Die Wollust, befreit von moralischen Vorstellungen, entfesselt eine ungeheure Energie und zieht Pia an wie ein Magnet.
Die berauschende und auf einfache Art vollkommene sexuelle Begegnung mit IHM, einem Mann, erfährt Pia während einer `Ökofete` und legt damit den Startschuss für einen ungewöhnlichen Lebensweg.
Ein Remake der 80er Jahre. Die Frauen kommen in stiller Übereinkunft in langen Röcken, bunten Tüchern und vorwiegend hennaroten Haaren. Die Männer in braunen Cordhosen oder Jeans und dazu gelegentlich Jacken mit Lederflicken am Ellbogen. Ein gelungenes Bild der alten intellektuellen, linken Szene.
Die Gäste rollen nach und nach im 2CV, R4 oder Fahrrad an. Es ist selbstverständlich, dass alle zum kulinarischen Genuss des Festes etwas mitbringen. Wie früher am Muttertag ist alles hausgemacht, gebacken, gekocht und gebastelt: selbst gekelterter Wein, biologisch-dynamisch angebautes Gemüse, frisch gebackenes Brot, eigenhändig gequetschter Käse oder Marmelade frisch vom Strauch. So ist es auch kein Zufall, dass es keinen schäumenden, spritzenden und perlenden Sekt gab, sondern den sauren Selbstgebrauten. Die Mitbringsel werden aus umweltfreundlichen Jutetaschen geholt, die mit dem Aufdruck "We like Nicaragua" versehen sind.
Pia fühlt sich zunehmend unwohl, während sie in der Küche steht und das Eintreffen der Gäste beobachtet. Diese fast zwanghafte innere Haltung von bewusster Ernährung überträgt sich auf die Persönlichkeit - so keimfrei, anstrengend und gleichzeitig lustlos. Das verspricht keine Party zu werden, eher ein Gesinnungstreffen, Menschen in Ökohygienebeutelchen verpackt, die moderne Form der Kasteiung. Dabei sind alle zum Fürchten lieb und verständnisvoll. Eine Langhaardackel-Ausstellung: spätestens nach dem 15ten Dackel hat man die Art, wie er da sitzt, einfach satt.
Pias Augen sind auf der Suche nach einem Mann, der an einem normalen Flirt seine Freude haben könnte, lächeln, reden, vögeln. Aber leider scheint auch die "Anmache" dem politisch, biologisch-umweltbewussten Geist zum Opfer gefallen zu sein. Kein lüsternes Lächeln und kein noch so kleiner Flirt. In dieser erotischen Wüstenlandschaft ist die Suche nach Eros vergeblich und Amor hat seine Pfeile verpackt und ist weitergewandert, verschwunden und weg. Der Eros hat erstmal seine politische Gesinnung zu zeigen. Sex einfach so, um der puren Lust willen ist definitiv out. Sollte der so Verbannte Schimmel ansetzen, dann würde sicher noch etwas wertvolles Biologisch-dynamisches daraus gemacht. Pia sitzt herum und starrt Löcher in die Luft.
Nach einer unendlich langen Weile, durchtränkt von vielen kleinen boshaften Gedanken, entschließt sie sich resigniert, ihren Schlafplatz aufzusuchen. Die Schlafecke hat sie sich vorher reservieren lassen und teilt sie mit einer Freundin und ihrem Liebsten.
Frau Selbstbeherrschung und Herr Aggression hatten sich in Pia ausgebreitet. Mit einer Stinkwut im Bauch wäre sie am liebsten laut scheppernd rein gelaufen, stattdessen gibt sie sich Mühe, so leise wie möglich zu sein - eine sehr anstrengende Übung. Nun steht sie im ringsum stockdunklen Zimmer. Der Lichtschalter ist irgendwo versteckt. Pia hört ein leises Schnarchen und zündet ein Streichholz an. Da sieht sie das Schlafloch. Der Schlafplatz besteht aus einer Holzhöhle, die etwa zwei Meter lang und zwei Meter breit ist und etwa ein Meter hoch. Der Eingang ist eine schmale Öffnung zum Reinkriechen. Das Ganze wirkt wie eine Mischung aus überdimensionaler Gebärmutter und Sarg.
