wir von unseren Ahnen, die -", fing Bolmar an.
"Kinder, Kinder ihr denkt zu beschränkt, lasst eure Phantasie einmal ein bisschen laufen", unterbrach der Greis Bolmar und machte dabei ein seltsam hönisches Gesicht.
"Dann sind diese geschriebenen Zeilen in der Höhle von euch?", fragte Tinira. Der Greis nickte nur.
"Aber ich meine ... sind wir denn fähig dazu? Wir sind zu viert und ...", stammelte Bolmar.
"Ob ihr fähig dazu seid? Ihr werdet es sein müssen, ihr seid erwählt, ihr werdet euren Auftrag erfüllen. Und glaubt mir, Kinder, ihr seid nicht die einzigen, die gegen das Böse ankämpfen. Jenseits der Berge sind schon viele im Namen des Guten gefallen und noch immer kämpfen viele gegen die Finsternis an", sagte der Alte.
"Das, was ich euch als nächste sage, wird euch sehr wahrscheinlich nicht gefallen, aber sobald wir im Osten angelangt sind, werdet ihr euch trennen müssen", sprach der Greis vorsichtig. Nun sahen ihn alle an. Galdior fragte: "Wieso müssen wir das? Können wir nicht zu viert gehen?"
Der alte schüttelte den Kopf und sagte: "Das wäre nicht besonders gescheit, man braucht euch im ganzen Osten. Und wenn ihr alle an einem Ort kämpfen würdet, wäre das Verschwendung von Stärke und Kraft. Nein, nein, ihr werdet euch aufteilen müssen, jeder in eine Richtung." Mit diesen Worten stand er auf und lief zur Türe. Als er merkte, dass sie ihm nicht folgten, hielt er inne und sagte: "Seid ihr an den Stühlen festgewachsen, oder was? Kommt endlich, wir haben nicht ewig Zeit."
Immer noch verwirrt und ein wenig vor den Kopf gestossen, folgten sie ihm aus der Tür heraus. Draußen schlug ihnen ein scharfer Wind entgegen. Ohne ein weiteres Wort marschierte der alte Mann zum Höhleneingang neben der Hütte.
Galdior sprang schnell an seine Seite und fragte ihn, ob sie nicht die Pferde nehmen wollten. Da sah ihn der Greis an und sagte, dass es nicht nötig sei, da sie auf der anderen Seite bessere Freunde und Weggenossen finden würden und dass die Pferde so oder so nicht in die Höhle kommen würden.
Die Höhle war nicht wirklich eine Höhle, sondern eher ein Tunnel und ganz weit, weit vorne sah man den Ausgang in Form eines Lichtpunkts. Lange liefen sie in der Dunkelheit immer dem Lichtpunkt entgegen. Als ihnen die Beine schwer wie Blei waren und die Rüstungen an jeder nur erdenklichen Stelle drückten, gelangten sie endlich ins Tageslicht.
Obwohl die Sonne trüb hinter den Wolken hervorschien, mussten sie doch die Augen mit den Händen abschirmen, da sie so lange in der Dunkelheit gegangen waren.
Der Tunnel hatte sie geradewegs durch die Berge von der West-Seite zu Ost-Seite geführt. Die Aussicht, die sich ihnen nun darbot, war nicht wirklich berauschend. Zu den Bergen hin war das Land hügelig mit vielen Wäldern und Flüssen, doch umso weiter es in den Osten ging, umso karger und dunkler wurde das Land. Direkt vor ihnen lag ein dichter, ruhiger Wald, in ihn führten vier Wege.
"Nun ist die Zeit gekommen, ich wünsche euch viel Erfolg, meine Aufgabe ist nun erfüllt, ich kehre zu meinen Schöpfern zurück", sprach der Greis mit einem feierlichen Unterton in der Stimme. Die vier Freunde drehten sich zu ihm hin und Galdior sagte: "Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich Euch danken oder Euch hassen soll ... darum sag ich einfach Lebewohl. Doch vielleicht wollt ihr mir noch eine Frage beantworteten, wie heißt ihr?"
"Das ist eine berechtigte Frage, gewisse nennen mich 'Diener', andere rufen mich 'Gott', wieder andere heißen mich 'schlechte' oder 'gute Nachricht', und wieder andere sagen mir 'Schicksal'." Mit diesen Worten drehte er sich um und lief in den Tunnel zurück, und bald hörte man seine Schritte nicht mehr.
Lange standen sie dort und schauten in den Tunnel, bis Tinira das Wort ergriff: "Wenn ich meinen momentanen Gemütszustand beschreiben müsste, würde ich sagen: grenzenlos verwirrt."
Zuerst schmunzelten sie, dann fingen sie plötzlich alle schallend an zu lachen und hielten sich ihre Bäuche. Nicht etwa weil sie so fröhlich waren, sondern einfach wegen der Absurdität der ganzen Situation.
"Hätte mir jemand vor zwei Jahren gesagt, was mir alles widerfahren würde, hätte ich ihn mit Bestimmtheit ausgelacht und ihn für verrückt gehalten", meinte Galdior, als sie alle wieder still geworden waren. Dann drehte Reba sich in Richtung Wald um und sagte: "Wir sollten gehen, wenn wir noch länger warten, wird der Abschied noch schwerer."
Die anderen nickten und sie liefen alle auf den Wald zu. Sie hielten an und ohne Worte, nur mit stillen Tränen, umarmten sie sich zum Abschied. Darauf ging jeder seinen Weg, ohne dass sie sich vorher abgesprochen hätten. Keiner drehte sich um, bis die Schritte im Wald verklungen waren.
Kapitel 27
Bolmars Weg in den Süden und seine Erlebnisse nach der Trennung
Er wanderte und wanderte, und hatte keine Ahnung wie viele Schritte er schon zurückgelegt hatte, immer am Fuß des Berges entlang.
Doch als es langsam dunkler wurde und die Dämmerung einsetzte, wurden ihm die Augenlider schwer wie Blei und die Beine schleifte er nur noch nach.
So sank er an einem Baum nieder und schlief, von Träumen des Selbstzweifels und der Unwissenheit gequält. Und als ihn dann am nächsten Morgen die Sonne die Nase kitzelte und er wach wurde, fühlte er sich nicht im mindesten ausgeruht.
Was er aber sicher fühlte und hörte, war sein Magen. Er hatte seit einem Tag nichts mehr gegessen und sein Mund war trocken.
So machte er sich also auf und fand nur wenige Schritte entfernt ein paar nicht ganz reife Beeren. Diese pflückte er und steckte sie ein, dann ging er weiter.
Bald schon hörte er das Rauschen eines Baches. Schnell bewegte er sich darauf zu und fand auch wirklich einen. An diesem kniete er sich nieder und trank, bis sein Durst gelöscht war.
Und wieder begann er zu marschieren immer in Richtung Süden, unterwegs fand er ein paar magere Früchte und Pflanzen, von denen er wusste, dass sie essbar waren.
Als die Sonne den höchsten Punkt am Zenit erreicht hatte, hielt er an. Es war unterdessen drückend heiß geworden worden und er schwitzte aus jeder Pore. Der dichte Wald, der sich zu allen Seiten hin erstreckte, schien die Strahlen der Sonne aufzusaugen und zu speichern.
Da er keine Gefahr fürchtete zog er seine Rüstung aus; es war ein befreiendes Gefühl wieder einmal nur im Unterkleid dazustehen und den Wind über die Haut streichen zu spüren. Das Gefühl immer noch genießend lief er ein paar Schritte umher.
Durch puren Zufall schweifte sein Blick über einen kleinen, runden Teich mitten im Wald. Langsam ging er darauf zu. Das Wasser lag ganz ruhig da und übte eine fast hypnotische Wirkung auf ihn aus. Er sank am Ufer nieder und sah sein Spiegelbild an. War er gealtert? Einige unschöne Narben waren auf seinem Gesicht zu erkennen und erinnerten ihn an die vielen Begebenheiten, die ihm im letzten Jahr widerfahren waren. Eine geraume Zeit saß er so da und starrte sein Spiegelbild an.
Ein Geräusch ließ ihn auffahren, das Knacken eines Astes. Er suchte angestrengt nach einem Anzeichen einer Präsenz und fand sie zuerst nicht.
Er wollte den Kopf gerade abwenden, als er links von ihm etwas vorbei huschen sah. Und diesmal war er sich ganz sicher, dass da irgend etwas gewesen war.
Vorsichtig stand er auf, bewegte sich mit dem Rücken zurück zu seiner Waffe und Rüstung. Stocksteif blieb er stehen, als auch aus der Richtung seiner Waffe und Rüstung ein Geräusch kam.
Schwer schluckend, den eigenen Herzschlag in den Ohren hörend, drehte er sich um. Vor ihm stand ein grauer Wolf mit heraufgezogenen Lefzen. Und mit ihm kamen von überall noch andere Tiere lautlos aus dem Wald. Doch es waren nicht nur Wölfe sondern auch ein paar Hunde, Hyänen und sogar ein riesiger Bär tappte aus dem Dickicht hervor.
Sein Instinkt war schneller als sein Verstand: er schnellte herum und rannte los. Hinter ihm brach ein Tosen los, als sich seine Feinde ebenfalls in Bewegung setzten und ihn verfolgten. Er rannte, sprang über einen umgefallenen Baum, rannte weiter, strauchelte über eine Wurzel, kam auf die Beine und sprintete von neuem los.
Tränen der Verzweiflung strömten aus seinen Augenwinkeln. Zweige peitschten ihm ins Gesicht und Dornen kratzten an seinen Beinen. Als seine Kräfte ihn langsam verließen und er schon nicht mehr ans Weiterleben dachte, wurde er von neuem überrascht.
Von vorne preschte eine weitere Gruppe wild zusammengewürfelter Tiere auf ihn los. Er hatte schon vor abzubremsen und sich einfach dem Tode hinzugeben, als der vorderste, ein riesiger Puma, den Mund aufmachte und sprach: "Renn weiter, Sohn, den Hügel hinauf bis zur Höhle." Nun war er völlig verängstigt. Das Tier hatte gesprochen!
Und wieder retteten ihn seine Instinkte, die ihn zu blindem Vertrauen zwangen. Er rappelte sich auf und rannte weiter; der entgegenkommenden Gruppe vorbei und weiter.
Als er über seine Schulter nach hinten sah, konnte er sehen, dass die zwei Gruppen aufeinander losgingen und sich heftig bekämpften. Die Angst stak ihm noch zu tief in den Knochen, um anzuhalten und zuzuschauen. Er preschte weiterhin den Hügel hinauf, bis er schließlich aus dem Wald herauskam und sich vor ihm eine grosse Höhle auftat. Dort brach er vor Erschöpfung und übermannt vom Schock zusammen.
Kapitel 28
Als er seine Augen wieder öffnete lag er nicht mehr vor der Höhle; sofort kamen ihm alle Bilder wieder hoch, die ihn, bevor er ohnmächtig wurde, beschäftigt hatten.
Nun lag er auf einem Fell, zugedeckt mit ebenfalls einem Fell. Sofort versteifte er sich.
"Wo bin ich? Was ist passiert?", dachte er.
"Ganz ruhig, du bist in Sicherheit", sagte eine brummige Stimme und mit ihr erschien über ihm ein Gesicht eines Bären.
Seine Augen weiteten sich bei dem Anblick und er schluckte schwer. Bolmar stammelte: "Wieso ... wieso kannst du sprechen? Du bist ein Tier, du darfst gar nicht reden!"
Die anfängliche Angst vor dem Riesen verging rasch, denn auf eine Art und Weise, die er nicht zu beschreiben wusste, machte der Bär auf ihn keinen Eindruck der
Gefahr. Der Bär verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: "Kleiner, du musst ja sehr weit weg wohnen, wenn du noch nie ein sprechendes Tier gesehen hast. Ich würde dir, wenn ich denn befugt wäre dazu, die ganze Geschichte erzählen, wie die Tiere sprechen lernten – denn das ist ein höchst spannendes Thema in der Geschichte –, doch das muss warten. Ich soll dich zu unserer Fürstin bringen, sie sorgt für diesen Teil des Landes. Komm mit!"
Der Bär tappte weg, Bolmar stand auf und sah sich beim hinterher laufen um. Die Höhle, in welcher er gelegen hatte, war nur eine kleine Kammer gewesen. Diese Höhle war ein regelrechter Stollen, viele verzweigte Gänge führten weg.
An den Wänden hatte es in regelmäßigen Abständen Fackeln, die dem ganzen einen Hauch von einem Kerker verliehen. Wäre Bolmar allein dort unten gewesen, so hätte er sich zweifellos in dem Labyrinth verirrt.
Lange Zeit begegneten sie niemanden. Dann liefen sie eine gewundene Treppe hinab und kamen in einen großen Saal, in dem es zu und her ging, wie in einem Kriegslager.
Es gab allerlei Tiere, die sich die Krallen an Schleifsteinen wetzten oder die Zähne schliffen oder solche die sich Panzer anlegten oder sonstige Vorbereitungen trafen.
Alle diejenigen Tiere, die ihn kommen sahen, hielten in ihrer Beschäftigung inne und schauten ihm nach.
Der Bär führte ihn durch den ganzen Saal in einen zweiten und in noch einen, dann hing vor ihnen ziemlich unvermittelt ein Vorhang. Mit einer Geste machte der Bär Bolmar klar, dass er eintreten solle.
Bolmar trat am Bär vorbei durch den Vorhang; das Gemach war von Kerzenlicht erfüllt, überall lagen Landkarten herum. Auf der einen Seite des Raumes war ein Teppich ausgebreitet, der sehr bequem aussah und auf der andren Seite lag ein großer Futternapf am Boden. In der Mitte des Raumes stand eine gewaltige, weiße Wölfin, die gerade dabei war eine Karte zu studieren.
Dieser Anblick war wahrlich ein Staunen wert. Die Wölfin leckte mit ihrer Zunge zwanghaft nervös an ihren Eckzähnen herum, während ihr Kopf gesenkt war und sie mit Argusaugen die Karte studierte. Von Zeit zu Zeit strich sie über die Karte, um einem Weg zu folgen.
"Komm näher, Menschensohn, "sagte die Wölfin. Und wieder war Bolmar überrascht.
Obwohl er sich bereits – und das ist ganz logisch betrachtet ziemlich schnell für Bolmars Verhältnisse – an den Gedanken gewöhnt hatte, dass Tiere sprechen konnten, kam es ihm doch komisch vor, dass ein großer, gefährlich aussehender Wolf eine zarte und anmutige, weibliche Stimme haben konnte.
"Deine Rüstung und dein Schwert liegen unter dem Haufen Papier dort hinten", sagte die Wölfin und deutete mit dem Kopf nach rechts. Noch immer hatte sie ihn kein einziges Mal angeschaut.
Er machte einen grossen Bogen um sie herum zu dem angehäuften Stapel mit Karten und Briefen. Unter ihm sah er etwas blinken, rasch machte er sich daran sein Hab und Gut auszugraben.
"Zieh die Rüstung an, Menschensohn!", befahl die Wölfin ihm. Er tat es. Nun fühlte er sich schon viel sicherer. Bolmar zog das Schwert und sah es an, es glänzte immer noch genau so wie zuvor. Dieser Umstand beruhigte ihn und er wandte sich wieder der Wölfin zu.
"Wer ... oder was seid ihr, Herrin? Ihr seht aus wie ein Wolf und sprecht wie ein Mensch, wieso? Was sind das hier für Höhlen? Und wieso habe ich noch keinen einzigen Menschen gesehen?"; nun, da er sich in der Rüstung weniger fürchtete, sprudelten die Fragen nur so aus ihm heraus.
Die Wölfin sah ihn endlich an und sagte: "Hm ... das sind viele Fragen auf einmal. Mein Name ist Andréa. Was ich bin ... nun, ein Wolf, der zu reden gelernt hat. Und du fragst, warum es hier keine Menschen gibt? Nun, weil sie verfolgt wurden und ausgerottet wurden. Du bist mit großer Wahrscheinlichkeit einer der wenigen Menschen im Osten der Berge."
Bolmar sah zu Boden und erinnerte sich an die Worte, die der Alte auf dem Berg gesprochen hatte.
"Wieso kämpft ihr hier eigentlich so verbittert? Geht in den Westen und sammelt euch dort neu, dann könntet ihr sie womöglich besser bekämpfen", sagte er kleinlaut und einem spontanen Gedanken folgend.
"Für einen, der die Welt vom Übel befreien soll, scheinst du aber noch ziemlich grün hinter den Ohren zu sein."
Er sah sie erschrocken an. "Wieso wisst ihr von meinem Auftrag?", fragte Bolmar.
"Man erkennt dich an deiner Rüstung., dass du einer der Vier bist. Und du trägst das Erdschwert mit dir herum, dass macht es noch viel deutlicher."
Lange sprachen sie nun über die Zustände, die ihm Osten herrschten und auch wie die Tiere zu sprechen gelernt hatten.
Andréa sagte, dass früher, als die Welt noch jung war und die Götter die Menschen im Osten eingesetzt hatten, um die Erde zu beschützen, die Götter auch die Tiere im Osten machten. Genau wie die Menschen im Osten intelligenter, ehrgeiziger und mächtiger waren als die Menschen im Westen, so waren die Tiere im Osten klüger und geselliger als ihre Verwandten im Westen.
Sie waren zu Gefährten der Menschen gesetzt, doch sie hatten keine Stimmen. Dies betrübte die Tiere mit der Zeit so sehr, dass sie die Menschen darum baten, es ihnen beizubringen.
Die Menschen waren in der vergangen Zeit selbstsüchtig geworden und sahen sofort ihre Chance in der Bitte. Sie schlugen den Tieren hinter verborgenen und schlauen Lügen einen Pakt vor. Im Gegenzug für das sprechen lernen, sollten die Tiere auf ewig ihre Diener sein. Viele gute Menschen sahen die Absicht ihrer Brüder und versuchten die Tiere zu belehren, doch diese waren verblendet in ihrer Gier und stimmten dem Pakt zu.
Die Menschen hielten ihr Versprechen und brachten den Tieren das Sprechen bei und diese taten ihren Dienerdienst.
Mit der Zeit wurden die Menschen strenger und die Tiere wurden unterdrückt und ausgenutzt. Als dann die Kriege begannen, wurden die Tiere automatisch mit hineingezogen und kämpften gegen ihre eigenen Artgenossen.
Während den Kriegen flüchtete ein kleines Schmiedevolk mit seinen Tieren in den Westen und ließ sich dort nieder. Diese und sehr wenige andere waren die einzigen, die den Krieg der Menschen im Osten überlebt hatten. Große Gastgeschenke brachten sie den Menschen im Westen, als dass sie dort wohnen dürften.
Das Volk gedieh, wuchs und bald war es sehr mächtig. Dann spaltete sich das Brüderpaar, welches das Volk führte und es erwuchs wieder Krieg. Viele Menschen, fielen auf die dunkle Seite durch die listigen Reden des einen Bruders. Nur wenige durchschauten ihn, versuchten zu flüchten und sich zu verstecken. Doch der Bruder, der dem Bösen verfallen war, spürte sie auf und ließ fast alle hinrichten, die nicht zu ihm hielten und die fortan "die Treuen" auf der einen Seite und „die Abtrünnigen“ auf der anderen Seite hiessen. Schliesslich tötete der eine sogar seinen eigenen Bruder.
Eine große Menge der Tiere hatten von Anfang den bösen Bruder durchschaut und hielten zu den wenigen, die treu geblieben waren. Sie gehorchten nur ihnen, doch sollten alle Treuen vernichtet werden, so wäre es ihre Pflicht, denn sie sind durch den Eid gebunden, dem dunklen Bruder zu gehorchen. So versuchten sie das Gebirge vor den Feinden zu schützen, dass nicht die letzten der Getreuen auf der Ostseite der Berge vernichtet würden.
Kapitel 29
Tiniras Weg in den Norden und ihre Erlebnisse nach der Trennung
Anfangs war sie durch lichte Wälder gewandert hatte, hatte sich Nahrung besorgt und ihren Durst an frischem Quellwasser gestillt. Doch umso weiter sie den Berg hinauf wanderte, umso karger wurde die Landschaft. Bald schon hatte es nur noch vereinzelt ein paar kaputte Tannen gehabt, die sich verkrampft an der steinigen Erde festhielten. Auch war der Weg immer steiler geworden und nun drohte ihr auch noch die Nahrung auszugehen.
An einem großen Felsen legte sie eine Rast ein, um zu verschnaufen und um die Aussicht, was das einzige Positive an ihrer derzeitigen Lage zu sein schien, zu genießen.
In einiger Entfernung konnte sie im Süden das kleine Wäldchen ausmachen und die vier Wege. Den Tunnel konnte sie jedoch von ihrer Position unmöglich sehen.
Mit einem Seufzer stand sie wieder auf und kraxelte weiter, denn unterdessen brauchte sie neben den Beinen auch die Arme um weiterzukommen.
Als glaubte, kein Bein mehr vor das andere setzten zu können, ihre Hände aufgeschürft waren und bluteten und sie dachte, sie müsse gleich sterben vor Erschöpfung, änderte sich die Situation vollkommen.
In einem Moment auf den anderen stand sie oben, auf einem Plateau, dass ziemlich lang war, jedoch nicht sonderlich breit.
Sie war doch recht verwirrt, hatte sie doch nicht erwartet, dass ihr Weg so abrupt enden würde. Von ihrem Standort aus sah man weit, vor allem wenn die Luft klar war; ganz weit hinten im Osten, sah sie etwas glitzern. Erstaunt sog sie die Luft ein.
War es denn möglich? Waren die Sagen des großen Ostmeeres also doch wahr? Das Meer, das immer ruhig sei, dessen Grund schimmert wie Gold in der Sonne, in dem sich Fisch tummeln, deren Augen Rubinen glichen und dessen Schuppen harter waren, als jeder Schuppenpanzer? Das Meer, in welchem Pflanzen wachsen, die Früchte tragen, die glänzen wie Silber und saftiger seien, wie keine Frucht an Land? Das Meer, in welchem Menschen mit schuppigen Schwänzen aus Edelsteinen leben, die in riesige Städten unter Wasser bewohnen? Wo jeder Tag ein Fest sei, zur Ehre der Götter, die einst über das Meer fuhren? War es denn tatsächlich möglich?
Doch etwas erstaunte sie noch mehr, sie schwitzte. Sie hatte regelrecht heiß in ihrer Rüstung. Langsam drehte sie sich um und sah in den Westen. Langsam machte sie die Augen zu und noch mal auf. Was war nur mit ihr los? Schnell drehte sie sich um. Doch sie sah alles ganz genau. Wieder wendete sie sich dem Westen zu.
Die Berge flimmerten, waren verschwommen. Sie konnte keine klare Konturen erkennen, nur ein einziges Flimmern. An ihren Augen lag es also nicht, doch was war es dann? Sie machte einen vorsichtigen Schritt nach vorne und sah auf der Westseite des Plateaus hinunter. Sie zuckte zusammen. Zwei Dinge versetzten ihr einen Schlag, so dass sie fast nach hinten viel. Zum einen der unglaubliche Anblick, der sich ihr darbot.
Unter ihr tat sich ein kesselrundes Tal auf. In dessen Mitte lag ein See, in dessen Mitte wiederum eine kleine Insel und auf dieser schien es zu brennen. Zum anderen schlug ihr eine Hitze entgegen, die sie zwang einen Schritt zurückzuweichen. Sie fühlte sich so, als ob sie eben einen riesigen Wasserkessel, der über dem Feuer hing, hinaufgeklettert sei und über dessen Rand in das brodelnde Wasser geschaut hätte.
Im nächsten Augenblick gefror sie zu Eis.
"Mein Kind", hörte sie eine säuselnde und vom Wind getragene Stimme sprechen. "Mein Wappen trägst du, mein Zeichen, du führst mich in die Schlacht. Oft hast du meine Kraft gebraucht in letzter Zeit, und doch kannst du sie nicht beherrschen? Bist du eine der versprochenen Vier? Bist du die Person, die mich entfesselt? Meine Befreierin? Komm herab! Eile geschwind!"
Tinira stand da und in ihr tobte der Krieg zwischen Vernunft und Neugierde gemischt mit Vorahnung.
Bevor sie wirklich wusste, was geschah, rutschte sie bereits auf der Innenseite des Tals herab. Die Wände waren steil und mit den Füßen voran rutschte sie geschwind herab. Die Hitze schlug ihr entgegen wie eine Wand und sie wurde immer stärker.
Bald wurde der Boden ebener und sie konnte laufen. Doch kam sie nur langsam vorwärts, es war ihr, als ob sie eine Wand vor sich her stoßen müsse.
Sie kam dem See immer näher und bald sah sie eine Brücke die vom Ufer zur Insel führte. Auf der Insel stand ein einzelner, verbrannter Baum, dessen Stamm sich nach schon einem Schritt gabelte. In der Gabelung war ein Nest aus Gold gebaut worden, doch diese Tatsache sah man eigentlich nicht.
Alles wurde von einem feurigen Strahlen überleuchtet. Die Konturen des Vogels waren unscharf, jedoch war er klar an der Gliederung der Flügel zum Körper erkennbar. Es war der Phönix.
Kapitel 30
"I ... Ich kann nicht näher kommen! Ich verbrenne!", schrie Tinira zur Insel hinüber. Sie stand auf der Brücke nur nochein kleines Stück vom Baum entfernt. Die Hitze umgab sie ganz und hüllte sie ein. Die Arme schützend vor dem Gesicht war sie auf die Knie gesunken. "Vertraue", säuselte der Phönix. "Vertraue auf deine Rüstung! Sie ist von mir, sie wird meine Kraft aushalten!"
"Für ... was brauchst du mich überhaupt?", kreischte Tinira.
"Ich werde Rache nehmen an den dunklen Mächten, die mich gebunden haben an diesen Baum. Verflucht haben sich mich, damit ich ihnen nicht im Wege stehe. Nur wenn ich wieder meine Rüstung beseele, komme ich raus!"
Tinira fluchte, kämpfte sich wieder auf die Füße und stapfte weiter auf die Insel zu. Bald war sie völlig von einem Feuersturm umgeben.
Nun sah sie nichts mehr, sie stapfte einfach weiter in die Richtung, in der sie den Baum vermutete. Die Hitze wurde unerträglich, sie sengte ihre Haut.
"Gut, mein Kind nur noch ein kleines Stück!", sprach der Phönix.
Plötzlich ließ die Hitze nach, Tinira fiel nach vorne auf die Knie und jemand Zweites füllte ihre Rüstung. Das Gefühl war unbeschreiblich; es war wie wenn man in einem engen Raum mit jemand anderem hockt und nur durch einen Vorhang getrennt ist; man fühlt die Präsenz der anderen Person und man kann auch mit ihr sprechen, jedoch sieht man sie nicht. So etwa fühlte sich Tinira in ihrer Rüstung.
Sie öffnete die Augen und sah sich um, sie kniete neben dem Baum, der Phönix war weg.
„Wo ist es hin?“, fragte sich Tinira.
„Ich bin hier Kind“, sagte eine Stimme neben ihr. Tinria drehte sich um die eigene Achse, es war niemand zu sehen.
"Wo bist du?", fragte sie laut.
„In deiner Rüstung, die Rüstung des Phönix, mein Gefäß“, sprach die Stimme. Tinira wurde still. Sie dachte: „Kannst du jetzt jeden meiner Gedanken lesen?“
„Nein, nur die, welche direkt an mich gerichtet sind“, sprach der Phönix.
„So, ist das ... Übrigens, wie soll ich Euch nennen? Habt Ihr einen Namen?“, dachte Tinira.
