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Kapitel 1

 

 

 

Das Autofahren fällt mir schwer. Seit gestern plagen mich Rückenschmerzen und selbst das heiße Bad gestern Abend hat kaum Linderung gebracht.

Ausgerechnet heute habe ich Dienst in der Rettungswache. Das bedeutet zwölf Stunden anstrengender Dienst auf dem NEF.

Hoffentlich ist es heute ein bisschen ruhig. Wir haben Donnerstag, den 8. Oktober; das Wetter ist völlig daneben. Es regnet, stürmt und ist kalt, eben echtes Oktoberwetter. Dazu kommt noch, dass es erst halb sechs Uhr morgens ist.

Ich habe wegen der Rückenschmerzen schlecht geschlafen und bin müde. Meine ansonsten unerschütterlich gute Laune lässt mich im Stich.

 

Doktor W. sitzt schon im Bereitschaftsraum, liest Zeitung und trinkt Kaffee. Lächelnd sieht er von seiner Zeitung hoch, als ich hereinkomme.

„Guten Morgen, Tina. Ich habe dir schon einen Tee gemacht, steht vorne auf der Spüle. Erik und sein Doc machen noch ihren Schreibkram und hoffen, dass nicht noch ein Alarm kommt. Ich hätte so kurz vor dem Schichtwechsel auch keine Lust mehr.

Die Koffer hat Erik vorsorglich schon kontrolliert und aufgefüllt. Das Auto musst du nachsehen, okay?“

Himmel, wo nimmt der bloß die gute Laune her?

Und was will er um diese Zeit schon hier, hat er kein Zuhause?

 

Eigentlich mag ich Dr. W. sehr gern. Ein Arzt, der sich im Einsatz als Kollege und Teampartner sieht. Es ist wichtig, dass Arzt und Assistent, nicht nur im Rettungsdienst, aufeinander eingestimmt sind. Jeder Handgriff muss sitzen. Manchmal aber macht die Hierarchie eine echte und produktive Zusammenarbeit beinahe unmöglich. Dazu kommt noch, dass ich eine Frau bin und Frauen im Rettungsdienst sind für manche männlichen Kollegen das absolut letzte. Es gibt eine ganze Menge Vorurteile, mit denen auch ich zu kämpfen hatte.

So zum Beispiel, das Frauen nicht schwer heben können - sollen - dürfen. In der Krankenpflege kräht kein Hahn danach, da stemmen wir Schwestern oft viele Tonnen am Tag, und was ist mit dem Haushalt? Wäschekörbe, Kinder, Getränkekisten und ein gut gefüllter Kochtopf kann auch so einiges wiegen. Was macht da wohl eine Krankentrage oder gar so ein lächerlicher Aluminiumkoffer aus?

Frauen sind keine guten Diagnostiker; da kann ich aber wirklich nur lachen.

Frauen verkraften den Anblick von Blut und anderen schrecklichen Dingen nicht. Wir verkraften solche Dinge genauso gut oder schlecht wie unsere männlichen Kollegen.

Der absolute Höhepunkt aber war der Kommentar eines Kollegen, der der Ansicht war, wir Frauen könnten nicht Auto fahren. Dazu muss ich wohl nichts sagen.

Mit Fleiß, Zähigkeit und überzeugender Fachkompetenz habe ich mir schließlich meinen Platz unter den männlichen Kollegen erobert. Die Anerkennung und Freundschaft die ich erlebe, sind Beweis genug, dass Frauen ihren „Mann“ stehen können.

 

Bernd W. gehört nicht zu dieser Gattung Mann und Mediziner. Von Anfang an waren wir per Du, haben die gleiche Wellenlänge und verstehen uns prima. Eine bessere Zusammenarbeit kann man sich nicht vorstellen. Der Tag ist fürs Erste gerettet und meine gute Laune kehrt zurück.

 

„Wenn es dir recht ist, gehe ich mich erst einmal umziehen, ja?“

„Ja sicher, mach nur. Und bloß keine Hektik, unser Dienst fängt erst in zwanzig Minuten an. Wehe die wagen es, uns vorher raus zuschicken. Obwohl Joachim sagt, dass es heute Morgen sehr ruhig ist.“

Ich nicke und verziehe mich. Auf dem Weg in den Umkleideraum werfe ich einen Blick in die Telefonzentrale zu Joachim. Er ist der Diensthabende in der Zentrale, der unsere Einsätze koordiniert.

„Guten Morgen, Cherie. Gut geschlafen?“ Joachim grinst mich verschmitzt an.

„Nicht besonders; ich habe seit gestern Rückenschmerzen und werde sie nicht los. Autofahren ist eine Katastrophe. Hoffentlich überstehe ich den Tag.“

„Armes Häschen! Aber du hast ja den ganzen Tag den Doc neben dir. Wenn es nicht mehr geht, kann er dir ja mal unter die Arme greifen. Kannst du mir vielleicht bei Gelegenheit einen Kaffee vorbei bringen?“

„Klar! Ich gehe mich aber erst einmal umziehen. Sag mal, warum hast du eigentlich schon Dienst? Es ist doch noch keine sechs.“

„Weil Sascha irgendwas vor hat und irgendeinen Zug erreichen wollte. Ich habe ihn schon um fünf Uhr abgelöst.“

„Ach so, ich habe mich schon gewundert.“

 

Als ich umgezogen zurückkomme, stehen eine dampfende Tasse Tee und ein Teller mit einem liebevoll belegten Brötchen auf meinem Platz.

„Ich habe dir Käse drauf gepackt, hoffentlich ist dir das recht?“

„Vielen Dank, Bernd. Käse ist in Ordnung. Was ist das für Tee?“

„Irgend so eine Kräutermischung. Die stand im Schrank und ich dachte mir, die kann nur dir gehören.“

Er hat recht, ich habe ein Faible für ausgefallene Teesorten.

Erst bringe ich aber Joachim wie versprochen einen Becher Kaffee. Als Zentralist darf er seinen Platz in der Telefonzentrale nicht verlassen und ist auf die „Mildtätigkeit“ seiner Kollegen angewiesen.

 

Inzwischen ist Schichtwechsel und Erik verabschiedet sich für heute. Bernds Kollegen habe ich gar nicht zu sehen bekommen, der ist schon weg.

Nach dem Frühstück begebe ich mich in die Halle, um das NEF zu begutachten.

Bei dem NEF handelt es sich um einen mit allen medizinischen Gerätschaften ausgerüsteten PKW, in dem man Patienten nicht transportieren kann. Den Transport erledigt der Rettungswagen, der parallel mit dem NEF an den Unglücksstellen eintrifft. Dieses Verfahren nennt man Rendezvous - System.

 

Die Kollegen haben am Anfang schon sehr gestaunt, wenn ich kontrolliert habe, ob auch alles funktionsfähig ist. Außerdem habe ich mir angewöhnt, Kühlwasser und Ölstand zu überprüfen und vor allen Dingen die Tankfüllung. Es gibt wohl nichts Peinlicheres, als mitten im Einsatz mit dem NEF liegen zu bleiben. Mir ist es zum Glück noch nie passiert, aber ich habe es schon bei Kollegen erlebt. Außerdem verlasse ich mich grundsätzlich nicht auf die Kontrollen meiner Kollegen. Deshalb öffne ich jeden einzelnen Koffer und überprüfe den Inhalt. Ich zähle die Medikamentenampullen, Braunülen, Kanülen usw.

Technische Kontrolle von EKG - Gerät, Defibrillator, Absaugeinrichtung und was wir sonst noch an Technik an Bord haben. Zum Schluss nehme ich die Aerosole aus den Koffern und kontrolliere in der Teeküche unserer Wache ihren Inhalt mittels Wasserprobe.

 

Bernd grinst mich an, als ich wieder in den Bereitschaftsraum komme.

„Na, alles in Ordnung?“

„Ja, der Wagen ist sogar vollgetankt. Ein echtes Wunder, wenn Erik Dienst hatte.“

Erik ist eigentlich ein sehr netter Kollege. Leider muss man aber ständig hinter ihm her arbeiten. Er hält es weder für nötig, die fehlenden Materialien in den Koffern nachzufüllen, noch gegebenenfalls tanken zu fahren. Da ist es wirklich eine gelungene Überraschung, dass der Tank unseres Wagens voll ist.

 

Während wir auf unseren ersten Einsatz warten, muss Bernd seinen Frust bei mir loswerden. Wieder mal Knatsch mit der Freundin (aha, darum ist er so früh hier!), Ärger mit dem Vermieter und zu allem Überfluss hat auch noch sein Auto den Geist aufgegeben (und dann ist er schon so früh hier?).

Ein bisschen gedankenverloren rühre ich in meinem Tee herum. Bernd sieht mich erwartungsvoll an. Hat er jetzt vielleicht auf eine Meinungsäußerung meinerseits gewartet? Da muss ich ihn enttäuschen. Ich halte mich lieber raus. Meistens ist das gesünder.

„Hast du auch Probleme, die du loswerden möchtest?“ Bernd sieht mich immer noch erwartungsvoll an.

„Ich habe Rückenschmerzen, aber ansonsten ist meine kleine Welt in Ordnung.“

Bernd schüttelt ein bisschen unwillig den Kopf. Irgendwie kann er sich einfach nicht vorstellen, dass ich mit meinem Mann Michael nie Streit habe. Aber es ist wirklich so. Wir ergänzen uns wunderbar und führen eine absolut harmonische Ehe. Außerdem sind wir mit vier zauberhaften Kindern gesegnet, wobei mein ältester Sohn bereits knappe zwanzig Jahre alt ist und in Göttingen Medizin studiert.

Die anderen drei, ein weiterer Junge namens Tim und zwei Mädchen, Amrei und Sarah, sind 6, 5 und 3 Jahre alt. Dass ich überhaupt arbeiten gehen kann, liegt nur daran, dass mein Mann und ich unsere Dienstpläne aufeinander abstimmen können. Michael ist als Busfahrer im Reisedienst tätig. Ursprünglich hat er, genau wie ich, den Beruf des Krankenpflegers und parallel dazu, den des Rettungsassistenten erlernt. Durch unseren Beruf haben wir uns letztlich auch kennengelernt. Noch ein Mann ohne Vorbehalte. Irgendwann erwischte ihn dann das sogenannte „Burn - out - Syndrom“ und er dankte ab. Wegen unserem Stall voll Kindern arbeite ich nur Teilzeit, als Springerin im Transplantationszentrum und im Rettungsdienst, so das viel Zeit für unsere Kinder und diverse Hobbys bleibt. Plötzlich ertönen unsere Pieper und im gleichen Moment folgt die Durchsage, die uns Informationen über unseren Einsatz gibt. Ein Herzanfall bei einem Patienten in der Südstadt. Nun, wenigstens kein weiter Anfahrtsweg.

 

Als wir eintreffen, finden wir einen schweißgebadeten, etwa 50 - jährigen Mann vor. Die Gesichtsfarbe ist eher grau, während die Lippen einen deutlichen Blauschimmer aufweisen, ebenso wie die Haut unter seinen Fingernägeln. Er klagt über heftige Schmerzen im Bereich des Sternums. Puls und Blutdruck sind erhöht, der Patient ist sehr aufgeregt. Allerdings scheint seine Frau viel aufgeregter zu sein. Wie ein Huhn flattert sie ständig um uns herum und macht alles und jeden nervös. Ein Sanitäter, der fast gleichzeitig ankam mit unserer eingetroffenen RTW - Mannschaft, führt sie schließlich in einen Nebenraum, damit wir in Ruhe arbeiten können.

Inzwischen habe ich ein EKG angelegt und wir beobachten gespannt den Bildschirm.

„Sieht nach AP (Angina Pectoris) aus.“ Bernd sieht mich an, ich nicke zustimmend. Wie meistens sind wir uns einig.

Er habe in der Vergangenheit schon öfter ähnliche Attacken, aber nie so plötzlich und so heftig gehabt. Deswegen sei er damit auch nie zu einem Arzt gegangen, erklärt der Patient Bernd.

Inzwischen mache ich Routinearbeit. Ich reiche Bernd für alle Fälle das Nitrospray. Im Moment wird es nicht dringend gebraucht, das kann sich aber sehr schnell ändern. Deshalb steckt Bernd es sich gut erreichbar in die Jackentasche. Dann händige ich ihm eine großblumige Braunüle und Monovetten zur Blutabnahme aus und Bernd macht sich an die Arbeit.

Ich bereite inzwischen eine Infusion mit "Ringer-Lactat" vor und ziehe auf Bernds Anordnung hin eine Spritze mit Valium auf, weil der Patient übermäßig unruhig ist. Das alles funktioniert ohne große Absprache. Wir sind eben ein gut eingespieltes Team.

Da der Zustand des Patienten sich zusehends stabilisiert und die nächste Klinik nur um die Ecke ist, ist es nicht notwendig, dass Bernd den Patienten begleitet. So können wir uns nach erfolgter Arbeit wieder einsatzfähig melden. Der Einsatz hat von der Benachrichtigung bis zum Ende ziemlich genau zwanzig Minuten gedauert.

Da keine Folgefahrt anliegt, rücken wir wieder ein.

 

Der Vormittag läuft schleppend dahin. Zwischendrin haben wir noch eine Kopfplatzwunde bei einem sechsjährigen Jungen zu versorgen. Kopfplatzwunden neigen dazu, heftig zu bluten und so hat die Mutter in ihrer Hilflosigkeit einen Notarzt alarmiert. Ich habe Ärzte erlebt, die bei solchen "Banalitäten" sehr ungehalten reagiert haben, aber Bernd trägt es mit Gleichmut und Freundlichkeit und tröstet die völlig aufgelöste Mutter. Unterdessen versuche ich, das schreiende Kind zu beruhigen. Ich gehe auf die Knie runter, um dem kleinen Nikolas in die Augen sehen zu können. Leise spreche ich mit ihm. Schließlich wird er etwas ruhiger und hört mir zu. Ich setze mich auf einen Stuhl und ziehe Nikolas auf meinen Schoss. Beruhigend wiege ich ihn in meinen Armen, so wie ich es mit meinen Kindern auch tun würde. Natürlich saue ich mir mein weißes Hemd mit seinem Blut ein, aber wozu gibt es eine Waschmaschine? Leise erkläre ich ihm, dass er einen Verband benötigt und lege schließlich einen Notverband an.

Am Ende findet der kleine Nikolas meine Werkelei so interessant, dass er auch mit dem letzten Schluchzen aufhört.

Weil er zum Schluss so schön stillhält, bekommt er von Bernd einen Lutscher in die Hand gedrückt. Die Lutscher hat Bernd grundsätzlich in der Jackentasche. Und so wird ein zufrieden lächelnder kleiner Junge mit dem wartenden RTW zum Nähen der Wunde und zum Röntgen in die Kinderklinik geschickt.

 

Es folgen noch ein paar kleinere, unbedeutende Sachen, aber es ist nichts wirklich Aufregendes dabei. Das ist aber Gottlob meistens so.

 

Kurz vor dem Mittag werden wir in ein Sportstudio gerufen. Zwei Amateurboxer hatten sich hier einen Kampf geliefert und einer der beiden hatte den Gegner mit einem gekonnten, wenn auch verbotenem "Rabbit-Punch" auf die Matte

geschickt. Dieser Schlag an den unteren Teil des Schädels hatte den betroffenen jungen Mann in eine tiefe Bewusstlosigkeit geschickt. Wir haben richtig zu kämpfen, denn die Vitalwerte, Puls, Blutdruck und Atmung, verschlechtern sich rapide. Zum Schluss wird ein völlig verkabelter und intubierter Patient in den RTW geschoben. Bernd steigt in den RTW, um den Patienten zu begleiten.

Während der RTW mit Alarm davonbraust, fahre ich mit dem NEF gemütlich und ohne Alarm hinterher und frage mich, ob das wirklich noch Sport ist. Ich kann dem Boxen absolut nichts abgewinnen. Am Krankenhaus werde ich Bernd wieder an Bord nehmen.

 

Mein Rücken schmerzt immer hartnäckiger und als Bernd wieder zu mir ins Auto steigt, möchte ich nur endlich zurück in die Rettungswache und meine Beine ausstrecken. Bernd findet allerdings, dass es Zeit fürs Mittagessen ist. Mir fehlt der Appetit. Bernd besticht mich mit chinesischem Essen, damit kriegt er mich immer.

Wir melden uns bei Joachim ordnungsgemäß zur Mittagspause ab, damit er weiß, dass wir die nächsten fünfundvierzig Minuten nicht zu erreichen sind, außer natürlich, es ginge wirklich um Leben und Tod.

 

Unser "Stammchinese" freut sich über unseren Besuch. Sehr zuvorkommend und schnell werden wir bedient. Wenn wir in unseren roten Rettungsdienstjacken aufkreuzen, weiß er, dass wir in Eile sind.

Übrigens sind wir aus anderen Lokalen schon raus geflogen, weil wir die Kundschaft vergraulen, wenn wir in unserer “Kluft" auftauchen. Ein Notarzt, der gleich für alle Fälle parat steht, ist schlecht fürs Geschäft.

Aber hier, bei unserem Chinesen werden wir immer mit offenen Armen empfangen.

Wir schaffen es tatsächlich in Ruhe zu essen und haben anschließend noch Zeit, uns mit dem Inhaber des Lokals eine Weile zu unterhalten,

 

Wieder im Auto frage ich bei Joachim nach, ob irgendwas anliegt. Aber es ist ruhig und wir können einrücken.

 

In der Wache sitzen einige Kollegen zusammen, als wir den Aufenthaltsraum betreten. Markus hat die Füße auf dem Tisch ausgestreckt, lieblos gibt Roland Markus einen Schubs und pflaumt ihn an: "Nimm die Füße vom Tisch, wenn eine Dame im Zimmer ist.“

Bernd stellt den Wasserkocher für meinen Tee an und gießt sich selbst einen Kaffee ein. Wir setzen uns zu den anderen, ich ziehe meine Schuhe aus und lege die Füße nicht ganz damenhaft auf den Tisch, was dazu führt, dass Markus murmelt: ” so viel zu der Dame", seine Füße ebenfalls wieder auf den Tisch zurückbefördert, so dass unsere Fußsohlen zusammenstoßen und wir uns anlachen.

 

Natürlich drehen sich die Gespräche um die Arbeit und die kleinen und großen Geschichten, die man so erlebt.

Einer der Rettungsassistenten hatte am Vortag eine lustige Begebenheit: Der diensthabende Rettungsmediziner wurde zu einem Alkoholiker gerufen, der den gleichen Nachnamen hatte wie besagter Notarzt. Da der Patient so weit stabil, aber dennoch stark alkoholisiert war, schrieb der Arzt eine Einweisung zur Entgiftung aus. Im Eifer des Gefechtes setzte der Arzt, wohl auf Grund der Namensähnlichkeit, seine eigenen Daten ein. Was zu einem leichtem Durcheinander in der Klinik führte, da die Daten auf der Einweisung nicht mit denen der Krankenkassenkarte übereinstimmten. Es hat wohl eine ganze Weile gedauert, bis die Fehlerquelle gefunden war. Das Geschehen sorgt natürlich auch hier am Tisch für allgemeine Heiterkeit, aber auch für bissige Bemerkungen. Der Arzt, von dem die Rede ist, trinkt selbst ganz gern und so einigen sich alle darauf, dass er dort in der Klinik auch recht gut aufgehoben wäre. Markus will wissen, ob der Doktor auch im Dienst trinkt, aber das weiß niemand so genau. So selten sei so etwas aber nicht, merkt Roland an. Tatsächlich ist die Suchtrate bei Medizinern wissenschaftlich belegt sehr hoch.