Pia legt sich hin und grollt dampfend mit sich und der Welt. ´Diese sanften Macker,` denkt es so ganz von allein, `bevor die sich bewegten, weil sie einen Ständer in der Hose haben, arbeiten sie eher noch ein sozialkritisches, gesellschaftlich verallgemeinerbares Konzept aus. Dann hängen sie einen Zettel an das Schwarze Brett und laden zu einer Diskussionsrunde ein. Gute Energieverwertung.` Um ihre verschmähte Aphrodite zu versöhnen, überlegt sie, ob sie nicht demnächst einen Ausflug in eine dieser Schicki-Micki Discos unternehmen sollte. Da gab es angeblich noch echte Chauvis, Machos und Neandertaler, die eine Frau so lange anbaggern und nicht eher wieder aufhören, bis sie ihre Beute abgeschleppt haben. Ach, wäre das schön!`
Mitten in diese noch düsteren, ihre bessere Zukunft vorausplanenden Gedanken flüstert eine Stimme in die Schlafhöhle hinein.
"Entschuldigung, ist hier noch ein Schlafplatz frei?"
Eine eindeutig männliche Stimme, welch schöner, durch Pia`s Freude noch etwas tiefer eingefärbter, dunkler Klang. Sie schätzt die Stimme auf eine ungefähr 30-jährige, männliche Lebenserfahrung. Ob Gott ihr mürrisches Gebet erhört hatte? Während sie eifrig dabei ist, einen Mann um diese Stimme herumzubauen, steht er draußen und wartet auf eine Antwort. Da die Freundin und ihr Liebster schon hier schliefen, würde ihnen beiden etwa ein Meter zur Verfügung stehen. Zu wenig Platz für zwei Fremde.
Pia sagt: "Ja."
Er antwortet nicht und sie lauscht. Sie hört, wie er seinen Pullover über den Kopf zieht, das Hemd öffnet, dann den Reißverschluss seiner Hose. Pia weiß nicht, wohin seine Gedanken unterwegs waren. Sie malt sich in aller Unruhe das Bild eines Mannes aus, das ihr am schönsten und begehrenswertesten schien. Jedes Geräusch regt ihre Phantasie an. Er kommt näher und krabbelt vorsichtig in die Schlafhöhle. Der Unbekannte scheint sorgsam darauf bedacht, sie nicht zu stören oder zu berühren.
Da liegen sie nun nebeneinander, eine Fadenspanne voneinander getrennt. Pia ist steif wie ein Brett aus Angst, sie könnte ihn versehentlich berühren, und er würde dann denken, dass ... was sie sich wünscht.
Sie wartet darauf, dass er einschliefe und versucht, sich seinen Körper vorzustellen. In ihrer Phantasie wandert sie langsam vom Kopf über die Schultern, zum Bauch und tiefer. Dabei wird ihr Körper allmählich, immer deutlicher spürbar heiß. Im Sog des Verbotenen malt sie weiter an dem wunderschönen Bild dieses erregenden männlichen Details. Stellt sich vor, während ihr Körper fieberähnliche Hitzewallungen produziert, wie sich Amors Pfeil, angeregt durch die Nähe einer fremden Frau, aufrichtet, pulsiert und eine fleischliche Hoffnung wird.
Pia atmet flacher - in dem Glauben er würde dann nicht bemerken, was in ihr vorgeht und wonach ihre Sinne streben. Die erotische Anspannung steigert sich unter diesem vorsichtigen Atmen unerträglich. Das Zentrum ihrer Lust ist prall gefüllt mit Verlangen und das feuchte Pulsieren scheint hörbar zu werden.