„Nun, ja, natürlich habe ich einen Namen. Ich heiße Raar-Fin-Sul. Und wie heißt du? Und, bitte, lass die Höflichkeitsflosken. Wir teilen eine Rüstung, ich bin auf dich angewiesen und du auf mich. Also lassen wir das doch.“
„Gern. Ich heiße Tinira. Dein Name ist schwierig ... kann ich dir einfach Raar sagen? Was bedeutet dein Name?“
„Natürlich, sprich mich mit dem Namen an, den du für richtig hältst. Was mein Name bedeutet? Er bedeutet: Tochter der Sonne. Weißt du was dein Name bedeutet?“
„Nein ... Was denn?“
„Er heißt: Entfesslerin oder Freisezterin. Du hast deinem Namen Ehre getan. Sei stolz drauf!“
„Danke ... Wo sollen wie jetzt hingehen? Was machen wir?“
„Ich denke, du brauchst Übung. Durch mich sind deine Fähigkeiten um das Vielfache gestiegen. Schiess einen Pfeil ab, dann wirst du es sehen.“
Tinira überlegte nicht lange und tat es. Sie nahm einen Pfeil und legte ihn auf die Sehne. Den Bogen gespannt zielte sie in den Himmel und schoss ab.
„Nun entfessle ihn“, gebot Raar ihr.
Der Pfeil explodierte, es war völlig anders. Der Sonnenvogel war größer, heller und schrie lauter, als die, welche Tinira bis jetzt entfesselte. Sie konnten ihn nun auch viel besser kontrollieren.
„Versuche ihn zu spalten“, sagte Raar. Tinira spaltete den Sonnenvogel mehrere Male und konnte sie immer noch perfekt kontrollieren.
„Ich glaube nicht, dass ich noch Übung brauche, ich habe das Gefühl, ich beherrsche es perfekt“, sagte Tinira, ziemlich stolz auf ihr Können.
„Kind, du kannst noch gar nichts, du hast erst einen Kieselstein aufgehoben und angesehen, dabei liegt vor dir ein ganzer Berg.“
Auf diese Worte ließ Tinira den Bogen sinken. Erst ein Kieselstein von einem ganzen Berg? Weit hinten plumpsten die Phönixe in den See.
„Lass uns gehen, Tinira, es wird Zeit.“
Tinira lief los, immerzu redend mit Raar. Diese sagte ihr viel, was sie bisher noch nicht gewusst hatte, über die Anfänge der Zeit und anderen längst vergessenen Dingen.
Kapitel 31
Rebas Weg in den Nordosten und ihre Erlebnisse nach der Trennung
Die Landschaft tat sich vor ihr auf wie eine Blüte im Frühling. Zuerst sah Reba in den Süden, dort schlängelte sich ein Fluss, der Große Fart, in den Osten und teilte sich bald. Der eine Teil floss in den Süden, der andere weiter in den Osten. Der, welcher in den Osten floss, teilte sich wieder in hunderte kleine Arme, die alle ein Sumpf spiesen. Darüber lag dichter Nebel.
Als sie weiter in den Nordosten blickte, erkannte sie einen einzelnen großen Berg, dessen höchster Punkt ein riesiges Hochplateau zu sein schien. Er hatte keine richtigen Ausläufer und glich auch sonst nicht wirklich einem Berg, doch wie würde man sonst ein großes unförmiges Ding mitten in der Landschaft bezeichnen?
Ihr Weg führte ohne Umweg geradewegs zu ihm. Reba überlegte nicht lange, sondern ging los, immer dem Weg nach.
Der Gedanke, dass sie bis weit hin sichtbar war – denn die Landschaft um sie herum war eine große Steppe – kam ihr zu spät. Zuerst waren es nur kleine Flecken, die sich vom Horizont abzeichneten, doch sie wurden schnell größer und bald konnte man die Umrisse von Reitern erkennen.
„Verdammt ich war unvorsichtig, sie sollten mich nicht sehen. Ich verschwinde besser ... wie lange brauche ich wohl, bis ich beim Berg bin?“, dachte sie.
Und sie verschwand. Ihre Rüstung bremste ihre Geschwindigkeit nur leicht ab. Sie hatte keine Ahnung wie schnell, dass sie gerade rannte, aber es musste sehr schnell sein. Ihre Beine machten riesige, Sprünge, und waren doch nicht zu sehen.
Immer näher rückte der Berg zu ihr heran. Der Gegenwind wurde immer stärker und Reba wurde langsamer.
„Was ist los? Wieso werde ich immer langsamer?“, fragte sie sich. Bald rannte sie nur noch in normaler Geschwindigkeit. Der Wind peitschte ihr ins Gesicht. Er schlug sie mit unsichtbaren Fäusten, als wollte er sie daran hindern den Berg zu erreichen. Sie sah über ihre Schulter zurück, und stellte mit Erschrecken fest, dass die Reiter ihre neue Position ausfindig gemacht hatten und nun auf sie zu ritten.
„Ich muss zu diesem Berg, und zwar schnell! Wieso stellt sich der Wind gegen mich? Ich muss ihm befehlen wegzugehen!“, dachte Reba mit einem grimmigen Gesichtsausdruck.
Sie versuchte den Wind von ihr weg zu lenken; anfangs hatte sie das Gefühl, dass es klappe, doch dann schien eine andere Kraft dagegen zu halten und sie musste um die Herrschaft über den Wind kämpfen.
Sie kämpfte sich langsam vorwärts, es war, als wenn sie eine Tür zustoßen wollte und jemand auf der anderen Seite dagegen drücken würde.
Wieder schaute sie zurück. Die Reiter war nun schon ganz nah und schossen ihre Pfeile auf sie ab, doch das brachte nicht viel, denn sie wurden vom Wind einfach zurückgeworfen.
Dann erreichten auch die Reiter den Windwall und kamen nicht mehr weiter. Bei dieser Gelegenheit nahm sie die Reiter gleich genauer unter die Lupe. Es schienen einfache Räuber oder Söldner zu sein, schlecht ausgerüstet und ausgebildet. Reba frohlockte in Gedanken und warf sich erneut gegen den Wind und befahl ihm zu weichen.
Auf ein Mal fiel sie nach vorne aufs Gesicht. Der Sturm hatte schlagartig nach gelassen. Schnell stand sie auf und drehte sich zu ihren Verfolgern um. Diese hatten es aufgegeben und hatten sich zurückgezogen.
Reba verschnaufte eine Weile, dann wandte sie sich wieder dem Berg zu und blieb mit offenem Mund stocksteif stehen.
Es war ein Käse. Der Berg war feuerrot und durchlöchert wie ein Käse. Durch die Löcher pfiff der Wind verschiedene Töne, die sich zu einer Melodie einten.
Langsam schritt sie den Weg entlang, weiter auf den Berg zu. Er schien nicht natürlich, und doch war er wunderschön.
Der Weg führte direkt in den Berg hinein, von Loch zu Loch.
Reba, mehr als je zuvor dazu angestachelt, auf das Plateau zu kommen und zu sehen was der Berg birgt, eilte dem Weg nach.
Das Innere des Berges glich einem luftig gebackenen Brot: überall Löcher, durch welche der Wind seine Melodie pfiff. Reba kam kaum mehr aus dem Staunen raus, und doch zwang sie sich selbst zur Eile.Durch hunderte von Löchern stieg sie.
Außer Atem kam sie schließlich zu einer Treppe, die aus dem Berg herausführte und dann in einer Drehung weiter oben wieder hineinführte. Mit mehreren Schritten auf einmal nehmend rannte sie die Treppe hinauf. Auf der obersten Stufe blieb sie stehen.
Vor ihr hatte sich ein Balkon, der von Säulen umringt war, aufgetan. Die Säulen schienen aus reiner Zierde diesen Balkon zu schmücken.
Das Sonnenlicht brachte die Marmorsäulen zum Glitzern und Reba konnte von ihrer Position aus sehr weit über die Ebene sehen.
Auf der anderen Seite des Balkons führte ein Gang weiter hinauf. Sie tat den ersten Schritt zwischen den Säulen hindurch und gleich kam ein wirbliger, warmer Wind auf, der einem lebendiger vorkam, als ein normaler Wind. Er strich Reba über die Haut wie eine zärtliche Hand und klang wie eine Melodie bei einem Sommerabendfest, leicht und beschwingt, sorgenfrei.
Das Laub auf dem Marmorboden wurde aufgewirbelt und tanzte mit dem Wind. Immer näher kamen sich die Blätter, berührten sich an den Blattspitzen wie Menschen sich an den Händen nehmen und nahmen langsam die Form eines mächtigen Zentaur an.
"Was, o Menschenkind, willst an einem Ort wie diesem? Unberührt seit langem ist er und nur von einer der Mächtigen am Ende der Gezeiten, kann er betreten werden. Nimmer wirst du wiederkehren zu denen, die lieb dir sind! Denn gesehen hast du ein Wunder der Götter. Ich bin Uutar-Moru Wächter der zehn Säulen und Beschützer des Windes", sprach der Zentaur mit einer klaren, alles durchdringenden Stimme.
Dann formten sich die Blätter neu und der Wind blies weiter. Er stürmte Reba plötzlich unfreundlich um die Ohren. Sie stand steif da, nicht glaubend, was sie sah. Der Zentaur schwang ein langes Schwert, das keine materielle Form hatte.
Einem Orkan gleich sauste das Schwert auf sie nieder, zischend und die Luft zerschneidend. Schlagartig erwachte sie aus der Starre. Mit einer Bewegung kaum sichtbar von Auge, zog sie die Stachel aus den Scheiden und blockte das Windschwert ab. Der Ton, der dabei entstand, klang zwei aufeinander treffender Weingläser ähnlich, nur nicht zärtlich und beschwingt, sondern rau und unbändig.
Der Zentaur schien verwirrt und schritt ein paar Schritte rückwärts.
"Wie ... Herrin! Verzeiht eurem alten Knechte! Nicht erkannt habe ich Euch. Zu lange war ich allein, ohne eine andere Person. O verzeiht mir!", stammelte der Zentaur. Mit einer vorsichtigen, kontrollierten Bewegung senkte sie die Stachel.
"Wovon sprecht Ihr?", fragte Reba.
"O ich alter Tor! Vergessen habe ich alles, was Ihr mir beigebracht! Nun denn so sag ich's. Ich bin der, der Euch von eurer Vorbestimmung erzählt. Ihr seid die Nachfolgerin meiner ehemaligen Meisterin. Doch kommt! Folgt eurem alten Diener! Ich geleite euch zu Eurem Gemach. Dort wird sich's klären!"
Uutar-Moru drehte sich und ging, oder besser schwebte auf die Tür hinter ihm zu. Reba immer noch betäubt vor Verwunderung folgte ihm nach.
Die Treppe führte weit nach oben und beständig blies der Wind in Form des Zentaur vor Reba her. Sie kam sich vor wie einem mythischen Traum voller sagenhaften Gestalten.
Endlich kamen sie oben an. Sie standen vor einem gewaltigen Tempel, der durch zwanzig Säulen begrenzt war. Er hatte keine Wände nur ein Dach. In der Mitte stand ein Bett, daneben ein gewaltiger Pult und dahinter ein noch gewaltigeres Regal, welches sich von einem zum anderen Ende zog.
Uutar-Moru sprach: "Willkommen zu Hause, Herrin!"
Kapitel 32
Galdiors Weg in den Südosten und seine Erlebnisse nach der Trennung.
Lange genoss er das Schauspiel, das sich unter ihm zutrug.
Galdior saß auf der Klippe, der Gabor-id-Tal und blickte auf den Fart, der sich unter ihm in den oberen und den unteren Fart teilte. Seine Füße baumelten über dem Abgrund und nachdenklich strich er sich mit der Hand über die Narben in seinem Gesicht, die er aus dem Kampf mit dem Meister der Kälte herausgetragen hatte.
In der Tiefe spritzte das Wasser gegen die Klippen und klang wie ein fernes Donnern. Galdior hatte eigentlich vorgehabt nur eine Weile hier zu bleiben, doch irgendwie gefiel es ihm an diesem Punkt zu hocken, in der Landschaft herumzuschauen und zu träumen.
Im Westen lagen die Berge und Wälder, im Norden sah er einen einzelnen Berg, den er zwar seltsam fand, um welchen er sich jedoch nicht weiter kümmerte. In seinem Rücken führte die Klippe steil bergab, nördlich zu den Mooren, südlich in eine weite Steppe mit viel hohem Gras und wenig Bäumen.
Schließlich stand Galdior dann doch auf und stieg dem unteren Fart entlang den Weg hinab. Tief in Gedanken versunken, nachsinnend darüber, was wohl noch vor ihm liegt, wanderte er über Stock und Stein.
Als die Sonne untergegangen war, wurde der Weg leichter zu begehen und er lief in einem flotteren Tempo weiter. Er hielt sich immer direkt am unteren Fart, am Nordufer.
Der Fluss floss leicht dahin, sich um nichts sorgend, sich nicht kümmernd um der Welten Lauf.
Eine scheinbare Ewigkeit schlurfte er; das Geräusch des Wassers zu seiner Rechten und den Blick auf den Boden vor ihm gerichtet. Nicht wenig erschrocken war er daher, als er vor sich ein Wiehern hörte. Er blickte auf und schaute einem schneeweissen Pferd in die Augen. Wie angewurzelt blieb er stehen. Galdior starrte das Pferd an, nicht etwa weil er noch nie eins gesehen hatte, sondern weil einerseits ein langes, gedrehtes Horn dessen Kopf schmückte, welches etwa eine Elle lang war und andererseits, die klugen Augen, die ihn direkt anschauten.
"Sehr vorsichtig scheinst du ja nicht zu sein, aber eine wahrhaft schöne Rüstung hast du an!", sprach das Pferd mit einer doch sehr überraschend tiefen Stimme.
Die Augen weit aufgerissen, die Hand bereit nach seiner Waffe zu greifen, antwortete er: "Wieso? Wieso kannst du sprechen?"
"Na, hör mal!", sagte das Einhorn mit einem bestürzten Gesichtsausdruck. "Ich bin ein Einhorn, Einhörner können immer sprechen!"
"Tut ... Tut mir Leid! Ich war nur nicht darauf vorbereitet. Hast du einen Namen? Woher kommst du?"
"Was stellst du denn für Fragen? Klar, habe ich einen Namen, Zuzu. Meine Herde weidet weiter südlich, ich bin nur hierher gekommen, um ein bisschen alleine zu sein. Und du?"
"Nun, ich bin so was, wie auf der Durchreise ohne festes Ziel. Kann ich ein Stück mit dir kommen?"
"Klar, du kannst mich zurück zu meiner Herde begleiten, wenn du möchtest."
Galdior nickte und zusammen machten sie sich auf den Weg in Richtung Süden. Sie redeten viel miteinander und lachten auch. Schnell lernten sie sich näher kennen.
Als Galdior gerade mitten in der Erzählung seiner bisherigen Reise steckte, wurde mit dem Wind ein schriller Schrei mitgetragen. Zuerst hatte es Galdior nicht einmal bemerkt, doch dann sah er wie Zuzu stocksteif stehen blieb, erstarrt von Kopf bis Fuß.
Zuzus Augen sahen erschrocken umher. Wieder erklang ein Schrei, diesmal lauter und klarer. Zuzu öffnete weit seine Augen.
"Dieser Schrei kam aus dem Süden! Schnell spring auf! Ich fürchte Schlimmes!"
Galdior zögerte nicht lange, sondern sprang auf Zuzus Rücken, währenddessen dieser bereits losrannte.
Ohne Sattel zu reiten war sich Galdior eigentlich nicht gewöhnt und mehr als einmal hatte das Gefühl, als stürze er, doch Zuzu schien ihn auf seinem Rücken zu balancieren.
Auf einer Hügelkuppe blieb Zuzu stehen. Unter ihnen tobte das Chaos. Überall kämpften weiße Einhörner gegen grobschlächtige, überdimensional grosse Hyänen.
Im Gras lagen verstreut aufgespießte und überrannte Hyänen und tote oder verletzte Einhörner. Von letzteren waren es deutlich mehr.
Zuzu machte einen Satz nach vorne. Aus seinen Augen sprühte haßerfüllter Zorn. Galdior sprang kurz entschlossen ab, machte eine Rolle und rappelte sich wieder hoch. Die Auswahl war groß.
Zu seiner Rechten sah er ein Einhorn, das sich verzweifelt gegen sechs Hyänen wehrte. Die Hyänen schienen mit ihr zu spielen. In Galdior stieg kalter Hass hoch. Sofort sprintete er auf die Gruppe los; mit einer einzigen Bewegung fegte er drei Hyänen weg. Das Einhorn machte einen Satz nach vorne durch die freie Lücke und Galdior beendete das Leben der anderen drei Raubtiere. Keine Zeit verbrachte er damit, den Danksagungen des geretteten Einhorns zuzuhören. Sofort eilte er zur nächsten Gefahr, er war wieder ganz in seinen Element.
Galdior stieß mit dem Rücken an eine Felswand. Er war gefangen. Vor ihm näherte sich ein monströses Exemplar einer Hyäne.
"Gib auf! Ich bin der Hyänenfürst! Nie besiegt im Kampf. Gib auf!", knurrte die Hyäne zwischen zusammengebissenen Zähne.
Galdior war nicht wirklich überrascht, weder über die Tatsache, dass die Hyäne sprach, noch über die Verwegenheit derselben, wenn man besah, dass sie praktisch alleine war. Doch er entgegnete nichts, die Lage war gefährlich.
Er hatte seine Lanze vorhin durch einen ungeschickten Zug verloren. Jetzt stand er mit erhobenen Fäusten da und schätzte seinen Gegenüber ab. Dieser näherte sich Galdior im Zickzack. Mit zwei schnellen Blicken suchte Galdior irgendeine Möglichkeit zur Flucht – da war keine.
Endlose Minuten vergingen, immerzu hielten sich die beiden im Blick. In einem gewaltigen Satz griff die Hyäne an. Ihr Sprung war kaum wahrzunehmen mit menschlichen Auge. Galdior konnte sich nur noch auf die Seite fallen lassen. Der Hyänenfürst war schnell, er gab Galdior keine Zeit aufzustehen.
In einem Moment war er über ihm und nagelte Galdior mit seinem immensen Gewicht am Boden fest. Mit geschickten Bewegungen seiner plump aussehenden Pranken streifte der Hyänenfürst Galdior den Helm vom Kopf und schleuderte ihn beiseite. Speichel tropfte von den Lefzen der Hyäne auf das Galdiors Gesicht. Der Hyänenfürst sah seine Narben an und sagte: „Dich hat schon einmal jemand anderes gekratzt, oder? Wer war es?“
„Der Meister der Kälte. Du kennst ihn vielleicht, ihr gehört doch alle zum selben beschissenen Rattenpack ...!“
Die Hyäne knurrte. „Für das, dass du ziemlich tief in der Scheiße steckst, hast du ein reichlich großes Mundwerk“, sprach sie.
Während dem Kampf hatte die Dämmerung Einzug gehalten und der Mond stand bereits am Himmel. Der Hyänenfürst wollte gerade seine Pranke erheben und Galdior weitere Narben hinterlassen, da wandte Galdior seinen Kopf ab und schloss verängstigt die Augen.
Die Stimme des alten Mannes, der ihn durch den Tunnel in den Osten geführt hatte, erklang in seinem Kopf. Galdiors Geist schaltete in Tausendstel Sekunden. Er sah zum Mond.
Der Mondschein brach durch die Wolkendecke auf das Schlachtgetümmel. Die Pranke flog auf Galdiors Gesicht zu.
Ein kaltes Kribbeln lief durch Galdiors Körper bis in seine Zehen und Finger und erfüllte ihn mit einer nie gekannten Kraft.
Mit einem einzigen Heben seines Brustkorbs katapultierte er den Hyänenfürst zehn Schritte in die Höhe. Dieser fand sich plötzlich in der Luft wieder, blickte sich verwirrt um und als er gerade wieder zu fallen begann, war Galdior neben ihm. Die Hyäne kniff die Augen zu. Galidor war nicht wiederzuerkennen, er leuchtete, ja, jede Faser seines Seins strahlte dieses tanzende, weiße Mondlicht aus.
Wie Galdior sich in diesem Moment fühlte, war für ihn im Nachhinein schwer zu beschreiben, er schien jede Zelle zu spüren und er fühlte sich federleicht, obschon er von dieser unglaublichen Kraft durchströmt war. Was aber wirklich seltsam war, war, dass er alles negativ sah, als hätte man alle Farben umgedreht. Und er liebte es, diese Stärke, dieses Gefühl die Welt verändern zu können.
Er lachte seinem Gegner schallend ins Gesicht. Die Hyäne fand das überhaupt nicht komisch, sie zitterte wie ein geprügelter Hund und im Angesicht dieses Gottes, der da neben ihr flog und ihr ins Gesicht lachte, leuchtend wie ein Stern am fernen Horizont, wurde ihr Angst und Bang.
Der erste Schlag bemerkte sie erst, als sie mit zwanzigfacher Fallgeschwindigkeit in Richtung Boden sauste. Der Aufprall des Hyänenfürsten verursachte ein Krater im Boden. Obwohl unnötig, landete Galdior über ihm, zog die Faust zurück, lachte noch einmal schallend und verschwand zu einem weißen, milchigen Klecks in der Luft. Die Erschütterung im Boden war noch einen Tagesritt weiter weg zu spüren.
Der Hyänenfürst war tot und langsam verblasste das Licht um Galdior.
Kapitel 33
Er sog die frische Nachtluft tief ein, in dieser Nacht hatte er viel gelernt. Er hatte erkannt, was seine Aufgabe in diesem letzten Krieg war: es hatte definitiv mit diesen Einhörnern zu tun. Auch hatte er viel erkannt in Bezug auf sich und seine Fähigkeiten.Es war ihm, als ob er bisher ein Bild gesehen hätte, wovon nur die Ecke bemalt war, nun aber war es bis zur Hälfte fertig.
Das überraschende Auftauchen der Einhörner, oder besser der sprechenden Einhörnern, in seinem Leben machte ihn immer noch ein wenig konfus.
Galdior hatte sich in dem Kampf von zuvor sofort zurecht gefunden, obwohl im Grunde genommen nur Tiere gegeneinander kämpften. Und trotzdem sah er ihren fast menschenähnlichen Geist in ihren Augen glitzern.
Das Kribbeln in seinen Gliedern hatte sich zurückgezogen. Galdior starrte immer noch zum Mond, als er Trampeln hörte, er wandte sich um.
Zuzu hatte eine tiefe Schramme am Hals und von an seinem Horn klebte frisches Blut, doch sonst schien es ihm gut zu gehen.
„Taru, unser Fürst, muss mit dir reden“, sagte er. Galdior nickte und folgte ihm. In einem Kreis von trauernden Einhörner lag Taru. Galdior blieb außerhalb des Ringes stehen. Leise erklang die Stimme Tarus: „Bringt mir den Auserwählten!“
Die Einhörner machte Galdior Platz und er kniete sich neben dem alten Einhorn nieder.
„Licht umgibt dich, Galdior, Lichterfürst, gross werden deine Werke sein, führe die Einhörner ins Ende, beende das Übel. Ich werde sterben. Heil dir Galdior, Lichterfürst und letzter Fürst der silbernen Schar!“, Tarus Augen blickten in die Unendlichkeit und ein Lächeln verzog das Pferdegesicht.
Galdiors Tränen glitzerten im Mondlicht, als sie auf Tarus Gesicht fielen. Lange kniete er neben ihm, er hatte ihn zwar nie gekannt, doch schien es ihm, als wäre es so.
Von hinten meldete sich eine Stimme: „Herr, was sind Deine Pläne? Du bist von nun an unser Fürst, mögest Du uns in Krieg und Verderben führen, so werden wir Dir doch folgen.“ Dann in einem einstimmigen Chor riefen die Einhörner mit ihren tiefen und hohen Stimmen: „Heil Dir, Galdior, Lichterfürst, 77. Fürst der silbernen Schar, in Licht wie in Finsternis, folgen wir Dir!“
Galdior stand auf und antwortete: „In den Krieg werd ich euch führen, doch nicht in Verderben noch in Finsternis. Das Licht geht uns voraus und nichts wird es aufhalten können.“
Kapitel 34
Reba
Der Wind strich ihr durch das lange, blonde Haar und wirbelte es auf. Dunkle Augenringe rahmten ihre blauen Augen ein. Sie hatte sich tagelang durch alte Papiere ihrer „Vorgängerin“ gearbeitet, die nun alle verstreut herumlagen. Eben hatte sie eine alte Schriftrolle durchgearbeitet, worin die Ereignisse frühster Zeit aufgeschrieben waren.
Uutar-Moru hatte ihr aufgetragen alles genau durchzulesen, was er ihr brachte. Nun war sie fertig, stand auf und machte ein paar Schritte im Tempel umher.
Sie strich mit ihrer Hand über die Marmorsäulen. In den letzten Tagen waren ihr die Augen geöffnet worden. In dieser Welt, in der sie so lange gelebt hatte, gab es viel mehr, als sie sich jemals vorgestellt hatte.
Erschrocken drehte sie sich um, Uutar-Moru hatte sich, wie schon viele Male zuvor, ihr unbemerkt genähert.
„Seid Ihr bereit? Habt ihr alles gelesen?“, fragte er.
Sie nickte. Uutar-Moru machte ihr ein Zeichen ihm zu folgen. Er führte sie tief in den Berg hinein zu einer Tür. Dort blieb er ehrerbietig stehen und senkte seinen Kopf.
„Das Ende hat begonnen. Nur der Windfürstin ist es gestattet die Tür zu öffnen“, sagte er.
„Was befindet sich da drin?“, fragte sie.
„Ist euch noch nie aufgefallen, dass die Scheiden eurer Stachel zu lang sind für die, welche ihr nun tragt? Nun geht hinein. Erbt den Schatz.“
Reba fragte nicht weiter nach; sie wusste, dass er nicht mehr sagen würde. Mit großer Sorgfalt stemmte sie sich gegen die Tür. Diese quietschte und öffnete sich langsam.
Der Raum dahinter war rund. Nichts zierte die steinernen Wände oder den Boden. Überall hingen Spinnweben und es roch moderig. Nicht ein Windlein regte sich. Ein einziger Lichtstrahl fiel durch ein Loch in der Decke auf eine Konsole, die aus dem gleichen roten Stein Material bestand, wie der Rest des Berges.
Reba machte ein paar Schritte auf die Konsole zu. Auf ihr lagen zwei lange Stachel, welche in zwei perfekte Formen im Stein gelegt worden waren. Hinter ihr trat Uutar-Moru in den Raum.
„Dies sind Ru und Ro, der Ostwind und der Westwind. Euer Eigen, Windfürstin, gebraucht sie nur für Gutes und Gerechtes. Dies sind die Worte, die einst einer sprach, welcher mächtiger ist“, flüsterte Uutar-Moru in ihrem Rücken.
Reba betrachtete die Stachel, sie glänzten gespenstisch im fahlen Licht.
Der eine, Ro, leuchtete heiss und rot wie der Abendwind im Westen, das andere, Ru, rein und kalt wie der Morgenwind im Osten.
Mit einer schnellen Bewegung griff sie nach ihnen und schwang sie in großen Kreisen. Sie waren federleicht, doch waren die Klingen so scharf, dass sie sogar Luft zu schneiden schienen. Uutar-Moru hob beschwichtigend die Hände und sagte: „Herrin passt auf! Ihr habt keine Ahnung, was ihr bewirken könnt mit dieser Macht, die Ihr in Euren Händen haltet. Geht hinaus in die Ebene!“
Reba zuckte mit den Schultern und rannte nach draußen. Tatsächlich war sie neugierig, was sie denn bewirken konnte. Als sie beim Balkon war, machte sie sich nicht die Mühe alles hinunterzurennen. Sie nahm kräftig Anlauf und sprang. Sofort bildete sich unter ihr ein Luftkissen, worauf sie nach unten glitt. Sie setzte auf dem weichen Boden auf und sprintete weiter.