Medikamentenabhängigkeit kommt genauso oft vor, wie Alkoholsucht. Suizide sind auch keine Seltenheit.

Eine Weile diskutieren wir mit Bernd, der als Arzt ja schließlich stark gefährdet ist, woran das wohl liegen könnte. Bernd ist sich sicher, dass die Kollegen den Berufsstress nicht verkraften. Überstunden, unkoordinierte Dienstpläne und die Hilflosigkeit im Umgang mit Patienten seien wohl Ursachen dafür.

“Na Doc, dann pass mal gut auf dich auf. Und wenn du mit deiner Welt nicht mehr klar kommst, kein Bier, sondern ein Kaffee bei uns." Markus grinst Bernd frech an.

“Jawohl und dann breiten wir unsere Decke aus, stellen eine Problemkerze darauf und bei einem schönen Milchkaffee werden wir uns dann unseren Kummer von der Seele reden. Du deinen und ich meinen. Hoffentlich habe ich bald mal ein Problem, dass groß genug ist. Ich freue mich wirklich auf ein Meeting mit dir, Markus, So ganz nach dem Motto: Pares cum paribus facillime congregantur!“ Die verständnislosen Blicke von Markus bringen uns alle zum Lachen. "Das heißt: Gleich und gleich gesellt sich gern!“, werfe ich ein. Jetzt sehen mich alle verdutzt an, besonders Bernd, "Hoppla, ein intelligentes Wesen an meiner Seite, Wie komnmt's?“ Bernd sieht mich staunend an. “Nicht alle Frauen sind so unintelligent, wie du immer glaubst.“

“Soll das heißen du hast Abitur?"

“Was hat Intelligenz bitte mit dem Abitur zu tun? Aber ja, mein Lieber. Ich habe Abitur und ich habe seinerzeit den Numerus clausus geschafft."

"Warum um alles in der Welt hast du nicht studiert?"

“Habe ich doch, Philologie und Historiologie,."

"Aha, und warum arbeitest du jetzt in der Pflege und im Rettungsdienst?“

"Weil es mir sinnvoller erschien, als Gymnasiasten in Literaturkunde und Geschichte zu unterrichten."

"Du meinst, du hättest als Gymnasiallehrerin arbeiten können? Geht das denn so einfach?"

"Ich habe in Philologie promoviert und damit war der Weg ans Gymnasium offen. Ist er immer noch."

"Eine Frau Doktor! Das gibt es ja gar nicht. Ich verstehe nur nicht, warum du dich degradiert hast?"

“Ich habe mich nicht degradiert, sondern umorientiert. Das ist bitte schön etwas anderes.“

"Aber wenn du jetzt als Rettungsassistentin arbeitest, warum hast du dann nicht gleich Medizin studiert?"

"Weil mein Vater Mediziner war und meine fünf Brüder haben ebenfalls Medizin studiert. Ich wollte einfach was anderes können, etwas, wo die sechs nicht unbedingt immer mitreden konnten."

"Ich kann's nicht fassen," murmelt Bernd und auch die anderen Kollegen gucken erstaunt, aber auch beeindruckt.

Doch bevor wir die Angelegenheit vertiefen können, melden sich unsere Pieper wieder. Diesmal handelt es sich um eine junge Frau, die sich die Beine mit kochender Suppe verbrüht hat, Sie hatte den Topf auf den Küchentisch stellen wollen und dabei war er ihr aus der Hand gerutscht.

Die Verbrühungen an den Beinen sehen schlimm aus und die Patientin hat natürlich heftigste Schmerzen. Ihr Freund hatte sie geistesgegenwärtig unter die Dusche geschleppt und die Verbrühungen vorsichtig mit kaltem Wasser gekühlt. Bernd entschließt sich, der Patientin, deren Vitalwerte trotz des Schocks und der Schmerzen noch recht gut sind, Morphin zu spritzen. Langsam wird sie ruhiger und stöhnt nur noch leise vor sich hin. Bernd legt einen Zugang und ich lasse schon fast im Schuss "Ringer-Lactat" durchlaufen. Dieses Mal muss Bernd die Patientin begleiten. Es besteht die große Gefahr, dass sie im RTW durch den bestehenden Schock und die Morphingabe abrutscht. Das könnte bedeuten, dass es zu einer massiven Kreislaufstörung kommt und dann muss schnell gehandelt werden.

 

Während Bernd in den RTW steigt, fahre ich mit dem NEF wie gewohnt hinterher. Nach einer Weile nehme ich Bernd am Krankenhaus wieder in Empfang. Ich habe inzwischen in der Notaufnahme unseren Bestand an Braunülen und Infusionslösungen aufgefüllt und den notwendigen Schreibkram erledigt, so dass Bernd nur noch unterschreiben muss. Vor allem der Verbrauch der Morphin Ampullen muss peinlich genau im BTM-Buch eingetragen werden, um einem Missbrauch von Betäubungsmitteln vorzubeugen.

 

Wir können wieder einrücken.

Ich bin heilfroh, denn das Fahren wird langsam zur Qual. Ich habe keine Ahnung, was ich gegen die Rückenschmerzen unternehmen soll.

Während wir Richtung Wache fahren, erzählt mir Bernd ganz verzückt, dass er selten so ein hübsches Mädchen gesehen hat, wie die junge Frau eben.

"Das müsste man doch wirklich öfter haben," murmelt er. "Hättest ja Gynäkologe werden können," sage ich.

"Orthopäde!"

"Orthopäde?"“

"Ja, so wie die aussah, betreibt die bestimmt Sport. Wahrscheinlich Tennis oder Volleyball. Und dann kommen alle diese hübschen Mädchen in meine Praxis, mit ihrem Tennisarm und ihren verstauchten Knöcheln ...”

“... und die netten alten Omis mit ihrer Osteoporose." Ich kann nichts dafür, aber ich muss lachen.

“Du kannst einem wirklich jede Illusion rauben, du olle Spaßverderberin."“

Bernd macht auf beleidigte Leberwurst, aber an dem lustigen Flackern in seinen schönen braunen Augen erkenne ich, dass er selbst kurz davor ist, laut loszulachen. Schließlich müssen wir beide so heftig lachen, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als rechts ran zu fahren und anzuhalten. Passanten, die an unserem Wagen vorüber kommen, bleiben kopfschüttelnd stehen.

“Ich wusste nie so genau, warum ich auf keinen Fall Orthopäde werden wollte. Jetzt weiß ich es, tausend Dank mein Engelchen."

 

Leider haben wir keine große Pause: Der nächste Einsatz ist ein schwerer Verkehrsunfall auf einer Landstraße. Um dorthin zu gelangen, muss ich quer durch die Stadt fahren. Langsam setzt der Feierabendverkehr ein und es wird kompliziert mit dem Fahren. Überall gleichzeitig müsste man die Augen haben. Hier heile und ohne Kratzer oder noch Schlimmerem durchzukommen, ist die hohe Kunst des Fahrens von Alarmfahrzeugen. Ich schlängele mich im Slalom durch den Verkehr. Ich kenne meinen Wagen und habe von Natur aus ein gutes Augenmaß. Während Bernd einige Male hörbar nach Luft schnappt, weiß ich genau, dass es passt. Ich ramme weder ein anderes Fahrzeug noch eine Bordsteinkante. Als der Weg freier wird, merke ich, wie sich Bernd neben mir wieder entspannt.

"Ich weiß ja, dass du fahren kannst. Aber manchmal denke ich doch, das passt jetzt nicht. Aber erstaunlicherweise passt es immer wieder."

Eine Antwort hat er jetzt sicher nicht erwartet, stattdessen grinse ich in mich hinein. Seit fast acht Jahren fahre ich Alarmfahrzeuge jeder Größenordnung unfallfrei und verfüge auch über Führerscheinklasse 2. Ehrlich gesagt, bin ich stolz auf mich.

 

Als wir am Unfallort eintreffen, gibt es richtig Arbeit. Zwei schwerst Verletzte mit Polytraumen und einige Leichtverletzte beschäftigen uns eine ganze Weile.

 

Auf der Landstraße hatte ein junger Mann versucht, einen vor ihm fahrenden PKW zu überholen und ein entgegenkommendes Fahrzeug übersehen. Die beiden waren frontal ineinander gerast.

Um uns herum herrscht ein fürchterliches Chaos. Überall liegen Glassplitter und Metallteile. Auseinander gestreutes Papier flattert über die Fahrbahn. Gegenstände, die sich in den Fahrzeugen befunden hatten, liegen jetzt wild verstreut auf dem nassen Asphalt.

Es regnet heftig, aber vor angestrengtem und konzentriertem Arbeiten spüren wir es gar nicht. Selbst meine Rückenschmerzen sind für den Augenblick verschwunden.

 

Mit allen Mitteln kämpfen wir um das Leben des jungen Mannes, der den Unfall verursacht hat.

Bernd legt einen Tubus, um die künstliche Beatmung zu ermöglichen, und ich reiche ihm die benötigten Utensilien an. Vorsichtig schiebt Bernd den Tubus durch das Larynkoskop. Plötzlich schießt hellrotes, schaumiges Blut aus dem Tubus. Entsetzt und bestürzt sehen wir uns an. Bernd ist völlig fassungslos:

"Es hat doch vorher nicht geblutet." Hilflos sieht er mich an, während ich den Tubus wieder entferne.

Erlebt er das wirklich zum ersten Mal? Ich habe das schon einige Male erlebt, während meiner rettungsdienstlichen Laufbahn. Die Lunge des jungen Mannes ist massiv verletzt, höchstwahrscheinlich ein Lungenriss. Das Blut fließt jetzt nicht mehr nur in den Brustkorb, sondern bahnt sich seinen Weg über die Bronchien und die Luftröhre nach draußen. Unser Tubus, der eigentlich Leben retten sollte, hat es möglich gemacht.

Das Blut hat überall Spritzer hinterlassen.

 

Nachdem der Tubus entfernt ist und ich den Kopf des jungen Mannes auf die Seite gedreht habe, läuft das Blut im gleichbleibendem Strom auf die nasse Straße. Wir können dem jungen Mann nicht mehr helfen.

Wie versteinert knien Bernd und ich vor dem Patienten und sehen hilflos seinem Sterben zu. Einer meiner Kollegen hält immer noch krampfhaft die Infusionen hoch, obwohl sie längst überflüssig geworden sind.

Endlich zeigt das EKG die erhoffte Nulllinie. Wir lassen sie einen Moment laufen. Ich sehe Bernd an, er nickt mir zu und ich schalte das Gerät ab.

Wir haben verloren.

Bernd muss keinen der Patienten begleiten. Trotz unserer Bemühungen verstirbt der junge Mann - noch auf der Straße liegend.

Diese Erlebnisse gehen immer unter die Haut und nagen an der Substanz. Der Tod ist für mich eigentlich nichts Erschreckendes, er gehört zum Lebenskreislauf dazu, aber wenn man bei einem so jungen Menschen hilflos daneben steht und nichts tun kann, ist das bitter. Daran werde ich mich nie gewöhnen und das ist auch gut so. Es gibt nichts Schlimmeres, als abzustumpfen.

Der andere Patient wird vom Rettungshubschrauber aufgenommen, dort ist ein Arzt an Bord, der schon die ganze Zeit "seinen" Patienten vor Ort betreute und verarztete. Am Rande hat er mitbekommen, wie wir aufgeben mussten.
Bernd steht immer noch ganz benommen da, starrt auf die rote Blutlache zu seinen Füßen, die sich langsam mit dem Regenwasser mischt und kann es nicht fassen. Der Kollege klopft ihm aufmunternd auf den Rücken und streicht mir kurz über den Arm. Er versteht genau, wie wir uns fühlen. Die weiteren Unfallopfer können von den Besatzungen der RTWs betreut werden.

Längere Zeit habe ich in gebückter Haltung bei den beiden Schwerverletzten gekniet. Der jetzt heftige Schmerz in der Lendenwirbelsäule macht mir klar, dass das wohl nicht gerade die beste Haltung war.
Der Schmerz wird so heftig, dass mir der Schweiß ausbricht und ich Übelkeit verspüre. Krampfhaft halte ich mich an unserem Wagen fest. Jetzt plötzlich umzukippen‚ würde mir gerade noch fehlen. Bernd sieht mich besorgt an.
"Ist dir nicht gut?"
"Diese Rückenschmerzen bringen mich heute noch um," bringe ich trotz der zusammengebissenen Zähne hervor.
"Du hast immer noch Rückenschmerzen? Warum zum Teufel sagst du denn nichts? Muss ja schlimm sein, wenn dir schlecht wird. Möchtest du, dass ich mir das in der Wache mal ansehe? Mache ich wirklich gerne." Fragend und besorgt sieht Bernd mich an.
"Ach was, es geht schon wieder. Es war nur die gebückte Haltung. Aber das ließ sich ja nun nicht vermeiden.“

Ich will in den Wagen einsteigen, da sehe ich ihn plötzlich vor uns stehen. Ein Mann, vielleicht Mitte vierzig. Obwohl es eiskalt draußen ist und in Strömen regnet, trägt er keine Jacke. Das Oberhemd ist völlig durchnässt, Wasser tropft ihm aus den Haaren und läuft über sein Gesicht. Trotz der Wassertropfen sehe ich überdeutlich die Tränen, die sich ihren Weg über das Gesicht bahnen. Die Ähnlichkeit mit dem gerade verstorbenen jungen Mann ist eindeutig. Ich lasse die Autotür los und gehe, wie hypnotisiert, auf den Mann zu. Mit unsicheren Schritten kommt er mir entgegen.

Wir bleiben voreinander stehen.
"Er ist Ihr Sohn, ja?“ Ich versuche ihm in die Augen zu sehen, was bei dem Regen ein bisschen schwierig ist.
Der Mann nickt nur. Ich kann nicht anders, ich muss ihn einfach umarmen. Er lässt es sich, anfangs etwas zögernd, gefallen und klammert sich schließlich wie ein Ertrinkender an mir fest. Sein Körper wird von einem heftigen Schluchzen geschüttelt. Inzwischen steht Bernd neben uns, immer noch nicht begreifend, was vor sich geht. Schließlich gelingt es ihm aber, mich aus der Umklammerung zu befreien und dem völlig verzweifelten Mann seine Jacke über zulegen. Bernd sieht mich immer noch verständnislos an.
"Er ist der Vater,“ flüstere ich Bernd zu und zeige mit einem Kopfnicken auf die Leiche des jungen Mannes, die mittlerweile mit einer Plane bedeckt ist.
Bernd sieht mich entsetzt an. Er nimmt den Mann am Arm und verfrachtet ihn in unser Auto.
"Wie lange steht der denn schon da?" Bernd sieht mich durchdringend an, als wäre ich persönlich schuld daran, dass wir die Anwesenheit des Mannes nicht mitbekommen haben.
"Ich weiß es nicht. Was machen wir denn jetzt?"
"Wir fahren ihn nach Hause, was denn sonst? Ich sag der Polizei Bescheid."
Während ich ins Auto steige, sehe ich Bernd zu, der auf einen der Polizisten zugeht und mit ihm spricht. Dieser schaut zu unserem Auto herüber und an seinem Gesichtsausdruck sehe ich, dass er von der Anwesenheit des Mannes genauso wenig wusste wie wir.
"Haben Sie vielleicht ein Taschentuch für mich?“
Ich zucke erschrocken zusammen.
„Ja, natürlich.” Ich krame im Handschuhfach, bis ich die Taschentücher gefunden habe und reiche das Päckchen nach hinten.
„Wenn es Ihnen recht ist, fahren wir Sie nach Hause oder sind Sie mit dem Auto hier?“
"Nein - ich meine ja. Blödsinn - ich wollte sagen, ein Nachbar hat mich hergefahren. Der ist aber weg, glaube ich.”
"Sie müssen mir nur sagen, wohin.“
Bernd kommt zurück zum Auto und steigt ein. Fragend schaut er nach hinten.
"Geht es wieder?"
"Ja, es tut mir leid."
"Das muss Ihnen nicht leidtun, wir verstehen das."
"Ich weiß nicht, ich muss es meiner Frau sagen. Christian war unser Einziger."
Christian hieß er also, wie einer meiner Brüder. Plötzlich ist er für uns nicht mehr "nur" ein junger Mann, der durch Unachtsamkeit zu Tode gekommen ist, plötzlich hat er einen Namen und wird irgendwie greifbarer, nimmt Gestalt an.

Wie war das mit der Abstumpfung? Lieber Himmel, wir sind ja schon abgestumpft, wir merken es bloß nicht. Wir sind längst so abgestumpft, dass wir hinter der Leiche eines jungen Mannes nicht die Tragödie sehen, die sich dahinter verbirgt. Im Augenblick kann ich mich selbst nicht ertragen.

Auf dem Weg zum schmucken Eigenheim von Christians Eltern, muss ich daran denken, dass mein Sohn René im gleichen Alter ist wie Christian. Wie würde ich mich wohl fühlen, würde mir jemand die Todesnachricht überbringen. Den bloßen Gedanken daran kann ich nicht ertragen.
Im Rückspiegel betrachte ich immer wieder das Gesicht von Christians Vater. Es ist vor Schmerz wie versteinert. Er weint nicht mehr, aber ich sehe ihm an, dass es ihn viel Überwindung kostet.
Schließlich halte ich vor dem Einfamilienhäuschen. Ich sehe Bernd fragend an und unmerklich nickt er mir zu.
Wir verstehen uns auch ohne viel Worte und steigen beide aus. Bernd hält die hintere Tür auf und Christians Vater steigt aus. Mit unsicheren Schritten geht er vor uns her. Wir durchqueren einen gepflegten Vorgarten, der jetzt aber in herbstlicher Trostlosigkeit daliegt. Linker Hand befindet sich eine Doppelgarage. In der einen Hälfte steht die typische Mittelklasse Limousine, die andere ist leer. Ob hier vor vielleicht zwei Stunden noch das Auto von Christian stand? Mir läuft es kalt den Rücken runter.

Die Haustür öffnet sich und im Türrahmen steht eine dunkelhaarige Frau, die höchstens vierzig Jahre alt ist. Fragend sieht sie uns entgegen. Schließlich konzentriert sie sich auf die Augen ihres Mannes. Er sagt kein Wort und dennoch weiten sich ihre Augen vor Entsetzen.
In letzter Sekunde kann Bernd sie auffangen, ehe sie auf die Fliesen im Windfang stürzt.
Gemeinsam verfrachten wir die Frau im Wohnzimmer auf die Couch. Ich greife nach der sauber zusammengelegten Wolldecke auf der Lehne, um sie ihr über zulegen, aber ihr Mann nimmt sie mir aus der Hand und wickelt seine Frau liebevoll darin ein.
Genauso liebevoll wiegt er sie in seinen Armen. Ich bin fasziniert von so viel überdeutlicher Liebe, dass ich nicht bemerke, dass Bernd hinaus gegangen ist, um unseren Koffer zu holen.
Er zieht, ohne lange zu fragen, ein Sedativum auf und injiziert es der verzweifelten Frau. Christians Vater hält seine Frau weiterhin im Arm und spricht leise und zärtlich auf sie ein.
Wir sind hier überflüssig und so mache ich auf dem Absatz kehrt und gehe. Bernd folgt mir zögernd.
Wir sind schon am Auto, als mir auffällt, dass Bernd keine Jacke trägt. “Deine Jacke." Bernd sieht mich im ersten Moment etwas befremdet an, begreift aber schließlich, was ich meine. Wir sehen beide zum Haus hin. Natürlich haben wir die Haustür hinter uns zugezogen. Nun muss einer von uns wohl klingeln gehen. "Mist," murmelt Bernd und macht sich auf den Weg zur Tür. Aber ehe er dort ankommt, wird sie geöffnet. Christians Vater steht mit Bernds Jacke im Flur. “Sie haben ihre Jacke vergessen. Meine Frau schläft jetzt und was ich fragen wollte, möchten Sie nicht noch einen Kaffee trinken. War doch ziemlich kalt da draußen, oder?"
Bernd dreht sich zu mir um. Offenbar weiß er nicht, wie er reagieren soll. So ganz genau weiß ich es allerdings auch nicht. Ich verlasse mich auf mein Gefühl, wie so oft, und gehe den Weg durch den Vorgarten wieder zum Haus zurück.
"Bitte!" Christians Vater hält uns die Tür weit auf. Ich nicke. Bernd schaut ein bisschen ratlos, aber da ich mich entschlossen habe, betritt auch er das Haus wieder.
Ich rufe erst einmal Joachim an, damit der sich nicht wundert, wo wir stecken. Einsatzfähig wären wir ohnehin nicht. Wir haben zu viel Material verbraucht, das wir erst wieder auffüllen müssen.