Seit ewigen 20 Minuten nebeneinander liegend hätten sie mit der inzwischen entstandenen Energie das ganze Stromnetz des Hauses versorgen können. Er spürt es ebenso, da war Pia sich sicher. Aber wer macht den Anfang?
Sein Fuß überschreitet die unsichtbare Grenze, indem er reflexartig und unkontrolliert aufzuckt. Diese Berührung kommt so schnell, das Pia augenblicklich ein heißer Strom durch den Körper schießt und sie instinktiv die Hand auf ihre Perle legt, um sie zu beruhigen. Nun folgt ein kleiner Moment Pause. Dann berührt er sie wieder mit seinen Zehen, diesmal eindeutig absichtlich. Er zieht seinen Fuß wieder weg und wartet auf Antwort. Wie von selbst beginnen die Füße, das Liebesspiel einzuleiten. Pia dreht sich zu ihm auf die Seite, und er reibt mit seinem Knie die Innenseiten ihrer Schenkel. Ihre Unterkörper beginnen wie von selbst mit dem uraltem vertrauten Liebesspiel. Die Oberkörper halten noch immer diese winzige Distanz ein, jetzt in der Gewissheit der Lusterfüllung dient sie jedoch der Steigerung des Genusses. Der Tanz auf dem Vulkan beginnt und er presst endlich den Ausdruck seines Verlangens gegen ihren Bauch. Pia spürte ihn fest und heiß mit ihrem Körper verschmelzen und stöhnt leise auf unter dem Schmerz des Begehrens. Erst jetzt packen seine Hände ihre Oberarme, drücken sie auf den Rücken und lassen sie endlich den ersehnten Genuss spüren. Er dringt in sie ein, gleitet an den feuchten Wänden entlang, dem Zentrum allmählich näher. Jedes Äderchen in ihr war so angespannt vor Erregung, dass sich Schmerz und Lust, Erlösung und Begierde abwechseln. Er bewegt sich kaum noch, hielt inne, um die Lust noch mehr zu steigern. Der Wunsch nach Befriedigung, nach endlicher Erlösung wird derart stark, dass beide, ohne sich zu bewegen, explodieren. Ein Feuerwerk, das jede kleine Körperzelle in einer anderen Farbe aufleuchten und wegfliegen lässt. Ein Triumphzug der Lust zieht durch Pia`s Körper.
Abgesehen von der Frage nach dem Schlafplatz fällt kein Wort. Beide liegen nun schweigend nebeneinander. Die Lust des Fleisches ist befriedigt und große Ruhe breitet sich in Pia aus. Fern von Moral, Sentimentalität, Versicherungen und Treueschwüre liegt sie mit leerem Geist da. Jeder Groll ist verschwunden, die inneren Diskussionen wie weggefegt. Sie schläft satt und glücklich ein.
Am nächsten Morgen erwacht Pia allein, gutgelaunt und noch immer ganz erfüllt von dem nächtlichen Abenteuer. Wie eine Melodie summt das Echo der Begegnung in ihrem Körper. Geist und Körper flüstern ihr zu, dass es überflüssig ist, ihn näher kennen zu lernen. Es ist unwichtig im Nachhinein mit der Frage: ´Ist er meiner würdig?´ einen sozialen Überbau drüberzustülpen. Bis hierhin war es eine schöne Begegnung mit einem Unbekannten, gefüllt mit allen positiven Eigenschaften der Phantasie.
Pia geht in die Küche und sucht die Gastgeber zum Verabschieden, da hört sie seine Stimme: "Kann ich dich mal was fragen? Machst Du das eigentlich öfter mit einem Mann, den Du gar nicht kennst?"
Sie sagt nichts. Mit dem Schlafsack unter dem Arm geht Pia hinaus zum Auto. Warum kann er nicht schweigen, das Geschenk annehmen und gehen?
