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Das Leben nahm seinen gewohnten Gang.

Er war ein Kind von 2 Jahren, konnte sich kaum noch daran erinnern. Er lernte laufen und mit einem Löffel zu essen und konnte etwas später auch schon die ersten richtigen Worte sprechen. Es gefiel ihm, mit seinem Brei rumzumanschen, das auszuspucken, was seine Mutter ihm gerade in den Mund steckte.
Er schrie nachts, wenn er schlecht träumte und auch, wenn er es nicht erzählen konnte, hatte er immer das Gefühl, dass seine Mutter, die stets angelaufen kam, egal zu welcher Uhrzeit, ihn auf den Arm nahm und fest an sich drückte, seine Sorgen verstand.

Das Leben nahm seinen gewohnten Gang.

Mit 5 fuhr er das erste Mal auf einem Fahrrad. Nachmittags, auf dem alten Platz vor der Kirche, musste sein Vater ihn immer am Gepäckträger festhalten, damit er nicht umfiel. Denn ohne die Stützräder, die er sowieso nicht leiden konnte, brauchte er die Sicherheit, dass sein Vater da war und ihn festhielt. Irgendwann als er fuhr, bemerkte er nicht, dass sein Vater schon längst nicht mehr hinter ihm war, sondern neben dem großen alten Baum stand, von dem er losgeradelt war. Als er sich umdrehte und seinen Vater am Baum stehen sah, fiel er zwar vor Schreck vom Rad, aber seit dem Tag konnte er Fahrrad fahren.

Das Leben nahm seinen gewohnten Gang.

Er konnte sich noch genau daran erinnern, welches Buch er in der Schule zuerst gelesen hatte. Er wusste den Titel zwar nicht mehr, aber es ging um irgendeinen Jungen und ein Mädchen. Seitdem er lesen konnte, las er alles, was er beim Vorbeigehen auf die Schnelle zu entziffern fähig war, sei es beim Einkaufen mit seiner Mutter, wo er ihr alle Etiketten der Käsesorten in der untersten Reihe des Kühlregals vorlas, oder während er mit seinem Vater morgens beim Frühstück in die Zeitung schaute. Er ließ sich irgendwann auch keine Gutenachtgeschichten mehr vorlesen, nein, er las sie selbst.

Und das Leben nahm seinen gewohnten Gang.

Sandra. Ja, diesen Namen würde er niemals vergessen. Sie war das schönste Mädchen an der ganzen Schule und niemand traute sich, sie anzusprechen. Niemand… außer ihm. Er konnte sich selbst nicht genau erklären, wie er sich überwunden hatte, auch wusste er nicht mehr, was er eigentlich zu ihr gesagt hatte. Aber er hatte es getan und das war ein sehr schönes Gefühl.

Das Leben nahm seinen gewohnten Gang.

Es war eine Entscheidung fürs Leben, nur wie sollte er sich entscheiden? Natürlich hatte er jetzt noch ein oder zwei Monate Zeit, bis die Ferien vorbei waren, ach nein, es GAB ja überhaupt keine Ferien mehr. Trotzdem musste er sich schleunigst Gedanken machen, was er denn werden wollte. Es gab so viel, was man tun konnte, das hatte er gelesen, aber wie soll man sich da entscheiden?

Das Leben nahm seinen gewohnten Gang.

Er war schwarz mit Sitzen aus Leder, nicht so wie der alte Fiesta von seinen Eltern. Er hatte 180 PS und 270 Spitze. Und das Schönste war, dass er ihn selbst bezahlt hatte. Noch nicht komplett, aber nach nur 2 Jahren würde er ihm gehören. Die Anzahlung hatte er gespart, hatte sich unterdessen keinerlei weiteren Luxus gegönnt, denn dieses Auto war alles an Luxus, was er haben wollte. Er erinnerte sich noch genau, dass er damals dieses Gefühl von Freiheit liebte und dass er mehr nie brauchen würde.

Und das Leben nahm seinen gewohnten Gang.

Er lernte sie auf einer Betriebsfeier kennen. Sie war eine dieser Frauen, die es überhaupt nicht zu interessieren schien, ob ihre Meinung angebracht oder doch eher unpassend war. Sie vertrat sie und da sie das auch dann tat, wenn niemand damit rechnete, entstand nicht selten eine eher komische Situation. Und genau das war es, was ihn an ihr so sehr faszinierte.
Dass sie nun beide mit diesem Mann an einem Tisch saßen und den Kaufvertrag unterschrieben, hätte er sich in seiner Jugend nie träumen lassen. Aber es war ihr Traumhaus. Und sie… war seine Traumfrau.

Und das Leben nahm seinen gewohnten Gang.

Es nahm seinen allzu gewohnten Gang.

Kinder kamen auf die Welt, erst das erste, ein Junge, und nur zwei Jahre später wurde er noch einmal Vater einer kleinen Tochter.
Er wechselte zwei Mal seinen Arbeitgeber, seine Frau behielt er aber, bis sie mit 63 Jahren, kurz vor seiner Rente nach zweijährigem Leiden starb. Daran erinnerte er sich noch genau. Und daran, wie er dann sein Haus, wie er die geschichtenerzählenden Wände seines Lebens verkaufen und für das Geld in einem Zimmer leben musste, welches von nichts als trostlosen Raufasertapeten geziert war. Er erinnerte sich, wie er seine Kochkünste gegen ein auf zahnlose Konsumenten abgestimmtes Kantinenessen und seine Selbständigkeit gegen Abhängigkeit eintauschen musste. Nun war alles vorbei. Hier war er nun, allein, irgendwo im Nirgendwo, und hier würde er sterben.

Und das Leben nahm seinen gewohnten Gang.

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Tag der Veröffentlichung: 26.05.2009

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