Christians Vater erzählt uns mit leiser Stimme von seinem Sohn, zeigt stolz Fotos und die Pokale vom Reitverein, die von gewonnenen Springturnieren zeugen. Ein bisschen beklommen hören wir ihm zu und wissen selbst nichts zu sagen. Schließlich halte ich es nicht mehr aus und frage ihn, wie lange er schon an der Unfallstelle war.
Er sieht mich lange still an, nickt dann und sagt leise: “Ich habe Ihre Bemühungen gesehen, das viele Blut und Christians Gesicht. Es war so weiß, wie Wachs sah es aus. Er ist wohl verblutet?"

Bernd sieht ihn einen Moment nachdenklich an und nickt dann. Christians Vater nickt ebenfalls und fällt dann in Schweigen.
Leise stehen wir auf und lassen ihn mit seinen Gedanken allein.

Wir sitzen still im Auto, jeder hängt seinen Gedanken nach. "Wieso bist du wieder umgekehrt?“ Bernd betrachtet mich von der Seite.
"Weil dieser Mann nicht alleine sein konnte.“ "Aha, und jetzt kann er?"
"Ja."
Bernd betrachtet mich nachdenklich.
"Wieso weißt du so etwas?“
"Ich weiß nicht. Ich spüre so etwas einfach.“

„Weißt du, dass das eine Gottesgabe ist?"
"Nein, das ist Feinfühligkeit."

"Sage ich ja."

Ich starre durch die Windschutzscheibe, über die der Scheibenwischer hin und her kratzt, ins Leere. "Weißt Du, dass wir schrecklich sind? Wir erleben hautnah den Tod eines jungen Menschen mit und gehen dann einfach zur Tagesordnung über. Ich finde das schrecklich, einfach unerträglich finde ich uns.", bricht es aus mir hervor. Bernd sagt nichts. Längere Zeit schweigen wir beide. Schließlich fahre ich rechts ran und steige aus. "Was ist denn?" Bernd kommt um den Wagen herum und bleibt direkt vor mir stehen. Ich kann nicht anders, mir laufen die Tränen die Wangen hinunter. Ich drehe mich um und stütze mich auf das Autodach, von einem Weinkrampf geschüttelt. Fassungslos nimmt Bernd mich in den Arm und hält mich fest. Zum zweiten Mal an diesem Tag sorgen wir für Aufsehen. "Du lieber Himmel, Tina. Du bist einfach zu gut für diese Welt. Komm, hör auf zu weinen. Wenn du um jeden Toten weinen würdest, würdest du nie wieder aufhören können. Und dann ist da noch etwas. Wenn jetzt meine Freundin um die Ecke käme, was glaubst du wohl, wie ich ihr das erklären sollte. Tina, bitte. Hör auf zu weinen." Langsam beruhige ich mich und nach einer Weile können wir weiterfahren und rücken ein.

Mittlerweile ist es draußen dunkel. Wir haben längst Feierabend.
In der Wache starren uns alle interessiert an. Roland kommt auf uns zugeschossen und will Einzelheiten über den Verkehrsunfall wissen. Bernd schiebt ihn einfach zur Seite, während ich mich in den Umkleideraum verziehe. Dort bemerke ich erst, dass ich von oben bis unten mit Blutspritzern übersät bin. Selbst im Gesicht und in den Haaren finde ich Christians Blut.
Ich steige unter die Dusche und lehne mich mit der Stirn müde und resigniert an die weißen Kacheln. An manchen Tagen kann ich meinen Job nicht mehr ertragen, aber ohne ihn könnte ich auch nicht leben.

Als ich umgezogen zurückkomme, hat Bernd die Koffer wieder aufgerüstet und an die Kollegen übergeben, die gerade zu einem weiteren Notfall ausrücken.
“Ich habe Teewasser aufgesetzt. Du trinkst doch noch einen?" Bernd sieht mich erwartungsvoll an.
Ich lehne mich an die Spüle und nicke. Während Bernd Teebeutel in eine Kanne hängt und Teetassen aus dem Schrank holt, versuche ich meine Gedanken zu ordnen. "Bernd?"
"Sprich dich aus mein Engel." Bernd nickt mir aufmunternd zu.
“Ich muss mich entschuldigen. Das war wohl nicht sehr Profihaft. Ich hätte mich besser im Griff haben sollen."

"Profihaft? Wann ist man denn ein Profi? Wenn man so abgebrüht ist, das man mit keiner Wimper mehr zuckt und an akutem Blaulichtsyndrom leidet? Nein, nein, mein Engel. Wenn hier einer der Profi ist, dann bist du es.
Ja, ich weiß - du brauchst gar nichts zu sagen. Mir haben sie auf der Uni auch eingetrichtert, man soll mit möglichst wenig Emotionen an die Arbeit gehen; sich nicht so sehr mit den Patienten identifizieren und jede Menge Abstand halten und noch mehr von diesem idiotischen Quatsch. So ein Eisklotz bin ich nicht, könnte ich auch nie sein, will ich auch gar nicht, weil es nämlich wirklich bescheuert ist. Aber du - du bist etwas ganz Besonderes. Du hast nicht nur Mitgefühl, du kannst es auch zeigen.
Weißt Du - wie du auf diesen Mann zugegangen bist, ihn einfach umarmst hast, dass ist Profihaft.
Oder heute Morgen mit dem kleinen Nikolas. Der hat sich wohlgefühlt bei dir, weil du im entscheidenden Moment das Richtige tust; weil du dich traust, emotional zu handeln. Du bist durch und durch ein Profil.
Und jetzt sag ich dir was, ganz unter uns: Ich finde es toll, dass du einfach losweinen kannst und dich deiner Tränen nicht schämst. Wir haben heute einen Patienten verloren. Mir ist zum Heulen, ganz ehrlich, aber ich habe gelernt, dass man sich zusammenreißt. So ein Schwachsinn! Du bist von uns beiden der wirkliche Profi und ich hoffe, dass wir noch oft zusammenarbeiten werden, weil ich viel von dir lernen kann. Komm her, mein Engel!“
Bernd umarmt mich und gibt mir einen Kuss auf die Nase. Die Welt ist wieder in Ordnung.

Eine kleine Weile später machen wir uns beide auf den Heimweg.
"Was macht denn eigentlich dein Rücken?"
"Tut nach wie vor weh, aber das habe ich ja öfter mal."

"Hoffentlich ist es nichts Ernstes. Wenn es nicht besser wird, gehst du aber zum Arzt, hörst du?“
"Es ist nichts Ernstes. Höchstens mal wieder Verspannungen, das kriege ich mit Fango und Massage wieder in den Griff."
"Na du, ich weiß nicht. Wenn du so heftige Schmerzen hast, dass dir geradezu schlecht davon wird, fürchte ich, sind das keine harmlosen Verspannungen mehr. Hast du Montag Dienst?“
„Ja, Stationsdienst.“
"Ich rufe dich an. Aber geh' wirklich zum Arzt, wenn es nicht besser wird."
„Bernd, bitte!”
„Sag' nicht immer "Bernd bitte, sondern tu einmal, was man dir sagt. Auch ein Rettungsassistent kann mal krank werden. Ich hoffe für dich, dass es nichts Ernstes ist. Tina, bitte versprich mir, zum Arzt zu gehen, wenn es nicht besser wird."
"Na schön, ich verspreche es dir. Darf ich jetzt nach Hause fahren?"
"Ja, aber fahr' vorsichtig."
"Tu ich doch immer. Gute Nacht!"
"Schlaf gut! - Und Tina, ich finde wirklich das du ein Profi bist."
Ein kurzes Winken und er ist im Dunkeln verschwunden.

Als ich nach Hause komme, steht mein Göttergatte bereits im Mantel an der Tür.
"Willst du noch weg?"
"Ich fahre doch morgen nach Berlin. Deshalb fahre ich jetzt zum Betriebshof und hole den Bus."
"Dauert das lange?" Ich bin ein bisschen enttäuscht. Gerade heute Abend hätte ich mich gerne an Michael gekuschelt, klassische Musik gehört, ein Glas Wein getrunken und meine trübe Stimmung vergessen.
"Ich schätze eine Stunde, vielleicht auch ein bisschen länger. Ich verspreche, dass ich mich beeilen werde."
"Na ja, wenn es denn sein muss.“
"Die Kinder sind im Bett, aber sieh' noch mal bei ihnen rein, ja? In der Küche steht ein Salat für dich, liebevoll von uns für dich fabriziert. Wenn er dir nicht reicht, schau in den Kühlschrank.“

Ich werfe einen Blick in die Küche und entdecke auf dem Tisch ein große Schale mit Salat, garniert mit Schinken und Putenfleisch, verziert mit...
"Michael, kommst du noch mal zurück?"
"Ach Tina, so komme ich doch nie weg. Was ist denn?"
Die Stimme meines Mannes klingt genervt.
"Wie lange kennen wir uns?" Erwartungsvoll sehe ich meinen Mann an, der in der offenen Küchentür lehnt.
"Verheiratet sind wir fast sieben Jahre."
"Danach habe ich nicht gefragt."
"Lass mich überlegen - zehn Jahre? Was soll die blöde Frage überhaupt?"
Triumphierend halte ich die Salatschüssel hoch.
"Na schön, na schön - ich gebe es zu. Wir sind seit zehn Jahren liiert, davon nahezu sieben Jahre verheiratet und ich habe es bis zum heutigen Tag nicht begriffen, dass du Ananas nicht ausstehen kannst."
Während mein Mann mit einer Hand die Ananas von meinem Salat sortiert und sich selbst in den Mund schiebt, angelt er mit der anderen Hand im Kühlschrank nach einer Dose mit halben Pfirsichen. Dann verziert er meinen Salat mit einem halben Pfirsich, packt darauf eine Gurkenscheibe, auf diese wiederum ein Radieschen und als Krönung obendrauf ein Büschel Petersilie. Schließlich reicht er mir stolz die Salatschale zurück.
"Was soll das denn sein, die Bremer Stadtmusikanten als Gemüseausgabe?" Staunend schaue ich mir das Gebilde an, das langsam aber sicher an Stabilität verliert und schließlich unschön in sich zusammenfällt.
Eine Antwort bekomme ich nicht mehr. Ich höre lediglich noch, wie die Haustür ins Schloss fällt.

Ich stelle den Salat auf den Tisch und schleiche mich in Richtung Kinderzimmer. Zuerst sehe ich bei Sarah rein. Sie liegt zusammengerollt wie ein Igel Kind in ihrem Bettchen, den Daumen im Mund und schläft tief und fest. Vorsichtig decke ich sie richtig zu und streichle ihr blondes Haar. Amrei schläft ebenfalls tief und fest, ihren Plüsch Affen fest in die Arme geschlossen. Auch hier zupfe ich die Bettdecke zurecht und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. Nur Tim ist noch wach. Als ich vorsichtig in sein Zimmer gucke, flüstert er mir leise zu: "Schön das du wieder da bist. Gab es heute einen Unfall, zu dem du fahren musstest?" Tim möchte immer alles ganz genau wissen.
"Ja, ich war heute bei einem Unfall, Tim."
"War es schlimm?"
"Es ist immer schlimm, mein Großer. Aber ich möchte, dass du jetzt schläfst."
“Mami, ich habe dich schrecklich lieb."
„Ich dich auch, Tim. Schlaf schön!"
Leise ziehe ich seine Zimmertür ran.

Im April hätten wir unseren Tim beinahe durch eine schwere Lungenentzündung verloren. Fast zwei Wochen Intensivstation, viele schlaflose Nächte unsererseits und harte Kämpfe der beteiligten Ärzte hatte es gekostet, dass Leben unseres Kindes zu retten.
Die Antibiotika schlugen nicht an. Zu allem Überfluss verursachten die Medikamente eine schwere Darmblutung und Tim war schließlich so entkräftet, dass er aufgab. Ich bin überzeugt davon, nur die Liebe zu unserem Kind und das unerschütterliche Ausharren an seinem Bett, haben dafür gesorgt, dass er bei uns blieb.
Ich lehne an der Wand und denke darüber nach, dass das Schicksal es mit uns noch einmal gut gemeint hat. Aber wenn ich an Christian denke, wird mir nur allzu deutlich klar, wie schnell alles vorüber sein kann.

Schließlich lasse ich meinen Abend mit der "Rhapsody on a Theme of Paganini" von Rachmaninow, Musik die genau zu meiner düsteren Stimmung passt, und einem Glas kalifornischem Zinfandel ausklingen,

Als Michael nach Hause kommt, habe ich mich längst mit einem Buch ins Bett verzogen.

 

 



 



 

 

 

Kapitel 2

 

 

 

Etwas genervt stehe ich am nächsten Nachmittag mit meinen drei Kindern Tim, Amrei und Sarah an der Bushaltestelle. Wie geplant war Michael am Morgen zu einem dienstlichen Wochenende nach Berlin aufgebrochen.

 

Dummerweise hatte ich den Kindern versprochen, mit ihnen in die Stadt zu fahren, um farbige Fensterfolie zu besorgen. Der hartnäckige Schmerz in meiner Lendenwirbelsäule, der tatsächlich in keinster Weise nachgelassen hat, macht mir zu schaffen und zu allem Überfluss regnet es immer noch. Der Stadtbus lässt auch auf sich warten - wie immer!

 

Sarah turnt an einem Holzzaun herum. "Sarah, verschwinde da gefälligst. Du saust Dich ja völlig ein. Wie soll ich denn jemals deinen Mantel sauber bekommen?" Ich reagiere völlig überreizt und so guckt mich Sarah auch erstaunt an. So ungehalten reagiere ich normalerweise nicht. "Sarah, komm da weg!" Tim muss sich natürlich wieder einmischen. "Halt die Klappe, du bist ja bescheuert!" Sarah baut sich vor Tim auf. "Und du bist eine blöde Kuh!" "Wenn ihr nicht augenblicklich alle beide aufhört, gehen wir postwendend wieder nach Hause! Diesen Ton möchte ich bitte nicht wieder hören!"

Ehrlich, schicken Sie Ihre Kinder in den Kindergarten oder die Schule und sie lernen alle die Dinge, die Sie Ihnen bestimmt nicht beibringen wollten.

 

Eigentlich würde ich jetzt viel lieber in meinem warmen Bett liegen und mich mit einem guten Buch von den quälenden Rückenschmerzen ablenken, anstatt mich über die Kinder aufzuregen.

Ich hatte aber nun einmal die Bastelei, nämlich Herbstbilder für die Fenster in den Kinderzimmern mit Fischen und Seepferdchen für das Badezimmer, aus farbiger Folie auszuschneiden, versprochen. Ich wollte die drei freien Tage dafür nutzen, weil ich in der Woche meistens nicht zum Basteln komme; und schließlich können meine Drei ja auch nichts dazu, dass ich Rückenschmerzen habe.

 

In der Stadt angekommen, tut mir das rechte Bein weh. Jetzt fällt mir auch noch das Laufen schwer. Was zum Teufel geht in meinem Körper vor sich!?

 

Ich quäle mich durch zwei Geschäfte, alles nur wegen dieser blöden Folie. Endlich haben wir gefunden, was wir brauchen und ich möchte auf direktem Weg nach Hause. Aber nun ist Amrei verschwunden.

"Himmel noch einmal, wo ist deine Schwester?" Ich fauche Tim an, der natürlich nichts dazu kann und mich infolgedessen auch beleidigt anguckt.

"Ich bin doch nicht der Aufpasser von der dummen Ziege!"

Wo haben die Kinder bloß diese Nettigkeiten her und wo zum Kuckuck steckt das Kind?

Ein bisschen ratlos sehe ich mich um - und entdecke Amrei, die ganz versunken neben einem dickem Herrn steht und fasziniert zusieht, wie beim Atmen der Bauch des Herrn rauf und runter hüpft.

Ich schnappe Amreis Hand und will mit ihr gehen, als sie laut und vernehmlich fragt:" Mama, ist der schwanger?" Bevor ich dazu komme auf diese Frage zu antworten, trompetet Tim: „Nö, vollgefressen, dass sieht man doch!" Mein Gott, wer hat mich bloß mit diesen freundlichen Kindern gestraft?

Ich ziehe es auf jeden Fall vor, die Flucht zu ergreifen.

 

Die Kinder nörgeln. Tim und Amrei wollen unbedingt noch zu McDonald. Ich schaue auf meine Uhr. Es ist halb sechs. Der nächste Bus fährt in 10 Minuten. Ich bin versucht ihn zu nehmen. Irgendwie verspüre ich den dringenden Wunsch, mich zu Hause lang auszustrecken.

Der Gedanke, Abendessen zubereiten zu müssen, treibt mich schließlich doch in das Fastfood Restaurant.

Während die Kinder sich fröhlich über ihre Hamburger hermachen und mir freudig erregt ihre Schlümpfe unter die Nase halten, die sie in den Juniortüten gefunden haben, kaue ich lustlos und von immer stärkeren Schmerzen geplagt, an meinem Salat herum.

Ich treibe die Kinder an; auf jeden Fall will ich den Bus um 18.20 Uhr erwischen.

 

Natürlich verpassen wir ihn. Es liegt an mir, ich kann kaum einen Schritt vor den anderen setzen. Nun fängt es wieder an zu regnen. Der nächste Bus fährt erst in einer knappen Stunde, ich bin Stock sauer. Der Regen ist eisig, was meinem Befinden auch nicht gerade dienlich ist. Aber schließlich haben wir Oktober, was erwarte ich eigentlich? Wir suchen Schutz vor dem kalten Regen und landen in einem Café. Erfreut futtern meine Kinder ihr Eis. So viel unverhofftes Glück an einem einzigen Tag, können sie kaum fassen. Ich trinke ohne viel Appetit einen Tee.

 

Zu Hause angekommen scheuche ich die Kinder ins Bett. Tim ist wieder mal am Meckern. Ich versuche ihm klar zu machen, dass es mittlerweile fast acht Uhr ist, aber er gibt keine Ruhe. Mir reißt der Geduldsfaden und ich brülle ihn an, was in unserem Haushalt absolut verpönt ist.

Es liegt an den immer unerträglicher werdenden Schmerzen, dennoch sollte ich wirklich versuchen, mich im Griff zu haben. Die Kinder können schließlich nichts dazu.