Pia vergleicht ihr Verhalten mit dem anderer Frauen und stellt fest, dass ihre Beziehungen zu Männern irgendwie schräg sind. Ihre Gefühle pendeln leise zwischen Bewunderung und Angst. Doch die Angst vor dem Mann herrscht vor. Da ist die instinktive Angst vor der körperlichen Überlegenheit, die besonders dann ärgerlich ist, wenn sich ihr angedachtes "Nein" in ein ausgesprochenes "Ja" verändert. Dannist da die schleichende Angst davor, irgendwie bestraft zu werden, wenn Pia sich entgegen seinen Wünschen verhält. Die Strafe, das "was wäre wenn", reicht von leichter Verärgerung, unangenehmen Liebesentzug bis zur Gewalttätigkeit. Ihre Angst hat nichts mit ihrem jetzigen Leben zu tun, geht völlig an der Realität der Männer vorbei, mit denen sie beruflich oder privat zusammen ist.
Getrieben von der Frage 'Wer bin ich?' wühlt Pia in ihrer Kindheit. Das liegt ja im Trend der Zeit. Sie schaut zurück. Als Kind hat Pia fast täglich in Angst gebadet und Gewalt kennen gelernt. Ihr Vater hat häufig und oft sehr brutal zugeschlagen. Kommt die Angst vor Männern daher? Egal, sie will sie loswerden und vertraut dem Satz: "Wo die Angst sitzt, geht's lang!".
Wo also lernt sie in einem geschützten Rahmen genügend Männer kennen, um sich ihren Ängsten zu stellen? Die Antwort scheint einfach: In einem Bordell.
Welche Voraussetzungen braucht sie dafür?
Pia forscht in sich selbst, ob sie sich vorstellen kann, mit fremden Männern schnell und unkompliziert einen angenehmen Kontakt herzustellen, der im Bett endet. Ihre innere Antwort rundet sich zu einem Ja. Smalltalk mit Männern herzustellen, fällt ihr leicht. Meist findet sie immer etwas Angenehmes, an dem sie sich festhält, um ein positives Gefühl für ihr Gegenüber zu entwickeln. Vielleicht ist es eine Verteidigungsstrategie, egal - es funktioniert.
Ein Blick in ihre Sexualität scheint die Idee zu bestätigen. Mit 26 Jahren hat Pia ihre Klitoris entdeckt und findet es seitdem klasse, wie sie sich mit oder ohne Mann selbst befriedigen kann. Beim gemeinsamen Sex stimuliert der Mann beim Eindringen ihren G-Punkt und dadurch kommt sie problemlos zum Höhepunkt. Das hat Pia trainiert, damit sie bei schnellen Nummern oder kurzen Schwänzen nicht unbefriedigt dasteht. Am schönsten ist jedoch tief innen die Berührung am Muttermund, da tanzen die Endorphine, und sie schwebt im siebten Himmel. Wenn das alles nicht klappen sollte, dann hilft es immer, sich auf die Energie zu konzentrieren und so zu der erwünschten Befriedigung zu gelangen. Pia hatte vor einiger Zeit einen Kurs besucht und es gelernt ihre Energie zu bündeln und das Resultat war eine befriedigende Überraschung.
Kurzum Pia denkt: ´Ja, ich bin geeignet, Sex ist kein Problem.´
Nun muss sie sich auf die Suche nach einem guten Bordell machen. Sie fragt diskret in ihrem Freundeskreis herum. Beim wöchentlichen Kaffeekränzchen mit ihren Freundinnen erhält sie die Telefonnummer von Anita. Pia ruft sie direkt an. Sie verabreden sich in einer Pizzeria in der Nähe für den nächsten Abend. Anita findet Pias Idee etwas ungewöhlich, aber will sich gerne mit ihr treffen und ihr Adressen von Clubs geben.