Hinter sich hörte sie Uutar-Moru rufen, sie dürfe nicht beide Stachel gleichzeitig benutzen. Reba runzelte die Stirn. Etwa drei Bogenschüsse von ihrer Behausung entfernt hielt sie an und sah sich um. Rundherum tat sich Steppenlandschaft auf.
Sie zückete Ro, der Westwind, und packte ihn fest mit beiden Hände. Ro vibrierte vor Vorfreude wieder aktiv sein zu können. Mit schnellen, kontrollierten Bewegungen schwang sie das kurze Schwert.
Mit einem Seufzer kam ein Wind von Westen auf, heiß und stark wie eine große unsichtbare Faust, fegte er über die Ebene. Immer weiter und heftiger schwang sie Ro, und immer stärker wurde der Wind. Er riss mit Gewalt Gräser aus und zerrte an den einzelnen Bäumen. Mit einem Ruck ihres Arms brachte sie den Wind zum Schweigen.
Ro zurück in die Scheide schiebend nahm sie Ru zur Hand. Ru fühlte sich wesentlich kälter an denn Ro. Sie fing ihn an zu schwingen und ganz leise kam eine Brise auf, die dem Boden entlang Reba um die Beine pfiff. Immer schneidender wurde die Brise, doch noch immer war sie nur als leises Pfeifen zu hören. Umso länger sie Ru führte, umso kälter und schärfer wurde der Wind. Bald fühlte er sich wie tausend Messer an, die gleichzeitig auf die Haut einstachen. Reba schrie leise auf, als sie merkte, dass Ru sogar fähig war tatsächlich Sachen zu schneiden. Sauber abgetrennte Gräser und Äste flogen ihr um die Ohren.
Nun schob sie Ru wieder zurück und überlegte lange. Sie würde eine Zeit benötigen, bis sie beide vollkommen unter Kontrolle hatte, doch sicher würde ihr Uutar-Moru dabei helfen.
Kapitel 35
Tinira
Das Lagerfeuer prasselte hell und warm, und so war es Tinira auch zu Mute. Sie lag im Gras und schaute zu den Sternen, die da blinkten und leuchteten.
„Siehst du die zwei großen Sterne ganz im Osten, die welche ganz nahe beieinander sind?“
Tinira nickte, ja, sie sah sie. Sie waren die größten und hellsten und sie waren außergewöhnlich weiß.
„Sie zeigen die Richtung, woher die Götter zurückkommen werden.“
„Und wann wird es soweit sein, Raar?“, fragte Tinira.
„Wenn die beiden zu einem verschmelzen.“
Tinira dachte eine Weile darüber nach und fiel dann in einen unruhigen Schlaf. Nach nicht all zu langer Zeit wurde sie von Raars Stimme wieder geweckt.
„Tochter, schnell wach auf! Wir bekommen Besuch; versteck dich in den Büschen dort!“
Ihre Reaktion war blitzschnell; Tinira schreckte auf und rannte mit drei gewaltigen Sätzen hinter die nahen Büsche.
Nank war noch sehr jung und bereits Kommandant einer ganzen Wolfseinheit. Dies hatte zur Folge, dass seine Arroganz größer war als seine Intelligenz.
Langsam trottete er an das heruntergebrannte Feuer heran. Vorsichtig beschnüffelte er den Boden rund um das Feuer. Er nahm den Geruch auf und zog voller Zufriedenheit die Lefzen zurück.
Der Geruch war eindeutig; es war ein Menschenkind hier gewesen, und zwar vor nicht all zu langer Zeit.
„Lunk und Fink, ihr geht in die Büsche dort“, befahl er seinen Untergebenen. „Tonk und Ank ihr geht den Hügel hinauf. Die anderen durchstöbern das ganze Gebiet nach eigenem Gutdünken. Denkt daran wir brauchen sie lebend, sonst -“ Ein schriller Schrei unterbrach seine Stimme.
Die Wölfe sahen alle gleichzeitig in den Himmel, dort nämlich entfachte sich gerade ein dreifacher Feuervogel. Bevor das Rudel reagieren konnte, stürzten die Vögel mit rasender Geschwindigkeit auf sie herab. Der schnellste Phönix erwischte Nank genau in die Brust und schleuderte nach hinten.
Das Rudel löste sich aus seiner Starre und rannte um ihr Leben. Mit solch einem Gegner hatten sie es noch nie zu tun gehabt. Trotzdem fielen noch zwei weitere Wölfe durch die zwei übrig gebliebenen Phönixe. Noch lange hörte man ihr Jaulen, auch dann noch, als Tinira wieder aus den Büschen kam.
„Die kommen wieder, und zwar schneller als uns lieb sein wird. Am besten brechen wir in Richtung Norden auf.“
„Wieso in den Norden?“
„Ich werde dir eine Fähigkeit beibringen, für welche wir Schnee brauchen werden, um dich abzukühlen.“
„ ... um mich abzukühlen?“
„Ja, mein Kind. Du wirst brennen.“
Kapitel 36
Nach einem halben Jahr verzweifelter Kämpfe und zahlreichen Toten im Osten des Kontinents, trifft das lang ersehnte Zeichen endlich ein. Dieses Zeichen sollte den Zeitpunkt darstellen, wenn das Dunkle endgültig ausgerottet werden sollte.
Bolmar
Vorsichtig berührte er die schwere Kette, die um seinen Hals hing. Zu seinem 19. Geburtstag hatte er sie von Andréa bekommen. Sie bestand vollständig aus Bronze und es war ein großer Stern eingraviert.
Bolmar saß in einer breiten Astgabel und sah zu den Sternen. Da gab es etwas am Himmel, was ihn in dessen Bann zog: Zwei Sterne, welche zusammen wie eine gefüllte Acht ergaben. Auf eine ihm unheimliche Art und Weise hatte er so ein Gefühl des nahenden Endes, wenn er sie ansah.
Ein kalter Herbstwind fegte über ihn hinweg und brachte seine Kette zum trudeln, sodass der Stern auf seiner Kette im Licht der gefüllten Acht zu blinken begann. Sofort fiel es Bolmar wie Schuppen von den Augen. Er wusste nun ganz genau: Das Ende war da.
Tinira
Eisiger Wind deckte sie ein. Nur langsam konnte sie sich den Weg durch den Schnee, der ihr bis zu den Knochen reichte, bahnen. Sie setzte Fuß vor Fuß und kämpfte innerlich mit der Kälte, die sie umgab. Einen kurzen Moment hielt sie inne und sah in den Himmel. Zwischen den Wolken blinkten kleine Sterne hindurch. Der Mond war nirgends zu sehen. Doch das machte im Grunde genommen nichts, denn am östlichem Horizont schienen zwei Sterne so grell, dass ein Mond nicht von Nöten war.
„Es ist soweit. Suche deine Geschwister und macht die Dunkelheit zum Licht.“
Reba
Mit zusammengekniffenen Augen beäugte sie den blinkenden Punkt, der sich von Norden her auf sie zu bewegte. „Hmm, ist das eine Rüstung, die das Sonnenlicht reflektiert?“, dachte Reba. „Ich glaube, ich seh mir das einmal genauer an.“
Sie schob Ru und Ro in die Scheiden und segelte auf dem Wind nach unten. Ja, eindeutig es war eine Rüstung. Die Person lief weiterhin auf sie zu. Reba legte ihre Hände an die Schwertgriffe.
„Wer bist du?“, rief sie übers Feld.
„Erkennst du mich nicht?“, schrie die Person zurück.
Reba sah zu wie die andere Person ihren Bogen spannte. Ein Lächeln umspielte Rebas Lippen, sie wusste, um wen es sich handelte.
Der Pfeil explodierte in einer Wolke aus Feuer und Rauch. Reba legte den Kopf schief. Der Phönix war um das vierfache größer als früher und er schien heißer. Der Feuervogel raste weiterhin auf sie zu. Mit einem leisen Seufzer zog sie die Stachel aus den Scheiden. Mit gewaltigem Getöse schob sich eine dicke, warme Luftschicht zwischen Reba und den Phönix und bremste diesen ab. Dann stieg ein kalter, scharfer Wind auf und spießte den Phönix auf.
„Wo hast du das gelernt?“, fragte Tinira, die sich bis auf wenige Schritte genähert hatte.
Reba lächelte und deutete mit dem Daumen auf den Berg. Sie sagte: „Komm, ich zeig dir meine Wohnung. Ich bin gespannt, was du zu erzählen hast.“
Einige Minuten später stiegen sie die Treppe vom Balkon zum Tempel hinauf. Plötzlich hielt Tinira inne. Reba drehte sich verwirrt um: „Was denn?“
„Da ist jemand ... ich spüre es.“
Ein leiser Wind strich die Treppe hinauf. Reba erkannte ihn sofort und lächelte.
„Komm, ich werde dich ihm vorstellen.“ Im Tempel oben rief Reba nach Uutar-Moru.
Sofort tanzten von überall her Blätter hinein, zwischen den Säulen, die Treppe hinauf, von überall.
„Fürstin, wer ...?“, fragte Uutar-Moru.
„Sei nicht immer so misstrauisch, Moru. Dies ist -“, wollte Reba antworten.
„Wartet, ich weiß es! Dies muss sie sein ... Diese Rüstung ...“, Uutar-Moru fing an um Tinira herumzulaufen. Plötzlich senkte er sein menschlicher Teil des Zentaurenkörpers.
„Entschuldigt mir mein Verhalten, ich habe Euch nicht erkannt, Meisterin des Phönix. ... Ist sie bei euch?“ Tinira schüttelte auf diese Frage verwirrt den Kopf und sagte: „Ich weiß nicht -“
„Er meint mich, Kind. Guten Tag, Uutar-Moru, Wächter der zehn Säulen. Lange nicht gesehen.“
„Wahrlich, wahrlich. Noch zu wenig lang wie es scheint“, brummelte Uutar-Moru.
Raar seufzte und sprach: „Ach, immer das Gleiche. Doch entschuldige mein Verhalten, Windfürstin, ich bin Raar-Fin-Sul, Tochter der Sonne und ich fühle mich geehrt den Schützling Uutar-Morus kennen zu lernen.“
„Von Dir hab ich gelesen, in den Memoiren meiner Vorgängerin“; sprach Reba. „ ... Und von dem ständigen Zwist zwischen Dir und Moru, welchen ihr bitte in meiner Gegenwart und zu unser aller Zufriedenheit unterlässt. Immerhin solange bis dies hier alles vorbei ist.“
Ihr Tonfall war so bestimmt, dass es ruhig war, bis man das leise Kichern von Tinira vernahm. „Finde ich eine wirklich gute Idee, Reba“, schmunzelte sie und wurde dann ernst. „Doch nun lasst uns unsere nächsten Schritte besprechen. Die Zeit ist gekommen, Zeichen sind geschehen.“
Bolmar
Erschöpft zog er den Vorhang zu seinem Gemach zur Seite und ließ sich auf sein Lager fallen. Es war ein harter Tag gewesen; er war mit einer kleinen Kompanie in einen Hinterhalt geraten. Ihr Auftrag war es gewesen – wie schon viele Male zuvor – feindliche Stellungen auszukundschaften. Irgendjemand schien geplaudert zu haben.
Es hatte ihn einige Mühen gekostet aus dem Schlamassel rauszukommen.
Vorsichtig zog er seine Rüstung, Teil für Teil, aus. Im Spiegel sah er eine große Anzahl blauer Flecken und Schürfungen.
Ein verirrter Pfeil hatte ihn durch den Sehschlitz seines Helms über dem Auge geschrammt. Der Schmerz ließ ihn zusammenzucken, als er sie vorsichtig berührte. Dann zuckte er müde mit den Achseln und legte sich auf sein Bett nieder.
Sein muskulöser, breit gebauter Körper hatte fast keinen Platz auf dem schmalen Bett, das mehr eine provisorische Pritsche war. In Gedanken ging er den Tag nochmals durch. Er hatte unnötige Fehler gemacht; Fehler, die ihm normalerweise nicht widerfuhren. Leise stieß er einen Seufzer aus, atmete tief ein und wieder aus.
Gerade als sein Bewusstsein in den Halbschlaf übergehen wollte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken und er wusste, dass er nicht mehr allein war.
Wieso konnte man ihn nicht einfach schlafen lassen? Musste man ihn nun schon im Schlaf attackieren?
Seine Augen durchforschten die Dunkelheit, doch er nahm nichts war, außer einem Lichtstrahl des Mondes, der durch die Öffnung im Fels schien. Nichtsdestotrotz wusste er, dass in der anderen Ecke etwas war, er spürte es.
Mit einer blitzschnellen Bewegung griff er nach seinem Schwert und sprang in die Ecke, um dem Jemand den Schädel von den Schultern zu hauen. Das Mondlicht explodierte, als Stahl gegen Stahl krachte.
„Wahrlich, es stimmt. Wär ich nicht wer ich bin, dann würde nun mein armer Kopf auf dem Boden umherrollen. Mit solch einer Wucht könntest du diesen Felsen hier spalten“, sagte Galdior und trat ins Licht. Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen. Bolmars angespannter Körper erschlaffte und er lachte leise.
„Schönes Wiedersehen ist das! Musstest du mich so erschrecken? Trotzdem, es tut gut dich zu sehen. Doch was führt dich hier her?“, sprach Bolmar. „Nein, warte. Ich weiß es. Ich habe es gesehen.“ Ein Bild zweier naher Sterne schoss durch Bolmars Gedanken.
„Richtig, richtig. Wir müssen uns sofort auf den Weg machen, mich dünkt, dass wir bald zwei gute Bekannte sehen werden. Wir müssen uns gleich auf den Weg machen. Es ist bereits zu viel Zeit verschwendet worden“, sagte Galdior.
Kapitel 37
Das Einhorn und der Schimmel trotten durch das Gras mit Galdior und Bolmar auf ihren Rücken. Sie waren die Nacht durchgeritten, hatten sich viel erzählt und Bolmar war fasziniert gewesen von dem Einhorn, hatte er doch geglaubt, dass das alles nur Gerüchte seien von dem
Einhorn und dem schwarzen Reiter. In der letzten Stunde waren sie schweigsam geworden. Vor ihnen war ein großer, roter Berg aufgetaucht.
Bolmar fragte: „Ist er das?“
Galdior nickte. Als sie genug nahe waren, streckte Galdior eine Hand in die Luft, worauf Bolmar ihn mit seinem typischen Was-soll-den-das-jetzt-bitte-Blick ansah. Galdior jedoch lächelte ihn einfach nur an.
Gleich darauf fing das Sonnenlicht sich in seiner Hand zu drehen, es schien als ob seine Handfläche alles Licht aus der Umgebung absorbierte und an einem Punkt ansammelte. Es dauerte nicht lange und seine Hand glich einer zweiten Sonne. Dann schwenkte er die Hand als Zeichen, dass sie ankamen. Sie mussten nicht lange warten, bald kam leichter Wind auf und sie sahen jemanden vom Berg herabfliegen.
Als Galdior den Wind auf seiner Haut spürte, schossen ihm vielerlei Bilder durch den Kopf; wie er damals Reba zum ersten Mal gesehen hatte, dann die Nacht bei den Felsen. Und da kam sie nun vom Wind getragen, die blonden, langen Locken flatternd im Wind; die blauen Augen strahlten noch immer die gleiche Hoffnung und Lebensfreude, die Galdiors Herz so heftig höher schlagen ließ, aus.
Und doch hatte sie sich verändert. Ihre Züge waren härter geworden und strahlten Würde aus. Das Kindliche war gewichen. Sie hatte sich zu einer Frau entwickelt.
Reba kam schlitternd zum Stehen. Bolmar fühlte sich ziemlich ungelegen, Reba beachtete ihn nicht einen Augenblick.
Sofort stieg Galdior von seinem Einhorn und lief zu ihr hin. Worte hätten diesen Moment mit Sicherheit zerstört, so standen sie sich gegenüber und sahen sich in die Augen, als ob sie es nicht nötig hätten zu sprechen. Galdior hatte nach wie vor seine Miniatursonne in der Handfläche; diese ließ er kleiner werden.
Er umarmte sie und strich ihr das Licht in die Locken. Solch ein Glänzen hatte man früher nicht gesehen und würde man auch in Zukunft nicht sehen. Die Spiralen und Kringel strahlten von selber ein wunderschönes, flackerndes Licht ab.
Die rührende Szene wurde von Tinira unterbrochen, welche immer noch auf dem Berg war. Plötzlich sah man sie vom Tempel nach unten in Richtung Erde springen. Reba fuhr zusammen und fluchte: „Was zur Hölle macht sie?!“
Zu ihrer aller Erstaunen explodierte Tinira zu einem Feuervogel und flog wie ein mächtiger Adler, eine Brandspur hinterlegend über die Felder. Nicht einmal der Windgürtel hielt sie auf. Ihr Schrei war so laut, dass man ihn noch weit entfernt gehört haben musste. Wie ihre Pfeile verwandelte auch sie sich plötzlich zurück und landete ein wenig unsanft. Doch sie stand auf und schaute in die Runde.
„Nun ja, ich habe die Landung noch nicht so oft geübt“, gab sie verlegen zu.
Galdior stiess erstaunt die Luft an, Bolmar lächelte in sich hinein und Reba sah sie nur mit hochgezogenen Brauen an.
Kapitel 38
„Können wir kurz eine Pause einlegen, mir brummt der Schädel“, reklamierte Bolmar und rieb sich die Stirn. Als Antwort bekam er einige Seufzer.
„Also“, begann Reba noch einmal von vorne. „Es ist ganz einfach. Du, Bolmar, und Galdior gehen mit der Hauptstreitmacht vor die Burg und zieht soviel Aufmerksamkeit wie möglich auf euch. In der Zwischenzeit versucht Tinira allein in die Stadt zu gelangen und die wichtigsten Ziele zu eliminieren. Und meine Wenigkeit wird mit ein paar wenigen Auserwählten von hinten gehen und das Bergwerk angreifen. Sobald wir die Stadt eingenommen haben, werden wir zusammen das Heer einschliessen und vernichten.“
„Dieser Plan kann so leicht schief gehen. Gibt es einen Plan B?“, fragte Bolmar.
Es blieb still. Bolmar stand auf und rieb sich seinen schmerzenden Nacken. Unerwartet fing er plötzlich an zu lachen. Galdior runzelte die Stirn und fragte: „Irgendwie versteh ich deinen Beweggrund nicht, um in dieser Situation zu lachen.“
„Wer hätte gedacht, dass wir einmal hier landen. Weit weg von unserem Heim, Pläne schmiedend. Und dabei wissen wir nicht einmal, ob unsere Familien noch leben“, antwortete Bolmar.
„Das weiß niemand. Doch handeln müssen wir, nicht nur um unseren Familien willen sondern auch um unserer Welt willen“, meldete sich Tinira.
Mit einer Hand an der Säule, den Rücken abgewendet von seinen Freunden, die immer noch auf dem Boden sassen, stand Bolmar da und sah hinaus in die Landschaft. Als ob ein Wall gebrochen wär, prasselten Tausende von Bildern auf ihn ein. Bilder von damals, von seinem Haus, seiner Mutter, die am Herd stand und kochte, seine kleine Schwester, die auf dem Schoss seines Vaters saß und glockenhell lachte. Er erinnerte sich daran, wie er gegessen hatte mit seinen Lieben und wie er nachher draußen gespielt hatte. Eine einzelne, große Träne kullerte seine Wange hinab. Schnell wischte er sie mit dem Handrücken beiseite und sprach: „Nun gut, machen wir uns auf den Weg.“
Sofort wurden Brieftauben losgeschickt, um Andréa, die Einhörner und sonstige Persönlichkeiten zu informieren. Gleich darauf zogen auch sie los. Kurz vor dem großen Moor mussten sie sich trennen; Tinira und Reba in den Norden und Galdior und Bolmar in den Süden.
Bolmar und Galdior
Sie brauchten nicht lange bis zu dem Treffpunkt mit Andréa. Das Heer bestand aus fünfhundert Tieren, alle mehr oder weniger zusammengeflickt. Galdior biss sich auf die Lippe. „Das ist nicht gerade viel ...“, dachte er laut. Bolmar zuckte darauf mit den Schultern und sagte: „Nun, es muss reichen.“
Mutlos ließ Galdior die Schultern hängen. Bolmar blickte ihn lange an und dann das Heer. Er biss grimmig die Zähne zusammen und stand auf einen Stein.
„Krieger, Ich gebiete Ruhe! Krieger hört mir zu!“, schrie er. Schnell beruhigte sich die Menge und es wurde still. Bolmar fuhr fort: „Es ist nun soweit. Dies wird der letzte Krieg sein. Und ich sage euch: Ich bin stolz auf euch, denn ihr kämpft für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt. Doch so muss ich euch auch sagen ... Dieser Feldzug gegen die schwarze Stadt wird eine Hinreise. Ihr dürft keine Rückreise erwarten. Ihr werdet sterben. So überlasse ich euch die Entscheidung. Jeder, welcher sich zu sehr fürchtet, Zweifel hegt oder Familie hat, soll hier bleiben. Ihm wird nichts nachgetragen, denn besonnen ist der, der hier bleibt.“
Niemand bewegte sich auch nur einen Zoll.
Bolmar lächelte stolz. „Ihr Wölfe, Bären und sonstiges Getier! Bei den Göttern werdet ihr unendlichen Ruhm erlangen, denn als Helden geht ihr in die Geschichte ein! Seid guten Mutes und voller Hoffnung! Wir werden keinen Stein auf dem anderen lassen! Lasst euren Schlachtruf ertönen, dass sich die dunklen Mächte in ihren Burgen fürchten!“
Auf Bolmars Wort brach ein Getöse los, lauter als jedes Horn oder jeder Knall. Wie eine Welle wogte der Schlachtruf über die Felder. Bolmar nickte zufrieden.
„Nun kommt! Sehen wir dem Tode ins Auge und schreiten der Verdammnis entgegen!“ Er sprang vom Stein, stieg auf sein Pferd und ritt los. Das ganze Heer folgte ihm. Mit Entschlossenheit und Tatendrang in den Herzen rannte das ganze Heer über die Ebene südlich des Moors entlang in Richtung Osten. Unterwegs begegneten sie kleineren Spähtrupps des Feindes, die von Bolmars Heer einfach überrannt wurden.
Erst als die Sonne bereits untergegangen war, schlug das Heer das Lager auf.
Mitten in der Nacht wurde Galdior wach und verliess sein Zelt. Der Himmel war klar, wurde nur von gelegentlichen Wolken durchzogen, die wie zerfetzte Segel aussahen, und die Luft schlug ihm kalt entgegen.
Er schlug einen Mantel um sich und ging ein paar Schritte. Bei einem Felsen sah er Bolmar hocken, der an den Himmel starrte. Neben ihm blieb er stehen. Beide sahen zu den zwei Sternen, sie leuchteten heller als der Mond.
Galdior legte seine Hand auf Bolmars Schulter. „Bolmar“, fing er zögerlich an. Er hatte das drängende Gefühl noch ein paar Wort sagen zu müssen, „sollten wir den nächsten Tag nicht überleben, sollst du wissen, dass du mir mehr bist als ein Bruder.“ Bolmar blieb ihm eine Antwort schuldig.
Endlos lange schienen sie dem Moor entlang zu reiten.
Nach etwa einer Woche zogen vom Moor her Nebelschwaden über sie hinweg und schon bald mussten sie langsamer reiten. Bolmar an der Spitze sah kaum den Kopf seines Pferdes.
Aus einem Grund, den sich Bolmar nicht erklären konnte, wurden sie nicht mehr angegriffen. Außer dem Atmen und Trampeln hörte man keinen einzigen Laut. Viele wurden nervös und sahen um sich.
Bolmar hatte kein gutes Gefühl bei diesem Nebel, er schien so lebendig. Plötzlich entblößte der Nebel einen Speer mit drei übereinander aufgespießten Köpfen nur wenige Schritte vor ihm. In ihm stieg die Kotze hoch. Einige Maden hatten sich die Häupter als Wohnsitz genommen und krochen aus allen Löchern.
Bolmar schloss für einen Moment die Augen und senkte seinen Kopf. Wer konnte nur so etwas tun? Galdior kam aus dem Nebel auf ihn zu und besah die Köpfe. Statt Galdior sprach sein Einhorn: „Verdammt ... das ist übel.“
Bolmar nickte leicht und wollte seinem Pferd gerade die Sporen geben, als er sah wie Zuzu die Ohren reckte. Auch Gladior hatte es bemerkt und fragte: „Was ist? Was hörst du?“ Zuzu liess ein leichtes Wiehern hören und deutete mit dem Kopf in den Nebel zu ihrer Rechten.
Bolmar und Galdior versuchten mit zusammengekniffenen Augen den Nebel zu durchdringen. Durch den weissen Nebel sah man ihre weissen Leiber erst, als sie nur noch zwei Schritte von ihnen entfernt waren und selbst dann erkannte man sie nur an den dunklen Augen, die wie hunderte schwarze Kohlestücke im Nebel auf Bolmar und Galdior zu tanzten. Das vorderste Einhorn lief zu Galdior und neigte seinen langen Hals, bis das Horn den Boden berührte. Die anderen taten es ihm gleich.
Das vorderste Einhorn hiess Salu und war das stärkste und grösste Einhorn der Schar. Es hatte Galdior viel Mühe, Geduld und guten Willen gekostet, bis er sein Vertrauen gewonnen hatte. Doch als er Salu erst auf seiner Seite gehabt hatte, war er zu einem seiner treusten Gefährten geworden. Salu hob seinen langen Kopf und sprach mit seiner tiefen Stimme: „Da sind wir, Fürst. Wir werden mit Euch kommen und wir scheuen weder Kampf noch Tod. Du bist unser Fürst und gehst uns voran. Treu werden wir dir folgen, in welch Schicksal auch immer.“
Galdior sah auf seinen Freund und sagte: „Salu, grosser General der weissen Schar, wie schön mit dir zusammen dem Ende entgegen zu reiten. So kommt, schliesst Euch uns an.“
Galdior klopfte Zuzu auf den Hals und er schritt weiter in den Nebel hinein, dicht gefolgt von Bolmar. Die weisse Schar nahm ganz hinten Position ein und sie sangen ein Lied ihrer Vorfahren, tief und schön wie der Ozean.
Gegen Mittag ließ der Nebel nach und die Erde unter ihnen wurde trockener. Nachdem sie durch einige Baumreihen hindurch geritten waren, kamen sie auf eine große Ebene, dessen Ende eine riesige, schwarze Mauer bildete. Kaum waren alle Reihen auf dem Feld waren, hörte man Trompetenschall im Inneren der Mauer.
Galdior ritt nahe an Bolmar heran und fragte: „Wir wurden entdeckt. Was nun?“ Das einzige was dieser entgegnete war ein Woher-soll-ich-das-wissen-?-Blick.
Dann jedoch sagte er: „Wir müssen das ganze Heer aus den Mauern locken, damit Tinira ihren Job machen kann.“
„Wieso sollte er uns nicht einfach mit Bogenschützen unter Beschuss halten?“
Bolmar lächelte.
„Der „böse Bruder“ hat zwei Probleme. Das erste ist: Er ist stolz; er wird es hassen, danach sagen zu müssen, dass er ein Heer nur mit Bogenschützen feig zerschossen hat. Zweitens: Er liebt es zuzusehen wie zwei Heere im Mann gegen Mann Kampf gegeneinander kämpfen. Dabei ist es ihm egal, ob seine Männer in Scharen fallen; Hauptsache ist, dass das andere Heer auch fällt. Wenn wir ihn fordern, wird er sein Heer herausmarschieren lassen, nur vielleicht nicht das Ganze. Komm, gehen wir anklopfen.“
Galdior und Bolmar trabten zur Mauer. Bolmar bereitete sich innerlich bereits darauf vor, was er sagen würde. Galdiors Einhorn schnaubte und schüttelte den Kopf.