"Du bist blöd!”, brüllt Tim zurück und knallt seine Zimmertür zu. Ich lehne mich an die Wand und schließe die Augen. Ich bin fix und fertig. Als ich gleich darauf in sein Zimmer komme, ist unser

beider Zorn verraucht. "Tim es tut mir leid, ich wollte dich nicht anbrüllen. Sei

nicht mehr böse mit mir." "Ich wollte auch nicht frech sein. Streichelst du mir noch

ein bisschen den Rücken und singst mir was vor?"

Wir schmusen noch eine Weile, während ich ihm "Schlafe mein Prinzchen, schlaf ein" vorsinge. Dann kuschelt er sich in seine Minnie Mouse Decke und ist zufrieden.

Amrei und Sarah bekommen ebenfalls ihre Streicheleinheiten und ihr "Gute Nachtlied" und es kehrt Ruhe ein.

 

Ich lasse mir ein heißes Bad ein und will gerade in die Wanne steigen, als prompt das Telefon klingelt. Woher wissen die Leute eigentlich immer, dass man gerade in die Wanne oder unter die Dusche will? Oder sogar schon drinsitzt oder darunter steht?

Filius ist dran. Den Spitznamen bekam René von seinem Großvater und er hat sich bis heute gehalten. Selbst seine Kommilitonen nennen ihn so und wahrscheinlich wird er irgendwann einmal als Dr. Filius in die Geschichte eingehen. "Du rufst exakt richtig an, mein Lieber. Ich wollte gerade in die Wanne steigen."

"Sei froh, dass du noch nicht drin gesessen hast. Du würdest sonst den ganzen Teppich im Wohnzimmer voll tropfen und wahrscheinlich ruinieren."

Ich habe wirklich reizende Kinder.

Wir tauschen ein paar wenige Neuigkeiten aus und René stöhnt mir die Ohren voll, dass er rund 300 DM für Fachbücher ausgegeben hat. Dreimal dürfen Sie raten, von wem er das Geld zum Ausgeben hatte.

Als ich denke, ich könnte das Gespräch beenden, stellt mir mein Sohn eine höchst überraschende Frage: "Mum, was ist eigentlich los?"

Wundern Sie sich nicht über das "Mum", mein Sohn hat ein Faible für amerikanische Synonyme. Ich habe mich längst daran gewöhnt, es ist nämlich ober cool, wie mein Sohn mir immer wieder versichert.

"Was meinst du mit, 'was los ist'?"

"Ach komm, ich merke doch, dass irgendwas im Busch ist. Es geht dir nicht gut. Also, was ist los?"

"Nichts Weltbewegendes. Ich habe nur ein bisschen Rückenschmerzen, die werden schon wieder

vergehen."

"Wirklich nur Rückenschmerzen? Nichts anderes? Hast du vielleicht außerdem noch Kopfschmerzen oder Bauchschmerzen? Du weißt ja aus eigener Erfahrung, dass ein akutes Abdomen gefährlich werden kann, nicht wahr? Schließlich hast du das alles ja schon mal ausprobiert."

"Filius, um Gottes willen, hör auf Doktor zu spielen! Du bist noch Lichtjahre davon entfernt. Ich habe wirklich nur Rückenschmerzen, du kannst es mir glauben oder es bleiben lassen!"

"Bist du ganz sicher oder willst du es mir nur nicht sagen?"

Filius klingt ehrlich besorgt und obwohl er mich nervt, fühle ich mich gleich viel wohler bei dem Gedanken, dass ich für meinem Sohn doch wohl wichtig genug bin, dass er sich Gedanken um mich macht. Oder will er vielleicht doch nur mit seinen medizinischen Kenntnissen brillieren, die er noch gar nicht besitzt? Aber jetzt werde ich wohl ein bisschen ungerecht.

“Ich habe wirklich nur Rückenschmerzen und bin deswegen heute ein bisschen unleidlich. Die nächsten Tage habe ich aber frei und bis Montag habe ich das wieder im Griff."

“Brauchst du mich?“ ", "Unterstehe dich nach Hause zu kommen! Es lohnt sich wirklich nicht. Ich werde einfach dieses Wochenende ein bisschen faul sein. Aber jetzt möchte ich wirklich in die Wanne, ehe das Wasser ganz kalt wird."

„Mum, versprich mir, dass du mich anrufst, wenn du mich brauchst. wirklich, ich komme sofort."

“Versprochen, mein Schatz.“ “Du sollst nicht immer mein Schatz sagen!"

“Hört doch keiner, Filius. Lass uns aufhören, bitte."

"Okay. Entspann dich und wenn es dir ein bisschen hilft: Ich liebe dich, Mum!"

Leise lege ich den Hörer auf und lächle in mich hinein.

 

Mein Großer hat sich schwer getan, zu Hause auszuziehen. Obgleich er mittlerweile im vierten Semester ist, hat er immer noch Heimweh und versucht, jede freie Minute zu Hause zu verbringen. Ich kann mir jetzt schon seine potenzielle Ehe vorstellen: In der Woche bei der Gattin, am Sonntag bei Mama. Bei dem Gedanken muss ich nun doch ein bisschen lachen. So weit wird es hoffentlich nicht kommen.

 

Endlich komme ich in die Wanne, allerdings muss ich nun doch noch heißes Wasser nachlaufen lassen. Nach einem ausgiebigen Bad schlüpfe ich schließlich in mein angewärmtes Bett. Wenn doch bloß der Schmerz nachlassen würde!

Die Nacht über schlafe ich schlecht, immer wieder weckt mich der Schmerz, der sofort aufflammt, wenn ich mich auch nur andeutungsweise bewege. Es ist fast nicht möglich, auf dem Rücken zu schlafen, aber auf der Seite geht überhaupt nicht. Und das, wo ich ein ausgeprägter “"Seitenschläfer“ bin.

Zu diesem Zeitpunkt habe ich noch keine Ahnung, dass diese unruhige Nacht für viele Monate ein Dauerzustand werden wird ...

 

Am nächsten Morgen hat sich an meinem Befinden nichts geändert. Im Gegenteil, die Schmerzen werden immer heftiger. Irgendwie mogele ich mich durch den Tag. Mittags setze ich mich hin und fertige Schablonen an. Igel, Äpfel, Birnen, Fische und Seepferdchen. Ich übertrage die Fische und Seepferdchen auf rosa, gelbe und grüne Fensterfolie, während meine Kinder mir aufgeregt auf die Finger sehen.

Meine Gedanken kreisen allerdings nur um den Schmerz, der mich nicht mehr loslässt. Die Figuren schneide ich mechanisch aus.

 

Bernds Worte fallen mir ein. Ich hege jetzt wirklich den dringenden Wunsch, unsere Hausärztin aufzusuchen, aber es ist Samstag.

Natürlich, solche Sachen passieren immer am Wochenende! Genau genommen hätte ich ja auch gestern zu ihr gehen können, aber es kommt mir so vor, als sei der Schmerz gestern längst nicht so heftig und anhaltend gewesen.

Ich überlege, ob ich unsere Hausärztin zu Hause anrufen soll. Sie wohnt bei uns um die Ecke. Ich lasse es bleiben, so krank bin ich nun auch wieder nicht und schließlich braucht sie ihr freies Wochenende auch.

 

Meine Kinder drängen mich, mit der Bastelei weiterzumachen. Also schneide ich Fische und Seepferdchen in diversen Größen aus. Es ist eine einzige Quälerei. Ich kann nicht mehr sitzen.

Vielleicht sollte ich in der Notfallpraxis anrufen, zumindest kann ich ja mal nachfragen, wer an diesem Wochenende mit Dienst dran ist.

Der junge Mann am anderen Ende der Telefonleitung nennt mir den Namen von Dr. S. - ein HNO-Arzt. Ich lege auf und bin restlos bedient.

Ein HNO - Arzt hat von meinem Rücken wahrscheinlich genauso viel Ahnung, wie ein Hamster vom Stricken.

Ich frage mich ernsthaft, warum niemand auf die Idee kommt, solche fachspezifischen Ärzte vom Bereitschaftsdienst auszuklammern. Häufig sind sie mit den Wehwehchen der Wochenendpatienten wirklich überfordert.

 

Eine Zeit lang habe ich bei den Johannitern den Bereitschaftsarzt gefahren und habe selbst solche Fachärzte und ihre Hilflosigkeit erlebt.

So hatten wir einmal einen Gynäkologen dabei, der nicht in der Lage war, einen Herzinfarkt zu diagnostizieren. Ohne das mutige Eingreifen der Krankenwagenbesatzung wäre es dem Patienten schlecht ergangen.

Wenn die Patienten wüssten, wer da manchmal Wochenenddienst hat und wie weit die Fähigkeiten mancher Fachärzte reichen, würden sie wohl auf den Bereitschaftsdienst verzichten und oft gleich den Notarzt alarmieren.

Ich für meinen Teil jedenfalls, verzichte auf einen Besuch in der Notfallpraxis, aber meine Laune bessert das auf gar keinen Fall.

 

Tim trägt mir die ausgeschnittenen Fische und Seepferdchen hinterher. Also mache ich mich daran, die Fliesen in unserem Badezimmer zu verschönern. Mit zusammengebissenen Zähnen verteile ich die Figuren an den Wänden. Zwischendurch kullert verstohlen eine Träne meine Wange hinunter. Die Schmerzen sind fast nicht mehr auszuhalten. Dabei kann ich eigentlich eine Menge vertragen. Ich bin ganz und gar nicht wehleidig.

 

Die Kinder wollen auch noch die Igel ausgeschnitten haben, aber ich kann nicht mehr.

 

Ich bin froh, als ich die drei Quälgeister am Abend glücklich in ihre Betten verfrachtet habe. Zuvor hatte ich mich noch damit herumgequält, Kartoffeln zu Pommes frites zu verarbeiten.

 

Wieder lasse ich mir Wasser in die Wanne laufen und träume vorweg schon von dem heißen Bad, das meine Schmerzen lindert.

Es kommt anders! In der Wanne verstärken sich die Schmerzen noch mehr, mir wird übel. Also quäle ich mich wieder raus und krieche Schmerz gepeinigt in mein Bett.

 

Ich vermisse an diesem Wochenende wirklich René.

Er wäre jetzt eine wertvolle Hilfe, aber schließlich hatte ich ihm ja gesagt, dass er nicht kommen bräuchte. Natürlich fällt mir ein, dass ich ihm versprochen hatte, ihn anzurufen, wenn ich nicht klar käme. Aber morgen ist schon Sonntag und dann ist das Wochenende gottlob vorbei.

 

Am nächsten Morgen sind die Schmerzen so heftig, dass ich nicht aufstehen kann. Nachdem ich Tim klar gemacht habe, was los ist, hilft er Sarah beim Anziehen und versorgt seine beiden kleinen Schwestern mit Frühstück. Mit nur sechs Jahren eine erstaunliche Leistung. Er schneidet ihnen sogar Paprikastreifen zurecht. Ich bin nicht einmal in der Lage, ihn dafür zu loben. Ich habe das Gefühl, dass selbst das Sprechen körperlichen Schmerz auslöst.

 

Meine Drei kuscheln sich in Papas Bett und sehen fern. Zwischendurch versorgen sie sich mit Apfelsaft und Keksen. Hin und wieder bekomme ich zaghafte Streicheleinheiten, die ich als höchst unangenehm empfinde. Ich sage aber lieber nichts, wie sollten die Drei das auch verstehen? Ich liege mit heftigen Schmerzen im Bett und kämpfe immer wieder mit aufsteigender Übelkeit und Tränen. Ich bemühe mich wirklich, nicht vor den Kindern loszuheulen. Das würde sie nur noch mehr durcheinander bringen, obwohl mein Mann und ich es durchaus unterstützen, Emotionen zu zeigen. Ich habe meinen Kindern noch nie verboten zu weinen. Und den Spruch, "ein Indianer kennt keinen Schmerz", finde ich höchst albern.

So habe ich vor einiger Zeit einen Krankenhausarzt fast zur Raserei gebracht, der mich bat, Tim zur Ruhe zu bringen. Ich habe meinem Sohn gesagt, er dürfe ruhig brüllen, wenn er Angst hätte und ihm die Brüllerei dabei hilft, mit dieser Angst fertig zu werden, aber er solle beim Legen der Braunüle bitte still halten. Tim hat die Anordnung, still zu halten auch brav befolgt. Aber er hat wirklich das ganze Krankenhaus zusammen gebrüllt,

 

Tim bringt mir einen kalten Waschlappen und legt ihn mir vorsichtig auf die Stirn. Ich liebe dieses Kind!

In der Küche holt er sich einen Kaffeebecher und einen Strohhalm und versorgt mich gekonnt mit Mineralwasser. Besser hätte ich es in meiner Eigenschaft als Krankenschwester auch nicht geschafft.

 

Der Sonntag zieht in einem Nebel aus Schmerzen und Übelkeit an mir vorüber. Die Kinder verständigen sich nur flüsternd und selbst das Fernsehgerät läuft so leise, dass ich kaum einen Ton verstehe.

Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich die Kinder nicht versorgen kann und sie so belaste.

Es ist unmöglich, die Kinder am Abend ins Bett zu bringen. Ich habe nicht einmal die Kraft, sie aufzufordern, alleine ins Bett zu gehen.

 

Gegen 21.30 Uhr kommt Michael von seiner Dienstreise zurück. Erstaunt bleibt er in der Schlafzimmertür stehen. Unsere Kinder sitzen gemütlich vor dem Fernseher und schauen sich "Tatort" an. Sicher kein Programm für Kinder, von denen das Älteste sechs Jahre alt ist. Unsere Kinder stört das allerdings wenig.

"Was ist denn hier los?", rutscht es meinem Mann heraus. Ungläubig starrt er mich an.

"Mama ist krank! Sie kann nicht aufstehen, der Rücken tut ihr weh. Ich habe heute alles alleine gemacht. Sogar Brote geschmiert und Paprika geschnitten."

Tim baut sich stolz vor seinem Vater auf. Schließlich war er vorübergehend der Mann im Haus.

Mein Mann wirft mir einen besorgten und Tim einen hilflosen Blick zu.

"Ich bringe erst einmal die Kinder ins Bett," sagt er. Ohne Widerworte lassen sich die Mäuse abschleppen.

Nach einer Weile kommt mein Mann zurück und setzt sich zu mir auf die Bettkante. Mit einer zärtlichen Geste streicht er über meine schweißnasse Stirn und kühlt auch den Waschlappen neu. Das hatte Tim seinem Vater noch nahe gelegt.

"Ist es so schlimm?", fragt Michael mich. Ich nicke nur. "Bist du beim Arzt gewesen?" Kopfschütteln meinerseits. "Und warum nicht?" Seine Stimme klingt vorwurfsvoll. "Weil ein HNO-Arzt Dienst hat," murmele ich in meine Kissen. Mein Mann schüttelt unwillig den Kopf.

"Wieso hast du nicht nachgesehen, wer orthopädischen Notdienst hat?"

Soll ich ihm jetzt wirklich sagen, dass ich nicht daran gedacht habe, dass es in unserer Stadt einen chirurgisch-orthopädischen Notdienst an den Wochenenden gibt? Ich schweige lieber.

"Was willst du denn jetzt tun?", fragt er mich.

Kann er nicht endlich aufhören?

"Ich gehe morgen zu Birgit," flüstere ich.

"Solltest du nicht vielleicht doch lieber ins Krankenhaus fahren?" Anscheinend kann er nicht locker lassen.

"Nein!" Dieses Mal wende ich meine letzten Reserven dazu auf, energisch zu werden. Resigniert erhebt sich mein Mann von der Bettkante. Jetzt ist er eingeschnappt, denke ich.

Aber als er dann im Bett neben mir liegt, streichelt er zärtlich mein Gesicht und haucht mir vorsichtig einen "Gute Nacht-Kuss" auf den Mund. Noch eine ganze Weile hält er meine Hand, während mir jetzt wirklich die Tränen laufen. Der Schmerz macht mich wahnsinnig und die Nacht wird zur Ewigkeit.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 



 


 


 



 



 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 3

 

 

 

Das Aufstehen am nächsten Morgen wird zur Qual. Dank der Hilfe meines Mannes schaffe ich es schließlich unter die Dusche. Sogar beim Anziehenmuss er mir helfen. Es ist unmöglich in die Socken zu kommen. Gleich nach dem Duschen melde ich mich bei meinem Arbeitgeber krank und rufe in der Praxis unserer Hausärztin an. Ich schildere der Arzthelferin Frau F. Meine Wochenendprobleme und sie befiehlt mir schon fast, mich unverzüglich auf den Weg zu machen. Mein Mann starrt mich entsetzt an, als ich ihm mitteile, dass ich mit dem Bus in die Stadt fahre.

"Nimm das Auto," sagt er streng.

"Ich kann aber nicht fahren."

"Dann fahre ich dich."

"Das geht nicht, weil Tim in die Schule muss und die beiden Mädchen in den Kindergarten," schieße ich zurück.

"Dann ruf dir bitte ein Taxi.“

"Ich kann im Augenblick in keinem PKW sitzen. Ich wüsste nicht mal, wie ich einsteigen sollte."

"Dir ist nicht zu helfen," sagt mein Mann und lässt mich, wenn auch nur zögernd, ziehen.

 

Das Wartezimmer bei meiner Hausärztin ist gerappelt voll. Normalerweise warte ich bei ihr gerne eine Weile, weil sie sich viel Zeit für ihre Patienten nimmt. Von sämtlichen Patienten, die sie betreut, kennt sie die Lebensgeschichten und die kleinen und großen Sorgen. Sie legt viel Wert darauf, auch persönliche Gespräche zu führen, weil sie der festen Überzeugung ist, so das Vertrauensverhältnis zu ihren Patienten zu festigen und da hat sie nicht ganz unrecht. Ihre Patienten würden sich für sie vierteilen lassen, wenn es sein müsste. Ihr freundlich-stilles Wesen trägt schon ungemein zur Heilung bei. Man fühlt sich einfach besser, wenn man ihr Sprechzimmer wieder verlässt. Heute ist mir die Warterei allerdings zu viel. Ich kann nicht sitzen und habe das Gefühl, dass mich die Schmerzen auffressen.

Meine Hausärztin kennt mich sehr gut. Wir haben im ärztlichen Bereitschaftsdienst Seite an Seite gearbeitet und sind schon seit einigen Jahren eng befreundet. Sie braucht gar nicht viel fragen. Sofort sieht sie, dass es mir nicht gut geht.

"Was ist denn mit dir los ... Du siehst ja schrecklich aus."

Ich schildere ihr meine Schmerzen und auch das fürchterliche Wochenende.

"Du hast wirklich tolle Kinder, aber wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Alles eine Frage der Erziehung und Umsorgung der Kinder. Kinder haben nun einmal den totalen Nachahmungstrieb. Und wenn sie dich so umsorgen, ist das ein deutliches Zeichen dafür, dass du es auch so machst. Gute Taten werden nun einmal belohnt. Dann lass dich mal ansehen."

Vorsichtig tastet sie meine Wirbelsäule ab. Im Bereich der Lendenwirbelsäule bin ich besonders empfindlich und zielsicher findet sie schließlich auch den richtigen Schmerzpunkt. Ich muss mich auf die Liege legen und sie überprüft die Reflexe. Als sie mir das gestreckte rechte Bein anhebt, kralle ich mich vor Schmerz an der Liege fest. Sie nickt nachdenklich und hilft mir beim Anziehen.

"Sind das Verspannungen?", frage ich sie.

"Auch, aber in erster Linie fürchte ich, dass du einen Bandscheibenvorfall hast."