Pia entscheidet sich für einen verkehrsgüstigen Club mitten im Zentrum der Stadt. Der kleine, diskrete Privatclub hat einen festen Kreis an Privatkunden aus der Oberschicht. Für jede Zimmerbenutzung haben die Frauen eine Miete an die Gastgeber zu zahlen - beginnend bei einer Stunde und nach oben hin offen. Die sechs Zimmer sind unterschiedlich eingerichtet, vom romatischen Rosa bis hin zum neutralem Weiss. Die Grundausstattung ist in allen Räumen gleich: Bett und Kondome. In den Zimmern und an der Haustür befinden sich versteckte Kameras, um bei Problemen rechtzeitig eingreifen zu können. Neue Gäste brauchen die Empfehlung von Stammgästen, Fremde haben keinen Zutritt.. Die Besitzer, ein freundliches osteuropäisches Ehepaar, sind unkompliziert und hilfsbereit. Sie überlassen es den Frauen, für welchen Gast sie sich entscheiden. Anita versichert Pia, dass dort eine angenehme Arbeitsatmosphäre vorherrscht. Mit diesen Informationen über ihren zukünftigen Arbeitsplatz ausgerüstet, macht sich Pia an einem strahlenden Septembermorgen auf den Weg.
Die Liebeslaube in Pias Phantasie ist ein kleines Haus in einem zarten Erdton gestrichen. Das Haus hätte Mauern, die atmen können. Vorsprünge, Balkons und Fenster signalisieren einen Ausschnitt der Vielfältigkeit, deuten einen Formenreichtum dessen an, was den Gast innerhalb des Hauses erwarten lässt. An der Hausfassade dürften sich verschiedene Künstler verewigen, eine stumme Wiedergabe der Gradlinigkeit und des Irrens, der Verschwendung und des Innehaltens bei der Suche nach Lust. Das Haus wäre umgeben von uneinsichtigen Büschen, die vor den Blicken der Nachbarn schützen und in leuchtenden Farben blühen. Die Büsche wären so um das Haus angeordnet, dass sie zu verschiedenen Jahreszeiten ihre Blüten in unterschiedlichen Farben und Formen zeigen. Wie ein wunderschöner, geschnitzter Bilderrahmen wäre das Haus von gewachsener Schönheit umgeben und geschützt. Um die „Berufsbekleidung“ abzustreifen, gingen die Besucher durch einen Laubengang mit wilden Rosen auf das Haus zu. Alle, die durch die kleine Eingangspforte kommen, sollten spüren, dass sie hier eine Grenze überschreiten und ihr Alltagsleben - Stress, Lärm, Technik hinter sich lassen.
Pia findet die angegebene Adresse und schaut sich um. Sie steht vor einem neuen Abschnitt in ihrem Leben, doch die Realität sieht anders aus und steht im völligen Gegensatz zu ihrer Phantasie. Ein 2-stöckiges, villenähnliches, weißes Wohnhaus mit Rasen. Dem Haus fehlt jede individuelle Note des Besitzers, die einzige Auffälligkeit besteht in der perfekt weißen Fassade, an der sich fast jedes Türschild anbringen lässt. Es ist so anonym und keimfrei, eine Anwaltskanzlei oder auch eine Arztpraxis könnte da untergebracht sein. Der Rasen ist sehr kurz gehalten. Er wirkt wie ein Hinweisschild für das Verhalten der Besucher: Löwenzahn und Chaos unerwünscht. Die Haustür scheint sehr dick, fast kugelsicher und oben hängt ein Spiegel. Der Spiegel ist das einzige, deutlichere Signal. Von Anita weiß Pia, dass sie ab jetzt beobachtet wird. Das Gefühl, von "Unbekannt" überwacht zu werden, ist unangenehm. Es lässt Menschen zu Objekten werden, so mechanisch begutachtet, als gälte es herauszufinden und zu beurteilen, ob diese Schraube in die vorhandene Mutter passt.