„Ganz ruhig Junge. Wird schon“, flüsterte Galdior beruhigend auf sein Einhorn ein und tätschelte ihm den Hals. Wieder hörte man das Einhorn unnatürlich lange wiehern. Sein Reiter schluckte schwer.
Knapp dreißig Schritte vor der Mauer blieben sie stehen, der schwarze Wall war etwa fünf Mannesgrössen hoch und schien massiv. Bolmar nahm ein Horn hervor, sog die Luft tief ein und blies lange hinein. Der Ton war fest, tief und brachte die Erde zum zittern. Gleich darauf guckte eine Kopf auf der Mauer empor.
„Was wollt ihr? Verschwindet!“, schrie eine hohe, schrille Stimme.
Bolmar verzog das Gesicht. „Holt euren König! Ich spreche nicht mit einem seiner schmierigen Handlanger.“
Der Kopf zuckte zurück und man hörte und sah einige Minuten nichts. Dann jedoch tauchte wieder eine Gestalt auf der Mauer auf.
„Was tut ihr hier? Liegt euch so viel am Sterben?“, dröhnte eine tiefe Stimme zu ihnen hinab.
Bolmar schaute gekünstelt um sich und sagte: „Nun, bisher seh ich nichts, was mich auch nur annähernd in Gefahr schweben ließe. Ich würde sagen, ihr ergebt uns die Stadt freiwillig und euch wird von meiner Seite her nichts geschehen.“ Galdior lächelte verbittert; das war der grösste Bluff, den er je gehört hatte.
„Natürlich werde ich das ... natürlich.“
Der König schrie etwas zu seinen Männern hinunter und gleich darauf öffneten sich die schweren Toren mit einem quietschenden Geräusch. Der Anblick ließ Bolmar und Galdior den Atem stocken.
Reihe um Reihe von Tieren und allerlei fieser Kreaturen schritten aus dem Tor. Es waren Gestalten darunter, die keiner von ihnen je gesehen hatte; Mischungen von verschiedenen Tierarten, wie ein Löwe mit einem Wolfskopf.
Das dunkle Heer teilte sich und kreiste das viel kleinere Heer Bolmars ein. Galdior sagte mit einem hoffnungslosen Unterton in der Stimme: „Das ist etwa das fünffache an Kriegern, die wir zur Verfügung haben.“
Sein Freund ignorierte ihn und schrie wieder zum König hinauf, welcher unterdessen wieder auf der Mauer erschienen war: „Wollt ihr mich demütigen? Das ist doch hoffentlich ein Witz! Was soll dieser Haufen heruntergekommener Köter?“
Lange kam keine Antwort, doch dann öffnete sich das Tor ein weiteres Mal und herausgelaufen kamen seltsame Gestalten. Es waren Hexen und Magier, die ununterbrochen irgendwelches Zeug brabbelten und ihre Stäbe und Stöcke schwangen. Knapp fünfzehn waren es an der Zahl und doch schienen sie reichen Respekt im Volk zu genießen, denn die sonstigen Krieger machten ihnen ehrfürchtig Platz. Bolmar knirschte mit den Zähnen und sagte danach: „Das sind immer noch nicht alle ...“
„Willst du noch was, Bolmar, Boldars Sohn? Ich könnte, wenn es dir beliebt, auch noch die Sklaven meiner Bergwerke ins Feld führen. Deine reizende Mutter hätte sicher ihre Freude daran gegen ihren eigenen Sohn kämpfen zu müssen“, höhnte der König vom Wall herunter. Und als hätte jemand ein Schalter umgelegt, fingen plötzliche alle aus dessen Heer an Bolmar zu verspotten. Vor den Kopf gestoßen, senkte Bolmar den Kopf.
Ins Unermessliche wuchs das Geschrei an; Bolmars Augenlider zuckten, seine Kiefermuskeln hüpften auf und ab. Eine innere Ruhe durchströmte Galdior, während Bolmars Nasenflügel bebten. Ein Wummern und Brummen erfüllte die Luft; langsam nahm das Gespött ab. Das Zittern wurde immer stärker. Niemand sagte mehr ein Wort. Ohne den Kopf zu heben, stieg Bolmar von seinem Pferd und lief ein paar Schritte Richtung Tor.
Das Beben verstärkte sich. Regen setzte ein und Bolmar blieb stehen. Dicke Regentropfen prasselten auf die beiden Heere hernieder. Das Beben hatte sich wieder gelegt. Plötzliche umhüllte eine dunkle, triefende Wolke Bolmar und gleich darauf konnte er die Präsenz einer Macht spüren, unvergleichlich zu allem, was er bisher getroffen.
„Wurm. Nichtsnutz. Versager. Niemand. Meine Macht ist unbegrenzt, deine schon. Verzieh dich so schnell du kannst. Diese Chance gewähr ich dir nur ein einziges Mal“, sprach eine giftige, tödliche Stimme, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Bolmar neigte den Kopf. Finstere Gedanken umgaben sein Ich. Gedanken der Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Selbstmitleid, Trauer, ein Nebel, dick wie Blut legte sich über ihn. Bilder jagten durch seinen Kopf. Schmerz. Pein. Verwüstetes Land, sumpfige Gewässer, alle Wälder abgebrannt. Seine lachende Schwester. Leichen. Niedergebrannte Häuser. Braches Land. Gottlosigkeit. Seine lachende Schwester. Dunkelheit.
Die Stimme ertönte wieder: „Geh Heim. Du taugst nichts. Nicht gegen mich.“ Seine lachende Schwester. Wieder seine Schwester. Nur ein letztes Mal wollte er das Lachen seiner Schwester sehen.
„Gib auf! Unnützes Wesen. Verlierer!“ Nur einmal.
Galdior fiel vom Einhorn, als die Druckwelle über ihn hinwegfegte. Sich auf einen Arm abstützend stand er auf. Das riesige Tor und ein Großteil der Mauer war nur noch Schutt und Asche. Die Erde war rund um die finstere Stadt aufgerissen.
Als sich der Staub gelegt hatte, sah man Bolmar auf einer Erdwall stehen, mitten in den Trümmern. Sein Schrei schnitt die Luft wie ein Schwert durch Stoff: „Ich werde dir niemals gehorchen, niemals werde ich dem Guten den Rücken kehren! Ich werde dir einen Grund geben, mich zu fürchten.“
Mit verkrampftem Gesicht lief Bolmar zurück zu Galdior, den Rücken zur Stadt gewandt. Mit ehrlicher Bewunderung bestaunte Galdior seinen Freund. Als Bolmar die Hälfte der Strecke überwunden hatte, tauchten hinter ihm plötzlich schwarze Reiter auf. Sie schienen aus dem Nichts zu kommen und ritten direkt auf Bolmar zu.
„Pass auf!“, schrie Galdior, doch es war bereits zu spät. Ein schwarzer Reiter schwang sein Schwert und steckte es tief in Bolmars Rücken, bevor dieser auch nur merkte, dass er in Gefahr war.
Mit weit aufgerissenen Augen und fassungsloser Miene starrte Bolmar die Spitze des gezackten Schwertes an, das aus seiner Brust ragte. Seine Hände waren mit Blut verschmiert.
Galdior konnte gerade noch erkennen wie sein Freund in die Knie ging, das Leben aus seinen Augen wich, als jener von Reitern verdeckt wurde.
Der Schock übermannte Galdior und er kam erst wieder zu sich, als sein Einhorn die Initiative ergriff und davongerannte. Sofort nahm Galdior die Zügel in die Hand, wandte sich um und preschte den Reitern entgegen. Um ihn herum war ein Getümmel losgebrochen und die Schlacht hatte ihren Anfang gefunden.
Kapitel 39
Tinira saß auf einem kleinen Baum und wurde nach und nach immer unruhiger. Vor ihr lag diese verfluchte Stadt, bei der sich alles entscheiden würde.
„Wenn nur dieser dumme Vogel bald zurückkommt“, dachte sie. Vor mehreren Tagen hatte sie eine Krähe losgeschickt, die berichten sollte, wann die Schlacht begann. Unendliche Momente – so schien es – wartete sie.
Plötzlich erschien am Horizont ein kleiner, schwarzer Fleck, der schnell näher kam. Schon von weitem hörte man die krächzige Stimme schreien: „Es hat begonnen!“
Sofort sprang Tinira vom Baum, packte ihren Bogen und schwang ihn um. Wenige Augenblicke später explodierte sie in einer Wolke aus Feuer und Rauch.
Nur wenige Ellen über dem Boden flog sie auf die schwarze Mauer zu und immerzu hoffte sie, dass sie nicht entdeckt würde und dass die ganze Besatzung zum anderen Ende des Ringes beordert worden war.
Sie steuerte auf den Turm zu, der ihr am nächsten lag. Dann flog sie nahe an der Mauer hinauf und versuchte auf der Plattform zu landen. Es gelang ihr halbwegs. Sofort richtete sie sich auf und besah ihre Umgebung.
Die Stadt war wahrlich ein Meisterwerk der Architektur.
Der äußere Ring der Mauer fasste den Ausläufer einer kleineren Hügelkette ein, deren höchster Punkt neunhundert Schritt über dem Meer lag. Die Stadt selber lag etwa auf Meereshöhe.
Inmitten der Hügelkette lag ein eingesunkenes Tal, auf der gleichen Höhe wie die Stadt. Sie sah es von ihrer Position natürlich nicht, wusste jedoch von seiner Existenz.
Dort befand sich das Bergwerk und das Gefangenenlager der Stadt auf einer kleinen Insel im Zentrum eines Sees. Zu den umliegenden Hügeln hin war das Gefangenenlager gut abgeschirmt und geschützt. Von der Stadt führte ein Kanal durch die Hügel bis zum See.
Der Eingang zum Kanal in der Stadt war von einem weiteren Mauerring eingefasst. Alle Häuser, Tempel und öffentliche Gebäude waren innerhalb der ersten und ausserhalb der zweiten Mauer. Der Palast des Königs war oberhalb des Kanals auf einer eingesenkten Ebene gebaut und wenn man von weitem hin sah, so schien es, als ob er majestätisch über der großen Stadt schweben würde.
Mit einem Ruck löste Tinira sich aus ihrer Starre, wurde jedoch gleich wieder abgelenkt, als sie das verschrottete Mauerstück auf der anderen Seite der Stadt sah.
„Was ist dort hinten nur los?“, flüsterte sie vor sich hin. Schnell riss sie sich zusammen und konzentrierte sich wieder auf ihre Aufgabe. Geduckt, dass sie auch ja nicht gesehen wurde, rannte sie auf dem Wall von Zinne zu Zinne und dann geschwind eine Treppe hinab. Nach nur ein paar Augenblicken schlich sie zwischen den schmutzigen Häusern hindurch, in welchen normalerweise die Mittelschicht der Bevölkerung lebte.
„Was geht hier vor? Wo sind all die Leute hin?“, fragte sie Raar.
„Ich weiß es nicht. Womöglich wurden sie in Sicherheit gebracht, in eine versteckte Burg ... Ich weiss es auch nicht“, antwortete Raar. Als Tinira die dunklen Gassen und verlassen Plätze durchschritt, bekam sie immer mehr das Gefühl, dass hier schon sehr lange niemand mehr gewohnt hatte.
Es war so still, dass jedes Rascheln, jedes Knacken zu einem potentiellen Feind wurde. Umso mehr erschrak sie, als der Himmel donnerte und gleich darauf dicke Regentropfen fielen. Gefährlich nahe schienen Blitze einzuschlagen.
Immer weiter arbeitete sie sich zum inneren Wall vor. Oft musste sie sich vor einzelnen Patrouillen schwarzer Ritter verstecken. An einer Hauswand klebend, spähte sie um die Hausecke und sah den inneren Wall vor sich. Dieser war von einem großen Platz umgeben, den man nur sehr schwer überqueren konnte, ohne von den Wachen gesehen zu werden. Tinira biss sich auf die Lippe.
Wie sollte man da unbemerkt hinüber kommen?
Das Tor zum Kanal war geschlossen und auf der Mauer sah sie zwei Wachen. Sie sah auch eine Art Glocke, die wohl dazu diente, Alarm zu schlagen. Nur langsam beruhigte sie sich, atmete ein paar Mal tief ein und aus, dann legte sie zwei Pfeile an die Sehne und spannte. Lange wartete sie bis die beiden Wachen den gleichen Abstand hatten. Die Sehne sirrte und bevor die zwei Wachen wussten was geschah, fielen sie röchelnd zu Boden.
„Guter Schuss, jetzt aber schnell rein da!“, meldete sich Raar in Tiniras Gedanken.
Tinira setzte alles auf eine Karte und sprintete zur Mauer. Kurz bevor sie angelangt war, sah sie sich noch einmal um, um sicher zu gehen, dass sie nicht entdeckt worden war. Dann explodierte sie leise – als sie ihm Norden unterwegs gewesen war, hatte sie gelernt ihre Explosion zu unterdrücken. Der Knall war dann nicht lauter als ein unterdrücktes Flüstern und es wurde kaum Licht abgegeben. Allerdings konnte sie so nicht gerade weit fliegen und flog die Mauer hinauf. Sachte ließ sie sich auf der anderen Seite wieder herunterfallen.
Für einen kurzen Augenblick ruhte ihr Blick auf den zwei Leichen. Sie hasste das. Wann endlich würden sie befreit von Krieg?
Sie seufzte und wandte sich wieder ihrer Mission zu. Vor ihr lag der Kanal ruhig da. Im Wasserbecken, worin der Kanal endete lagen vier große Boote angebunden.
„Wir müssen alle diese Boote gleichzeitig durch den Kanal bringen ...“
Tinira blieb Raar vorläufig eine Antwort schuldig.
Lange überlegte sie angestrengt, bis sie schließlich auf eine Lösung kam, die zwar waghalsig war, aber klappen konnte.
Die Seile, die die Boote hielten waren nur über die Anbindepfeiler geworfen. Sie lief den Steg entlang und band jedes Schiff los, behielt jedoch die Seile in den Händen.
Der Kanal war zirka zehn Schritte breit, was genau reichen sollte, ja musste, um alle Boote nebeneinander hindurch zu bringen.
Mit den Seilen in den Händen nahm sie drei Schritte Anlauf, sprintete los, sprang und explodierte. Als sich die Seile spannten, wurde sie mit einem Ruck zurückgerissen, konnte aber trotzdem genug Geschwindigkeit aufbauen, um nicht ins Wasser zu stürzen.
Nach und nach wurde sie immer schneller. Die Boote hinter ihr schaukelten und krachten gefährlich oft und heftig aneinander.
Tinira wurde zur Sonne in mitten des Kanals und innerhalb weniger Sekunden hatte sie einen Großteil der Strecke zurückgelegt. Plötzlich endete der Kanal und Tinira war wieder an der frischen Luft.
Vor ihr lag die Insel mit der kleinen Festung. Langsam bremste sie ab und verlor an Höhe. Kurz vor dem Land liess sie die Seile los, dann versuchte sie zu landen und überschlug sich wie immer einige Male. Jemand griff ihr unter die Arme und hob sie hoch. Es war Reba, deren schmutziges Gesicht sie anlächelte. Hinter ihr standen ein paar Tiere, das waren wahrscheinlich die, welche ihr geholfen hatten.
„Ich glaube nicht, dass die alle Platz finden“, murmelte Tinira, als sie das vierhundertköpfige, grüne Heer sah, das sich vor der Festung niedergelassen hatte.
Kapitel 40
Missmutig stapfte sie den Berg hinauf. Es war kein richtiger Weg vorhanden, sie musste sich nach ihren Gefühlen einen Weg durch diesen dichten Wald bahnen.
Keuchend lehnte Reba sich an einen Baum und sah ein weiteres Mal auf ihre Gefährten; wild entschlossene Tiere, die nur darauf warteten ihren Feinden in den Hintern zu treten.
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Es waren zwar nur zwei Dutzend, doch es würde reichen. Mehrere Tage waren vergangen seit sie sich von Tinira getrennt hatten und seither waren sie tagelang durch dichtes Buschwerk, immer aufwärts gewandert.
Reba erwartete, dass sie jeden Moment den obersten Punkt der Hügelkette erklommen haben mussten.
Tatsächlich nach nur einer weiteren Stunde mühsamen Steigens, konnte Reba auf die Festung in mitten des Sees hinuntersehen.
Kurz darauf trat ein schlanker, äußerst intelligenter Puma neben sie und fragte mit seiner weichen Stimme: „Fürstin, wie gelangen wir über diesen gewaltigen See und ohne, dass sie uns sehen?“
Seine Augen waren dunkel und strahlten eine Kampfeslust aus, die man nicht bändigen konnte. Reba schwieg lange und sah wieder zum See.
„Das wirst du sehen, doch nun lasst uns gehen. Ich will so schnell wie möglich nach unten.“
Als die Sonne gerade ihre letzten Strahlen in die Welt hinaussandte, waren sie nur noch wenige Schritte vom Ufer entfernt. Mit leisen, schnellen und trotzdem vorsichtigen Schritten huschten sie von Baum zu Baum, um nicht von den Wachen auf der Festung gesehen zu werden.
Wie abgesprochen, sprangen auf ein Zeichen hin alle zu Reba. Nun kam der knifflige Teil der Mission: Irgendwie musste sie schaffen alle gleichzeitig in die Luft zu erheben, doch ohne, dass die in der Festung es merkten.
Mit schnellen, ausholenden Bewegungen ihrer Stachel verfrachtete sie alle in die Luft. Das Luftkissen war schwer zu halten und Reba gelang es nur mit Müh und Not nicht abzustürzen. Unterdessen waren auch die letzten Sonnenstrahlen weg und Finsternis machte sich in dem Tal breit.
Sie hatten nur ein kurzes Zeitintervall, um zu landen, vom Untergehen der Sonne bis die Wachen die Fackeln entfachten. Schnell flog Reba mit ihrer Fracht auf die Insel.
„Schnell drückt euch an die Mauer, bis ich das Tor geöffnet habe“, raunte Reba den anderen zu. Diese nickten und Reba machte sich mit schnellen Bewegung wieder in die Luft davon. Das Zeitfenster schloss sich langsam, überall auf der Mauer erhellten Fackeln die Dunkelheit. Ohne ein Geräusch landete Reba auf der Mauer und duckte sich gleich.
Langsam und ohne ein Geräusch sah sie zum Tor hinab, zwei Wachen liefen vor ihm hin und her. Sonst war der Hof menschenleer; es schienen alle Gefangen in ihren Zellen zu sein. Ziemlich in der Mitte des Hofs führte eine Absenkung des Bodens unter Holzstreben in den Untergrund.
„Das muss die Mine sein“, dachte Reba. Schnell sah sie sich um. Zuerst musste sie die Wachen auf dem Wall und in den Türmen ausschalten, jedoch gab es da ein Problem: die Wachen trugen alle Fackeln. Sie musste so schnell sein, dass keine andere Wache Alarm schlug, wenn auf der anderen Seite plötzlich Lichter verschwanden. Mit ein paar tiefen Atemzügen atmete sie ein und wieder aus, dann rannte sie los.
Auf der anderen Seite des Gefängnisses fielen der Wache auf dem Turm immer und immer wieder die Augen zu. Wann kam endlich die Ablösung? Schwer auf seine Lanze gestützt, blickte er in die dunkle Nacht hinaus.
Ganz am Rande seines Blickfeldes verschwand plötzlich ein Licht. Schnell drehte er sich um und starrte auf die andere Seite der Mauer.
Sollte dort nicht eine Wache stehen? Weiter links auf einem Turm ging wieder ein Licht aus. Der Reihe nach gingen alle Lichter auf der Mauer aus.
Die Wache griff mit der Hand nach hinten und suchte die Glocke, während er immer noch den ausgehenden Lichter nach schaute. Verzweiflung kroch in ihm hoch, als die Fackel der Wache, die ihm am nächsten war, erlosch. Endlich bekam er die Glocke zu fassen, riss sie hervor und wollte gerade anfangen wie wild zu läuten, da stand vor ihm eine Gestalt ganz von Wind umhüllt und sie hielt seine Glocke in der Hand. Verwirrt sah er von seiner leeren Hand zu ihr. Mit ihren Lippen formte die Gestalt ein tut-mir-Leid und schlug ihm auf den Kopf, sodass er sofort das Bewusstsein verlor.
Keine Zeit verschwendete Reba, sondern sprang sofort von der Mauer in Richtung der Wachen am Tor. Diese bemerkten zu spät, dass nicht eine Wolke, sondern ein ziemlich gefährlicher Mensch ihnen das Mondlicht stahl.
Mit ein paar kräftigen Bewegungen waren sie ausgeschaltet. Reba war sich sicher, dass es sich noch zum Negativen wenden würde, da sie die Wachen nur bewusstlos geschlagen hatte, anstatt zu töten. Doch sie brachte es nicht über sich, wehrlose Personen hinterhältig umzubringen.
Sie atmete wieder tief ein und öffnete dann das Tor. Mit einem Nicken begrüßte sie die Tiere, die in den Hof strömten. Wie abgesprochen teilten sie sich in Zweiergruppen auf und liefen auf die verschiedenen Eingänge zu, welche zu den Zellen und somit zu den Gefangen führten.
Mit gemäßigtem Schritt stolzierte die Wache die Zellenblöcke entlang, während er ein Liedchen pfiff, das er noch aus seiner Kindheit kannte.
Ein dreckiges Lächeln verzog seinen Mund, als er in die Zellen sah, wo Menschen zusammengepfercht auf einem Haufen lagen. Zwischendurch schauten ihn ein paar ausdruckslose Augen an. Er lachte und pfiff weiter.
Plötzlich vernahm er hinter sich ein Geräusch, wirbelte herum und griff im gleichen Moment nach seiner Waffe.
Einige Momente horchte und schaute er in den Gang, den er eben noch entlang marschiert war.
Beschämt über seine Furcht zuckte er mit den Achseln und drehte sich langsam wieder um. Ein kleiner Schrei entfuhr ihm, als da ein Fremder vor ihm stand.
Zwei grosse Pranken umschlossen ihn von hinten, sodass er zu keiner Bewegung mehr fähig war. Sein Zähneklappern konnte man im ganzen Zellenblock hören. Der Fremde vor ihm hob das Visier an und ein wunderschönes, weibliches Gesicht kam zum Vorschein. Sie sah zu den Gefangenen hinüber und schüttelte den Kopf.
„Bitte ... lasst Gnade walten!“, meldete sich die Wache. Der Schlag kam so schnell, dass er ihn nicht einmal mehr sah. Das letzte, was er wahrnahm war der zornige Ausdruck in ihren Augen.
Reba schlich sich auf den Hof hinaus zum Tor. Immer wieder sah sie über die Schulter auf den Strom Gefangener, der sich langsam hinter ihr her bewegte.
„Wenn das nur gut geht“, dachte Reba.
Gebückt und im Schatten der Mauer schlichen sie zum Ausgang. Mit einer leisen Bewegung versuchte sie das Tor aufzustossen. Verdutzt hielt sie inne. Das gleiche Tor, das sie vorhin noch so mühelos aufgestossen hatte, liess sich nun keinen Zoll verschieben. Verzweiflung machte sich in ihr breit und sie war kurz davor in Panik auszubrechen.
„Es ist zwecklos,“ meldete sich eine schmierige Stimme. Reba schnellte herum und sah, dass sich auf der ganzen Mauer Wachen mit Bögen verteilt hatten. Diese zielten nicht etwa auf sie, sondern auf die Gefangenen.
„Ich rate dir nicht einmal den Versuch zu unternehmen dich zu bewegen, ansonsten sind diese Leute tot,“ sagte wieder die Stimme, doch noch immer konnte Reba das passende Gesicht nicht ausfindig machen. Auch sah sie die Gesichter der Wachen, die sich schwarz vom Mondlicht abhoben, nur schemenhaft.
„Und nun wirst du gemässigten Schrittes deine Waffen in der Mitte des Hofes ablegen und –“, unterbrochen von einem Wachen, der ihm etwas zu raunte, drehte er sich plötzlich um und hob ein Fernglas an. Wieder wurden unverständliche Worte gewechselt.
Plötzlich hörte man ausserhalb der Mauern plätschernde Geräusche, wie sie nur Wasser erzeugen konnte.
Dann drehte sich auf Kommando des Mannes der gesprochen hatten, ein Teil der Wachen ab und fing an auf Feinde zu schiessen, die Reba nicht sah.
Ihr Kinnladen fiel hinunter, als sie das Ziel sah, worauf die Wachen ihre Pfeile abschossen. Da kam, majestätisch und würdevoll Prinz Karun auf der Welle dahergeritten. Das Mondlicht verlieh dem Wasser ein milchiges Aussehen. Seine Axt schimmerte im Licht der Sterne und man hörte seinen anschwellenden Schrei durch das Tosen der Wellen.
Zu Rebas Entsetzten fingen die einen Wachen an ihre Bögen ganz zu spannen und auf die Gefangenen zu zielen.
Ihre Stimme hallte von den Mauern wider, als sie zu den Gefangen schrie, sie sollten wieder zurück ins Gefängnis. Noch bevor die ersten anfingen sich zu bewegen, flogen schon die Pfeile und ihr Sirren klang in Rebas Ohren wie der Tod persönlich.
Ihre Reaktion war ein bisschen zu spät gekommen. Der grösste Teil der Pfeile hatte sie mit einem kontrollierten Windstoss beseitigen können, doch einer war durchgekommen und stak nun im Beine einer älteren Frau. Die nächsten paar Sekunden waren der pure Albtraum. Sie musste es schaffen alle Pfeile abzuwehren, doch immer wieder kamen einzelne Pfeile durch und verfehlten nur selten ihr Ziel. Unter hysterischem Geschrei rannten die Gefangenen wieder zurück.
Das Gefängnis, das sie so lange gequält hatte, war nun ihre Zuflucht geworden.
Ausserhalb der Mauern kämpften die hundert Bogenschützen von Sagra verbissen gegen die wenigen Wachen auf der Mauer.
Prinz Karun sprang von seiner Welle, hob die Axt an und zielte auf den Kopf des Anführers der Wache.
Mit einem Ruck blieb Karun in der Luft stehen. Er hatte einfach angehalten – mitten in der Luft. Der Anführer der Wache hatte seine Hand erhoben und sprach: „Du wirst nie mehr ein Ärgernis sein. Heute stirbst du.“
Dann liess er die Hand fallen und somit flog auch Karun hinunter. Der Aufprall liess Karun aufschreien. Etliche Stellen seiner Rüstung hatten sich in seine Haut gebohrt und Verletzungen und Prellungen hinterlassen.
Er war noch immer benommen und schmeckte Blut in seinem Mund, als er ein weiteres Mal von seinem Gegenüber auf der Mauer durch eine Handbewegung hochgehoben wurde. Plötzlich sprang Reba auf den Anführer zu. Dieser jedoch hob nur seine andere Hand und hielt dann beide in der Luft.
Mit einer schnellen Bewegung schleuderte er Karun gegen Reba. Sie überschlugen sich mehrere Male auf der Mauer. Reba stand mit zittrigen Beinen auf, Karun hingegen blieb bewusstlos liegen.
Rebas Helm war scheppernd davongeflogen. Langsam raffte sie sich auf und griff sogleich von Neuem an. Winde kamen auf, zuerst nur leicht dann immer heftiger, doch schienen sie dem Anführer nicht annähernd etwas auszumachen. Mit zwei plötzlichen Handbewegungen hielt er Rebas Arme still. Kläglich musste sie mitansehen, wie nach und nach Ro und Ru aus ihren Händen rutschten und wegflogen.
„Was willst du mit ein bisschen Wind gegen mich ausrichten?“ Auf eine leichtes Zucken seiner Finger erhob sich ein loser Stein, flog auf Reba zu und traf sie an der Schulter.