"Das ist unmöglich!"

"Ach ja, und wieso?" Fragend sieht sie mich an.

Ja, wieso? Wenn ich das wüsste.

"Ich gebe dir jetzt eine Injektion gegen die Schmerzen und dann schicke ich dich zu einem Orthopäden. Damit bin ich nämlich wirklich überfordert."

"Was kann der tun, was du nicht auch machen könntest?"

"Fang jetzt nicht an zu diskutieren. Ich weiß, dass du ungern zu anderen Ärzten gehst. Aber das ist nun mal wirklich eine Sache für einen Facharzt, verstanden?"

"Orthopäden sind arrogante Wichtigtuer,“ murmele ich knatschig. Mir fällt sofort ein Orthopäde ein, zu dem mich mein ehemaliger Hausarzt schickte, nachdem ich mit Atemnot und Schluckbeschwerden zu ihm gekommen war.

Besagter Orthopäde machte sich über meine Symptome lustig und erklärte mir, ich solle lieber arbeiten gehen, dann würden mir diese albernen Flausen schon von alleine vergehen.

Ich ging arbeiten, damals noch in der Ausbildung zur Krankenschwester. Mein Chef sah mich an, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und nach einer Erklärung meinerseits, verfrachtete er mich in die orthopädische Abteilung. Der dortige Orthopäde erkannte sofort, dass meine Brustwirbel sich, wohl durch eine ungeschickte Bewegung, verschoben hatten. Sie quetschten Luft- und Speiseröhre ein und verursachten dadurch heftige Beschwerden. Ein paar wenige chiropraktische Handgriffe und mir ging es sichtlich besser.

"Tina, um Gotteswillen, sei nicht immer so voreingenommen. Ich weiß das du schon schlechte Erfahrungen gemacht hast, aber deshalb ist bitte nicht jeder Orthopäde arrogant und inkompetent, komm mal wieder runter von deinem Sockel. Ich schreibe dir eine Adresse auf und da wirst du von hieraus auf direktem Wege hingehen und zwar statim, meine Liebe. Es handelt sich um eine sehr gute Praxis und ich bitte dich wirklich, deine Vorbehalte in den nächsten Mülleimer zu werfen. Wenn du mit der Einstellung die du jetzt hast, da ran gehst, muss die Sache ja schief gehen. Also, erst einmal den Arzt testen und dann meckern - oder loben. Das letztere wäre mir für dich und mich lieber. Und du wirst ihn nicht spüren lassen, dass du Orthopäden nicht ausstehen kannst; behalte das bitte für dich, sonst hast du gleich verloren. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?"

Hat sie! Also schlucke ich eine Antwort herunter und mache mich brav auf den Weg.

 

Die Adresse ist mir geläufig. Es handelt sich um eine Gemeinschaftspraxis mit angeschlossener Tagesklinik für ambulante Operationen.

Zu Fuß durchquere ich die Stadt. Die orthopädische Praxis liegt exakt auf der anderen Seite der Innenstadt. Als ich endlich die Praxis betrete, habe ich den dringenden Wunsch wieder kehrtzumachen. An der Anmeldung stehen die Patienten Schlange. Lediglich meine heftigen Schmerzen, die trotz der Spritze nicht abklingen, halten mich davon ab, wieder zu gehen. Also reihe ich mich in die Schlange ein.

Ein Herr vor mir dreht sich zu mir um: "Sie sehen aber gar nicht gut aus. Haben Sie Schmerzen?" Er sieht mir prüfend ins Gesicht. Ich nicke. "Dann gehen Sie vor," sagt er und stellt sich hinter mich.

Die wartenden Patienten vor uns sind aufmerksam geworden und hilfreiche Hände schieben mich bis nach vorne an die Anmeldung. Alle nicken mir aufmunternd zu. Ich kann nur dankbar lächeln, so viel Mitgefühl und Verständnis habe ich nicht erwartet.

Ein junger Mann, ganz in weiß gekleidet, verlässt einen der Räume und angelt an der Anmeldung nach einem Röntgenbild. Er versäumt dabei nicht, ein strahlendes Lächeln in die Runde zu werfen.

Eine ältere Dame hinter mir flüstert mir leise ins Ohr, dass es sich bei dem Herrn um Dr. L. handelt, der noch ganz neu in der Gemeinschaftspraxis ist.

"Himmel sieht der gut aus. Zu meiner Zeit hat es solche Männer nicht gegeben, sonst hätte ich meinen ganz sicher nicht genommen," raunt sie mir weiterhin zu.

Nun muss ich doch ein bisschen grinsen. Aber sie hat schon recht, er sieht nicht nur sehr nett, sondern auch verblüffend gut aus. Dabei wirkt er wie ein zu groß geratener Junge, der in Intelligenz gebadet hat, und dieses charmante Lächeln macht ihn unwiderstehlich.

Ich bin die Nächste an der Anmeldung. Ich nenne meinen Namen und schiebe meinen Überweisungsschein und meine Krankenkassenkarte über den Tresen.

Die Arzthelferin studiert meine Überweisung und sieht mir prüfend ins Gesicht.

"Wie geht es Ihnen?", fragt sie mich.

"Schlecht," antworte ich ihr. Sie nickt.

"Mhm, so sehen Sie auch aus. Waren Sie schon einmal bei uns? "Ich schüttele den Kopf.

"Na gut, ich werde versuchen, Sie irgendwie zwischen zu schieben, aber Sie sehen ja, was hier los ist. Richten Sie sich auf jeden Fall auf etwas Wartezeit ein."

Ich kann es kaum glauben, dass sie mich nicht einmal fragt, ob ich überhaupt angemeldet bin. So nicke ich nur verständnisvoll und begebe mich ins Wartezimmer.

Sämtliche Stühle scheinen besetzt zu sein. Ich sehe mich ein bisschen ratlos um, gar nicht mal sicher, ob ich mich überhaupt setzen möchte, aber im gleichen Moment springt ein Herr auf und bietet mir seinen Platz an.

Dankbar setze ich mich nun doch, aber es lohnt sich fast nicht, denn kurz darauf werde ich über einen Lautsprecher in Zimmer 2 gebeten. Jetzt staune ich aber doch, wie schnell das ging.

Im Sprechzimmer 2 begrüßt mich Dr. L. mit einem herzlichen Lächeln und bittet mich, ihm von meinen Problemen zu berichten. Dr. L. also, nun vielleicht ist er ja ein Orthopäde, mit dem sogar ich es schaffe mich anzufreunden.

Er wirkt sehr sympathisch und ich fasse schnell Vertrauen.

Der erste Eindruck hat also nicht getäuscht, denke ich erleichtert. Meine Aversion gegen einen neuen Arzt, zudem noch einen Orthopäden, löst sich in Wohlgefallen auf.

Während ich ihm meine Symptome schildere, gibt er alles gleich in den Computer auf seinem Schreibtisch ein. Zwischendurch wirft er mir besorgte Blicke zu oder lächelt verständnisvoll.

Dr. L. fragt nach früheren Erkrankungen und ich bete eine ganze Litanei herunter. Irgendwie bin ich prädestiniert für schwere Erkrankungen. Mit Halbheiten habe ich mich in medizinischer Hinsicht nie zufriedengegeben.

Wenn krank, dann bitte schön richtig!

Mein Vater, der selbst Mediziner war, hatte einige Male das Glück, mich wirklich schwer krank in diversen Krankenhäusern abliefern zu dürfen.

Meistens merkte meine Familie erst, dass ich krank war, wenn es so schlimm war, dass ich einfach zusammenbrach. So hatte ich unter anderem eine schwere Blutvergiftung, durch eine verschleppte Mandelentzündung - was macht schon ein bisschen Halsweh? Selbst einen perforierten Appendix habe ich zustande gebracht. Schließlich muss man Bauchschmerzen ja nicht zwingend erwähnen. Da mein Vater Arzt war, war es ihm geradezu peinlich, mich sozusagen in letzter Sekunde im Krankenhaus abzuliefern. Schließlich bekam ich zu hören: "Und wenn Dir nur der kleine Finger juckt, ich will es wissen!" Ein familieninternes Zitat, das mich bis heute verfolgt.

Auch Dr. L. staunt nicht schlecht über meine Krankengeschichte und schüttelt mehrmals, teils entsetzt, teils belustigt, den Kopf. Schließlich bittet er mich, mich frei zu machen, damit er mich untersuchen kann. Behutsam führt er die Untersuchung durch. Einige Male kann ich mir ein schmerzhaftes Stöhnen nicht verkneifen.

Jedes Mal entschuldigt er sich sofort, weil er mir ungewollt wehgetan hat. In dieser Praxis komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wo gibt es noch so rücksichtsvolle Ärzte?

Nicht nur das! Es handelt sich immerhin um einen Orthopäden und die werden nicht umsonst nicht gerade schmeichelhaft mit „Knochenbrecher“ tituliert.

Nach erfolgter Untersuchung nickt er nachdenklich.

"Es scheint ein Bandscheibenvorfall zu sein,"sagt er und sieht mich wieder besorgt an.

"Was haben Sie gemacht, eine falsche Drehung oder so?", fragend sieht er mich an, während ich mit zusammengebissenen Zähnen versuche, in meine Hose zu kommen.

"Ich bin Krankenschwester, kann schon sein, dass ich mich verhoben habe."

Er nickt verständnisvoll und ich frage mich langsam, ob es auch irgendetwas gibt, für das er kein Verständnis aufbringt.

"Wir werden jetzt erst einmal die Wirbelsäule röntgen und dann sehen wir uns gleich wieder." Aufmunternd streichelt er mir die Schulter und ist schon verschwunden.

Ich frage mich, ob er wohl weiß, wie gut mir diese kleine Berührung getan hat.

 

Draußen setze ich mich auf einen freien Stuhl, aber im gleichen Moment werde ich schon zum Röntgen aufgerufen. Wieder muss ich mich entkleiden und das An- und Ausziehen der Hose fällt mir wegen der heftigen Schmerzen doch so schwer. Aber schließlich kann ich ja schlecht in Unterhosen über den Flur laufen. Trotzdem steigen mir die Tränen in die Augen. Mit meiner Selbstbeherrschung bin ich langsam am Ende.

Die Röntgenassistentin, eine charmante Ausländerin mit wunderschönen dunklen Haaren, ist sehr fürsorglich. Sie begreift, dass ich heftige Schmerzen habe und geht sehr vorsichtig mit mir um. Ich bin heilfroh, als sie mich wieder in die Umkleidekabine entlässt. Sie folgt mir und auf meine Hose zeigend, fragt sie, ob sie mir behilflich sein darf. Ich nicke dankbar und sie hilft mir beim Anziehen. Die Bilder sind schnell entwickelt und ich werde wieder zu Dr. L. ins Sprechzimmer gebeten. Ein

bisschen unzufrieden betrachtet er die Aufnahmen.

"Von einem Bandscheibenvorfall kann man leider nicht viel erkennen, Ihre Knochen an sich sehen aber gut aus. Ich würde Sie gerne bitten zur Kernspintomografie zu gehen, damit wir eine Bestätigung für meinen Verdacht bekommen oder vielleicht doch besser keine Bestätigung. Was uns beiden wahrscheinlich lieber wäre, oder?"

Ich stimme zu, was soll ich sonst auch tun. Dr. L. drückt mir eine Überweisung in die Hand und ich ahne zu diesem Zeitpunkt nicht, dass damit eine Odyssee beginnt, die weder Dr. L. noch ich gewollt haben. Darüber hinaus versorgt er mich mit einem Rezept für relativ starke Schmerzmittel.

"Wie sind Sie eigentlich hier, mit dem Auto?", fragt er mich.

"Mit dem Bus."

Entsetzt guckt er mich an. Jetzt sieht er genauso aus, wie mein Mann Michael heute Morgen. Fassungslos schüttelt er den Kopf.

"Mit dem Bus!?", wiederholt er völlig entgeistert. Ich zucke mit den Achseln.

"Aber das geht doch nicht!" Er kann es nicht fassen.

"Autofahren kann ich im Moment nicht,"entgegne ich. Kopfschüttelnd betrachtet er mich.

"Kommen Sie in zwei Tagen wieder und bringen Sie ihren Mann oder irgendjemanden mit, der Sie nach Hause begleiten kann. Dann gebe ich Ihnen eine Injektion gegen die Schmerzen. Leider kann es dabei passieren, dass Ihr Bein taub wird. Sie können dann also auf keinen Fall den Bus benutzen."

Ich nicke brav. Bevor ich gehe, weist mich Dr. L. daraufhin, dass eine Stufenlagerung im Bett schmerzlindernd wirken kann, dann bin ich entlassen.

An der Anmeldung lasse ich mir einen neuen Termin geben und mache mich auf den Weg zur Apotheke. Dabei komme ich an der radiologischen Praxis vorbei, die für die MRT zuständig ist und hole mir einen Termin. Vor Ablauf einer Woche ist kein Termin frei, also nehme ich den nächstmöglichen am kommenden Dienstag.

Mein nächstes Ziel ist die Apotheke. Mit dem Apotheker, Herrn S., sind mein Mann und ich lose befreundet. Besorgt fragt er, was mir fehlt, als ich in die Apotheke gehumpelt komme.

"Wahrscheinlich ein Bandscheibenvorfall," seufze ich. Herr S. sieht mich mitleidig an und studiert dann das Rezept, dass ich ihm hinlege.

"Das Tramal habe ich da, Mydocalm muss ich bestellen. Reicht es, wenn ich es dir heute Abend vorbeibringe?"

„Ja, natürlich“.

"Dyclofenac!? Mit deinem lädierten Magen? Ob das so gut ist, weiß ich nicht. Hat der Arzt dich denn nicht danach gefragt, ob du irgendwelche chronischen Erkrankungen hast?"

Doch hat er. Aber irgendwie haben wir beide nicht darüber nachgedacht, dass Dyclofenac wohl nicht ganz das richtige für meinen Magen ist. Schließlich hätte ich ja auch Einwände vorbringen können. Genau genommen haben wir beide nicht sehr gut aufgepasst.

Tatsächlich habe ich schon seit 20 Jahren eine chronische Magenerkrankung, die mir immer wieder Probleme verursacht. Erst im Mai hatte ich eine akute Magenblutung und musste stationär, teilweise sogar intensivmedizinisch behandelt werden . Das Dyclofenac die Magenschleimhaut reizt, sollte ich als Krankenschwester nun wirklich wissen.

Trotzdem winke ich jetzt ab und erkläre Herrn S. das ich das Medikament doch erst einmal mitnehme. Ich sehe ihm an, dass ihm das nicht gefällt. Er legt mir das Medikament mit gerunzelter Stirn und sehr unwillig auf den Tisch.

"Also schön, dann probier es aus, aber wenn es nicht klappt, solltest du wirklich mit deinem Orthopäden darüber reden." Recht hat er, mein Apotheker.

 

Zu Hause werde ich schon sehnsüchtig von Mann und Kindern erwartet.

Michael will natürlich wissen, wieso mein Arztbesuch so lange gedauert hat und was dabei herausgekommen ist. Ich erzähle ihm, was mir Dr. L. Gesagt hat und wie es weitergehen soll. Michael ist ehrlich erschrocken. Einen Bandscheibenvorfall steckt man nicht so einfach weg. Die meisten Gedanken macht er sich natürlich um die Versorgung von mir und den Kindern, weil er selbst als Busfahrer im Reisedienst ja sehr viel unterwegs ist.

Im Augenblick will ich nicht darüber nachdenken. Ich möchte nur noch meine Schmerzmittel nehmen und mich hinlegen.

Michael staunt mich an, als ich mir Sofapolster ins Bett lege, um die Stufenlagerung möglich zu machen. Ich bin froh, dass es wirklich funktioniert und die Schmerzen etwas nachlassen.

Die Schmerzmittel beginnen ihrerseits zu wirken, die beiden durchwachten Nächte fordern ebenfalls ihren Tribut und so dämmere ich den Nachmittag vor mich hin und bin angenehm überrascht, als ich liebevoll aufs Abendessen aufmerksam gemacht werde: Michael und die Kinder haben belegte Brote zurechtgemacht und mit frischem Gemüse garniert. Tim ist stolz, weil er wieder die Paprika hat schneiden dürfen.

Stolz tragen sie mir das Abendessen ans Bett und ich bin glücklich über meine liebevolle Familie.

Immerhin geht es mir so viel besser, dass ich mit den Kindern scherze. Die drei sind froh, dass ich zumindest wieder ansprechbar bin.

Einige Zeit später kommt Michael mit dem Telefon ans Bett. Bernd ist dran. Er hatte versucht, mich im Transplantationszentrum zu erreichen, und war etwas beunruhigt, als er erfuhr, dass ich krankgeschrieben bin.

"Na und, was hast du nun?"

"Einen Bandscheibenvorfall vermutlich. Die Diagnose ist noch nicht hundertprozentig. Ich muss erst noch zur MRT, aber ich habe erst für nächste Woche einen Termin bekommen."

"Du lieber Himmel, als wenn ich es nicht geahnt hätte. Bei den Schmerzen, die du hattest, war das doch wohl klar. Das heißt jawohl, dass du die nächsten paar Wochen außer Gefecht gesetzt bist."

"Tja, scheint so."

"Wie geht es dir denn jetzt?"

"Na ja, etwas besser, dank Tramal und Co.. Allerdings bin ich auch leicht benebelt, aber im Moment stört mich das nicht."

"Na ja, besser so, als ständig Schmerzen, würde ich mal sagen. Wenn du magst, komme ich am Sonntag mit Bea vorbei, ich habe nämlich ausnahmsweise auch mal frei."

"Habt ihr euch wieder vertragen?"

"Na du weißt ja: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich!"

"Prima. Ich würde mich wirklich freuen, wenn ihr Zeit habt. Wann meinst du denn?"

"Wie wär's morgens um sechs?"

“Bernd!"

"Schon gut, du Langschläfer. Muss Michael fahren?"

"Bestimmt."

"Okay, dann kommen wir gegen zehn zum Frühstück und das Mittagessen bringen wir auch mit."

"Macht euch nicht so viel Mühe."

"Ach was, es gibt Tiefkühlkost."

“Bernd!”

"Schlaf schön, mein Engel. Bis Sonntag!" Zack, liegt der Hörer auf der Gabel. Ich muss lächeln, Bernd ist wirklich ein Freund und seine Freundin Beate ist auch ganz meine Kragenweite. Schade,

dass die beiden sich immer in den Haaren liegen. Der nächste Anrufer ist mein Sohn René, der ein bisschen sauer ist, weil er natürlich immer alles als Letzter erfährt. Er mault mich kräftig an, weil ich ihn nicht angerufen habe, als ich merkte, dass ich nicht zurechtkam. Ich sei unmöglich und vollkommen verrückt, bekomme ich zu hören. Allerdings ist er beruhigt, als er hört, dass die Schmerzmittel greifen und ich mich doch etwas wohler fühle. Vor allem aber verspricht er, am Freitag nach Hause zu kommen. Einer muss sich ja schließlich um alles kümmern.

Ich schärfe ihm noch ein, auf gar keinen Fall eine Vorlesung zu schwänzen und ernte dafür: "Mum, du hast absolute Sendepause. Du machst wirklich genug Unfug. Das ganze Wochenende mit einem Bandscheibenvorfall rumzulaufen, ist ja wohl nicht gerade als normal zu bezeichnen."

Was soll ich dazu sagen?