Pia atmet tief durch, versucht alle Gedanken abzuschütteln und drückt beherzt auf die Klingel. Gespannt wartet sie. Wie die Puffmutter wohl aussieht? Eine gepflegte, schlanke, große Frau, etwa 38 Jahre alt, steril, anonym und faltenlos glatt öffnet. Sie sieht aus - wie das Haus. Trotz ihrer gleichmäßigen Gesichtszüge hätte Pia die Frage, ob sie schön ist, nicht beantworten können. Sie scheint in einer innigen Beziehung mit ihrer Kosmetikerin zu leben. Ihr Make-up liegt wie eine perfekte Maske über ihrem Gesicht und lässt keine innere Gefühlsregung erkennen. Die Begrüßung ist ein leichtes Kopfnicken.
Pias positive Neugierde ist wie weggeblasen. Um sich wieder in eine positive Stimmung zu bringen, holt sie tief Luft und wirft einen Blick auf den Garten. Dumme Idee, das bekräftigt ihre Unsicherheit. Pia fühlt sich abgewiesen und fehl am Platz mit ihren frei herumirrenden Gefühlen, all den unaufgeräumte Schubladen menschlichen Seins in sich. Da steht sie nun wie ein Kontrastprogramm: ungeschminkt, Jeans, T-Shirt, Sommersandalen, verwehte Haare. Eine endlos lange Weile, vielleicht auch nur gedehnte Sekunden stehen sie sich wortlos gegenüber. Mit einer angedeuteten Handbewegung lädt die Frau Pia ein, ihr ins Innere des Hauses zu folgen. Während sie hinter ihr den Flur entlang läuft, schrumpft Pia bei jedem Meter. Innen und außen zieht sich alles zusammen.
Pia fühlt sich wie eine Traumtänzerin. So hatte sie sich ihre Puffmutter nicht vorgestellt. In einem ihrer Lieblingsbücher steht: "Man solle sich Situationen nie vorher ausmalen, denn so man Mensch genug sei, würde einem in der jeweiligen Situation schon das Richtige einfallen." Ihr Traum von einer Puffmutter war vor allem eine sehr menschliche Frau. Mit einer Wärme ausgestattet, die einem alten Kachelofen ähnlich war, einer Schönheit, die aus den gelebten Erfahrungen entstanden ist, einem Wissen, das sie bereitwillig an ihre Schützlinge weiterreicht und voller Humor und Güte. Sie wäre die Bewahrerin des Menschlichen. Eine Frau, der Pia den Keim ihrer Sinnlichkeit vertrauensvoll in die Hände legen kann, weil sie sie mit Liebe und Weisheit zum Erblühen bringen wird. Sie wäre Urmutter, Edelkurtisane, Freundin in einem und die menschliche Verkörperung der Psychologischen Bände. Diese Mutter hätte die Fähigkeit, ihre Töchter ihrem jeweiligen Wesen entsprechend in diesem Lustgarten zum Blühen zu bringen. Sie wäre die Hebamme der Liebesdienerinnen. Mit ihrer Hilfe gäbe es Frauen, feurig wie das Rot des Klatschmohns, strahlend und kräftig, wie die gelb leuchtenden Sonnenblumen oder auch wie Kakteen, die sich ihre Blütezeit sparsam einteilen.
Diese Frau, die sich gerade im Büro angekommen auf das Sofa setzte, war von Pias Phantasiewelt so weit entfernt, wie ein deutscher Bankbeamter von einem französischen Stadtstreicher. Es wird Zeit, mit beiden Füssen in die Realität zurück zu kehren. Ein Fuß hier und einer da, das kann nur schief gehen. Pia sieht sich in dem großen Raum um: ein Schreibtisch, Sitzgarnitur und einigen Stühlen an der Wand, die noch auf Besucher warten.
Ihr Gegenüber schaut Pia an und fragt:
"Hast Du in diesem Beruf schon Erfahrungen?"
"Nein."
"Sie wissen, dass es hier um Sex geht?"
"Ja."
"Sind Sie denn sexuell aufgeschlossen?"
"Ja."
Der Eignungstest ist bestanden. Das war`s. Pias neue Chefin lächelt und es kommt tatsächlich eine warme Ausstrahlung durch, als sie zustimmen nickt und sagt:
"Wann können sie anfangen?"
