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Keinenot und die Flutwelle

Johann Keinenot sieht sich ein letztes Mal traurig in seinem Laden um und es bricht ihm buchstäblich das Herz. Er weiß, dass er nicht mehr viel Zeit hat und sich beeilen muss. Doch wie verabschiedet man sich von seinem Leben? 

Sein halbes Leben hat er nun in diesem Laden verbracht. All sein Herzblut steckt hier drin. Für den kleinen Laden in der Altstadt hat er auf eine Familie und ein Privatleben verzichtet. 

Sicher hatte er in seinem Leben mehrere Beziehungen zu verschiedenen Frauen, doch diese hielten nie lange. Keine Frau spielt freiwillig lediglich die zweite Geige im Leben eines Mannes. Sonja, seine letzte Freundin sagte, als sie ihn verließ: „Du bist bereits verheiratet! Mit deinem merkwürdigen Laden!“ 

Hätte er sich anders entscheiden sollen? Der Laden machte ihn glücklich und stolz. Er blieb sich in all der Zeit sich selbst treu. 20 Jahre ist es nun her, dass er den Laden eröffnet hat. Und über all die Jahre hinweg wurde er von seinen Freunden, seiner Familie und seinen Konkurrenten belächelt, als Freak. Doch das ist Johann bis heute egal. Er gehörte nie zur Masse und würde das auch in diesem Leben nicht mehr ändern. 

Viel Kundschaft hatte er zwar nicht, doch die, die einmal bei ihm etwas gekauft haben, sind immer wieder gekommen. Meistens zur Weihnachtszeit. Sein Geschäft machte ihn nicht reich, jedoch genügte der Gewinn zum Leben. Damit war Johann zufrieden mit sich und dem, was er hatte. Zumindest, bis die Wirtschaftskrise über das Land hereinbrach. Seither saß bei seinem Kunden das Geld nicht mehr so locker und in den letzten Monaten blieben die Kunden bis auf einige wenige ganz weg. 

Die Schulden türmen sich mittlerweile enorm auf. Johann hat es bereits vor Monaten aufgegeben, die Briefe seiner Gläubiger zu öffnen. Er kann die darin enthaltenen Rechnungen sowieso nicht mehr bezahlen. Daher bekommt er auch seit kurzer Zeit keine Waren mehr, die er seinen verbliebenen Stammkunden hätte verkaufen können. Ein Teufelskreis! Ende dieser Woche wird ihm endgültig der Strom abgestellt. Nun muss Johann laut lachen. Diese Maßnahme wird dem Stromversorger nun auch nichts mehr bringen.  

In der Ferne ertönt eine Sirene. Das Zeichen, dass er den Laden sofort verlassen bzw. zurücklassen muss. Die Flutwelle hat soeben die Tore der Stadt passiert. Also wenn er überleben will, muss er jetzt auf der Stelle gehen. Doch will er das? Will er leben? Was in seinem Leben ist es Wert zu überleben? Seine Eltern sind vor Jahren gestorben. Mit seinen Geschwistern ist er seitdem zerstritten. Er hat keine Frau, keine Kinder. Seine sogenannten Freunde kann er allesamt gleichzeitig in der Pfeife rauchen. Wenn es darauf ankam, war niemand mehr da. 

Das Einzige, was in seinen Leben wichtig ist, ist dieser Laden, der in wenigen Minuten nicht mehr existieren wird. Fortgerissen mit der Flutwelle. Für was also sollte er weiterleben? Für seine Schulden etwa? 

Entschlossen schüttelt Johann den Kopf und geht zur Tür. Verschließt sie von innen. Dann geht er zum Kassentresen, setzt sich in seinen Sessel und nimmt sein Lieblingsbuch, „Das Leben und was wichtig ist“ geschrieben von einem unbekannten Indie-Autor, in die Hand. 

Es folgt ein ohrenbetäubendes Donnern. Johann fühlt wie die Wände des Gebäudes beben. Schnell wird es dunkler, das Tageslicht scheint zu verschwinden in der Flutwelle, die nun das Gebäude in sich aufgenommen hat. Straßenschilder, Autos, Möbel schwimmen am Fenster vorbei, das sich knarzend gegen den Druck des Wassers wehrt. Doch nicht mehr lange. Die Fensterscheibe bekommt die ersten Risse. Erst Kleine, dann Größere. Unaufhaltsam ziehen die Risse ihren Weg durch die Scheibe. 

Johann bricht der Angstschweiß aus. Sein Herz schlägt wild und voller Panik kräftig, fast schmerzhaft, gegen seine Brust. Seine Augen weiten sich vor Todesangst! 

War es richtig sich für den Laden zu entscheiden? 

In der nächsten Sekunde nimmt das eisig kalte schmutzige Wasser, alle Ängste, alle Zweifel, alle Sorgen und Johann Keinenot für immer mit sich.  

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.06.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch allen Opfer des Hochwassers vom Juni 2013 und den vielen freiwilligen Helfern!

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