 

Kapitel 4

 

 

 

Michael schafft es natürlich nicht, mich am übernächsten Tag zu Dr. L. Zu begleiten. Dieser hat aber ganz und gar nicht vergessen, dass er mir die Injektion geben wollte. Kurzerhand entscheidet er, dass er mir einen Transportschein spendiert, damit ich nicht mit dem Bus nach Hause fahren muss. Außerdem fragt er mich, ob ich vielleicht eine Haushaltshilfe benötige. In Anbetracht der Tatsache, Mutter von vier Kindern zu sein und einen Ehemann zu haben, der permanent unterwegs ist, sei es doch sicher angebracht. Gerne lasse ich mir diese Verordnung ausstellen. Immerhin ein

Problem weniger!

Die Injektion, die mir Dr. L. anschließend verabreicht, ist ein bisschen unangenehm, tut aber nicht wirklich weh. Da er aber hinter mir agiert, bin ich ein bisschen nervös. Es macht mich nun einmal kribbelig, wenn ich dem Doktor nicht auf die Finger schauen kann. Kaum ist Dr. L. mit der Injektion fertig, wird mir furchtbar schwindelig. Mit den Schwindelanfällen kämpfe ich allerdings schon, seit ich das Tramal einnehme. Dr. L. bugsiert mich auf die Liege und platziert meine Füße auf dem hochgestelltem Kopfteil - Schocklagerung!

Das Sprechzimmer dreht sich für einen Moment um mich. Dr. L. Steht kopfschüttelnd neben mir und schaut auf mich herunter: "Meine Güte, Sie sind ja schneeweiß. Bleiben Sie bitte eine Weile liegen."

Er nimmt an seinem Schreibtisch Platz, wirft mir aber immer wieder besorgte Blicke zu, bis es mir auch sichtbar wieder besser geht.

"Sie werden so jetzt nicht nach Hause gehen! Bleiben Sie bitte noch eine Weile im Flur an der Anmeldung sitzen. Ich sage vorne Bescheid, damit man ein bisschen auf Sie achtet. Die Schwindelanfälle kommen wahrscheinlich wirklich vom Tramal. Ich schreibe Ihnen Tropfen auf, die lassen sich feiner dosieren."

Ich bekomme ein Rezept und einen Transportschein in die Hand gedrückt und nehme im Flur Platz. Frau A., von Dr. L. instruiert, wirft mir immer wieder prüfende Blicke zu. Nach einer Weile wage ich, um ein Taxi zu bitten.

"Das rufe ich Ihnen, wenn Sie nicht mehr ganz so blass aussehen."

"Dann sitze ich morgen früh noch hier!" wage ich zu widersprechen.

Frau A. schüttelt lächelnd den Kopf und meint, zehn Minuten sollte ich nun wirklich noch warten. Vor Ablauf dieser zehn Minuten ruft sie auch tatsächlich kein Taxi.

Irgendwie genieße ich diese Fürsorge, die in den meisten Arztpraxen heutzutage fehlt. Wahrscheinlich ist das auch ein Grund, warum ich mich mit neuen Ärzten so schwertue. Immer mehr erlebt man in den Praxen den Patienten in der Massenabfertigung. Freundlichkeit beschränkt sich auf ein

Minimum und häufig hat man als Patient das Gefühl, dem Arzt kostbare Zeit zu stehlen. Ganz schlimm wird es, wenn man als unangemeldeter Patient erscheint. Man kann sich glücklich schätzen, wenn man an die Reihe kommt und noch glücklicher, wenn die Wartezeit nicht über Gebühr lang ist.

Eine weitere Katastrophe liegt vor, wenn man die Krankenkassenkarte vergessen hat. Ich habe Arztpraxen erlebt, in denen Patienten gnadenlos weggeschickt wurden, weil sie die Karte nicht dabei hatten.

Schaffen die Patienten es doch über die Anmeldung hinaus, sitzen sie oft stundenlang in den Wartezimmern herum. Diesen ganzen Stress tut man sich für runde drei Minuten Gesprächs- und Untersuchungszeit an. Diese Zeitrechnung ist im übrigen statistisch nachgewiesen! Dann kann ich nur über die Patienten staunen, die für die ewigen, unnötigen Wartezeiten auch noch Verständnis aufbringen. Häufig genug sind sie nicht gerechtfertigt und zeugen nur von mangelhafter Organisation. Da stellt sich doch die Frage, wer stiehlt hier wem die Zeit?

Wie dem auch sei, in der Gemeinschaftspraxis meines Orthopäden ist der Patient noch Mensch und somit wichtig. Es ist eine der wenigen Praxen, in der man sich für den Patienten noch Zeit nimmt. Freundlichkeit und Verständnis gegenüber dem Patienten werden groß geschrieben. Wartezeiten gibt es natürlich auch hier, aber es gibt auch die Differenzierung zwischen den Erkrankungen des einzelnen Patienten und damit verbundenen Schmerzen oder Notfällen. Eine Organisation, die straff geführt ist und im Gegensatz zu vielen anderen Praxen hervorragend funktioniert.

 

Bei meinem nächsten Besuch bei meiner Hausärztin werde ich natürlich gefragt, wie ich mit dem "neuen" Orthopäden zurechtkomme, denn Dr. L. Ist erst seit Anfang Oktober in unserer Stadt niedergelassen.

Ich äußere mich zufrieden über die Praxis und meinen Arzt. Meine Hausärztin ist beruhigt. Das schlimmste wäre für sie, wenn ich mit ihrem Rat unzufrieden wäre. Außerdem weiß sie natürlich auch, dass ich eine schwierige und ausgesprochen kritische Patientin bin, die sich längst nicht alles gefallen lässt, Ärzte und ihre Praxen kritisch mustert und notfalls auch keine Hemmungen hat, sich entsprechend zu äußern.

Leider habe ich des Öfteren auch mal ein etwas vorlautes Mundwerk. Wer sich mit mir anlegt, muss eben auch damit rechnen, dass zurückgeschossen wird.

Wir unterhalten uns über den Verdacht des Bandscheibenvorfalles und sie ist einigermaßen erschrocken. Sie hatte zwar auch einen vermutet, aber doch gehofft, dass sich ihr Verdacht nicht bestätigt.

Wir gehen noch einmal meine derzeitige Magenmedikation durch, an der wir hart gearbeitet haben, weil mein Magen ein bisschen kompliziert ist. Im Augenblick bin ich aber sehr zufrieden und abgesehen von dem Dyclofenac habe ich momentan keine Probleme. Ich muss ihr versprechen, Dr. L. auf das Dyclofenac anzusprechen. Möglicherweise gibt es ja ein besser geeignetes Medikament.

 

Gleich bei meinem nächsten Besuch bei Dr. L. spreche ich ihn darauf an und tatsächlich gibt es ein Ausweichmedikament, mit dem auch mein Apotheker zufrieden ist, wie er mir verkündet.

Am Sonntag taucht pünktlich wie versprochen Bernd auf, allerdings ohne Beate. Er schleppt einen riesigen Picknickkorb an, als hätte er vor, unsere gesamte Straße mitzuversorgen. Er wird sofort von unseren Kindern belagert, denn natürlich wissen die drei, dass Bernd in seinen Jackentaschen Süßigkeiten verborgen hält. Aber Bernd ist gnadenlos. "Erst Frühstück und dann sehe ich mal nach, was sich in meinen Taschen so findet, wenn überhaupt noch etwas da ist. Eigentlich glaube ich nämlich, dass meine Taschen schon leer sind."

Lautes Protestgeschrei meiner Kinder ist die Antwort.

Lächelnd stehe ich in der Schlafzimmertür.

"Wirklich schade, dass du keine Kinder hast, Bernd.“

Bernd kramt in dem überdimensionalen Picknickkorb und befördert eine Flasche Champagner an den Tag.

"Nanu, was habt ihr denn vor?" René bestaunt die Flasche, als sei es die erste, die er je in seinem Leben sieht.

"Mensch Filius, du bist ja auch da! Was macht das Studium? Ne, ne, ich will gar nichts wissen. Die Frage war rein rhetorisch. Ich habe jedenfalls nie eine zufriedenstellende Antwort geben können. Wenn es dir da allerdings anders geht, dann schieß los."

Bernd grinst René an und mein Sohn grinst verständnisvoll zurück. Männer!

"Und was hat jetzt der Champagner zu bedeuten?" Energisch schalte ich mich ein.

"Ich habe mich endgültig von Beate getrennt."

Wahrscheinlich schaue ich ein bisschen verständnislos, denn Bernd fängt an zu lachen.

"Doch, doch. Es ist schon so. Weißt du, ich kann diesen ewigen Stress wegen meines Dienstes einfach nicht mehr ertragen. Es ist doch völlig egal, wann und wie ich Dienst habe, Beate findet immer etwas zu meckern und ich will eben einfach nicht mehr. Und wenn ich ganz ehrlich bin, bin ich froh wieder solo zu sein. Sicher nicht auf Dauer, denn du weißt ja, Ärztewirken wahnsinnig anziehend auf hübsche junge Frauen - leider nicht nur auf die."

"Ach Bernd, das tut mir leid.", seufze ich.

"Aber nein, mein Schatz. Was ich eben gesagt habe, habe ich wirklich ernst gemeint. Ich fühle mich pudelwohl ohne Beate, und ihr geht es wahrscheinlich genauso. Das ist wirklich so. Weißt du, was mir gerade einfällt, ich habe dich ja noch gar nicht begrüßt." Mit diesen Worten werde ich, ehe ich in Deckung gehen kann, kräftig von Bernd umarmt. Vor Schmerz schreie ich auf.

"Oh Gott, deine Bandscheibe! Tut mir wirklich leid, Engelchen. Soll auch nicht wieder vorkommen."

"Du solltest lieber aufhören, mich weiterhin Engelchen zu nennen. Was sollen eigentlich meine Kinder denken?"

"Wieso, die wissen doch, dass ihre Mutter ein fleischgewordener Engel ist, oder?" Bernd sieht eimal erwartungsvoll in die Runde.

Wir müssen lachen, was Filius schließlich mit einem "Ganz schön meschugge!" quittiert.

Nach dem Frühstück, bei dem ich in Anbetracht meiner Medikamente auf den Champagner verzichte, wird Bernd von den Kindern hoffnungslos in Beschlag genommen. Zeit für mich, mich ein bisschen hinzulegen.

Erst nach dem Mittagessen habe ich Bernd endlich für mich. René hat seine Geschwister zu einem Ausflug in die Stadt überreden können und stolz sind die drei Mäuse mit ihrem großen Bruder abgezogen.

Bernd leistet mir im Schlafzimmer Gesellschaft. Gemütlich streckt er sich auf Michaels Bett aus. Dieser Mann schreckt wirklich vor nichts zurück. Ich muss ein bisschen grinsen, bei dem Gedanken, mit einem "Hausfreund" unser Ehebett zu teilen.

"Warum grinst du denn so?" Bernd stützt sich auf seinen linken Ellbogen und sieht mich erwartungsvoll an.

"Ich dachte nur gerade, was die Kollegen wohl sagen würden, wenn sie wüssten, dass ich hier mit dir das Bett teile."

"Erstens wären sie neidisch und zweitens bin ich doch angezogen."

"Aber ich nicht."

"Ich finde deinen Schlafanzug aber ausreichend. Ist das eigentlich Seide?"

Bernd fummelt an meinem Schlafanzug herum. - "Ja, das ist Seide! Könntest du jetzt endlich deine Pfoten da wegnehmen? Ich finde die Situation wirklich grotesk."

Bernd sieht mich mit einem nachdenklichen Lächeln an: "Darf ich dich etwas fragen?"

"Frag' doch, du gibst ja sonst doch keine Ruhe.""Hast du wirklich fünf Brüder?" “Ja!”

"Ja! Was heißt ja? Ich meine, wo stecken die? Kann ich die irgendwann mal kennenlernen? Und haben wirklich alle fünf Medizin studiert? Ist das in eurer Familie eine Seuche, schließlich studiert Filius ja auch Medizin?"

Nun muss ich doch lachen. Bernd, neugierig wie er ist, hat die Fragen so schnell runtergespult, dass ich sie erst einmal für mich sortieren muss.

"Also, ich fange wohl am besten von vorne an. Ich bin das jüngste von sechs Kindern. Mit meinem ältesten Bruder, Peter, bin ich ganze zwanzig Jahre auseinander. Mit meinem Jüngsten, Ralf, immerhin noch dreizehn Jahre. Die anderen drei heißen Thomas, Christian und Ingo. Peter ist Anästhesist, Ingo Allgemeinchirurg; beide arbeiten in Burkina Faso in Westafrika, bei "Ärzte ohne Grenzen“ in einem Team. Thomas ist Internist, ebenfalls bei "Ärzte ohne Grenzen", aber in Indien. Christian ist Pädiater mit eigener Praxis in Stuttgart und Ralf ist Orthopäde, ebenfalls mit eigener Praxis in Monterey, Kalifornien und diversen Belegbetten in einem dortigen Krankenhaus. Ob du sie jemals alle kennenlernen wirst, kann ich dir nicht unbedingt versprechen, wie du dir wahrscheinlich jetzt vorstellen kannst. Aber zu Weihnachten sind sie auf jeden Fall alle hier, das ist Tradition in unserer Familie, genauso wie das Medizinstudium. Nur ich tanze aus der Reihe."

"Mein Gott, aber wenn die alle so viel älter sind, kommst du denn mit ihnen überhaupt klar?"

"Ich liebe meine alten Brüder über alles." Bei dem Gedanken an die Fünf huscht ein kleines Lächeln über mein Gesicht. Ich liebe meine Brüder wirklich sehr und sie mich. Wir stehen in ständigem Kontakt per Post, Telefon und E-mail. Schließlich krabble ich aus dem Bett, um Fotos zu holen. Bernd studiert ausgiebig Familienfotos und staunt immer wieder.

"Hast du auch Geschwister?", frage ich Bernd. Sein Gesicht umwölkt sich ein bisschen.

"Ich hatte zwei, einen Bruder und eine Schwester. Margitta ist in Hamburg verheiratet und spielt Hausfrau. Mein Bruder Ben hatte eigentlich Jura studieren wollen, aber dazu ist es nicht mehr gekommen. Er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Das ist jetzt sieben Jahre her."

Nachdenklich sehen wir beide vor uns hin und hängen unseren Gedanken nach.

"Leben deine Eltern noch?" Bernd will wirklich alles genau wissen.

"Meine Mutter, gar nicht weit von hier. Sie lebt hier im Landkreis, immer noch in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Mein Vater-." Ich krame in den Fotoalben nach Fotos von meinem Vater.

Schließlich finde ich welche.

Ein charmanter grauhaariger Herr lächelt uns von einem Foto an."Auf diesem Foto ist mein Vater neunundsiebzig Jahre alt. Es ist zwei Wochen vor seinem Tod aufgenommen worden."

"Er sieht sehr gut aus, woran ist er gestorben?"

"Tja, woran? - Letztendlich wohl an seiner Angst vor der allmächtigen Intensivmedizin. Er hatte ein Pankreaskopfkarzinom und wollte sich nicht mehr operieren lassen, weil es sowieso keine Heilung gegeben hätte, es wäre rein palliativ gewesen. Er hat sich das Leben genommen, mit einer Überdosis Morphin. Er hat sich das Morphin selbst gespritzt. Ich habe ihm das lange Zeit nicht verzeihen können. Ich fühlte mich von ihm hintergangen. Es gab noch so vieles, was ich ihm sagen oder ihn fragen wollte und ich hätte mich gerne von ihm verabschiedet. Ich habe ihn sehr geliebt, ich war das totale Papakind. Ich vermisse ihn immer noch schrecklich."

Bernd schweigt eine ganze Weile, während mir verstohlen ein paar Tränen übers Gesicht rollen.

"Ich wollte nichts aufwühlen, Tina. Aber darf ich dich trotzdem noch etwas fragen?" Ich nicke.

"Wie denkst du heute über seinen Freitod?"

"Weißt du, ich arbeite jetzt seit acht Jahren in meinen Berufen als Krankenschwester und Rettungsassistentin und ich habe so furchtbar viele schreckliche Dinge gesehen und erlebt: Reanimationen, die überflüssig und unnötig waren; Menschen, die keine mehr sind, weil sie ohne Maschinen nicht mehr existieren könnten und dann die, die man zurückholt, um ihr Leiden zu verlängern. Man tut alles, obwohl man genau weiß, dass es nichts bringt. Die moderne Medizin macht es möglich. Ich habe die wenigsten Menschen in Würde sterben sehen. Ich finde nicht, das es würdevoll ist, einen sterbenskranken Menschen zu reanimieren, nur um ihn noch sechs Wochen an Maschinen, Infusionen, Katheter und Drainagen zu hängen und doch genau zu wissen, es ist umsonst. Heute kann ich meinen Vater sehr gut verstehen und ich bin von Herzen froh, dass es inzwischen das Patiententestament gibt, dass "Möchtegernheilern" die Hände fesselt. Du kannst sicher sein, sollte ich jemals so krank werden, ich werde ein solches Testament haben."

Bernd nickt. Er weiß genau, was ich sagen will. Wir erinnern uns beide an einen Patienten, den wir erfolgreich reanimierten. Als wir ihn zurück geholt hatten, stand seine Frau mit Tränen in den Augen neben uns und flüsterte: "Hätten Sie ihn doch sterben lassen, er sitzt doch ganz voll Krebs." Im ersten Moment standen wir beide betreten da, schließlich sagte Bernd: "Sie können sicher sein, ich hätte ihn in Ruhe sterben lassen, wenn ich das gewusst hätte - nur zehn Minuten früher, jetzt ist es zu spät." Wir haben ihn auf die Intensivstation verfrachtet, wo er drei Tage später schließlich sterben durfte.

 

Bernd hat in meinen Alben mittlerweile ein Foto von mir und meinem Vater entdeckt. Ich stehe dort im Doktorhut und Talar und neben mir ein sichtlich stolzer Vater mit einem glücklichen Lächeln. '

"Du bist also wirklich Frau Doktor. Dein Vater sieht aus, als sei er furchtbar stolz.“

"Oh ja, das war er wirklich. Er hat mir ermöglicht, überhaupt zu promovieren. Ich bin dafür ein Jahr nach Palo Alto in Kalifornien gegangen."

"Palo Alto! Steht da nicht die legendäre Stanford University?"

"Ja, das war ja das Wichtigste überhaupt. Ich habe meine Dissertation über John Ernst Steinbeck geschrieben. Er hat dort Naturwissenschaften studiert und als er den Nobelpreis erhielt, hat man an der Stanford University alles über ihn gesammelt, was auch nur im entferntesten wichtig erschien. Ich war auf das dortige Archiv angewiesen. Ich garantiere dir, das war ein Jahr harte Arbeit. Aber ich liebe seine Bücher."

"Mir fällt im Augenblick gar nichts ein, was er geschrieben hat."

"Eine Menge, z. B.: 'Jenseits von Eden', 'Straße der Ölsardinen', 'Wonniger

Donnerstag', 'Die Perle', 'Früchte des Zorns', 'Meine Reise mit Charlie' und,

und, und ..."

"Hast du die etwa alle gelesen?"

"Ja natürlich, die und alle anderen auch. Einige sind nie in Deutschland veröffentlicht worden, die besitze ich im amerikanischen Original."

"Du meinst, du hast diese Bücher auch alle?"

"Ja natürlich, mir fehlt kein einziges."

"Ach du lieber Gott! Und gibt es da auch ein Lieblingsbuch?"