"Montag."
Auf dem Heimweg macht Pia in einem Cafe halt, um in Ruhe nachzudenken. Wie naiv und dumm sie doch in der Welt steht. Da war sie jahrelang in die Schule gegangen und hat so wenig von dem gelernt, was sie als Mensch, als Frau wirklich braucht, um eine Situation wie gerade eben souverän zu meistern. Und wieder breitet sich innerlich, wie schon als Kind immer, ihre Lieblingssehnsucht nach jemandem, der ihr diese Welt erklärt, aus. Es ist eine Lieblingssehnsucht, weil auch Pias Liebesbild von diesem Wunsch geprägt ist. Noch mehr als einen gut aussehenden, erfolgreichen Mann, wünscht Pia sich einen Mann, der ihr die Welt, die Menschen erklärt und alle ihre Fragen beantworten kann. Viele der Fähigkeiten, die sie heute besitzt, hat Pia sich gezielt in Eigenarbeit erworben und dennoch kommt sie sich vor, als ob sie blind durch die Gegend stolpere. Pias Lebensweg formt sich aus Zufällen, die ihr begegnen. Schwankend orientiert sie sich an dem Wunsch, das aufzulösen, was sie an der Verwirklichung ihrer Wünsche, Träume, Sehnsüchte hindert und dem auszuweichen, was ihr nicht gefällt. Zwei Dinge geben Pia Kraft, die ihr dabei hilft, all die Schürfwunden auszuhalten. Das eine ist ihre Fähigkeit, jede sorglose Minute genießen zu können und das andere ist die, sich immer wieder neu zu verlieben. Das Verliebt sein, die kleine Schwester der großen Liebe, ist ihre ständige Begleiterin. Wenn sie mal nicht da ist, dann ist es die Sehnsucht nach ihr, die Pia beflügelt, ihren Weg weiter zu gehen.
Als Pia ihren Heimweg fortsetzt, ist sie traurig. Zurzeit lebt sie in einer Wohngemeinschaft, aber sie muss sich eine eigene Wohnung suchen, um unauffällig leben zu können. Bei jeder Veränderung ihres Lebensweges lässt sie einige Freunde zurück. Das ist schade und schmerzhaft. Doch der neue Beruf bringt eine so große Veränderung in ihr Leben, da braucht sie die Kraft für sich selbst. Sie hat keine Lust, Fragen nach dem neuen Job zu beantworten und möchte diesen Weg allein weitergehen. Pia möchte sich ungern in stundenlange Diskussionen verzetteln. Das vorhersehbare Unverständnis ihrer Mitbewohner und die damit verbundenen Moralvorstellungen und Ängste würden ihre eigenen Ängste unnötig wachsen lassen. Sie braucht für die vor ihr liegende Herausforderung ein Umfeld das ihr Vertrauen wachsen lässt.
Am Abend informiert sie die Wohngemeinschaft von ihrem geplanten Auszug wegen einem neuen Job und ihrem Wunsch, näher am Arbeitsplatz zu wohnen. Da sich zufällig gerade ein alter Freund gemeldet hat, der gerne hier wohnen würde, läuft das Gespräch besser als gedacht. Pia ist erleichtert, nun muss sie sich darum kümmern, eine neue Wohnung zu finden. Dafür bleiben 4 Tage Zeit.
Pia lässt sich zur Meditation auf ihr Bett nieder. Es ist ihr eine liebgewordene Angewohnheit, täglich den Geist zur Ruhe zu bringen. Für etwa 20 Minuten sitzt sie im Jogasitz und während sie sich auf ihre Atmung konzentriert, rauschen die Gedanken erst laut und dann leise an ihr vorbei. Nach
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: WortWerk, Sieben/Rolle
Bildmaterialien: BookRix
Lektorat: Sarah Rolle
Tag der Veröffentlichung: 04.06.2014
ISBN: 978-3-7368-1776-0
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