Der Schlag fegte Reba von den Füssen. Doch wieder erhob sie sich und versuchte möglichst den Schmerz zu verdrängen.
Ihr Blick fiel auf den grünen Stein, der an einer Kette festgemacht war und um den Hals des Anführers baumelte. Sie sprintete los und versuchte nach dem Stein zu greifen, ohne wirklich zu wissen warum. Der Anführer tat diese Handlung als eine weitere verzweifelte Tat Rebas ab und stoppte sie, um sie dann mit einer wegwerfenden Geste seinerseits wegzuschleudern.
Reba jedoch hatte ihr eigentliches Ziel erreicht. Als sie sich ein weiteres Mal aufrichtete glänzte das Amulett in ihrer Hand. Der Anführer wurde rot vor Zorn und forderte zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch den Stein von Reba zurück. Keinen Augenblick zögerte Reba und schmiss die Kette von der Mauer.
Ein Schrei wurde seiner Kehle entlockt und der Anführer stoppte durch seine Fähigkeit das Amulett in der Luft. Auf diese Gelegenheit hatte Reba gewartet. Sie nahm einen weiteren Versuch und rannte auf ihn zu, während um sie herum immer noch Pfeile flogen und der Kampf tobte.
Ihr Versuch endete in einer weiteren Niederlage.
Der Anführer hatte sie früh genug bemerkt und rechtzeitig gestoppt. Plötzlich kam aus einer anderen Richtung ein Schwall Wasser, welcher den verdutzten Anführer in die Luft hob und von den Füssen riss. Reba drehte sich um und sah, dass Karun wieder auf die Füsse gekommen war.
Sie rannte los, hob ihre Stachel auf, sprang mit einem Satz hinunter, um dem Anführer den Rest zu geben. Als sie näher kam, stellte sie fest, dass ein Racheakt nicht mehr von Nöten war. Der Helm des Anführer war ihm in der Luft vom Kopf gerissen worden und der Hinterkopf war beim Aufprall auf einem Stein gelandet. Mit einem angewidertem Blick sah sie in das ausdruckslose Gesicht ihres Feindes, während sich das Blut in einer Lache auf dem Boden ausbreitete.
Kapitel 41
Das Gefecht währte nur noch kurz. Bald waren alle Verteidiger entweder tot oder hatten sich ergeben. Ein Räuspern brachte Reba dazu, sich abzuwenden. Karun der Prinz von Sagra stand hinter ihr, die Axt auf den Rücken gebunden.
„Das war knapp“, sprach er mit einem Seitenblick auf den toten Anführer. „Wie sieht dein weiteres Vorgehen aus, Reba?“
„Das kommt ganz darauf an“, antwortete sie.
Karun zog seine Augenbrauen hoch, antwortete jedoch nicht mehr.
Später nach einem kargen Mahl stand Reba vor dem Gefängnis und starrte auf den Ausgang des Kanals aus dem Tinira irgendwann auftauchen musste. Tinira hatte ihr zuvor erklärt, dass der Kanal von der Stadt durch den Berg zur Insel führe und mit Booten durchquert werden konnte.
Das feine Geräusch von laufenden Tatzen näherte sich ihr von hinten.
„Herrin, worauf warten wir?“, fragte der Puma. Tinira gab keine Antwort und blickte weiterhin auf den Kanal.
Plötzlich erschien ein Lächeln auf Rebas Gesicht, als ein Lichtpunkt sichtbar wurde und wuchs. Keine Minute später stürzte Tinira auf Reba zu.
„Ich glaube nicht, dass die alle Platz finden“, murmelte Tinira, als sie sich aufrappelte, Reba mit einem Lächeln begrüsst hatte und dann das vierhundertköpfige, grüne Heer sah, das sich vor der Festung niedergelassen hatte. Karun verneigte sich leicht vor Tinira, als er sie sah. „Guten Abend, Tinira. Lass das mit dem Transport nur meine Sorge sein. Geht ihr mit den Schiffen; ich werde für mich und meine Männer einen eigenen Weg finden“, sprach er mit ruhiger Stimme. Tinira nickte und runzelte verwirrt die Stirn.
Keine Minute später waren Tinira, Reba und ihre Tiere auf die Schiffe verteilt. Mit ein bisschen Unterstützung von Reba brauchten sie nicht lange, um durch den Kanal zu kommen. Auf der anderen Seite sprangen sie von den Booten und sicherten sofort die Umgebung. Nichts hatte sich, seit Tinira dort gewesen war, verändert. Die Leichen der Wachen lagen immer noch in ihren, nunmehr grösseren, Blutlachen. Von weit her hörte man Kriegsgeschrei und irgendwo in der Stadt krächzte ein Vogel in die Nacht hinaus.
Währenddessen zog sich das Wasser im Kanal immer mehr zurück, bis nur noch der trockene Boden zurückblieb. Nach einer Weile hörte man schnelle Schritte durch den Kanal hallen und bald kamen die ersten Krieger Sagras angerannt. Sie zogen sich an den Seilen hoch und bezogen sofort Position. Immer mehr kamen, bis es schliesslich still wurde. Dann kam auch das Wasser wieder und an seiner Spitze ritt Karun auf einer Welle.
In den darauffolgenden Minuten besprachen sie was nun zu tun sei. Schnell kamen sie zum Schluss, dass Karun und seine Männer, sowie Tinira und die Tiere zur Schlacht hinzustossen sollten. Reba sollte den Berg hinauf zum königlichen Palast, um dort soviel Informationen zu sammeln wie möglich.
Kapitel 42
Die Luft war geschwängert vom Geruch von frischem Blut und erfüllt mit Geschrei. Auf dem Schlachtfeld vor der schwarzen Stadt lagen Leichen verstreut, hauptsächlich Tiere aller Arten.
Galdior stand breitbeinig über Bolmars Leiche und wehrte verbissen die Angriffe der schwarzen Reiterei ab. Beinahe das ganze Heer, das mit Galdior geritten war, war entweder tot oder so schwer verletzt, dass es nicht mehr zum Kämpfen zu gebrauchen war. Der Rest der übrig geblieben war, hatte sich etwa vierzig Schritte von Galdior entfernt versammelt und versuchten zu überleben.
„Ich muss zu ihnen, jetzt“, dachte Galdior. Dann schnappte er sich Bolmars Leiche, hievte sie über die Schulter und bahnte sich den Weg zu seinen Kämpfern, stetig den Schlägen und Hieben seiner Feinde ausweichend.
Zweimal sackte er in die Knie, niedergedrückt von der Last der Verzweiflung, nicht etwa der Last seinen toten Freundes. Es schien ihm eine Ewigkeit zu dauern, bis er zu seinen Kämpfern durchgedrungen war. Diese begrüssten ihn freudig und nahmen sofort Bolmars Leiche in ihre Mitte.
Am Anfang der Schlacht hatte Galdior die dunklen Magier ausgeschaltet, denn er hatte gewusst, dass von ihnen die grösste Gefahr ausging. Doch nun fing er an unter dem Druck, den die gegnerischen Krieger ausübten, zu brechen. Sie waren mehr als das zwanzigfache an der Zahl und hatten ihn und seine Tiere von allen Seiten er eingekreist. Seine Schläge wurden unpräzise, aber er parierte so oder so nur noch.
Alle Hoffnung war gewichen; es würde keinen Sieg für das Gute geben, die Finsternis hatte am Ende doch gesiegt.
Inmitten der Selbstvorwürfe und der Hoffnungslosigkeit durchschnitt ein schriller Schrei seine trüben Gedanken. Galdior blickte auf und sah sie.
Noch nie hatte er so viele Feuervögel auf einmal gesehen. Es waren etwa dreissig, sie flogen durch die gegnerischen Reihen und brachten Tod und Zerstörung.
Die Krieger und Galdiors Kommando erhoben ihre Stimmen und jubelten den Feinden ins Gesicht. Ein riesiger Grizzlybär sprang vor Erleichterung auf und ab, sodass der Boden unter seinem Gewicht zu zittern began.
Gleich darauf kamen die ersten Männer Sagras hinter der zerstörten Mauer zum Vorschein und rannten den eingeschlossenen Verbündeten zu Hilfe.
Nun wendete sich das Blatt rasch: Galdior und seine Streiter blühten auf und schlugen sich eine Bresche durch die Feinde, Tiniras Phönixe flogen durch die Gegend, und Sagras Männer hatten wenig Mühe die müden Feinde niederzustrecken.
Bald waren nur noch die schwarzen Reiter übrig, die umso verbissener kämpften und nicht zu ermüden schienen. Nun, da er kaum noch um sein Leben zu fürchten hatte, stieg in Galdior der Zorn über den Tod seines Freundes wieder auf und über all die Gefallenen, die ihr Leben gelassen hatten. Er wollte in diesem Moment nichts anderes als Rache.
Seine Lanze sauste auf und ab und tötete eine Menge der schwarzen Reiter. Nach einem erbitterten Kampf lagen alle Reiter auf dem Boden. Galdior stand über ihnen, den Kopf und die Lanze gesenkt. Es war vorbei.
Tinira, Galdior und Karun standen um die Leiche von Bolmar unfähig etwas zu sagen. Nach einer Weile sprach Karun: „Ich werde ein paar meiner Männer befehlen ihn zu bewachen. Wir sollten gehen. Beenden wir diesen Krieg.“
Tinira wischte sich ihre Tränen aus den Augen und nickte. Galdior hingegen bückte sich und nahm seinem Freund den Helm ab und betrachtete dessen ruhiges Gesicht. Er atmete tief ein, stand auf und lief Richtung Stadt. Karun und Tinira folgten ihm schweigend.
Kapitel 43
Rebas Beine schmerzten.
Die Treppen, die sich links und rechts des Kanals, aus welchem sie gerade gekommen war, befanden, schienen ewig den Berg hinaufzuführen. Die ganze Angelegenheit erschwerte sich zusätzlich dadurch, dass sie immer im Schatten gehen musste, um vor allfälligen Blicken feindlicher Wachen sicher zu sein.
Im Schatten eines kahlen Baumes zog sie ihren Helm ab und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiss von der Stirn.
Nach langem, weiteren Treppensteigen erhob sich vor ihr eine gewaltige Mauer und ein Tor. Sie beschloss zuerst der Mauer entlang zu gehen. So wandte sie sich nach links und ging immer im Schatten dem Mauerverlauf entlang. Mit einiger Enttäuschung musste sie feststellen, dass die Mauer an einen Felsen endete. Rasch machte sie kehrt um und rannte zurück, am Tor vorbei und auf die andere Seite. Dort erwartete sie exakt das selbe.
In einem Rausch von Tatendrang und Neugierde fing sie an den Felsen zu erklimmen.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie auf gleicher Höhe wie die Mauer war. Hinter einem grossen Stein sah sie hervor und staunte nicht schlecht, als sie sah, dass der Palast, der sich innerhalb der Mauern befand, zwischen zwei Ausläufern eines Berges dahinter steckte. Der Palast war schwarz, genau wie der Platz davor.
Die Luft roch nach Tod und Verwesung.
Reba wurde schwindlig und sie musste sich festhalten, um nicht zu stürzen. Im Hof lag ein Tümpel, der alles Licht rundherum zu verschlucken schien.
Allerdings sah Reba nicht eine Wache.
„Ist auch gar nicht nötig,. Da geht so oder so keiner freiwillig rein“, dachte sie.
An der Mauer wuchs ein efeuähnliches Gewächs empor und auch sonst war sie sanierungsbedürftig. Rebas Augen wanderten zurück zum Palast, der direkt in den Berg verlief.
Plötzlich fing der dunkle Teich auf dem Hof an zu wabbern und zu blubbern. Gerade als Reba sich anfing zu fragen, was da vor sich ging, erhob sich etwas Seltsames aus dem Teich. Zuerst war es nur ein Klumpen, der langsam an die Oberfläche kam. Nach und nach kamen immer mehr Formen, die Reba nur allzu bekannt waren. Aus diesem Tümpel kam ein Mensch – oder etwas, was wie einer aussah – gekrochen. Er räkelte und streckte sich, als würde er sich in seiner Haut unwohl fühlen. Tatsächlich schien er sich in einer Art Sack zu befinden. Nach einiger Anstrengung schaffte es die Person sich aus seiner Hülle zu befreien.
Reba erkannte nicht genau, ob es ein Mann oder eine Frau war. Das meiste des Körperaufbaus schien menschlich, doch die Haut war schwarz genau wie die Augen und die langen Haare, die fast so lang waren wie sein Körper.
Reba zuckte zusammen, als die Tür zum Palast mit einem Knall geöffnet wurde. Ein prunkvoll gekleideter Mann kam heraus und hinter ihm ein paar Diener, die Rüstungsteile und ein langes Schwert dabei hatten.
Die Diener hielten ehrerbietig Abstand von dem Wesen, doch der Mann, der im Palast eine hohe Stellung innehaben musste, lief direkt und ohne Furcht auf das Wesen zu und fing es an zu betasten und zu betrachten, als ob er Ware auf einem Markt begutachten würde.
Nachdem er anerkennend genickt und es anscheinend als gut befunden hatte, klatschte er zweimal in die Hände und sofort traten die Diener nach vorne und begannen dem Wesen die Rüstung anzuziehen. Sie passte wie angegossen und das Wesen – so unmöglich es auch schien – bewegte sich als ob es nie ohne gewesen wäre.
Keine fünf Minuten nachdem die Diener auf den Hof gekommen waren, verzogenen sie sich wieder ins Haus.
Das merkwürdige Wesen war wieder allein. Es zog sein langes Schwert hervor und betrachtete es genauer. Die Klinge des Schwertes war innen grau und die Schneide schwarz. Mit einem heiseren Lachen, das Reba das Blut in den Adern gefrieren liess, steckte das Wesen sein Schwert zurück in die Scheide auf dessen Rücken, schob das Tor auf und ging die Treppe hinunter.
Rebas Gedanken rasten.
Was sollte sie nun tun? Sollte sie es tatsächlich wagen in den Palast hineinzugehen? Und was würde sie tun, wenn sie erst einmal drinnen war? Nach ein paar Sekunden schüttelte sie den Kopf und gestand sich ein, dass es nicht viel Sinn machen würde, viele Informationen zu sammeln, aber am Schluss gefangen genommen zu werden und so niemandem mehr die Informationen weitergeben zu können.
Schnell fasste sie den einzigen, ihr richtig erscheinenden Entschluss: Sie würde die Treppen hinuntergehen, das Monster zur Strecke bringen und dann gemeinsam mit den anderen den Palast stürmen.
Bevor sie es wirklich schnallen würde, wäre der Krieg vorbei und das Leben konnte friedlich weitergehen. Mit einem Gefühl eines nahenden Endes und einem siegessicheren Lächeln auf den Lippen begann sie den Abstieg von den Felsen.
Kapitel 44
Als er die Stadt unter sich betrachtete, schüttelte er bedächtig den Kopf.
Die Menschen hatten nichts gelernt, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Hätten sie damals auf ihn gehört, würden sie nun in Wohnungen aus Diamanten und Gold wohnen und sie bräuchten sich nicht mehr um ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Doch zu dieser Zeit hatten die Menschen einstimmig das Gefühl gehabt, auf Reichtum verzichten zu können und stattdessen den Tugenden zu folgen.
Angewidert zog er die Mundwinkel runter und spie auf die Treppe. Nun schien seine Hilfe doch willkommen zu sein, immerhin für eine Seite der Menschen.
Er, der tiefgründige und unerschütterliche Bote der ewigen Gestade würde nunmal dem, der ihn gerufen hatte helfen. Sein Lohn würde unermesslich sein, wenn er erst mal die Gunst unter den Menschen erlangt hatte.
Langsam nahm er Tritt um Tritt und wurde sich zusehends sicherer, dass nichts ihn nun noch stoppen konnte. Auch nicht die kleine Ratte, die seit seiner „Geburt“ auf dieser Welt immer in der Nähe gewesen war.
Versteckt hatte sie sich, hinter den Felsen. Doch um die würde sich sein Meister kümmern. Seine Aufgabe bestand allein darin, zur Schlacht hinzuzustossen und seinem Meister den Sieg zu bringen ... und den Kopf eines bestimmten Menschen.
Die Rüstung und das Schwert, das ihm gebracht worden war, erschwerten seinen Körper ungemein und es war ihm ein Rätsel wie man so etwas Tag für Tag tragen konnte. Ein leicht resigniert klingender Seufzer drang aus den Tiefen seines Körpers heraus. Während er mit der Hand über den Arm fuhr, wurde ihm bewusst wie angewiesen er auf die Waffe und die Rüstung war ... zumindest anfangs. Er würde sie solange benutzen, bis sein ausgewachsener Körper seine eigene Rüstung und sein eigenes „Schwert“ hervorgebracht hatte. Und dann würde ihn niemand mehr aufhalten – nicht einmal die kleine Ratte, die ihm hinterher schlich. Er konnte ihren Atem hören und ihre Nähe spüren. Wie töricht von ihr zu denken, dass sie ihn beschatten konnte. Nun ja, auch ihre Zeit würde kommen.
Nicht einen weiteren Gedanken verschwendete er ihrer und lief weiter, nun in schnellerem Schritt, die Treppen runter.
Nach einigen Minuten sah er unter sich ein grosse Gruppe von Leuten durch die Stadt auf ihn zu gehen. Nicht etwa, dass er auf Hilfe angewiesen war, aber es würde doch ein Kampf werden, wenn denn nicht nur Menschen dabei waren.
Er wusste nicht wie viele da auf ihn zu marschierten, doch er wusste, dass er stehen bleiben musste.
Wieso sollte er zu ihnen gehen? Sollten sie sich abmühen, die Treppen hinaufzuklettern, um dann vor ihm auf die Knie zu fallen und um ihr Leben zu winseln. Und so hatte sein Körper auch genug Zeit sich weiterzuentwickeln. Dieser Kampf würde sicherlich in die Geschichte dieser Welt eingehen.
„Und ich weiss jetzt schon, wer siegreich sein wird“, flüsterte er.
„Wer ist das? Ist das Reba?“, fragte Galdior Karun. Dieser kannte die Antwort auch nicht. Galdior, Tinria und Karun stiegen Tritt um Tritt nach oben, und die schwarze Person blieb in einiger Entfernung über ihnen stehen.
„Halt! Tinira, bleibt sofort stehen! KEINEN SCHRITT WEITER!“, schrie Raar in Tiniras Kopf. Sofort hielt sie Karun und Galdior zurück und beinahe wären sie nach hinten gestürzt.
Der Blick Galdiors war kaum zu deuten, doch das war Tinira egal und sie sagte im gebieterischsten Ton, den sie aufbringen konnte: „Halt! Da stimmt was nicht!“
Karun und Galdior konnten nicht erraten, was in Tinira vorging, doch ihr ungläubiger Blick verriet nichts Gutes. Plötzlich zog sie einen Pfeil, legte ihn auf die Sehne und schoss ihn in die Lüfte.
Wie so viele Male zuvor explodierte der Pfeil und wurde zu einem Feuervogel, der in einem riesigen Tempo auf die schwarze Kreatur stürzte. Doch gegen Tiniras Willen machte der Phönix eine Kurve und verpuffte weit weg in der Luft. Tinira keuchte schwer. Was war das für eine Kreatur, die ihre Vögel leiten konnte?
„Ich sage es dir. Es ist der Bote der ewigen Gestade, Bûr, die Verkörperung des Bösen und zweifellos gerufen vom Herrscher dieses Palastes, der die Spitze dieses sündigen Berges schmückt. Schick die anderen weg, das ist kein Gegner für Sterbliche.“
Tinira drehte sich um und schrie so laut sie konnte: „Schnell zieht euch zurück, wenn euch euer Leben lieb ist! Geht! Bleibt in der Stadt und versorgt die Verwundeten! Und mischt euch nicht ein! Geht!“
Tiniras vor Schreck aufgerissenen Augen waren genug Beweis für die Soldaten und Tiere, um zu wissen, dass das keineswegs ein schlechter Scherz war. Sie drehte sich um und ignorierte die fragenden Blicke Galdiors und Karuns.
„Galdior und Karun auch", befahl Raar.
„Los, ihr auch! Vertraut mir! Geht!“, befahl Tinira ihnen, doch es war schon zu spät. Die Kreatur hatte sich ihnen unbemerkt genährt und war nur noch ein knappes Dutzend Schritte entfernt und sie schien ihren Blick auf Karun gerichtet zu haben.
Galdior nickte Tinira zu und wollte gerade die Flucht ergreifen, was ihm sehr widerstrebte, als er sah, dass Karun auf das Wesen starrte. Von einem Moment auf den anderen fiel Karun auf die Knie, Blut floss aus seinen Mundwinkeln, seine Augen waren starr und der Atem setzte aus. Tinira schrie: „Schnell Galdior, bring ihn runter, jetzt, bevor es zu spät ist!“
Galdior reagierte sofort, er packte sich Karun, schleuderte ihn über die Schulter und rannte die Treppen hinunter.
Kapitel 45
In der Nähe eines kleinen Wäldchens im Nordwesten der finsteren Stadt schien das Leben normal abzulaufen. Keine Kriegsgeräusche, kein Wiehern von Pferden, keine Leichen, die den Boden säumten, nur diese friedliche, absolut Ruhe.
Zwischendurch fiel ein Blatt langsam schwebend auf die Humusschicht. Die Blätter fingen an sich in der feinen Brise zu bewegen, wie ein einziges. Die Brise wurde stärker, die Bewegungen der Blätter wurden heftiger und die Stille wich dem fernen Dröhnen eines Sturmes. Das Dröhnen kam näher, fing an den Boden zu erschüttern. Blätter wirbelten umher in einem endlosen hektischen Tanz. Der Sturm, der durch das Wäldchen fuhr erschütterte alles, neigte selbst die stärksten Bäumen. Und das Dröhnen nahm Form an.
Wie tausend Hufe klang der Wind und immer wieder erklang die Stimme: „Windfürstin, haltet durch!“
Uutar-Moru hatte zum Krieg gerüstet.
„Sieh ihm nicht in die Augen! Vermeide jeglichen Blickkontakt und vertraue mir!“
Tinira nickte und schloss ihre Augen. Ausser ihrem Atem hörte sie die bedächtigen Schritte der Kreatur.
Sie hörte ein leises Lachen und eine böse Stimme, die sagte: „Ich sehe wie schon einmal zuvor. Die Waffen der Windfürstin, Ro und Ru. Doch ... habe ich diese nicht eben vor langer Zeit getötet? Wie kommt das? Wieso schaust du mir nicht in die Augen, wenn ich nicht mit dir rede, Kind?“
„Schaue ihm auf keinen Fall in die Augen! Vertraust du mir? Tinira, vertraust du mir?“
„Ich weiss nicht ... wieso ...“,dachte Tinira verwirrt.
„Tinira, vertraust du mir?“
„Nun ja, ja, ich vertraue dir“, antwortete Tinira.
„Gut, denn das hier wollte ich nie.“
„Was denn? Was wo –“, fragte sich Tinira, doch plötzlich wurde ihre Rüstung heiss, viel heisser als sonst, selbst wenn sie sich selbst als Phönix entfachte. Die Hitze umgab sie, war in ihr drin und schien sich zu sammeln. Im nächsten Augenblick entwich alles Angestaute explosionsartig nach aussen. Dann wurde der Schmerz unerträglich, schlimmer als je zuvor. Und sie spürte nichts mehr.
Reba konnte sich kaum bewegen. Zu viel war in den letzten fünf Minuten passiert. Der Sturz hatte ihr einen kleinen Schrei entlockt, doch was nun geschah schockierte sie vollkommen.
Tinira war gerade explodiert! Ohne ersichtlichen Grund war sie grösser geworden, ihre Rüstung fing an zu brennen und plötzlich war sie nicht mehr sie selbst. Die Gestalt die ihren Körper umgab, brannte, war pures Feuer, in Form einer wunderschönen Frau, die schrie wie ein Vogel.
Die schwarze Kreatur hatte die Explosion von den Füssen gerissen und mehrere Stufen weit hinaufgeschleudert. Es schien dieses Szenario nicht voraus gesehen zu haben. Durch das Getöse des Feuer hindurch konnte Reba die Stimme der Kreatur hören und wie sie sagte: „Du schon wieder! Hat man dich nicht weggesperrt? Musst du dich schon wieder einmischen? Hinfort mit dir!“
Reba konnte nicht glauben, was sie hörte. Schon wieder?, rezitierte sie im Geiste die Kreatur. Doch wirklich weit kam sie mit ihren Gedanken nicht, denn unterdessen war schwacher Wind aufgekommen und bevor sie verstand, um was es sich handelte, wurden sie alle ein weiteres Mal von den Füssen gerissen.
Sie sah wie Tinira oder das was einmal Tinira gewesen war, umgefallen war und die Kreatur war ein weiteres Mal zurückgeschleudert worden. Der Wind wirbelte Blätter umher und ein unglaubliches Brüllen erfüllte die Luft.
Reba erkannte die tiefe Stimme sofort.
Wobei jedes Sausen ihre Worte zu unterstreichen schien, sagte diese: „Du Finsternis! Welch Tor hat dich heraufbeschworen? Wer hat dich geholt? Bûr, so sehen wir uns wieder und hoffentlich nie mehr für lange Zeit!“ Dann ebbte die Stimme ab und der Wind und die Blätter sammelten sich neben Reba auf der Treppe. Uutar-Moru war endlich erschienen.
„Uutar, was ist hier los? Was tust du hier? Was ... was ... ist mit Tinira?“
„Das ist Bûr, er ist böse. Ich bin gekommen, um ihn zu richten. Tinira wurde von Raar-Fin-Sul, da nur wir beide ihn töten können, übernommen.“
„Ist sie ... tot?“
„Nein, nicht ganz“
„Dann bringen wir's endlich zu Ende!“, sagte Reba, stand auf und stellte sich neben Uutar, den Blick fest auf die schwarze Kreatur gerichtet. Uutar-Moru wurde ruhig und sagte leise: „Meisterin, ihr habt nicht zugehört. Nur ich und Raar-Fin-Sul können ihn besiegen. Menschen können ihn nicht besiegen, denn genau wie wir ist er nicht von dieser Welt. Ihr werdet eure Aufgabe erfüllen, wegen der ihr gekommen seid. Ich werde mich um ihn kümmern. Geht jetzt! Stürzt den finsteren Thron!“
Reba sah ihn lange an. Immer mehr wurde ihr bewusst, dass dies kein schönes Ende nehmen würde. Ihr Kopf neigte sich und eine Träne rollte ihr der Wange entlang.
„Ich werde meine Bestimmung erfüllen. Werden wir uns wiedersehen?“, fragte sie unter Tränen.
„Natürlich, Meisterin. Auf bald, geht jetzt!“, antwortete Uutar-Moru.
Reba drehte sich um und rannte die Treppen hinauf.
Uutar-Moru schrie einen Schlachtruf, brauste auf die böse Kreatur zu und fegte sie von der Treppe. Bûr flog die Felsen herab und landete weit unten seitlich der Treppe in einer Böschung. Sofort sprang Uutar-Moru hinterher. Tinira, oder Raar, fassten sich ihrerseits wieder und sprangen ebenfalls die Böschung runter.
Kapitel 46
Galdior trat einen Schritt von der Leiche Karuns zurück. Keiner der Heiler und Ärzte hatte noch etwas für ihn tun können. Nun standen sie um ihn herum und klagten und mit ihnen das ganz Heer Sagras.
Immer wieder hallten die letzten Worte Karuns durch seinen zerrütteten Geist.
„Nun sollst du meine Weissagung erfahren, Galdior. Es wurde gesagt, dass ich in den Armen, dessen sterben werde, welcher die Neue Welt sehen wird. Bring es zu einem Ende mein Freund und wenn du an den Gestaden der neuen Welt ankommst, gedenke meiner.“
Oh, er würde seiner gedenken.
