Es war nicht das erste Mal, dass sie es probierte. Seit diesem Tag damals probierte sie so manches, um ihren Kopf freizubekommen.
Sie erinnerte sich noch genau, wie sie am nächsten Morgen in ihrem Bett lag. Sie versuchte, diesen Gedanken zu vergessen, sie versuchte, alles zu vergessen, „ES“ zu vergessen.
Sie kuschelte sich in ihre Decke, und während sie weinte, summte sie das Lied, dass ihr Vater ihr immer vor dem Einschlafen vorgesungen hatte, damals, als sie noch ganz klein war. Sie erinnerte sich nicht mehr an den Text, doch sie war sich sicher, das Marienkäfer und Blumen darin vorkamen.
Ihre Mutter, die sich schon gewundert hatte, wo sie denn bliebe, öffnete die Tür zu ihrem Zimmer.
„Bibi, Kind. Es ist schon elf Uhr. Meinst du nicht, dass es…“
Sie stockte, als sie in das ausdruckslose Gesicht ihrer Tochter blickte.
„Bibi, was ist los?“ fragte sie, aber Bibiane nahm die Worte ihrer Mutter kaum wahr. Ihre Gedanken hingen irgendwo im Dunkel der Nacht, an verzerrten Gesichtern und an kalten Händen, die sie überall auf ihrem Körper spürte.
„Bibi…“ wiederholte ihre Mutter, und als sie sich aufs Bett setzte um ihrer Tochter den Kopf zu streicheln, fuhr diese mit einem Schreck auf und starrte ihre Mutter aus angsterfüllten Augen an, als würde sie nicht wissen, wer da an ihrem Bett saß. Es dauerte einige Augenblicke bis ihre Mutter den vertrauensvollen Blick in den Augen ihrer Tochter wieder fand, den sie von je her kannte und dann schlossen sie sich in die Arme.
Ja, sie erinnerte sich noch genau, wie sie am nächsten Morgen in ihrem Bett lag. Dieser Morgen und seine vorangegangene Nacht dauerten mehr als Jahre. Dieser Morgen und seine vorangegangene Nacht nahmen einen Raum in ihrem Leben ein, der größer zu sein schien, als sie Platz hatte. Sie wurde von dieser Nacht erfüllt, ohne einen Rest für sich.
Immer, wenn man sie sah, schien es, als würde sie mit geschlossenen Augen umherlaufen, aber doch genau beobachtend, ja fast suchend. Als wäre sie auf der Suche… nach irgendetwas. So wie sie aussah, musste es etwas sehr Wichtiges sein.
Und heute…? Heute saß sie hier und probierte schon wieder etwas Neues. Ihre Mutter würde es ihr nicht erlauben, das wusste sie, aber seit dem sprachen sie nicht mehr sehr viel miteinander. Sie sprach seit dem mit niemandem sehr viel. Ihre Mutter hatte einen Verdacht, jedoch konnte sie nicht zu ihrer Tochter durchdringen. Sie sagte stets das gleiche, wenn sie versuchte, sie nach der Nacht zu fragen und vergebens auf eine Antwort wartete
„Du schaffst das schon“, sagte sie. “Du hast immer noch… dein Leben!“
Aber das hatte sie vor Jahren verloren.
Tag der Veröffentlichung: 26.05.2009
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