"Natürlich. Ich mag am liebsten 'Früchte des Zorns' und als nächstes 'Von Mäusen und Menschen' und ganz besonders gern habe ich auch 'Die Perle'."

Bernd schüttelt den Kopf.

"Du hast überhaupt viele Bücher. Ich habe vorhin in deinem Wohnzimmer ganz schön gestaunt. Und hier im Schlafzimmer steht auch alles voll. Hast du die alle gelesen?"

"Natürlich. Und die in meinem Arbeitszimmer, die in Michaels Arbeitszimmer und die, die im Keller und auf dem Dachboden gelagert sind."

"Meine Güte, wie viele Bücher besitzt du denn?"

"So um die achttausend. Davon etwa zweihundert Fachbücher zum Thema Philologie, das doppelte zum Thema Geschichte und in etwa einhundertfünfzig Fachbücher zum Thema Medizin. Dazu eine ganze Reihe zu allen möglichen Fachbereichen, aber das Gros sind Romane, Kinderbücher, Sammlungen und so was."

Bernd ist völlig erschlagen.

"Was um alles in der Welt gibst du für Bücher aus?"

"Jeden Monat rund fünfhundert Mark, außer wenn ich Filius mal wieder das Einkaufen von Büchern finanzieren muss."

"Weißt du, was ich erstaunlich finde?" Ich schüttele den Kopf.

"Das wir schon seit einiger Zeit Seite an Seite arbeiten und ich eigentlich nichts über dich weiß." Bernd starrt mich immer noch staunend an.

Von uns völlig unbemerkt war mein Mann hereingekommen und stand jetzt lächelnd mitten im Zimmer.

"Lass dir da mal keine grauen Haare wachsen. Weißt du, ich kenne diese Frau seit zehn Jahren und kenne sie eigentlich doch nicht. Ich staune jeden Tag aufs Neue, weil sie immer wieder mit mir völlig fremden Seiten kommt und das wird so gehen, bis ich eines Tages an Altersschwäche sterbe. Mit Tina ist es keine Sekunde langweilig. Und alle Menschen, die sie neu kennenlernen, staunen über sie, weil sich immer neue Seiten auftun."

"Was machst du eigentlich in meinem Bett?" Michael betrachtet Bernd grinsend.

"Oh, entschuldige bitte, aber ich fand es gemütlicher als den Stuhl."

"Kann ich verstehen. Möchtest du einen Kaffee?"

"Ja, gerne. Soll ich dir in der Küche helfen?"

"Das werde ich nicht ausschlagen. So kriege ich dich wenigstens von meiner Frau weg. Nicht das sie noch auf dumme Gedanken kommt."

Ich schüttele lächelnd den Kopf über Michael und denke zum millionsten Mal, dass ich diesen Mann unendlich liebe.

 

Kapitel 5

 

 

 

Endlich ist der Dienstag da, an dem ich den Termin zur MRT habe. Die Untersuchung findet im Krankenhaus statt und obgleich ich einen festen Termin habe, muss ich eine ganze Weile warten, bis ich dran komme. Das Sitzen fällt mir nach wie vor sehr schwer, weil sich die Schmerzen dann jedes Mal wieder verstärken, und so wird der Nachmittag eine echte Tortur.

Dr. S., der Radiologe, ruft mich persönlich auf und ist erstaunt, mich zu sehen. Wir kennen uns sehr gut, weil ich vor einigen Jahren in seinem Haushalt seine Schwiegermutter gepflegt habe. Mit vereinten Kräften haben wir die alte Dame aus ihrem Rollstuhl wieder auf die eigenen Beine gestellt.

Zuvor hatte sie in einem Altenheim in S. gelebt und war dort mit sehr starken Beruhigungsmitteln ruhig gestellt worden. So ruhig, dass sie schließlich nicht mehr laufen konnte. Auch so eine Sache, bei der man an unserem Gesundheitssystem zweifelt. Denn die Beruhigungsmittel werden von Ärzten verordnet und ich frage mich wirklich, ob diesen Medizinern eigentlich klar ist, was sie da anrichten. Häufig wird es den Heimen sehr leicht gemacht, Beruhigungsmittel nach Gutdünken zu verteilen, ohne das irgend jemand die Verabreichung kontrolliert. Natürlich ist das Ganze auch eine Frage des Vertrauens zwischen Arzt und Heimleitung, aber nur mit der Rezeptausstellung ist es doch wohl nicht getan. Es liegt immer noch im Aufgabenbereich des jeweiligen Arztes, die korrekte Anwendung seiner Verordnungen zu kontrollieren und Beruhigungsmittel nur dort einzusetzen, wo sie auch wirklich angebracht sind. Ganz sicher werden sie nicht hergestellt, um die Bequemlichkeit Pflegekräfte zu fördern.

Dr. S. ist betroffen, als er die Überweisung liest. Langsam habe ich das Gefühl, an einer unheilbaren Krankheit zu leiden. Alle sind zutiefst entsetzt und meinen mich ständig trösten und aufmuntern zu müssen. Dabei sind Bandscheibenvorfälle nun wirklich nichts besonderes, denke ich - jedenfalls noch zu diesem Zeitpunkt.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht lasse ich die Untersuchung über mich ergehen. Trotz einer Knierolle fällt es mir schwer, auf dem Rücken zu liegen.

Gottlob habe ich keine Platzangst. Die Röhre ist extrem klein und eng und ich habe ständig das Gefühl, mit der Nasenspitze an die Decke zu stoßen. Das Gerät macht einen höllischen Lärm, der auch durch die Lärmschutzkopfhörer noch belastend wirkt.

Ich bin froh, als ich nach etwa zwanzig Minuten aus meinem engen Gefängnis befreit werde.

Dr. S. fragt mich, ob die Bilder dringend sind und ich sie gleich mitnehmen möchte. Dann würde er noch eben schnell den Befund diktieren und tippenlassen.

Ich bejahe, nehme wieder im Wartebereich Platz und hoffe, dass es mit dem Brief nicht zu lange dauert. Neben mir sitzt eine junge Frau, die auf ihren Freund wartet. Wir kommen schnell ins Gespräch und sie erzählt mir, dass ihr Freund mittlerweile die vierte Kniespiegelung hinter sich gebracht hat und es ihm von Mal zu Mal schlechter geht. Sein Hausarzt hat ihn jetzt zum Kernspin geschickt, weil er offenbar mit seinem Latein am Ende ist. Leider können wir uns nicht weiter unterhalten, weil Dr. S. auftaucht.

Ich hätte gerne gewusst, bei welchem Vollidiot der Freund die Arthroskopien hat durchführen lassen.

Dr. S. fragt mich, ob ich die Schmerzen wirklich rechts habe, er sei nämlich auf der linken Seite fündig geworden.

Ich bin froh, dass er überhaupt etwas gefunden hat, und das sage ich ihm auch.

"Das ist ganz und gar nicht witzig!", entgegnet er mir. "Das passt nämlich nicht zusammen. Wenn du rechts Schmerzen hast, hat das mit dem Bandscheibenvorfall vermutlich nicht viel zu tun. Aber ich will deinem Orthopäden nicht vorgreifen. Wer weiß, welche anatomischen Besonderheiten du hast. Auf jeden Fall passt es nicht zusammen. Bist du wirklich sicher, dass es rechts wehtut und nicht links?"

„Ja, ich bin mir sicher!“

Dr. S. schüttelt ein bisschen den Kopf und drückt mir die Tüte mit den Bildern und dem Befund in die Hand und, mir gute Besserung wünschend, verschwindet er wieder.

Ich habe keine Ahnung, dass mich diese Seitendiskrepanz noch verfolgen wird.

 

Mein Orthopäde studiert den schriftlichen Befund von Dr. S. mit einem leichten Grinsen. Tatsächlich weist er in seinem Befund auf die Seitendiskrepanz hin.

"Hat er nicht geglaubt, was ich auf die Überweisung geschrieben habe?" Fragend schaut mich Dr. L. an.

"Doch, doch," antworte ich "aber er sagt, der Bandscheibenvorfall ist links und er versteht nicht, warum es rechts wehtut."

Dr. L. versteht es auch nicht, aber eine weitere Untersuchung zeigt deutlich: Die Schmerzsymptomatik ist rechts. Also nehmen wir es so hin. Ändern können wir es nicht. Trotz der Schmerzmittel sind die Schmerzen nur unwesentlich zurückgegangen. Dr. L. entscheidet sich zu einer weiteren Injektion, dieses Mal etwas anders platziert.

Während die junge Dame, die er sich zum assistieren geholt hat, die Injektion nach seinen Anweisungen vorbereitet, zeigt er mir anhand eines Wirbelmodells und einer ewig langen Kanüle, wie diese sich den Weg zwischen meinen Wirbeln hindurch bahnen wird, um den richtigen Injektionspunkt zu finden.

Im Stillen denke ich, dass es mir lieber gewesen wäre, er hätte mir das nach der Injektion vorgeführt. Nicht nur, dass ich nicht zusehen kann, nein, es gefällt mir auch ganz und gar nicht, etwas so spitzes und scharfes wie diese meterlange Kanüle zwischen meinen Wirbeln zu wissen.

Während ich mich auf der Liege zurechtrücke, korrigiert Dr. L. noch schnell die Vorbereitungsmaßnahmen der jungen Dame, indem er ihr sagt, dass er noch eine Führungskanüle benötigt, weil die eigentliche Kanüle viel zu fein ist, um sich den Weg zu bahnen.

Ich finde das nicht gerade beruhigend!

Dennoch muss ich nach vollzogener Injektion zugeben, dass es halb so schlimm war.

Dr. L. lacht ein bisschen über meine Nervosität, gibt aber schließlich zu, dass es ihm wohl auch nicht anders gehen würde.

Anschließend soll ich noch eine Stunde liegen. Dazu führt mich die Sprechstundenhilfe in den oberen Bereich, in dem die Tagesklinik untergebracht ist. Offensichtlich wird heute nicht operiert, denn die Räume sind leer. Im Aufwachraum teilt sie mir eines der Rollbetten, die einer Trage nicht unähnlich sind, zu und lässt mich allein. Bedauerlicherweise scheinen die Räume hier oben nicht sonderlich gut geheizt zu sein, ich fange an zu frieren.

Plötzlich betritt Dr. A. die Räumlichkeiten und erschrickt furchtbar. Schließlich hatte er hier oben ja wohl auch niemanden vermutet.

"Du lieber Gott, wo kommen Sie denn her? Wessen Patient sind Sie denn?"

Ich sage es ihm und er nickt mir zu.

"Dann haben Sie sicher eine Injektion erhalten, ja?" Ich bestätige. Er entschuldigt sich, dass er mich so erschreckt hat und verschwindet. Ich muss lachen: Wer hier wohl mehr erschrocken war?

Nach einer Weile kommt die Arzthelferin wieder, um mich zu befreien. Sie schickt mich an die Anmeldung wegen eines Transportscheines und damit mir ein Taxi gerufen wird.

Dr. L. betrachtet mich staunend, als er mich an der Anmeldung sitzen sieht und will wissen, ob die Stunde wirklich schon um ist. Ich weiß es nicht, wie immer trage ich keine Uhr. Allerdings bin ich, genau wie er, der Ansicht, dass die Stunde längst noch nicht vorbei ist.

Dr. L. zieht ein bisschen unwillig die Augenbrauen hoch und wirft einen kritischen und fragenden Blick auf die Uhr über der Anmeldung, als könnte diese ihm die Antwort geben.

Immer noch ein bisschen zögernd drückt er mir den Transportschein in die Hand und bittet mich, auch am übernächsten Tag, einem Samstag, in die Sprechstunde zu kommen. Er versichert mir, auch selbst anwesend zu sein.

Samstag finde ich mich pünktlich in der Praxis ein und erfahre, dass Dr. L. den Dienst mit Dr. A. getauscht hat.

Ich bin sauer. Leider gehöre ich zu den Patienten, die sich auf einen Arzt einschießen und einen Wechsel, wenn auch nur vertretungsweise, vehement ablehnen. Und so überraschend kann ich das schon gar nicht leiden!

Heute bleibt mir nichts anderes übrig, als mich mit Dr. A. abzufinden, da ich vor allen Dingen auch ein Rezept für Schmerzmittel benötige.

Die Arzthelferin ist sensibel genug, meinen Unmut zu bemerken, und fühlt sich, ihrem Gesicht nach zu urteilen, persönlich für dieses Missgeschick verantwortlich.

Auch Dr. A. bemerkt sofort, dass ich unzufrieden bin. Er entschuldigt sich in aller Form und gibt sich mit mir besonders viel Mühe. Er lässt sich meine Krankengeschichte genau erzählen und nach einer eingehenden Untersuchung empfiehlt er mir, mit Dr. L. über eine Chemonukleolyse, einer chemischen Auflösung der Bandscheibe, zu sprechen.

Auf alle Fälle empfiehlt er mir Stangerbäder und drückt mir auch gleich ein Rezept dafür in die Hand.

Als mich Dr. A. schließlich verabschiedet, entschuldigt er sich noch einmal dafür, dass ich mit ihm vorlieb nehmen musste. Mir ist es mittlerweile schon peinlich, dass ich meinen Unmut so überdeutlich gezeigt habe. Schließlich geben sich alle hier in der Praxis viel Mühe und ich kann es wohl wirklich verkraften, einmal ohne Dr. L. auszukommen.

 

Kapitel 6

 

 

 

Am Montagmorgen packt mich das große Elend. Immer noch nicht in der Lage, meine Strümpfe alleine anziehen zu können, fange ich vor Verzweiflung an zu weinen.

Michael versucht, mich zu trösten, was aber nur Zorn in mir hervorruft. Vollkommen wütend greife ich nach der Blumenvase, die auf meinem Nachttisch steht, und werfe sie mit Schwung an die Wand, wo sie zersplittert.

Das Wasser läuft die Tapete hinunter und die Orchideen, die sich in der Vase befunden hatten, liegen verstreut auf dem Teppich. Die Glassplitter verteilen sich im ganzen Zimmer, bedingt durch die Wucht des Aufpralls.

Diesen unkontrollierten Ausbruch bereue ich im gleichen Augenblick, weil ein heftiger Schmerz durch meinen Rücken schießt. Wie ein Häufchen Unglück bleibe ich auf der Bettkante sitzen, unfähig mich zu bewegen.

Michael starrt mich fassungslos an und stößt schließlich die Frage hervor, ob ich verrückt geworden sei?

Ich antworte nicht, sondern drehe mich mühsam und mit zusammengebissenen Zähnen wieder zurück in mein Bett.

Michael setzt sich auf die Bettkante und nimmt meine Hand, während mir die Tränen über das Gesicht laufen.

"Tina, das wird doch wieder. Du musst Geduld haben, so ein Bandscheibenvorfall behebt sich nun mal nicht so schnell."

Tim erscheint in der Tür und will wissen, was passiert ist. Hinter ihm drängen sich neugierig Amrei und Sarah in die Türöffnung.

Michael antwortet, es sei nichts passiert und er solle sich fertig anziehen. Tim zeigt auf die Bescherung neben der Schlafzimmertür und sagt mit fester Stimme: "Wollen wir wetten, dass das Mami war. Warum hast du denn die Blumen durch die Gegend geworfen? Magst du sie nicht leiden? Sollen wir dir andere hinstellen? Ich kann die aus dem Wohnzimmer holen."

Weg ist er und kommt kurz darauf mit der Kristallvase aus dem Wohnzimmer zurück, die er triumphierend auf meinen Nachtschrank stellt.

"Tim, renn' hier doch nicht mit bloßen Füßen rum! Du siehst doch, dass hier überall Glassplitter liegen!" Mein Mann mault jetzt Tim an, ich seufze.

"Mama, du hättest die Vase ja auch heile lassen können. Man hätte doch andere Blumen rein tun können. Jetzt geht das nicht mehr.“

Ich angele nach Tims Hand und bitte ihn herzukommen. Er klettert auf mein Bett und kuschelt sich mit eiskalten kleinen Füßen an mich. Ich versuche, ihm meinen Wutausbruch zu erklären. Aufmerksam hört er mir zu. Am Schluss streichelt er mir liebevoll das Gesicht und flüstert mir zu, ich solle nicht traurig sein, Dr. L. würde mich schon wieder gesund machen. Ich drücke diesen kleinen, großen Kerl an mich und halte ihn eine ganze Weile in meinen Armen.

Inzwischen hat Michael versucht, im Schlafzimmer Ordnung zu schaffen. Ich krabble wieder aus meinem Bett raus, meine trübselige Stimmung ist, dank Tim, verflogen.

 

Dr. L. ist wieder da und meine Unzufriedenheit vom Samstag erscheint mir jetzt völlig überspitzt. Er möchte, das mir der in der Praxisklinik arbeitende Anästhesist eine epidurale Injektion verabreicht. Er hegt die Hoffnung, dass es dadurch zu einer umfassenden Schmerzlinderung kommt, denn die Injektion, die er mir die Woche zuvor verabreicht hat, hat die erhoffte Wirkung nicht gezeigt. Mit etwas gemischten Gefühlen willige ich ein.

Die Arzthelferin; Frau A. drückt mir ein Einwilligungsformular in die Hand, das ich lesen und unterschreiben soll. Dann schickt sie mich eine Etage höher, wo ich von einer fröhlichen Schwester in Empfang genommen werde.

Im Umkleideraum muss ich meine Kleidung ablegen und werde dafür in ein sogenanntes "Engelshemdchen", ein hinten offenes OP-Hemd, gesteckt.

Die Schwester erklärt mir, dass das nötig ist, weil die Injektion im OP vorgenommen wird und eine gewisse Keimfreiheit gewährleistet sein muss. Bevor sie sich noch weiter auslässt, falle ich ihr ins Wort und erkläre ihr, dass ich eine Kollegin bin und mich auskenne, was dazu führt, dass wir erst einmal ein bisschen fachsimpeln. Sie zeigt sich beeindruckt von meiner Arbeit im Transplantationszentrum und Rettungsdienst und fragt mich ohne Hemmungen aus.

Fertig umgezogen führt sie mich in einen kleinen OP-Raum und lässt mich auf den Tisch krabbeln.

Meine Nervosität steigert sich langsam ins Unerträgliche. Es liegt nicht daran, dass ich Angst vor der Injektion hätte, aber es macht mich wirklich nervös, wenn ich nicht zuschauen kann. Die Injektion erfolgt in die Wirbelsäule und leider habe ich hinten immer noch keine Augen.

Im Juli musste ich mich einer Hysterektomie unterziehen. Der Anästhesist versuchte, mich zu einer Rückenmarkanästhesie zu überreden. Ich antwortete ihm, nur wenn ich bei der Operation zuschauen dürfte. Ein breites Grinsen und der Satz: "Ihretwegen werden wir keine Spiegel aufhängen!", war die Antwort. Wir einigten uns auf eine Vollnarkose ...

Die Schwester bemerkt meine Nervosität und streichelt mir beruhigend den Rücken. Langsam frage ich mich, ob ich so leicht zu durchschauen bin oder ob hier wirklich alle Mitarbeiter so übermäßig sensibel auf Patienten reagieren.

Der Anästhesist, Herr H. ist ein großer, breitschultriger Mann, vor dem man automatisch Respekt hat. Aber auch er reagiert überraschend sensibel auf meine Nervosität und fragt, ob ich Angst habe. Als ich ihm erkläre, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn ich dem arbeitenden Arzt nicht auf die Finger sehen kann, fängt er an zu lachen.

Er verspricht mir, mir genau zu erklären, was er im Einzelnen macht und daran hält er sich, vom ersten bis zum letzten Handgriff. Die Injektion ist nicht schmerzhaft und ich bin Herrn H. dankbar für sein Verständnis.