Um sich hörte er wie durch einen Schleier das Wehklagen der Männer Sagras. Wie viele waren schon gefallen? Seine Hand zitterte und brachte die Lanze zum Vibrieren. Er musste es jetzt beenden. Jetzt oder nie.
Wie ein Wahnsinniger drehte er sich um und spurtete die Treppen hinauf, mehrere Stufen auf einmal nehmend.
Reba stand vor dem schweren Tor wie schon einmal zuvor. Sie hatte sich keine Mühe gegeben auch Feinde zu achten. Erstens, weil sie glaubte, dass so oder so keine da waren und zweitens, weil es ihr wirklich von Herzen egal war.
Sie suchte vergeblich nach einer Türklinke oder ähnliches, also beschloss sie es auf die konventionelle Art und Weise zu machen.
Das Tor zersplitterte und wurde aus den Angeln gerissen. Die Einzelteile lagen im Hof verstreut. Reba steckte ihre Waffen wieder weg und lief langsam in den Hof.
Genau wie vorhin, als sie zwischen den Felsen versteckt war, herrschte auch jetzt eine Totenstille. Nichts rührte sich, nur ein leiser Wind strich über ihre Haut.
Zuerst ging sie nahe an den Teich heran, ging sogar in die Knie, um ihn genauer betrachten zu können. Die gänzlich schwarze Oberfläche schien hart zu sein, und doch irgendwie flüssig. Sie wollte den Teich berühren und führte ihre Hand zur Oberfläche.
Doch bevor ihre Fingerspitzen die Oberfläche auch nur berührten, wurde sie von einem unheimlichen Gefühl beschlichen, als ob sie wusste, dass sie ihre Finger verlieren würde, sobald sie unter der Oberfläche waren. Schnell stand sie auf und wich ein paar Schritte zurück. Dieser Teich war nicht normal und eigentlich wollte sie gar nicht genauer wissen, um was es sich handelte.
Sie schlich sich an die Palasttür heran.
Die Tür war riesig und aus Bronze und wie schon beim vorherigen Tor, war auch hier keine Klinke ersichtlich. Auf der Tür waren Schriftzeichen und Figuren zu sehen, die Reba einen Schauer einjagten. Als sie gerade die Hand ausstrecken wollte, um die Tür aufzustossen, ging diese wie durch Geisterhand von alleine auf. Dahinter erstreckte sie ein weiter Korridor, der sich viele Male verzweigte. An den Wänden hingen Fackeln, die es jedoch kaum schafften, die Dunkelheit zu vertreiben. Der Boden schien aus Marmor zu sein und jeden Schritt, den Reba machte, ähnelte einem Donnergrollen.
Sie wusste später nicht wie lange sie diesen Gang entlang geschritten war, an zahlreichen Fackeln und Abzweigungen vorbei, doch es erschien ihr eine Ewigkeit, bis sie das Ende des Ganges erreichte hatte und vor einer gewaltigen Tür stand, die eine eigene unüberwindbare Präsenz hatte.
Allen Mut zusammennehmend, machte sie einen Schritt auf die Tür zu und versuchte sie aufzustossen, doch diese gab nicht nach. Sie probierte alle möglichen Tricks, die es gab, um eine Tür aufzubringen. Schlussendlich zog sie ihre Stachel hervor und schwang sie gegen die Tür.
Das Ergebnis war zugleich verwirrend als auch erschreckend. Der Wind wurde von der Tür zurückgeworfen und traf Reba mit voller Wucht, sodass sie von den Füssen gehoben wurde und nach hinten flog. Sie beschloss einen anderen Eingang zu, was auch immer hinter dieser Tür lag, zu suchen.
Er keuchte schwer und musste sich einen Moment ausruhen, nachdem Galdior durch die zerfetzte Tür in den Hof trat. Nur wenig Zeit gönnte er sich und rannte gleich weiter. Und im Gegensatz zu Reba liess er sich von dem schwarzen Teich nicht aufhalten, sondern spurtete gleich weiter.
Wenige Augenblicke später rannte er den gleichen Gang entlang wie zuvor Reba und auch er landete schliesslich vor der mächtigen Tür. Er spürte, dass diese Tür ihm nicht freiwillig zeigen wird, was dahinter ist. Galdior packte seine Lanze, schloss die Augen und konzentrierte sich. Tiefe Furchen bildeten sich auf seiner Stirn, als sich immer mehr Licht um die Spitze der Lanze sammelte.
Um Galdior herum schien es dunkler zu werden. Das gesammelte Licht explodierte in einem Blitz aus Helligkeit und die Tür fing an zu stöhnen und zu knarren wie unter Schmerzen. Doch dann öffnete sie sich endlich.
Reba hatte keine Ahnung wo sie sich befand.
In dem Wirrwarr von Gängen hatte sie sich unwiderruflich verirrt. Sie rannte um jene Ecke, dann um eine weitere und noch um eine und war wieder dort, wo sie losgerannt war. Erschöpft liess sie sich neben einer Fackel zu Boden gleiten.
Verzweiflung machte sich in ihr breit. Immer wieder schaute sie nach recht und nach links. Schweissperlen schmückten ihr sonst so hübsches Gesicht, das nun seltsam verzerrt und erschreckt aussah.
Ihre Pupillen waren bis aufs Äusserste erweitert, versuchten die Dunkelheit zu durchdringen, die von überall her auf sie eindrückte. Sie klebte wie Spinnweben in jeder Ecke und selbst das Licht der Fackeln schien eine Abart der Dunkelheit zu sein.
Wie ein gehetztes Tier drückte Reba sich an die Wand. Langsam machte sich Panik in ihr breit. Und plötzlich wollte sie nur noch weg vom diesem Ort.
Sie wollte sich gerade am Fackelhalter hochziehen, als dieser quietschend unter ihrem Gewicht nachgab. Mit rudernden Bewegungen versuchte sie das Gleichgewicht zu halten, doch es nützte nichts. Mit einem Aufschrei fiel sie nach hinten in einen Schacht. Sie überschlug sich mehrmals und stürzte immer weiter den engen Schacht hinab. Ihre Reise wurde durch eine Wand beendet, an welcher sie sich den Kopf anschlug.
Als Reba wieder zu sich kam, schmerzte ihr Hinterkopf, als hätte jemand ihr eine Gusseisenpfanne über den Schädel gezogen.
Wider ihrer Schmerzen fielen ihr sofort zwei Dinge auf.
Erstens: Sie sah nichts.
Zweitens: Sie spürte von rechts einen leichten Luftzug. Nachdem sie sorgfältig alles abgetastet hatte, beschloss sie dem Luftzug zu folgen.
Der Schacht war so klein, dass sie gezwungen war auf allen Vieren hindurch zu kriechen und noch immer war es stockfinster. Sie konnte rein gar nichts erkennen. Immer weiter und weiter kroch sie.
Einmal hinauf dann wieder hinab, bis sie sich nicht mehr im Klaren war, was oben und unten war. Mit einem Mal wurde der Luftzug stärker und als sie um die nächste Ecke bog, konnte sie das rote Leuchten der Abendsonne erkennen. Sie krabbelte wie ein Kleinkind dem Ausgang entgegen.
Als ihr Kopf schliesslich fast im Freien war, musste sie die Augen zukneifen.
Schnell kroch sie aus dem Schacht und war sich zuerst nicht ganz sicher wo sie sich befand. Langsam gewöhnten sich ihre Auge an das Licht und die Aussicht verschlug ihr den Atem.
Weit unter sich sah sie den See mit der Insel und dem Gefängnis, wo sie noch vor nicht all zu langer Zeit gekämpft hatte. Um den See herum erhoben sich die zwei Hügelketten und dahinter das Ostmeer.
Es war unglaublich schön.
Das Ostmeer breitete sich nach links und rechts aus, scheinbar unendlich in die Ferne. Der Anblick liess Reba blinzeln. Ihre Augen erkannten keinen Horizont, doch ihr Verstand wehrte sich mit Händen und Füssen gegen diese Vorstellung. Schnell wandte sie ihren Blick ab; sie würde sich später um dieses „Problem“ kümmern.
Die laue Abendsonne liess die Wellen und Wogen rötlich schimmern. Nach einigen Moment des Geniessens wurde ihr bewusst, dass sie eigentlich keine Ahnung hatte, worauf sie stand. Schnell sah sie sich um.
Hinter ihr türmte sich der karge Berg steil auf. Sie jedoch stand auf einer leicht gewölbten Ebene aus behauenem Stein, wie man es auf Dächern vorfand.
Ihr Gehirn fing an zu arbeiten.
„Ich muss mich auf dem Dach des Palastes befinden“, dachte sie. Die Möglichkeit, dass sie sich oberhalb des Raumes befand, in welchen sie vorhin versucht hatte hineinzukommen, jagte ihr einen nervösen Schauer über den Rücken.
„Was ist da unten? Ich muss es herausfinden! Und wenn es das Letzte ist, das ich tue!“
Kapitel 47
Eine Welle von Bosheit und tiefer Finsternis schlug Galdior aus dem Raum entgegen. Er musste sich merklich dagegen stemmen, um hineinzugelangen.
Weit vor sich konnte er die Umrisse eines Thrones sehen. Die Fackeln an den schwarzen Marmorsäulen links und rechts von ihm spendeten nur karges Licht und durch ihr Flackern schienen die Schatten, die wie Hyänen auf den richtigen Augenblick warteten, um loszuschlagen, noch gespenstischer zu werden.
Galdior lief langsam vorwärts und seine Schritte hallten durch den riesigen Raum.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nichts Lebendes gesehen, geschweige denn gehört. Die Augen zu Schlitzen verengt, versuchte Galdior den Thron vor sich genauer zu erkennen.
„Du bist also gekommen?“, donnerte eine böse Stimme aus Richtung Thron. Galdior versteifte sich sofort.
„Ich weiss, dass das Ende nah ist, doch solang ich hier regiere, wird niemand übers Ostmeer kommen. Und du wirst mich nicht aufhalten können. Du hast dein eigenes Todesurteil unterschrieben, als du hierher kamst.“
Galdior hörte wie hinter ihm die Tür zuschlug und plötzlich, leise wie Katzen, traten zwischen den Säulen Armbrustschützen hervor.
Er versuchte sie zu zählen, kam jedoch nicht weit, denn plötzlich erhob sich eine massige Gestalt aus dem Thron und machte ein paar Schritte auf Galdior zu. Auf sein Kommando kamen vier Soldaten mit einer schweren Kiste auf ihn zu und stellten sie vor ihm ab.
Nicht fähig sich zu rühren, starrte Galdior auf die Kiste, woher die ganze Bosheit in diesem Raum ausging. Erst in diesem Augenblick, als der dunkle König sich bückte, um die Kiste zu öffnen, wurde Galdior bewusst wie gross der König war. Und tatsächlich war dieser etwa vier Köpfte grösser als Galdior. Seine Grösse rührte aber nicht von seiner Körpergrösse her, sondern von seiner Rüstung, die wie ein Panzer seinen ganzen Körper umgab.
Die Kiste gab ein quietschendes Geräusch von sich, als sie geöffnet wurde und sofort strömte ein Geruch von Fäulnis und Tod durch den Raum. Der Schein der Fackeln wurde trübe, noch trüber als zuvor.
Der König zog einen riesigen Dreizack heraus, der eigentlich gar keinen Platz haben konnte in der Kiste. Und er wurde zunehmend länger, ja, er wuchs tatsächlich. Galdior erwachte schlagartig aus seiner Starre und fing an das wenige Licht an der Spitze seiner Lanze zu sammeln. Doch der König schien das vorausgeahnt zu haben. Mit einer Handbewegung wurden alle Fackeln von den Soldaten abgenommen und gelöscht.
Galdior stand in fast vollkommener Dunkelheit; das einzige, was noch Licht spendete, war die Spitze seiner Lanze. Er hörte Schritte, dann sah er etwas vorbeihuschen und im nächsten Moment wurde ihm seine Lanze aus den Händen gerissen und erlosch.
Die Finsternis umgab ihn wie eine zweite Haut, sie lachte ihn aus, verhöhnte ihn. Und da kam auch schon der erste Schlag mit solch einer Wucht, dass sein Helm eingedellt wurde. Sein Gegner musste unheimlich schnell sein, denn bevor Galdior auf dem Boden auftraf, spürte er eine Kick in den Rücken und er wurde ein weiteres Mal durch die Luft geschleudert.
Er schlug gegen eine Säule und flog zu Boden. Um ihn herum hörte er die Soldaten lachen.
Gerade als er wieder genug Kräfte hatte, um aufzustehen hörte er ein Sirren und etwas Metallisches schlug ihn wieder zu Boden.
Seine Hände tasten und er konnte die Zinke des Dreizacks füllen, der ihn am Boden festnagelte. Sein Hals befand sich zwischen zwei der drei Zinken, die tief im Boden steckten. Vergeblich versuchte er sich zu befreien und Licht zu sammeln. Er war dem finsteren König hilflos ausgeliefert.
Was hatte er sich nur dabei gedacht, hierher zu kommen? Seine Gedanken wurden unterbrochen, als er spürte wie der Dreizack anfing zu surren und zu vibrieren. Galdior schrie, als das Surren so laut wurde, dass ihm beinahe die Trommelfelle platzten.
Es fühlte sich an, als ob Reissnägel in seinem Kopf wären. Der Dreizack saugte jegliches Leben aus ihm heraus mit einer Gier wie sie Galdior noch nie gesehen oder gespürte hatte.
In diesem Augenblick war er der festen Überzeugung, dass es ihm zu Ende ging.
Sie hatte alles versucht, um durch die Decke zu kommen, sie zu zerstören oder immerhin ein wenig zu beschädigen, doch die Decke wollte nicht nachgeben.
Seit einer Weile versuchte sie nun schon durch die Decke zu gelangen ohne Erfolg.
Dann ging die Sonne unter und die ersten Sterne fingen an zu leuchten. Am hellsten schien die liegende Acht, die fast so hell wie der Mond leuchtete.
Reba nahm noch einmal einen Anlauf. Sie spürte, dass die zwei Sterne, die dort am östlichen Horizont prangten, irgendetwas mit ihren Kräften zu tun hatten. Mit einem riesigen Satz sprang sie in die Luft, liess sich vom Wind noch ein Stück hinauftragen und liess sich dann fallen.
Sie musste beide Schwerter gleichzeitig schwingen, obwohl sie nur zu gut wusste, dass dies gefährlich war. Mit ihren Bewegungen entfachte sie einen Sturm und sie schrie wie nie in ihrem Leben zuvor. Um sie herum wurden Steine losgelöst, der Berg fing an zu knacken und zu stöhnen und plötzlich, als die Strecke zum Dach immer kleiner wurde, bildeten sich Risse auf der Oberfläche des Daches.
Durch ein Schleier von Verzweiflung und Tod hörte Galdior das seltsame Knacken über sich. Auch die Bosheit, die ihm das Leben aussog, schien es zu bemerken und sich abzuwenden.
Galdior kam wieder an die Oberfläche des Bewusstseins und öffnete die Augen. Alle um ihn herum sahen zur Decke, sogar der König starrte hin. Der plötzliche Lichteinfall und die Wucht mit der die Deck zusammenbrach zwangen den König die Arme vor die Augen zu halten.
Galdior hörte ihn schreien: „Ahh, wer wagt es Licht in die verborgenen Hallen zu bringen!“ Selbst Galdior fragte sich, was da vor sich ging, als er im Sternenlicht das schimmernde, goldene Haar Rebas erkannte.
Nur einen Lidschlag später war sie auch schon wieder weg. Dann wurde der König plötzlich von den Füssen gerissen und sein Dreizack gleich mit ihm.
Galdior sah Reba noch immer nicht, nichtsdestotrotz erblickte er zu seiner Rechten seine Lanze und auf diese rannte er nun mit schwachen Beinen zu. Hinter ihm erklang Rebas Stimme: „Galdior komm unter das Licht! Schnell!“
Und er hatte wirklich vor ihrem Rat zu folgen, doch kaum hatte er seine Lanze wieder in der Hand, als sich auch schon der König vor ihm auftürmte. Den ersten Schlag konnte er noch abblocken, der nachfolgende Schlag in den Magen jedoch nicht.
Galdior segelte durch die Luft und wurde erst durch die Wand gebremst. Noch während er geflogen war, hatte er gesehen wie der König seinen Dreizack geworfen hatte. Durch schnelles kopfeinziehen war er dem Dreizack entkommen. Dieser steckte nun über ihm in der Wand. Galdior reagierte sofort; stand auf und rannte los, die Lanze fest in der rechten Hand. Sie verschwamm, als er sie auf den König hinabsausen liess. Dieser blockte mit der linken Hand und in einer drehenden Handbewegung packte er die Lanze, sodass Galdior nicht fliehen konnte. Und da war auch schon das gepanzerte Bein auf dem Weg zu Galdiors Gesicht. Dieser liess die Lanze los, um den Kick mit beiden Armen abzuwehren. Und obwohl es sich anfühlte, als wenn die Knochen nachgäben, holte er mit aller Kraft aus und kickte gegen das stehende Bein des Königs.
Für einen Moment schien der Koloss in der Luft zu schweben, um dann nur umso härter auf dem Boden aufzuschlagen. Sofort hechtete Galdior nach seiner Lanze und konnte einen kurzen Blick auf Reba erhaschen, die unter dem Beschuss aller Armbrustschützen war und mit Ro eine Art Windschild aufgebaut hatte.
Die Faust schien aus dem Nichts zu kommen und traf Galdior hart im Gesicht. Und noch bevor er überhaupt reagieren konnte, hatte ihn die Hand des Königs bereits am Hals gepackt und hob ihn ohne Mühe in die Luft.
In dieser Situation sah er wieder zu Reba, die plötzlich Ro stillhielt, eine Rolle machte und Ru in Richtung der Säulen zu ihrer linken schwang. Galdiors Augen weiteten sich, als die Säulen ineinander zuammenfielen.
Der Teil der Decke, der durch diese Säulen gestützt wurden, bröckelte hinunter. Galdior nutzte das kurze Zeitfenster, das ihm der König gab, indem dieser entsetzt zu dem Schutthaufen hinübersah und zog die Füsse an, um sie dann mit voller Wucht in das Gesicht des Königs zu schmettern. Der Schlag liess den König ein paar Schritte zurücktaumeln und Galdior war wieder frei.
Im nächsten Moment passierten gleich mehrere Dinge auf einmal. Die Säulen, welche noch standen bekamen plötzlich ein Schnitt und standen nur noch durch die Statik. Der König schien langsam richtig wütend zu sein und rechts von ihm rannte Reba unter einem Pfeilhagel zum Ausgang.
Galdior verstand, was er zu tun hatte. Er sammelte ein wenig Licht an der Spitze der Lanze machte einen Ausfallschritt und schlug dem König mit der Breitseite der Lanze auf den Bauch. Die Entladung des Lichts schleuderte diesen in die nächste Säule. Der Aufprall reichte, um die Säule instabil werden zu lassen, sodass diese nach vorne umkippte und wie ein Dominostein die nächste Säule umwarf. Nun stürzte endgültig alles zusammen.
Doch das bekam Galdior kaum mehr mit. Er rannte bereits durch die offene Tür, die Reba anscheinend geöffnete hatte und den Gang entlang, währenddessen hinter ihm alles einstürzte.
Kapitel 48
Galdior lag auf dem Bauch, umgeben von Staub und Schutt.
Der Berg war in sich zusammengebrochen. Jemand griff im unter die Schultern und zog ihn weg. Es dauerte eine Weile, bis er wieder stand.
Neben ihm war Reba, sie hatte den Helm abgenommen und ihre Locken waren von einer Staubschicht überdeckt. Durch den Staub über den Trümmern sah man die zwei Sterne, die sich langsam zu überdecken begannen.
„Es ist vollbracht“, sagte Galdior mit einem Seufzer. Er drehte sich um und erstarrte.
Hinter ihm aus dem Trümmerhaufen erklang ein bedrohliches Surren und er hörte Reba aufschreien. Man brauchte ihm nicht zu sagen, was es war.
„Es ist noch nicht vollbracht“, dachte er.
Seine Rüstung gab dem Dreizack nach und dieser durchstiess ihn. Die blutigen Zinken ragten grotesk aus seinem Bauch heraus. Ungläubig starrte Galdior auf die Spitzen herab. Ein Schwall von Blut kam aus seinem Mund.
Die Zeit reichte nicht, um das Bewusstsein zu verlieren, da wurde der Dreizack schon wieder hinausgezogen. Die Hacken an den Spitzen rissen Fleisch, Haut und Fetzen von Organen heraus. Der Schmerz war unbeschreiblich.
Dann sackte Galdior zusammen und seine Lanze schepperte zu Boden. Seine Augen sahen nur noch Rebas entsetzten Blick.
Reba verstand nicht, was gerade passiert war.
Galdior lag in seinem eigenen Blut und neben ihr lachte sein Mörder, der anscheinend noch nicht tot war. Wie betäubt schaute Reba zum König hinüber, der zwischen den Trümmer stand und lachte.
Dort wo früher einmal sein rechter Arm war, befand sich nun ein ausgefranster Stumpf, der stark blutete. Dies schien ihn nicht daran zu hindern mit dem Dreizack auf Reba einzustechen. Doch diese, von Zorn beflügelt wich dem Dreizack aus, packte ihn und zog einmal kräftig daran.
Der König stolperte vorwärts, verlor die Balance und purzelte den Schutthaufen herab, bis vor Rebas Füsse. Reba holte mit beiden Armen aus und wollte dem König die Stachel in den Kopf rammen.
Erstaunlicherweise hatte dieser noch die Kraft auszuweichen, sodass Ro und Ru im Boden stecken blieb. Der König nutzte die Chance und versetzte Reba ein Tritt, der sie umwarf. Sie flog bis kurz vor dem Teich. Schnell hob sie ihren Kopf und sah, dass der König bereits wieder auf den Beinen war und seinen Dreizack aufgehoben hatte.
„Haha, hier wird auch dein Leben ein Ende nehmen, Abtrünnige!“
Der König nahm sich sehr viel Zeit zum Zielen und tatsächlich wäre dieser Wurf angekommen, wenn nicht plötzlich Galdior wieder auf wackligen Füssen gestanden hätte. Er rannte mit der Schulter voran in den König hinein. Reba sprang so hoch sie konnte und der König stolperte unter ihr hindurch und blieb am Rand zum Teich stehen.
Dass Reba plötzlich vor dem König landete, schien diesen ungemein zu verwirren. Sie sah ihn einen Augenblick an, dann schnellte ihre flach angewinkelte Hand nach vorne, traf den König mit voller Kraft an der Brust und liess diesen in den Teich fallen. Sein Schrei erstickte, als er vom Teich eingesaugt wurde. Nicht eine Sekunde später hörte man von weither einen gedehnten eisigen Schrei, der einem das Blut in den Adern gefrieren liess.
Uutar-Moru fragte sich ernsthaft, was vor sich ging. Noch vor wenigen Sekunden hatte er daran gezweifelt, lebendig aus dem Kampf hervorzugehen.
Bûr schien unbesiegbar und unermüdlich, während er immer mehr Kraft verlor. Dann langte sich Bûr plötzlich an den Kopf, als ob er starke Kopfschmerzen hätte, schrie wie am Spiess und in nächsten Augenblick verfiel er zu Asche.
Dann brach plötzlich Raar-Fin-Sul in sich zusammen und so auch Tinira. Gleichzeitig hörte er über sich ein Rauschen. Da kam Reba mit einem Menschen in ihren Armen herangeschwebt. Sie landete weich auf dem Gras neben Uutar-Moru. Ihre Stimme war wie eine traurige Symphonie, die bei der kleinsten Berührung zu zerbrechen schien. Sie sagte: „Es ist vorbei Uutar-Moru. Es ist endgültig vorbei.“
Dann ging sie wie ein Schatten zu Tinira hinüber und legte Galdior neben ihr ins Gras.
Wie ein Grashalm, das abgeschnitten von jeglicher Wasserquelle ist, knickte Reba über Galdior zusammen. Ihre Tränen fielen wie Regentropfen und platzten auf der Rüstung auf.
Dieser Anblick, der in späteren Zeiten aufgeschrieben und gemalt werden würde, blieb Uutar-Moru noch lange in Erinnerungen. Reba gebeugt von Trauer und Leid, weinend über Galdiors Leiche, dessen Gesicht eine ruhiges Licht ausstrahlte, als ob er etwas wüsste, dass allen anderen verborgen blieb, neben ihm Tinira in einer Welt zwischen Tod und Leben.
Die ganze Szenerie getüncht in rötliches Dämmerlicht, das langsam dem Licht der Sterne Platz machte erschien Uutar-Moru gänzlich ungewöhnlich.
Kapitel 49
„Wo bin ich?“
„Gute Frage. Ich bin mir nicht sicher.“
„Bin ich tot?“
„Nein ... und ja. Du oder besser Ich bin zusammengebrochen. Und da ich dich übernommen hatte, habe ich dich mitgerissen.“
„Wohin mitgerissen?“
„In eine Zwischenwelt, die eigentlich nur für Phönixe bestimmt ist.“
„Aha, aber für mich hat sie eine Ausnahme gemacht? Wieso sehe ich nichts?“
„Weil nichts da ist.“
„Super, aber mich selbst sollte ich doch eigentlich sehen. Ich bin ja da!“
„Nicht ganz. Dein Körper existiert in dieser Welt nicht.“
„Ach, Scheisse! Ich weiss, warum hier keine normalen Leute hinkommen. Da stirbt man ja vor Langweile.“
„Hmm.“
„Raar, kann ich wieder zurück?“
„Nein, zumindest nicht ohne Konsequenzen.“
„Was für Konsequenzen? Würde ich eine andere Person gefährden?“
„Nun, nein, niemand anderen, aber dich selbst. Dein Leben würde ständig an einem seidenen Faden hängen und nichts könnte das ändern. Andauernde Schmerzen würden deine täglichen Begleiter sein. Du würdest eine Last für deine Mitmenschen sein, eine Plage, die sich verkrampft an ihrem letzten bisschen Leben festhält.“
Einen Moment der Stille, in dem Tinira an etwas dachte, das sie in den Memoiren ihrer Vorgängerin gelesen hatte, legte sich über sie.
„Raar, stimmt es, dass ein genügend mächtiger Träger eines Phönix' sein Leben unter Einbüssung des eigenen transferieren kann?“
„Nun ja ... das stimmt schon ...“
„Aber? Was kann schiefgehen?“
„Wenn du zu wenig mächtig bist, kann es sein, dass du zwar dein Leben einbüsst, jedoch die Übergabe nicht funktioniert.“
„So ... ist denn gerade einer in der Nähe, der ein wenig Leben von mir gebrauchen könnte?“
„Ja schon, aber ich muss trotzdem davon abraten. Es ist zu –„
„Wer? Raar, wer ist es?“
„Der Lichterfürst, Galdior, seine Lebenszeichen sind vor wenigen Minuten erloschen.“
„Gut dann bring mich zurück. Sofort.“
'Ja, Herrin. Sofort.'
Unterdessen funkelten die Sterne hell und fröhlich über der Ebene und beschienen Reba, die auf Galdiors Brust eingeschlafen war, erschlafft von der Trauer.
Explosionsartig kehrte Luft in Tiniras Nase und füllte die Lungen. Der unglaubliche Schmerz kehrte mit all den anderen Gefühlen zurück, die zum Leben gehörte. Nur wurde der Schmerz nicht schwächer, er blieb, hockte in ihren Knochen und ihren Muskeln, brummte in ihrem Kopf wie ein Bienenstock.
Tinira spürte langsam wieder das Gewicht ihres Körpers, der Boden, auf dem sie lag und die kalte Luft, die ihr über die Nase strich. Anfangs war der Blick noch verschwommen, die Formen unklar, doch bald lichtete sich der Schleier und sie konnte die tausend Sterne über sich sehen. Sie spürte, dass man ihr den Helm entfernt hatte. Unter einiger Anstrengung richtete sie sich auf und schaute auf Reba und Galdior, die neben ihr lagen.
Galdior war bleich, tot, jedoch strahlte er eine gewisse Würde und Ruhe aus. Rebas Brustkorb hob und senkte sich. Sie schlief wirklich, doch ihr Gesicht war verzerrt vor Anstrengung und dem Leid, das ihr widerfahren war.
Ganz in der Nähe stand Uutar-Moru, so bewegungslos, dass man ihn kaum erkannte. Aufgrund eines Gefühls, dass ihr riet schnell vorwärts zu machen, schenkte Tinira ihm keinerlei Aufmerksam, sondern richtete ihr Sinn auf die Aufgabe, die vor ihr lag.
„Was wird mit dir passieren?“, fragte Tinira Raar leise.
„Nachdem dein Körper zu Staub zerfallen ist, werde ich entweder weiter in der Rüstung hausen oder ausfahren.“
Tinira nickte. Es konnte losgehen.
Uutar-Moru betrachtete die Szene aus einiger Entfernung. Es hatte ihn wenig überrascht, dass Tinira plötzlich wieder aufstand. Er hatte das schon einmal beobachtet bei ihrer Vorgängerin. Nun wurde er jedoch Zeuge von etwas, das er nie für möglich gehalten hätte. Tinira hatte gerade Reba von Galdior runter und neben ihn gelegt.
In diesem Moment packte sie seinen Kopf zwischen ihre Hände und sah ihm in die Augen. Ohne Vorwarnung fing Tinira an zu brennen, verwandelte sich in eine lebendige Flamme, wurde zu einer kleiner Sonne.
Uutar-Moru erkannte einen Teil von Raar-Fin-Sul in ihr in jenem Augenblick. Die Ränder der Blätter, die Uutar-Morus Gestalt ausmachten, wurden schwarz. Eine Säule aus Feuer und Licht stieg von ihr auf und liess die Nacht herum zum Tage werden. Noch weit entfernt sah man die Feuersäule.
Und in dieser Feuersbrunst war auch Galdior, doch sengte ihm die Hitze nicht ein Haar. Uutar-Moru glaubte zu verbrennen, wenn er noch länger dort blieb, doch schien es ihm die Situation nicht zu erlauben, sich wegzubewegen.
Würde er doch dieses Spektakel sicherlich nie mehr erleben, sollte er jetzt die Flucht ergreifen.
Gefolgt von einer letzten Welle der Hitze schrie Tinira Galdior ihr Leben ins Gesicht. Der Schrei war hoch und lang gezogen, gespannt wie ein Seil zwischen zwei Pferden. Dann war es vorbei. Tinira verbrannte ohne etwas zu hinterlassen.
Ihre Rüstung fiel in sich zusammen und schepperte auf Galdiors Rüstung.
Kapitel 50
Während Reba noch schlief, war Uutar-Moru sehr fleissig gewesen.
Alle hatten akzeptiert, dass solange Reba schlummerte, er das Kommando über alle Truppen und Zivilisten übernahm. Zuerst hatte er die Krieger, die übrig geblieben waren, in zwei Gruppen aufgeteilt und die eine gleich einmal schlafen gehen lassen. Mit der anderen Hälfte hatte er sofort ein Massengrab ein wenig vom Strand entfernt zwischen zwei Hügeln ausgehoben und die Toten hineingelegt, jedoch noch nicht ganz zugeschüttet. Auch sie sollten die letzte Ehrerbietung empfangen dürfen.
Sehr zur Missgunst vieler Krieger hatte er auch die Leichen aller Feinde sammeln und auf einem Haufen verbrennen lassen. Mehr als nur einmal sagte Uutar-Moru, dass im Tode alle gleich seien und dass auch sie ein anständige Bestattung verdient hätten. Dann hatte er einen Schichtwechsel befohlen, hatte die schlafen lassen, die bisher gearbeitet hatten und hatte die anderen geweckt.
Mit den frischen und ausgeruhten Soldaten begann er nun die ehemaligen Gefangenen und Verschleppten aus Andophù und den umliegenden Dörfern zu katalogisieren. Nach einigen bürokratischen Mühen konnten schon bald Familien wieder zusammengefügt werden oder aber es wurden Benachrichtigungen vom Tod der Verwandten überbracht. Von letzteren waren es deutlich mehr. Uutar-Moru listete jeden auf, sogar jene, die in den Bergwerken gestorben waren.
Nebenher sandte er Boten aus, die Siedlungen oder kleineren Dörfern die Botschaft des Falls der dunklen Stadt bringen sollten. Nicht selten wurden diese unter Schimpf und Schande weggejagt. Manchmal aber, wurden sie freundlich aufgenommen, froh darüber, dass die Tyrannei ein Ende genommen hatte. In diesen Fällen schlossen sich nicht selten ganze Familien und Siedlungen den Boten an und liefen mit ihnen zum Strand.
Im Halbschlaf wurde Reba nur wenig die Umstände ihrer Situation bewusst. Durch einen Schleier von finsteren Gedanken und Müdigkeit spürte sie, dass ihr Kopf auf grasig, erdigem Boden ruhte und mehrere Grashalme ihre Nase kitzelten.
Nach einigem Nachdenken erkannte sie auch den Geruch, der ihr, seit sie aufgewacht war, in die Nase gestiegen war. Es roch nach verbrannter Erde und Gras. Doch das Detail, welches sie am meisten störte, war die Tatsache, dass ihre Hand sich in regelmässigen Abständen rauf und runter bewegte. Ebenso erfühlte sie die Beschaffung des Etwas, das ihre Hand zu dieser Bewegung veranlasste.
Sie spürte die Kälte und Härte von geschmiedetem Metall.
In weiter Ferne hörte sie den Klang von Stimmen und so manchem Geschrei. Der Versuch etwas zu verstehen schlug fehl. Plötzlich erfüllte das Brummen eines Insektes die Luft und Reba hörte wie es vor ihr im Gras landete. Die Neugierde trieb sie dazu die Augen aufzumachen und sich das Ding genauer anzusehen.
Ihr Hirn reagierte in Bruchteilen von Momenten.
Sofort richtete sie sich auf und starrte mit aufgerissenen Augen die Person an, die vor ihr im Gras lag. Natürlich hatte sie, als die Augen geöffnet hatte, nicht nur die grosse Fliege gesehen, welche Reba mit ihren grossen und runden Augen angesehen hatte sondern auch die Gestalt dahinter.
Ihre Hand ruhte noch immer, obgleich nun zitternd vor Furcht, auf Galdiors Brust. Nicht einen Moment fragte sie sich, wieso er lebte. Nicht einen Augenblick.
Oh, seine Träume waren schwer.
Wie drückende Wolken aus Schwermut und Finsternis zogen sie ihn weiter nach unten, in hunderte von Dimensionen, jede bedrückender und schwerer als die vorherige. Und doch plagte ihn das ständige Gefühl noch nicht angekommen zu sein.
Wenn er später versuchte das Gefühl zu beschreiben, sagte er stets nur: „Ich fühlte mich, als ob ich um den heissen Brei herum schwimmen würde.“
Immer weiter wurde er weggezogen und fing doch bald wieder an seinem Ausgangsort an. Er wurde über den einen Bildrand hinweg geschoben und kam auf dem gegenüberliegenden Rand wieder ins Bild rein.
Mitten in diesem Strudel, in dem er, so dachte er, schon ewig nur ganz im äussersten Ring schwamm, tauchte eine leuchtend brennende Person auf. In gewisser Weise kannte er ihr Gesicht, ihre Stimme und ihre Art und doch spürte er, dass sie nicht gleich war wie er und dass er sie sicherlich noch nie gesehen hatte, nicht in dieser Welt, in der er wie blinder Fisch umhertaumelte.
Eine andere Konsistenz machte ihre Persönlichkeit aus, als ob sie aus einem komplett anderen Material wäre als er. Sie war plastischer, ja sie hatte eine Festigkeit,die ihm zur Gänze fehlte.
„Wer seid Ihr Herrin?“, fragte er mit schüchterner Stimme.
„Ich bin das Leben, das dir fehlt.“
„Wie kommt Ihr an diesen ungewöhnlichen Ort? ... Wie komme ich an diesen Ort?“
„Es war nie daran gedacht worden, dass eine Bestimmung stärker als der Tod sei. Du bist an einem Ort, an welchem du nicht sein dürftest. Mit meiner Hilfe wirst du diesen Gestaden entrinnen.“
Eine ganze Weile sprachen sie miteinander. Um genau zu sein, sprach eigentlich nur die brennende, leuchtende Person und er hörte zu. Obgleich er so gut wie nichts von dem verstand, was sie sagte, konnte er doch von ihren Worten nicht genug bekommen.
Jedes Wort, das sie sprach stärkte ihn, machte ihn mehr so wie sie. Immer mehr wurde er sich bewusst, dass er langsam wieder an die Oberfläche seines Bewusstseins trieb, raus aus dem Strudel, weg von den schweren Träumen, die ihn gefangen hielten.
Zum Ende sagte die brennende Person noch folgendes: „Meine Aufgabe ist erfüllt. Der Lichterfürst hat sein Schicksal erfüllt und der Träger schwindet. Doch versprich mir noch eine Sache: „Suche einen neuen Träger.“
„Ja, doch was – „
Im nächsten Augenblick befand er sich unter einem Wasserfall. Das Wasser schlug auf sein erhobenes Gesicht und es wusch jeglichen Schmutz, den die schweren Träume zurückgelassen hatten, ab.
Galdior war wieder unter den Lebenden.
Kapitel 51
Mit einem Ruck öffnete er die Lider, doch die Nässe auf Galdiors Gesicht blieb. Nur eine Handbreit von seiner Nasenspitze entfernt, befanden sich Rebas weinende Augen.
Ihre Tränen fielen auf seinen Nase und Wangen und kullerten ins Gras hinunter. Nicht im Entferntesten begriff er, was gerade vor sich gegangen war, aber er begriff nur zu gut wen er über sich hatte.
Mit zitternden Händen nahm er Reba in seine Arme. Ihr Körper vibrierte, so sehr weinte sie. Auch Galdior kamen mittlerweile die
Tränen. Weder in seiner Vergangenheit noch in seiner Zukunft gab es einen Moment, in dem er glücklicher war.
Uutar-Moru stampfte mit einem Bein auf, was eigentlich nur er wusste, denn jeder andere sah nur, dass sich die Anordnung der Blätter ein klein bisschen veränderte. Und selbst wenn es jemand bemerkt hätte, so hätte doch mit Sicherheit nur eine Person verstanden, was er damit ausdrückte.
Schon eine ganze Weile suchte er in den zahlreichen Listen eine Familie, welche die zwei Waisenkinder aufnehmen könnte. Sie hatten alle ihre Eltern verloren und hatten weder Geschwister noch sonstige nahe Verwandte, bei denen sie hätten untergebracht werden können.
Hinter sich erklang ein unterdrücktes, leises Kichern.
„Was“, begann Reba, die mit Galdior hinter Uutar-Moru in das niedrige, weisse Zelt getreten waren, „bedrückt dich denn, ehrenwerter Moru, auf dass du so stampfen musst?“
Uutar-Moru war nicht überrascht.
Seine Herrin hatte ihn schon immer wie ein Buch gelesen. Keine, noch so kleine Geste oder Bewegung konnte er in ihrer Gegenwart tun, ohne dass sie es sofort bemerkte. Leise rauschend drehte er sich zu Reba und Galdior um.
„Nun, zum ersten, schön, dass ihr auch schon wach seid“, sagte er, verneigte sich vor Reba und nickte Galdior leicht zu – was diesen merklich verwirrte –, „zum zweiten, versuche ich eine Familie zu finden, die zwei Waisenkinder aufnehmen könnte.“
Reba wollte gerade eine schnippisch, neckende Bemerkung machen, als ein Bote in das Zelt platzte. Im ersten Moment jagte sein gehetzter Blick von einem zum anderen, da er nicht wusste, wer das Kommando hatte. Schliesslich wandte er sich doch Uutar-Moru zu und sagte mit grimmiger Stimme: „Herr, ein grosser Schiffskonvoi nähert sich von Norden. Den Wappen nach sind es Leute aus Sagra, aber es hat auch ein paar Unbekannte dabei. Gleichzeitig treffen immer mehr Menschen aus der Umgebung ein, die unseren Eilboten gefolgt waren. Was sind Eure Befehle?“
Nach einem Seitenblick auf Reba und Galdior antwortete Uutar-Moru: „Nun, ich würde sagen, heissen wir sie doch einfach willkommen!“
Nur wenige Minuten später, standen Galdior, Reba, Uutar-Moru und ein Dutzend Krieger am Strand und begrüssten das ankommende Ruderboot.
Ein junger Offizier stieg aus und begrüsste Reba und die anderen nach alter Sitte.
Von ihm erfuhren sie, dass König Rammud von Sagra schon eine Weile krank gewesen war und während der Überfahrt auf dem Schiff dahingeschieden war. Mit ihm sei auch sein Feuerschwert gegangen, das sich mit lautem Zischen zu Staub verflüchtigte. Auf dem Sterbebett hatte Rammud den jungen Offizier noch so manche Nachricht für allerlei Personen aufschreiben lassen – und ihn danach zum Führer des Volkes erklärt. Zu diesem Zeitpunkt hatte der König bereits – von einer Quelle, die der junge Offizier nicht kannte – gewusst, dass sein Sohn ebenfalls gestorben war. Und diese Gewissheit, so meinte der Offizier, hatte ihm zum Ende den Tod gebracht.
Der Offizier im Übrigen hiess Joia und war trotz seines jungen Alters bereits General. Sie schwatzten noch eine ganze Weile, nachdem die führenden Personen sich ins Zelt zurückgezogen hatten.
„Bei den Nordhäfen wartete unsere gesamte Schiffsflotte.“, erzählte General Joia, während er sich unablässig am Kopf kratzte. „Wir indes zogen durch das ganze nördliche Land und schickten Boten in alle Himmelsrichtungen. Vielen Menschen – aber auch anderen Völkern wie den Uklugs, mit welchen wir unterdessen einen Friedensvertrag abgeschlossen haben – berichteten wir, dass das Ende nah war.
Auf diesen Ruf folgten viele und sie kamen alle zu den Nordhäfen. Eine riesig grosse Menge, kaum überschaubar. Doch mindestens genau so viele blieben auch zurück, weigerten sich mit uns zu kommen.“
Nach einigen Sekunden und mehreren Seufzern seinerseits fuhr er fort: „An einem lauen Sommerabend bestiegen wir die Schiffe. Ein günstiger Wind brachte uns schnell den Nördlichen Fjorden entlang in Richtung Osten. Unterwegs begegneten wir nicht selten kleineren Schiffen. Sie alle waren einmal Einwohner dieser verfluchten Stadt gewesen und waren vor Wochen zuvor geflüchtet. So sehr schienen sie sich zu schämen, dass sie nicht mit unseren Diplomaten reden wollten, sondern jedes Mal, fluchtartig das Weite suchten.“
Joia wollte gerade von neuem ansetzten, als in ein durchdringendes Tuten mit dem Wind mitgetragen wurden. Reba und die anderen waren sich unsicher, was dies bedeuten möge, doch Joia verstand es augenblicklich.
Mit einem Satz war er auf den Beinen und aus dem Zelt gestürmt, die anderen folgten ihm zögernd. Das Tuten war von Joias Schiff der Grashalm (in Sagra war es zu diesen Zeiten üblich gewesen, die Schiffe mit möglichst unpassenden Namen zu taufen) gekommen. Es war das allgemeine Signal einer unbekannten Gefahr oder unerwarteten Situation.
Alle erkannten sofort: Bei den Schiffen stimmte etwas nicht. Diejenigen, welche dem offenen Meer am nächsten waren, hatten bereits die Anker gelichtet und trieben auf den Strand zu – zum Teil nur haarscharf an den anderen Schiffen vorbei.
Irgendetwas musste ihnen mächtig Angst gemacht haben. Wieder erklang das Horn der Grashalm, nun noch lauter als zuvor. In den Ton fielen andere Hörner mit ein und es schwoll an zu einem Schmettern, das man vorher selten gehört hatte.
Noch während der Ton in der Weite verhallte, lichtete sich im Hintergrund der Schiffe der zähe, unnatürliche Dunst, welcher sich im Laufe der vergangenen Tage dort gesammelt hatte. Zuerst durchstiessen vier Galleonsfiguren den Nebel – auf Höhe der Ausgucksposten der Schiffe Sagras, dann traten die gewaltigen Buge aus dem Nebel.
Das Holz der Planken schimmerte in Sonnenlicht wie grobes Glas, die Galleonsfiguren schienen sich, wenn man zu lange hinsah, fort zu bewegen, mit kräftigen Schlägen ihrer Flügel in den Himmel, als würden sie allein das mächtige Schiff durch die Meere ziehen. Jeder von ihnen hatte ein Krone, bestückt mit allerlei kostbarem Schmuck, auf dem Haupt und eine Waffe, fest gepackt mit beiden Händen vor der Brust. Doch im Gegensatz zu den Waffen der Galleonsfiguren der Schiffe Sagras, waren diese nicht von Rost zerfressen und unscharf, sondern dünn wie ein Blatt Papier, so scharf, dass die Luft vor Schmerz schrie, wenn die Klingen durch sie hindurch fuhren.
Als die mächtigen Bauwerke aus dem Neben aufgetaucht waren, hatte sich sofort ein kleineres Schiff – die Öllampe – zwischen die Grashalm und die vermeintlichen Feinde geschoben und nun gab sie Kostproben ihres Waffenarsenal ab – jedoch nur als Warnung und nicht einmal die nähere Umgebung der Schiffe aus dem Nebel.
Ein weiteres Mal erzitterte das Horn der Grashalm und der Ton klang in diesem Moment beinahe ängstlich. Doch er verfehlte sein Ziel nicht: Joia erwachte aus seiner Starre und rannte zum Strand hinunter, gefolgt von Reba, Galdior und Uutar-Moru.
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, sprang General Joia ins Boot und ruderte, wie von einer Schar Haie verfolgt, zur Grashalm. Reba hatte Galdior und Uutar-Moru angewiesen die Armee vorzubereiten, nicht etwa auf einen Kampf, sondern eher auf einen Empfang. Denn ihr weiser Geist hatte längst erraten, dass es sich bei den Schiffen nicht um menschliche Konstruktionen handeln konnte.
Joia war bereits ein Stück vom Ufer weggepaddelt, da hob Reba von Strand ab, liess sich die wenigen Schritte bis zu seinem Boot auf dem Wind tragen und landete dann unsicher vor ihm. Noch während sie versuchte das Gleichgewicht zu behalten, sprach Joia durch zusammengebissene Zähne zu ihr: „Kommt, helft mir! Ich muss augenblicklich zur Grashalm.“
Darauf konnte Reba eigentlich nur nicken und das Spiel begann von neuem. Mit einer flüssigen Bewegung zuckte Ro aus seiner Scheide und heisser, starker Wind begann die kleine Nussschale vorwärts zu treiben. Als Joia versuchte mit Paddeln mitzuhelfen, wurden sie ihm aus der Hand geprellt und entlockten ihm einen unterdrückten Schrei.
Immer näher kam die Grashalm, die im Vergleich zu den gewaltigen Schiffen im Hintergrund wie ein Rettungsboot erschien.
Plötzlich wurde Rebas Aufmerksamkeit auf die Schiffe aus dem Nebel gelenkt. Diese waren in der Zwischenzeit nach und nach aus dem Nebel gekommen und ihre Buge ragten nun gänzlich aus dem Nebel. Auf der linken Seite des Bugs eines jeden, der vier Schiffe trafen nun die Sonnenstrahlen auf seltsame Zeichen, die im mittäglichen Sonnenlicht anfingen zu wabbern und zu glühen. Umso länger sie der Sonne ausgesetzt waren, umso klarer wurden ihre Konturen.
Rebas Unterkiefer klappte nach unten und Ro fiel scheppernd in das Boot. Die Zeichen brannten sich nun mit aller Helligkeit in Rebas Netzhaut: Die Allmächtige, die Unergründliche, die Heilige und die Ewige.
Die Göttlichen hatten die Gestade der Erde erreicht.
Kapitel 52
Vor Verwunderung kaum eines klaren Gedanken mächtig, hatte Reba das kleine Boot übersehen, das sich ihnen aus der Richtung der Göttlichen genähert hatte.
Nun aber, da sie es ins Auge gefasst hatte, handelte sie blitzschnell.
Sie brachte Joia bis zur Grashalm und riet ihm nichts zu unternehmen, bis sie zurück war. Dann fuhr sie mit dem Boot – das nun kein Ruderboot mehr war, sintemal es keine Paddel mehr hatte – dem anderen Boot entgegen.
Dieses schien aus einem weissen Material, ähnlich einem schneeweissen Marmor und es hatte keine offensichtliche Antriebsquelle. Beim Näherkommen, bekam Reba nach und nach mehr das Gefühl die Person, die da allein in diesem Boot sass, zu kennen.
Und tatsächlich, nach einigen weiteren Augenblicken verzog sich Rebas Gesicht zu einem feinen Lächeln.
Als sie in Hörweite war, sagte sie: „Nun, sieh mal einer an! Mit welchem Namen soll ich euch nun anreden? Gute oder schlechte Nachricht?“
„Gute“, sagte der Alte, den die vier Freunde getroffen hatten, bevor sie aufgetrennt worden waren. „So hoff ich doch.“ Sein Haar hatte nicht mehr einen grauen, sondern einen silbernen Farbton bekommen und wellte sich, schulterlang geschnitten, um den schönen Kopf.
Nicht im geringsten glichen seine Kleider denen, die er damals angehabt hatte. Diese nun waren prächtig anzusehen; die Weste, deren Kragen lang und niedergedrückt war vom Gewicht einiger Insignien, wurde durch goldene Knöpfe zusammengehalten. Auf die Brust- und Seitentaschen waren Ereignisse gestickt, die nur die Göttlichen selbst kannten.
Mitten in Rebas Betrachtung fingen Wellen an, an die Bootsplanken zu schlagen und warfen Reba hin und her. Die Stirn des Alten legte sich in Falten.
„Die Erde fängt zu schwanken. Sie will befreit werden. Ich wurde als Gesandter der Göttlichen zu euch geschickt, um euch einzuladen.“
Der Alte unterbrach sich selbst, als er Rebas drängenden Gesichtsausdruck sah. Schnell ergriff sie das Wort: „Es tut mit Leid, aber die Zeit drängt. Ich werde euch sofort zu General Joia bringen. Mit ihm könnt Ihr alles weitere bereden. Doch ich muss zurück an Land, denn dort ist noch immer eine enorme Menschenmenge versammelt, die auf die Schiffe gebracht werden muss.“
Rebas Ton war sehr bestimmt und direkt und der Alte machte sich nicht die Mühe zu antworten, sondern nickte nur knapp und lächelte dabei.
Im Verlaufe des Tages waren Reba, Galdior und Uutar-Moru damit beschäftigt, die Leute auf die Schiffe Sagras zu verfrachten, während der Alte in Joias Kapitänskajüte gebracht worden war und diesem die lange, zeremonielle – und nach Joias Meinung zu ausführliche – Begrüssung überbracht hatte.
Als der Alte ihm dann sagte, warum er als Gesandter und Botschafter zu ihnen geschickt worden war, war in Joia die Ehrfurcht vor dem Alten und dessen „Vorgesetzte“ immer stärker geworden.
Das ganze war so unglaublich, dass Joia mehr und mehr das Gefühl bekam, der Alte rede von einem Märchen. Als dieser nach einer langer Zeit ein Ende fand, herrschte eine Weile bedrücktes Schweigen in der Kabine. Schliesslich jedoch, fand Joia stotternd die Worte: „Ihr verlangt also allen Ernstes von mir, dass ich mein Volk und viele andere, die kaum in drei Dutzend ... menschlichen (er sprach das Wort mit viel Missgunst aus) Schiffen Platz finden, auf eure vier Schiffe – entschuldigt mich, aber es sind nach wie vor doch nur vier Schiffe – führe und dass wir dann über das Meer fahren ... in eine andere Welt?“
Der Alte runzelte die Stirn, als er seine wohl überlegte Antwort gab: „Ich muss euch korrektieren: Wir verlangen gar nichts. Es ist eure freie Entscheidung, ob ihr mitkommen wollt oder nicht, das ist ganz euch überlassen. Ferner, kann ich Euch nur sagen, dass Ihr bisher gerade einmal die Buge gesehen habt. Ihr traut zu sehr auf das, was Ihr seht und hört, als auf das, was wirklich da ist. Ich, meinerseits, muss nun wieder gehen. Einen Tag geben wir Ihnen und Ihren Leuten, um sich zu entscheiden, dann werden wir in See und in eine andere Welt stechen.“ Joia nickte und geleitete den Alten mit einer höflichen Geste zur Tür.
Joia beriet sich mit seinen Kapitänen und sie kamen zum Schluss, dass jeder einzelne der Leute auf ihren Schiffen selbst gefragt werden muss und sich entscheiden musste. Ruckzuck wurden die Offiziere und Kapitäne wieder auf ihre Schiffe geschickt, um die Nachrichten zu überbringen.
Noch während sie referierten, brach bei vielen der Menschen ein Murren aus, sintemal sie nicht gewillt waren ihre Heimat zu verlassen.
Reba und Galdior sassen auf dem äussert komfortablen Sofa in der Kapitänskabine und beugten sich über einige Listen, die Uutar-Moru zuvor angefertigt hatte und nun verstreut und ungeordnet auf dem Tisch lagen.
Rebas Hand lag auf Galdiors Arm. Ein Grossteil des Tages war vergangen seit der Alte zurückgegangen war und sie hatten die Zeit genutzt, um die Listen nach Galdiors Familie durchzusehen.
Neben ihnen sassen Tiniras Eltern am Tisch und assen ein karges Mahl, während Uutar-Moru ihnen erzählte, was mit Tinira geschehen war. Vieles verstanden sie nicht, doch sie schienen zu erahnen, dass Tinira wesentlich zu dem Sieg beigetragen hatte. Reba schluckte schwer, als sie sah, dass Bolmars Eltern verstorben waren, nicht etwa aus Gründen der Gewalt sondern an Unterernährung. Auch Galdior hatte es bemerkt und fragte sich im Stillen, warum sonst niemand an Unterernährung verendet war.
„Wie war das Essen?“, platzte es aus ihm heraus. Alle hielten verdattert inne und sahen zu Galdior, jedoch gab ihm niemand eine Antwort.
„Wie war das Essen in diesem ... diesem ... Gefängnis?“, wiederholte er sich.
Tiniras Vater schluckte den kaum gekauten Klumpen Fleisch hinunter, trocknete sich den Mund mit der Serviette und sprach dann sorgfältig: „Nun, wenn es auch jeden Tag das gleiche war und es wirklich scheusslich geschmeckt hatte, so war es doch immer genug. Ich nehme an, sie wollten keine Arbeitskräfte verlieren.“
Dann runzelte dieser die Stirn, als ihm etwas in den Sinn kam, was er für eine Weile vergessen hatte.
„Im Übrigen weiss ich nach wie vor nicht, nach was wir in diesen ... grässlichen Minen gesucht haben. Wir gruben und gruben und schufen Tonnen von Gestein an die Oberfläche, doch dieses wurde nicht weiter verarbeitet. Ich werde den Eindruck nicht los, dass wir die ganze Zeit unter dieser Insel etwas gesucht hatten.“
In diesem Moment fand Galdior seine Eltern auf der Liste und sog die Luft scharf ein. Neben ihren Namen stand der Vermerk: VERSCHOLLEN. Die Tatsache, dass seine Eltern in einer Mine verschollen waren, beunruhigte ihn mehr, als wenn einfach gestanden wäre, dass sie tot seien.
„Verschollen ... verschollen ...“, murmelte Galdior vor sich hin. Tiniras Mutter hörte es und sagte: „Verschollen? Dann waren die Gerüchte doch wahr.“
Galdior setzte eine fragende Miene auf und die Mutter von Tinira fuhr fort: „Ich bekam eines Tages zu hören, dass zwei Häftlinge am Abend nicht mehr aus den Minen zurückgekehrt seien. Du musst wissen, wir sahen deine Eltern nie. Sie arbeiteten zu einer anderen Zeit und in einem anderen Stollen. Hätte nie gedacht, dass das deine Eltern sein könnten.“
Eine Weile herrschte eine bedrückende Stille in der Kabine, dann sprang Galdior auf und umrundete den Tisch, blieb jedoch vor Uutar-Moru. Ein hoffnungsvolles Glitzern hatte sich in seine Augen geschlichen und wurde mit jeder verstrichenen Sekunde stärker.
„Moru, wo sind diese zwei Waisenkinder, von welchen du uns heute Morgen erzählt hast?“, fragte Galdior rasch, sodass sich seine Worte fast überschlugen. „Lass sie auf die Grashalm bringen. Ich muss sie sehen, sobald ich zurückkomme.“
Dann drehte er sich um und sagte zu Reba: „Reba, Lust auf ein letztes Abenteuer?“
Kapitel 53
Ein starker Luftzug aus dem Innern des Stollens blies beinahe Rebas Fackel aus. Galdiors Lanze und Rebas Fackel brachten ein wenig Licht in die sonst pechschwarzen Minen und liessen die gespenstischen Schatten die Wände entlang tanzen.
Zuvor hatten sie mit einem mulmigem Gefühl in den Magen den Stollen betreten und seither irrten sie in der Finsternis umher.
Endlich lass Galdior, die Zahl, die ihm genannt wurde, an der Wand ihm gegenüber. Daneben befand sich eine weitere Abzweigung und dort sollten seine Eltern geschuftet haben. Mit neuem Mut stolperten sie weiter.
Doch schon nach einer Weile endete der Weg in einer Sackgasse.
Sofort legte Galdior seine Lanze an einen Stützbalken und begann die Wand am Ende des Tunnels abzutasten. Reba hielt die Fackel nahe an die Wand, um auf eventuelle Unregelmässigkeiten aufmerksam zu werden. Sie untersuchten jedwede Stelle und fanden doch nicht eine Spur. Ziemlich enttäuscht, traten sie den Rückweg an, doch nach nur wenigen Schritten, blitzte etwas in Rebas Augenwinkeln auf.
„Warte, Gal! Geh noch einmal zwei Schritte zurück!“, sagte sie zu ihm. Er tat und tatsächlich: Wieder blitzte ein heller Streifen in der Wand auf und reflektierte das von Galdiors Lanze. Der Streifen war nur so breit wie ein Fingernagel und so lang wie ein Finger. Sofort kratzte Galdior an der Stelle herum und legte den Rest einer handgrossen Metallplatte frei, die das Licht seiner Lanze in einer gespenstischen Art und Weise reflektierte.
Zögerlich berührte er mit der nackten Hand die Platte. Diese reagierte auf den feinen Druck und schob sich mit einem leisen Quietschen in die Wand. Für einen kurzen Moment herrschte Stille in der Mine doch dann kam ein lautes Rumpeln auf, das vom Ende des Ganges herrührte. Die Wand, die Reba und Galdior zuvor so sorgfältig untersucht hatten, schob sich nun knarrend nach oben. Durch die Vibration lösten sich kleine Steinchen und Staub und verdeckten die Sicht in den Raum dahinter.
Mit langsamen Schritten gingen Galdior und Reba auf die Öffnung hinzu und traten hindurch. Der Anblick verschlug ihnen die Stimme.
Vor ihnen tat sich eine riesige Höhle auf, deren Raum gänzlich von einem See ausgefüllt wurde. In der Mitte des Sees lag eine kleine Insel seelenruhig da. Auf dieser stand eine Gestalt wie erstarrt da.
Reba und Galdior tauschten Blicke aus, dann erhob Galdior seine Stimme: „He, du! Wer bist du? Antworte mir!“
Sie warteten eine Weile, der Kerl jedoch gab kein Lebenszeichen von sich. Galdior schätzte die Tiefe des Sees auf zwei Fuss und aufgrund dieser Annahme begann er ins Wasser zu waten. Reba folgte ihm und bald schon mussten sie eingestehen, dass die Grösse der Person bei weitem unterschätzt hatten. Die starre Person war locker doppelt so gross wie Reba und schien aus Stein.
Als sie triefend und tropfend bei der Insel ankamen, sahen sie, die Person aus Stein war. Sie hatte das Gesicht eines Mannes, dessen Antlitz eines Königs Würde ausstrahlte und den Blick an die Decke erhoben hatte.
Beim näheren Betrachten fiel Reba plötzlich auf, dass die Rüstung nicht aus Stein war, sondern aus schönem Metall.
Nach einigem Pusten und Wischen hatte sie ein Teil der Brustpanzerung freigelegt und war geschockt von der Schönheit und Härte der Rüstung.
„Gal, schau dir -!“, fing Reba an zu schreien, wurde aber leise, als sie Galdior einige Schritte entfernt auf einer Anhöhe knien sah. Dicke Tränen rollten über sein Gesicht. Vor ihm lagen seine Eltern, abgemagert und schmutzig, die Kleider zerrissen, da, und doch in unendlicher Freiheit und im Frieden. Auf ihren Gesichtern ruhte ein stilles Lächeln.
Galdiors Tränen fielen auf ihre Gesichter, als er den Puls der beiden überprüfte. Er sog scharf die Luft ein, als er ein leichtes Pochen bei seinem Vater spürte. Schnell klopfte er mit der Hand an dessen Wangen und nach einer Ewigkeit schlug dieser bedächtig die Augen auf.
„Ich habe gewusst, dass du kommst, Sohn. Schade, dass unser Wiedersehen so kurz sein wird.“
„Papa, wie geht das dir? Bist du verletzt? Was ist mit Mama? Warum –?“, fragte Galdior seinen Vater, während Tränen über seine Wangen flossen und das zerfetzte Hemd seinen Vaters durchnässte.
Dieser jedoch, schüttelte nur ruhig den Kopf und antwortete leise: „Ich bin in Ordnung. Deine Mutter ist voraus gegangen und ich werde ihr folgen“, murmelte er und deutete dann auf eine Schale, gefüllt mit Wasser, die auf einem hölzernen Sockel stand, welcher weder Galdior noch Reba zuvor aufgefallen war.
„Dies Wasser hat mir gezeigt, was passierte. Viele Dinge habe ich gesehen. Über dir liegt eine grosse Bestimmung, denn du wirst der Erste sein, der die neue Erde betritt. Nimm sie in Besitz und verwalte sie gut! Im Übrigen, nimm diese Rüstung mit dir, sie ist zu wertvoll, als dass sie mit der alten Dame untergehen sollte und sorge für die Waisen! Nun, geh! Geh, denn ich werde auch gehen. Auf Wiedersehen, ich bin unterwegs nach Hause.“
Mit diesen Worten schloss Galdiors Vater seine Augen, seine Kopf nickte zur Seite und seine Seele folgte der seiner Frau.
Reba hatte sich bisher in Hintergrund gehalten und nur still zugehört. Nun aber, tat sie einen Schritt nach vorn, legte ihre Hand auf Galdiors Schultern, welcher nur ruhig dastand und schluchzte, und sprach mit soviel Sorgfalt und Sanftmut, wie sie aufbringen konnte: „Komm, Gal. Lass uns gehen. Die Zeit drängt.“
Reba nahm seine Hand in ihre, zog die Rüstung von der Statue, legte diese über ihre eigene und machte sich dann langsam auf den Rückweg. Galdior währenddessen war in eine Art Trance gefallen, woraus er noch eine Weile nicht herauskam.
Kapitel 54
Die Holztreppe knarrte unter dem Gewicht von Reba, die durch die zusätzlichen Kilos der Rüstung gehörig ins Schwitzen gekommen war. Sie machte sich nicht die Mühe an der Türe zur Kapitänskabine anzuklopfen, sondern trat sie mit einem Fuss auf.
Galdior hatte sie immer noch an der Hand. Uutar-Moru riss überrascht den Kopf hoch, als sie durch die Tür trat. Er war in den letzten Stunde noch unruhiger geworden, als er ohnehin schon war.
Joia wollte gerade ein Donnerwetter auf sie hernieder fahren lassen und sie dafür schelten, dass sie so lange weggeblieben war, hielt jedoch abrupt inne, als er erstens das Prachtstück einer Rüstung sah und zweitens Galdiors verlorenen Gesichtsausdruck.
Reba führte Galdior unter den überrascht besorgten Blicken der anderen zu einem Stuhl. Dann zog sie unter allerlei Mühen die Rüstung aus und legte sie in der richtigen Reihenfolge auf den mit Teppich belegten Boden. Joia suchte mehrere Anläufe, um etwas zu fragen oder zu sagen, gab es jedoch auf und sagte stattdessen einfach: „Erklärung!“
Reba fasste sich, sichtlich genervt, kurz, erzählte von der Höhle, dem Mann aus Stein, der Rüstung und schliesslich, unter einigen Seitenblicken zu Galdior, von dessen Eltern. Danach herrschte eine kurze Zeit des Schweigens, bis Reba ein kleines Mädchen sah, welches einen Säugling in den Armen wiegte.
Ihr Erstaunen wurde durch Galdior unterbrochen, der vom Stuhl aufsprang, aufgewacht aus seiner Starre und ebenfalls das Mädchen betrachtete. Sofort rannte er zu ihr hin und fiel vor ihr auf die Knie, immer noch unfähig ein Wort zu sagen. Dem Mädchen im jedem Fall erging es anders. Sie erkannte ihn nicht und war erschrocken über das Ungestüm eines Kriegers in voller Rüstung.
Galdior zog schnell den Helm ab und warf ihn beiseite und nun weiteten sich die Augen des Mädchens.
„Galdior!“, schrie sie auf, legte den Säugling, der gleich anfing zu schreien, in das kleine Bettchen daneben und warf sich Galdior um den Hals.
„Ich hab es gewusst, ich hab es gewusst“, sagte er und streichelte dem kleinen Mädchen, das vor Freude in Tränen ausgebrochen war, über den Kopf. Dann entzog er sich aus der Umarmung und schaute sie genauer an.
„Wie geht dir, Ivraina?“, fragte er mit einem leisen Zittern in der Stimme.
„Geht so“, sagte Ivraina und zuckte mit den Schultern. Man konnte ihr jedoch ansehen, dass es ihr alles andere als „geht so“ ging.
Reba wollte keinesfalls unhöflich sein, doch die Neugierde übermannte sie plötzlich und sie fragte: „Gal, wer ist sie? Woher kennst du sie?“
„Es erstaunt mich,“, sagte er. „dass du es nicht schon längst bemerkt hast. Sie ist ... war Bolmars Schwester.“ Nun war Reba an der Reihe erstaunt zu sein.
„Und der Kleine ...?“, fragte sie und nickte in die Richtung des Säuglings.
„Fambran, mein Bruder“; antwortete ihr Ivraina und fuhr dann fort. „Gal, wo ist Bolmar?“
Statt einer Antwort umarmte Galdior sie ein weiteres Mal und das schien auch völlig auszureichen, um ihr klar zu machen, dass er tot war. Ihr kindliches Gesicht ertrug wie so viele Male zuvor erneut die Last schwerer Tränen der Trauer.
Während Ivraina sich an Galdiors Schulter ausweinte, nahm Reba den kleinen Fambran auf den Arm. Der kleine, rosa Bündel, eingewickelt in Unmengen von Stoff, hatte für sein junges Alter ein beträchtliches Gewicht. Der Kopf wurde bereits von einem Schopf brauner Haare geschmückt, die ein wenig zerzaust in allerlei Richtungen wegstanden. Sofort schloss sich das Händchen in schlafender Regung um Rebas Finger, als sie ihm diesen hinstreckte.
„Ich unterbreche euch ja nur ungern, aber die Zeit ist fortgeschritten und das Ultimatum läuft langsam aus. Wir sollten nicht länger zögern und uns auf den Weg zu den Göttlichen machen; nicht dass sie ohne uns gehen!“, meldete Joia aus dem Hintergrund.
Alle stimmten zu und nach und nach begann ihn zu dämmern, was sie in Begriff waren zu tun: Auf eines der vier monströsen Schiffe steigen, die von den Göttlichen erbaut und gelenkt wurden, um ihn ein anderes Land, einen anderen Kontinent, ja, um zu einer neuen Erde aufzubrechen.
Nur wenig später waren Boten zu allen Schiffen gesandt worden und die ersten Schiffe lichteten ihre Anker und begannen auf die riesigen Konstruktionen zuzufahren.
Galdior, Reba, Uutar-Moru und Ivraina, die ihren kleinen Bruder in den Armen hielt, standen ganz vorne auf dem Deck der Grashalm und sahen zu den vier Schiffen hinüber.
Joia währenddessen versammelte die Crew – die Grashalm hatte keine Zivilisten aufgenommen, da diese dem General Joia im Wege gestanden hätten und seine Arbeit behindert hätten und zweitens, da so oder so kaum Platz für Zivilisten neben der Crew war – auf Deck und hielt eine kleine Ansprache.
„Meine treuen Männer und Frauen, dies nun ist unser letzter Segelgang und er wird nicht einmal all zu lange dauern. Ich weiss nicht, wo wir hingeführt werden und noch weniger, ob wir danach noch zusammen sein werden, vereint als Crew. Ich auf jeden Fall werde dieses Schiff (dabei berührte er zärtlich das Holz) in Kürze zurücklassen und mich ins Ungewisse stürzen. Natürlich steht es jedem von euch frei zu wählen, ob er seinen Kapitän begleitet oder nicht. Nun frage ich euch: Wer zieht es vor hier zu bleiben in seiner Heimat, an dem Ort, wo er aufgewachsen ist und womöglich ein nicht all zu langes wenig geruhsames Leben führen wird? Und wer folgt seinem Kapitän ins Ungewisse, in neue Abenteuer und Reisen; steht ihm bei, in schlechten wie in guten Zeiten, der soll jetzt seine Hand erheben!“, sprach Joia.
Es dauerte nicht länger als zwei Sekunden, da waren alle Hände bereits nach oben geschnellt. Nicht einer war in der Crew, der gezögert hatte und sich für die andere Möglichkeit entschieden hatte.
Wie um diese Bezeugung zu unterstreichen, zischte etwas über ihnen durch den Himmel, leuchtend wie ein Komet, und erzeugte einen heftigen Knall, als es die Schallwelle durchbrach.
Dann zeichnete der Komet einen feurigen Kreis in den Himmel, gerade vor den vier riesigen Schiffen. Ein schriller Schrei durchschnitt die Luft und liess es jedem kalt den Rücken hinunterlaufen. Der Phönix vollendete den Kreis und stach dann in den Nebel dahinter hinein.
Nach einem Moment verdutzten Schweigens erhob Joia die Faust und rief gegen den tosenden Wind: „Auf! Folgen wir dem Phönix!“
Jaio stampfte ein, zwei Mal, um sicherzugehen, dass die Brücke hielt.
Als sie vorhin auf die vier mächtigen Schiffe zugefahren waren, hatte sich bei jedem der vier Schiffe ein Teil des Bugs nach innen gezogen und wie durch Zauberhand waren hölzerne Stege herausgekommen. Ein goldener Schimmer umgab sie und liess das Holz in einer Weise strahlen, die keiner von Joias Männer je gesehen hatte.
Joia war als erster auf einen der Stege gestanden und prüfte nun mit gewissen, nicht ganz unverständlichen Zweifeln die Beschaffenheit des schimmernden Holzes.
Als er zu lange auf das Holz starrte, schien er regelrecht hindurchsehen zu können und die darunter liegenden Wellen zu erkennen. Er schloss schnell die Augen, um dem Schwindel Herr zu werden, der ihn als Folge übermannte. Dann drehte er sich um und gab den restlichen Schiffen das Zeichen, dass alles in Ordnung war.
Während sich Schiffe auf die Stege verteilten, beschenkte er die verbrauchte Erde mit einem letzten Blick. Seine Augen schweiften über die Wellen, die in ruhigem Gang ihre Wege zwischen den Schiffen suchten. Die weit entfernten Laubwälder, angestrahlt durch das rötliche Licht der Abendsonne, wiegten sich unter der Gewalt des Meerwindes.
Über dem Strand flimmerte die Luft, erwärmt durch die erhitzten, für diese Gegend typischen Steine. Am Himmel jagten sich bauschige Schäfchenwolken mit einer Geschwindigkeit, die an die einer Schnecke erinnerte. Ihre Vorderseiten leuchteten orange, was sie wie eine Armee von Kriegern in orangen Harnischen aussehen liess.
Und obwohl er die Sonne nicht sehen konnte, konnte er sie sich gut vorstellen. Gross, rot leuchtend, am Ende ihrer Kraft und heiss glühend. Joia wusste aus alten Erzählungen und Geschichten, dass die Sonne früher einmal kleiner und weisser gewesen war, und vor allem kälter.
Er wurde abrupt unterbrochen, als ein kleiner Junge in ihn hineinlief, sich entschludigte und dann, von der Mutter geführt, weiterging. Die Leute schoben sich langsam an ihm vorbei und verteilten sich auf dem Steg.
Sie hatten beschlossen, dass Joia, der erste war, der die Schiffe betrat.
Viele derer, die noch vor wenigen Augenblicken gesagt hatten, dass sie nicht fortgehen würden, liessen sich nun vom Anblick der Stege und der Schiffe und der sie plötzlich überwältigenden Einsamkeit überreden und betraten gleichfalls die Stege.
Als alle auf den Stegen versammelt waren, arbeitete sich General Joia durch die Menge und blieb kurz vor der gewaltigen Öffnung stehen, die sich vor ihm auftürmte. Seine Sicht reichte nur ein wenig hinein und wurde von einer pechschwarzen Wand geschluckt.
Ein weiteres Mal drehte er sich um, sah nach rechts und links zu den anderen Stegen hinüber, um sich zu vergewissern, dass alles gut war. Irgendwie hatte er nun plötzlich Angst davor, seinen Fuss in dieses dunkle Schiff hineinzusetzten. Auch gefiel ihm der Gedanke nicht seine Grashalm zurückzulassen.
Er würde sie wirklich vermissen.
„General Joia, was zögert ihr?“, erklang eine Stimme hinter ihm. Sofort wandte er sich überrascht um und blickte dem Alten, der hinter ihm in der Öffnung stand, in die Augen.
„Ich ... ähm ...“, begann er zögerlich, schluckte schwer, fasste sich dann jedoch ein Herz und fuhr fort. „Ich zögere keineswegs. Ich wollte mich lediglich von meiner Grashalm verabschieden.“
Der Alte nickte mit einem Lächeln auf den Lippen und trat wieder in die Dunkelheit. Joia atmete noch ein weiteres Mal tief ein und machte dann den ersten Schritt in die Finsternis, worauf ein zweiter folgte und bald beschleunigte er seinen Schritt.
Der hölzerne Weg führte aufwärts, immer weiter hinein und noch immer konnte er keinerlei Formen ausmachen. Hinter sich hörte er die Schritte der anderen. Umso länger er ging, umso aufgeregter wurde er. Und eine unglaubliche Vorfreude erfüllte ihn und führte ihn dazu schneller zu rennen.
Genauso plötzlich wie ihn die Dunkelheit in sich aufgenommen hatte, entliess sie ihn nun wieder – in einen strahlend weissen Nebel. Sofort kniff er die Augen zu, um ihnen Zeit zu geben sich an die Helligkeit zu gewöhnen.
Irgendetwas an der Luft war anders, es schien ihm, als ob sie dickflüssiger wäre und zugleich staubtrocken. Als er die Augen wieder aufmachte, erstarrte er vor dem, was er sah.
In diesem Nebel tanzten Milliarden von goldenen und grünen Punkten zu einer leisen Melodie, die von überall herzukommen schien. Immer je ein goldener und grüner Punkt umgaben sich, verfolgten sich oder schwebten einfach nur nebeneinander. Andere folgten sich in vollkommener Synochronität durch den weissen Nebel.
In seiner Verwunderung fiel Joia nicht auf, dass er ein Pärchen eingeatmet hatte. Er spürte wie sie sich in seiner Lunge bewegten und in einem Moment auf den anderen fühlte er wie eine unsagbare Schwermut über ihn kam.
Er fiel auf seine Knie und betrachtete seine Hände, die wie dünne Zweige, geschüttelt vom Herbstwind, zitterten.
Beim nächsten Ausatmen pustete er das Pärchen wieder aus der Nase. Sie umkreisten sich langsam und wenn man ihnen zusah, wurde man von der gleichen Schwermut übermannt wie Joia sie vorher in sich gespürt hatte.
Unterdessen war die Lautstärke der Melodie angeschwollen und fiel nun plötzlich ab, in ein tiefen schwellenden Ton. Gleichzeitig beruhigten sich die Punkte im Nebel und standen schon nach einer kurzen Weile still und zitterten nur leicht nebeneinander. Auch Joia hielt nun den Atem an, gespannt darauf, was als nächstes kommt.
Und seine Erwartung wurde nicht enttäuscht.
Es begann mit einem hohen, fidelen Ton, wie der von einer Flöte, dazu bewegten sich die Punkte auf und ab und fingen sich wild an zu drehen, als ein tieferer Ton, wie der einer Trompete sich zur Flöte gesellte.
Immer mehr Töne kamen hinzu und die Punkte schwirrten immer heftiger umher. Und ganz sachte kam ein Gefühl in Joia auf von unbeschreiblicher Freude und Tanzeslust; zuerst nur der Fuss der leicht zum Takt wippte. Doch je länger er zuhörte, umso mehr begann sein Körper sich zu bewegen.
Die leichten Bewegungen wuchsen zu einem ausgereiften Tanz, und plötzlich, als ob ein Damm, der all seine Gefühle zurückhielt, brach, riss seine Seele auf und er schrie vor Freude in den Nebel hinein und fing wie ein Wahnsinniger an zu springen und zu rennen; Pirouetten vereinte er mit wilden Sprüngen und warf dabei seine Arme umher, wie er früher sein Schwert schwang.
Um ihn herum taten es ihm die Punkte gleich in einer Weise, die einen Tränen lachen liess. Die Melodie hatte sich gerade zu voller Schönheit entfaltet, als ein Stimme in den Nebel drang und sich perfekt mit den Tönen mischte.
„Tanzt, Kinder! Tanzt!“
Joia glaubte sein Herz würde jeden Moment zerspringen, und es wäre ihm gleichgültig. In diesem Augenblick spürte er nichts mehr als unsägliche Freude und Liebe zu dieser Stimme, die im Hintergrund zur Melodie summte und zwischendurch leise lachte.
Tränen rollten über Joias Gesicht und umspielten seine Mundwinkel, die durch den schreienden und lachend Mund nach oben gezogen waren.
Plötzlich tauchte aus dem Nebel Joias stellvertretender Kapitän und oberster Maat auf und sogleich fassten sie sich an den Händen und tanzten reihum, kleinen Kindern ähnlich und fielen über ihre eigenen Füsse auf den Boden, was ihnen nur Grund gab, noch mehr zu lachen.
Sie liessen von sich ab und tanzte weiter, bis die Melodie ein weites Mal zur Ruhe kam und nur ein dröhnendes, dumpfes Schlagen zurückblieb.
„Joia, General Sagras, Freund“, meldete sich die tiefe, ruhige Stimme von zuvor nochmals.
Joia sank unter der Macht dieser Stimme, die in seinem Kopf ein Donnern und in seinem Magen Unwohlsein auslöste, zu Boden.
„Herr, wer bist Du? Wo bist Du? Ich kann dich nirgends sehen!“
„Sei froh. Denn du kannst mich hören. Sehen darfst du mich nicht, unweigerlich sterben müsstest du.“
„Herr, wo sind die anderen der Göttlichen? Warum ... warum müsste ich sterben, um dich zu sehen?“
„Ich bin sie und sie sind ich. Alles Gute ist vereint mit mir und doch spielt jeder Teil seine eigene Melodie. Würde sich denn ein hungriger Löwe mit einem jungen Lamm vertragen? Oder eine giftige Schlange mit einer schlafenden Maus? Du bist schlecht. Siehst du es nicht? Dein menschliches Herz ist es, das dir den Weg zu mir versperrt.“
Joia fasste sich mit beiden Händen an den dröhnenden Kopf, als das Bild eines blutenden Mannes, der um Gnade winselte und gleich darauf von Joia selbst erbarmungslos getötet wird, durch seine wirren Gedanken schoss. Und das war nur eine schlimme Tat von vielen, die ihm in diesen Moment klar wurden.
„Oh Herr, es tut mir ... Leid“, klagte Joia und die Tränen rannten unaufhörlich über seine Wangen, über seine Nase bis zur Spitze, sammelten sich dort und fielen auf den Holzboden.
„Ich weiss, mein Sohn. Gehe auf meinen Wegen in der neuen Welt, die ich euch schenke. Bestelle mir zu Ehren die Felder, hüte um meines Segen wegen die Schafe. Und ich werde dich nicht verlassen.“
„Ja, Herr“, antwortete Joia sprang auf die Füsse, wischte die Nässe mit dem Handrücken aus seinem Gesicht und bahnte sich schnellen Schrittes einen Weg durch den dichten Nebel. Urplötzlich erhob sich eine Öffnung vor ihm, genau so eine wie durch die er vorhin gekommen war. Er rannte den Korridor hinab und trat in einem Augenblick auf den anderen in gleissend helles Sonnenlicht.
Kapitel 55
Für einen Moment sahen seine überreizten Augen nichts. Mit der Zeit begann sich Formen herauszubilden. Da waren Bäume und Sträucher nur wenige Schritte vor ihm. Grüne, stille Vegetation umgab ihn. Hohe Nadelbäume erstreckten sich zu seiner Rechten in einer unermesslichen Anzahl bergan. Nur ein paar Spitzen eines grünlichen Gesteins ragten an der Spitze des Berges über die Baumwipfel hinaus.
Zu seiner Linken verlor sich der Wald in Sträuchern und ging bald darauf in Gras über, das bis an den Rand des Plateaus, worauf er stand, zog. Dahinter war ein weiter, ewiger Ozean zu sehen.
Hinter ihm fiel ein steiler steinerner Weg ab, der zu einem Bergsee, dessen Hinterseite von scharfen Klippen umgebenen war, führte. Am Himmel zogen, verstreut, ein paar Wolkenansammlungen durch den Himmel und eine kleine und warme Sonne prangte am Zenit des rötlichen Himmels.
Joia stand mutterseelenallein in einer wunderbaren Natur, von den Schiffen und den anderen keine Spur zu sehen.
Hinter ihm erklangen Kinderstimmen. Schnell wandte er sich um und sah, dass drei Personen auf den See zu sprangen. Joia nahm die Beine in die Hände und raste mit fuchtelnden Armen den Weg abwärts.
Da standen Galdior, Reba und Ivraina, die ihren kleinen Bruder in den Händen hielt, bis zu den Knien im Wasser und blickten verwundert umher.
Galdior bemerkte ihn als erster und rief erstaunt: „Joia, du auch hier? Wir haben es geschafft! Wir sind in einer neuen Welt!“
Joia lächelte leicht und sagte: „Ja, Galdior wir sind hier. Habt ihr noch andere gesehen?“
„Nein, aber die tauchen mit Sicherheit auch noch auf. Was machen wir nun?“
Joia blickte auf den Ozean hinaus und sagte leise, dass nur er es hörte: „Auf seinen Wegen gehen.“
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2010
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