Nebenbei plaudern wir über meine Arbeit. Unser Chefarzt im Transplantationszentrum ist vor Kurzem im Urlaub irgendwo in südlichen Gefilden verstorben. Ein Herzinfarkt, der ihn am Strand überraschte. Herr H. interessiert sich brennend dafür, mit wem der Doktor wohl am Strand war, dass es ihn so umgehauen hat. Aber dieses Geheimnis kann ich leider auch nicht lüften. Ich füge noch hinzu, selbst wenn ich es wüsste, würde ich es ihm nicht erzählen.

Herr H. staunt über meine Loyalität meinem verstorbenen Chef gegenüber und fragt an, ob ich diesbezüglich immer so zurückhaltend bin. Grinsend schüttele ich den Kopf.

Wir müssen beide ein bisschen über unseren "Kliniktratsch" lachen.

Anschließend soll ich eine Stunde liegen und im Aufwachbereich untergebracht werden. Dummerweise ist das "Bett" noch nicht vorbereitet, was dazu führt, dass die nette Schwester von Herrn H. kräftig angemault wird, warum das nicht längst passiert ist.

Während die Schwester in aller Eile das Rollbett vorbereitet, werde ich von Herrn H. gestützt, obgleich das gar nicht notwendig ist. Ich fühle mich eigentlich ganz wohl.

Aus der einen Stunde werden vier, weil sich heftige Kopfschmerzen einstellen. Eine unliebsame Nebenwirkung der Injektion.

Als mir schließlich wirklich die Tränen laufen und ich die Augen nicht aufhalten mag, bekomme ich ein Schmerzmittel, mit dem sich die Kopfschmerzen langsam verflüchtigen.

Die Rückenschmerzen und die Schmerzen in meinem rechten Bein lassen aber nach der Spritze deutlich nach. Ich bin froh, dass die Injektion nicht umsonst war.

 

Kapitel 7

7 Tage lang bin ich nahezu beschwerdefrei und glaube schon, die Erkrankung hinter mir zu lassen. Kaum ist die Woche um, setzen die Beschwerden mit zunehmender Heftigkeit wieder ein.

Dr. L. ist ein bisschen niedergeschlagen, telefoniert aber sofort mit Herrn H., um die Injektion wiederholen zu lassen.

Dieses Mal bin ich nicht so nervös. Mittlerweile weiß ich genau, was auf mich zukommt, und den Arzt kenne ich auch schon. Außerdem finde ich Herrn H. ausgesprochen sympathisch.

Wahrscheinlich bin ich dieses Mal zu entspannt. Jedenfalls mache ich fast einen Satz vom Tisch herunter, als während der Injektion ein heftiger Schmerz mein rechtes Bein durchzuckt.

Herr H. ist sichtlich erschrocken und bittet mich inständig, möglichst ruhig sitzen zu bleiben und ja nicht vom Tisch zu springen. Es wäre die Verwirklichung einer seiner Albträume, sollte ihm die Kanüle abbrechen, weil ich eine heftige, ungeschickte Bewegung mache.

Mit zusammengepressten Lippen überstehe ich die Injektion und versichere Herrn H., dass ich diese Therapie nicht noch einmal mitmache. Herr H. stimmt mir uneingeschränkt zu. Ihm geht es ähnlich. Auch er ist von dieser Injektion restlos bedient. So einig schaffen wir es beide, uns dann doch noch freundlich anzulächeln.

Dieses Mal sind die unerwünschten Kopfschmerzen nach der Injektion noch heftiger. Ich erhalte aber schon vorbeugend ein Schmerzmittel, Herr H. Ist vorsichtig geworden. Schön, wenn ein Arzt sich die Besonderheiten seiner Patienten merkt. So schaffe ich es, mit zwei Stunden Überwachung auszukommen.

Als ich mich auf den Weg in die Umkleidekabine mache, laufe ich Dr. L. über den Weg, der offenbar noch OP-Termine hat, wie man unschwer an seiner Vermummung erkennen kann. Bestürzt fragt er, ob ich so lange habe warten müssen, weil ich jetzt erst gehe. Ich erzähle ihm kurz von meinen heftigen Kopfschmerzen. Ein bisschen besorgt fragt er, ob ich wirklich in der Lage bin, nach Hause zu fahren. Momentan ja!

 

Tatsächliche Probleme bekomme ich erst zu Hause. Mit unverhoffter Heftigkeit setzen die Kopfschmerzen wieder ein und zu allem Überfluss muss ich mich auch noch laufend übergeben. Ich bin restlos bedient und wieder holt mich der große Jammer ein. Mein ansonsten unerschütterlicher Optimismus macht einer Verzweiflung Platz und so heule ich stundenlang in meine Kissen.

Michael ist völlig hilflos. Er weiß nicht, wie er mir helfen soll und versucht, mich in irgendeiner Form zu trösten. Da ich mich ständig übergeben muss, bleiben natürlich auch die Schmerzmittel nicht drin, sodass der heftige Kopfschmerz nicht in den Griff zu kriegen ist.

Michael tut, was er kann: Er hält meinen Kopf, wenn ich mich immer und immer wieder übergeben muss; wischt mir das Gesicht mit einem kalten Waschlappen ab und kocht mir schließlich mitten in der Nacht noch Tee, den er mir dann auch noch teelöffelweise einflößt. Hin und wieder fragt er vorsichtig an, ob er nicht vielleicht doch einen Arzt rufen soll, was ich jedes Mal stur ablehne. Schließlich muss doch dieses ewige Erbrechen mal aufhören.

Außerdem wirkt die Spritze dieses Mal nicht. Ich quäle mich die ganze Nacht mit heftigen Kopf- und Rückenschmerzen und kann irgendwann nicht mehr differenzieren, was mehr weh tut. Die erhoffte Linderung der Beschwerden setzt nicht ein.

Michael bleibt die ganze Nacht auf, hält meine Hand, versucht immer wieder mir Tee einzuflößen und zweimal in dieser Nacht versucht er, mir die Schmerzmittel zu verabreichen, die aber immer wieder den Weg nach draußen finden.

Schließlich ist ihm mein ständiger Widerspruch egal und er ruft unsere Hausärztin an.

Birgit, die nicht weit weg wohnt, ist schnell da und schimpft ein bisschen, weil wir sie nicht früher geholt haben. Sie gibt mir eine Injektion, zusammengesetzt aus einem Antiemetikum und einem Analgetikum.

Mittlerweile ist es Morgen und draußen wird es bereits hell. Ich bekomme nicht mehr mit, dass Birgit sich verabschiedet. Völlig erschöpft und am Ende mit meiner Kraft schlafe ich ein.

 

Bei meinem nächsten Besuch jammere ich Dr. L. die Ohren voll, weil die Injektion nichts gebracht hat. Er gibt zu bedenken, dass Cortison die Beschwerden auch vorübergehend

verstärken kann.

Ich nicke: "Das hat mein Sohn auch gesagt!"

Dr. L. sieht mich verwundert an.

"Hat Ihr Sohn Ahnung von so was?"

"Er studiert Medizin in Göttingen."

"So einen erwachsenen Sohn haben Sie schon? Wie alt ist er denn?" Völlig verblüfft starrt Dr. L. mich an.

"Beinahe zwanzig," sage ich mit einem leichten Grinsen.

"Ich war noch keine sechzehn, als ich schwanger wurde."

Dr. L. klappt der Unterkiefer nach unten, aber er zieht es vor, nicht weiter darauf einzugehen.

Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als das erste Mal meine Regel ausblieb. Ich war fünfzehn und hatte den allerersten intimen Kontakt gehabt.

Das lag fast vier Wochen zurück. Jörg hieß der Junge und ich mochte ihn, wegen seiner ruhigen, netten Art.

Durch meine Schäferhündin Taps hatten wir uns kennengelernt. Taps folgte mir überall hin und verließ nie meine rechte Seite. Das hatte ihn fasziniert.

An einem Nachmittag nahm er mich mit zu sich nach Hause. Was dann passierte, hatten wir weder gewollt noch geplant: Romeo und Julia auf anatomischer Entdeckungsreise.

Völlig überwältigt von unserer gegenseitigen Zärtlichkeit und Hingabe schliefen wir miteinander. Es war für uns beide das erste Mal und es war keineswegs unangenehm.

Dann blieb meine Regel aus und der Schreck war riesig. Natürlich war ich aufgeklärt und als Arzttochter wusste ich über Verhütungsmittel bestens Bescheid. Doch was nutzte das jetzt noch?

Ich erzählte Jörg davon und er bekam Panik, wie man sich leicht vorstellen kann.

Für ihn war völlig klar, dass es, da mein Vater Arzt war, sicher ein Leichtes sei, diese vermutliche Schwangerschaft schnell zu beenden.

Ich war zutiefst schockiert. Auch wenn ich keineswegs glücklich war, war mir der Gedanke Leben zu töten unerträglich. Ich ließ Jörg stehen. Kurze Zeit später zog er mit seiner Familie weg. Ich habe ihn nie wieder gesehen.

Ich selbst freundete mich immer mehr mit dem Gedanken an, schwanger zu sein und fand es schön und aufregend. Als meine Regel zum zweiten Mal ausblieb, war ich mir sicher. Von da an sass ich oft träumend in der Gegend herum und streichelte gedankenverloren und zärtlich meinen Bauch. Ich bemerkte die prüfenden Blicke meines Vaters nicht.

Eines Tages, ich sass in meinem Zimmer bei den Hausaufgaben, denn schließlich ging ich ja noch zur Schule, klopfte mein Vater an meine Tür. Es war früher Nachmittag, mitten in der Woche und ich staunte, dass er schon zu Hause war. Er arbeitete als Chirurg im Krankenhaus und kam nie vor achtzehn oder neunzehn Uhr nach Hause. Hatte er einen "kritischen" Patienten, konnte es passieren, dass er gar nicht nach Hause kam.

Ich war also verblüfft, ihn zu sehen.

"Kann ich mit dir reden, Tina?" Er stand neben meinem Schreibtisch und sah auf mich herunter.

"Klar," antwortete ich. "Wieso nicht?"

"Wir sind immer offen und ehrlich miteinander umgegangen. Du bist mit all deinen Problemen zu mir gekommen und ich war immer stolz darauf, dass du so großes Vertrauen zu mir hattest."

"Wieso hattest? Das habe ich doch immer noch."

"Wirklich? Na schön! Ich werde dir jetzt eine Frage stellen, die du mit 'Ja'

oder 'Nein' beantworten kannst. Sagst du 'Ja', können wir uns weiterunterhalten, sagst du 'Nein', gehe ich ohne jede weitere Frage."

Ich begriff nicht, worauf er hinauswollte und nickte nur. "Also gut." Mein Vater nahm meine Hand, brachte seinen ganzen Mut auf und holte tief Luft: "Bist du schwanger?"

Die Gedanken in meinem Kopf schlugen Purzelbaum.

Wie konnte er das wissen?

Was sollte ich ihm antworten?

Wirklich die Wahrheit?

Ich wusste es nicht und schwieg.

Ich liebte meinen Vater über alles und wollte ihn auf gar keinen Fall verletzen.

"Nun Tina, ich warte!"

Seine Stimme durchbrach die Stille des Zimmers, in der ich überdeutlich meinen eigenen Herzschlag hörte. Oder war es der meines Babys?

Oder vielleicht der meines Vaters?

Ich hatte keine Ahnung. Eher mechanisch öffnete ich meinen Mund: “Ja!”

Dieses 'Ja' dröhnte in meinen Ohren und schien meinen Schädel auseinandersprengen zu wollen.

Mein Vater sagte erst einmal längere Zeit gar nichts, dann zog er mich liebevoll von meinem Schreibtischstuhl hoch und schloss mich, immer noch schweigend, in seine Arme. Ich fühlte mich unsagbar geborgen.

Endlich zog er mich zu meiner Couch und wir nahmen beide Platz.

"Ich habe es gewusst.", sagte er leise, meinen Fußboden anstarrend, als sei der Teppich das interessanteste, was er seit Langem gesehen hatte.

"Woher?" Meine Stimme klang heißer.

"Ich bin Vater von sechs Kindern und so verträumt und den Bauch streichelnd wie du in der letzten Zeit, sass deine Mutter auch immer da, wenn sie schwanger war."

Wir schwiegen wieder.

"Wir fahren jetzt gemeinsam zu einem Gynäkologen, ich habe dich bereits angemeldet - oder möchtest du lieber mit deiner Mutter dorthin gehen?"

Ich schüttelte den Kopf, irgendwie überrannte er mich.

"Dann komm!"

 

Als wir die gynäkologische Praxis wieder verließen, hielt ich den Mutterpass in meinen Händen und glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Mein Vater hielt mir die Autotür auf und ließ mich einsteigen.

"Willst du das Baby austragen?", fragte er mich, während er mich prüfend betrachtete.

"Ja."

"Willst du mir den Namen des Vaters nennen?"

"Nein."

Mein Vater nickte bedächtig.

"Und wenn du das Baby dann bekommen hast, willst du es dann behalten?"

"Ja!", antwortete ich genauso fest wie zuvor.

Mein Vater wendete mir den Kopf zu und schloss mich in seine Arme.

"Ich bin von Herzen froh, dass du so denkst. Wir werden das schon zusammen schaffen. Willst du weiter zur Schule gehen?"

"Ja natürlich, ich meine, solange es geht."

 

Am 02. Januar 1979 erblickte Filius nach neunzehn Stunden heftiger Wehen das Licht der Welt. Während der ganzen Zeit hatte mein Vater neben mir gesessen und meine Hand gehalten. Er tupfte mir den Schweiß vom Gesicht und als die Presswehen einsetzten, hielt er meinen Kopf.

Er hat niemals mehr nach Renés Vater gefragt und dafür habe ich ihn mehr als je zuvor geliebt.

In der unglaublichen Zeitspanne von nur wenigen Sekunden tauchen diese Erinnerungen vor meinen geistigen Augen auf.

Ganz in Gedanken versunken, bekomme ich fast nicht mit, was Dr. L. mir weiterhin erzählt.

Zum ersten Mal spricht er mich auf eine Krankenhauseinweisung an. Ich bin entsetzt. Wenn ich etwas hasse, dann ist es, als Patient ins Krankenhaus zu gehen.

Vielleicht ist die Abneigung bei mir stärker ausgeprägt, weil ich Krankenschwester bin und den Apparat nur zu gut kenne.

Da ich mich so vehement zur Wehr setze, einigen wir uns zunächst auf eine Weiterführung der konservativen Therapie. Das heißt Krankengymnastik, Massagen, Bewegungsbäder, Reizstromtherapie und natürlich Medikamente, alles wie gehabt.

 

Aber es nutzt nichts. Einige Zeit später muss ich mich geschlagen geben und bekomme eine Einweisung nebst Transportschein für einen Liegendtransport in die Hand gedrückt.

Dr. L. empfiehlt mir ein Krankenhaus in unserer Landeshauptstadt. Ein Telefonanruf meinerseits dort ergibt, dass erst mal keine Betten frei sind. Ich muss mich also in Geduld üben.

So haben Michael und ich aber Zeit genug, darüber nachzudenken, wer während meines Krankenhausaufenthaltes unsere Kinder versorgt. Eine Haushaltshilfe wäre eine Alternative, aber leider nicht ausreichend. Da mein Mann keine festen Arbeitszeiten hat, wird es schwierig, mit einer Haushaltshilfe einen Zeitplan aufzustellen. Es muss also noch jemand anderes gefunden werden. Am besten jemand, der über Nacht bleiben kann ...

 

Gerade sind meine Schwiegereltern aus Kanada zurückgekehrt. Die meiste Zeit des Jahres verbringen sie in Boswarlos, einem kleinen Fischerdorf in Neufundland auf der Halbinsel Port au Port, wo sie dabei sind, ein behindertengerechtes Feriendorf aufzubauen. Ein Traum meines Schwiegervaters, der selbst durch eine Kinderlähmung, die er als Kind durchmachte, behindert ist. Zudem bringt er als Architekt natürlich auch noch das nötige Fachwissen mit.

Meine Schwiegermutter erklärt sich sofort bereit, bei uns einzuhüten. Ich bin ihr wirklich dankbar. So ist es mir möglich, ohne Sorge um die Kinder ins Krankenhaus gehen zu können.

Es dauert vierzehn Tage, bis ich den Aufnahmetermin mitgeteilt bekomme.

Mittlerweile ist meine Schwiegermutter bei uns eingetroffen und es reicht sogar noch, sie mit den Besonderheiten unseres Haushaltes vertraut zu machen und ihr die Angst, sie könnte irgendetwas falsch machen, zu nehmen. Nach anfänglichem Zögern und Unsicherheiten fühlt sie sich endlich bei uns heimisch. Auch die Kinder haben sich mittlerweile an die ein bisschen "fremde" Oma gewöhnt. Normalerweise sehen wir uns höchstens einmal im Jahr für wenige Tage, sodass den Kindern die Oma wirklich ein bisschen fremd ist. Da meine Schwiegermutter aber ein sehr einnehmendes Wesen hat, hängen die Kinder bald mit einer unglaublichen Zärtlichkeit an ihr.

Für den Transport ins Krankenhaus bestelle ich mir die Johanniter - wen auch sonst, schließlich bin ich selbst stolze und überzeugte Johanniterin.

Die beiden Jungs, die mit dem Krankenwagen angerückt kommen, sind zum Teil von mir ausgebildet worden. Seit Jahren arbeite ich schon als Ausbilderin und unterrichte in diversen Kursen, die innerbetrieblich oder auch für die Öffentlichkeit stattfinden.

Eines meiner Ausbildungsthemen sind orthopädische Notfälle in Krankentransport und Rettungsdienst. Unter bestimmten Kriterien gehört auch der Bandscheibenvorfall dazu. Kein Wunder also, dass meine beiden Kameraden mich mit breitem Grinsen in Empfang nehmen.

Während Dirk fährt, gibt sich Marcel alle Mühe, das bei mir gelernte entsprechend umzusetzen. Ständig fragt er mich, ob ich gut liege, mir auch nicht zu kalt ist oder ob er sonst etwas für mich tun kann. Wenn ich meinen "Jungs" in der Ausbildung auch immer einschärfe, dass die psychische Betreuung des Patienten das A und O in Krankentransport und Rettungsdienst ist, geht mir Marcels übertriebene Fürsorge gewaltig auf die Nerven.

Dafür bin ich Dirk umso dankbarer, der sich an das bei mir Gelernte erinnert und aus dem Transport ins Krankenhaus einen echten Schontransport macht. Er fährt sehr vorsichtig und warnt mich sogar einige Male vor Straßenunebenheiten.

Zwischendurch hält Marcel immer wieder für Momente meine Hand, kann es aber trotzdem nicht lassen, sich ein bisschen über mich lustig zu machen. Natürlich, wer den Schaden hat ...

 

Als wir am Zielort ankommen, bin ich wirklich froh. Die Fahrerei hat mir doch zu schaffen gemacht und außerdem kann ich es nicht abwarten, Marcel endlich loszuwerden. Den Weg zur zentralen Patientenaufnahme müssen wir suchen. Anscheinend sind wir zu blöd, die Ausschilderung zu lesen. Die beiden maulen mich schließlich an, ich müsste mich doch eigentlich auskennen. Ich sei doch diejenige, die in dieser Stadt im Rettungsdienst arbeitet.

Sie haben ja recht und die Zufahrten zu den Notaufnahmen kann ich ihnen ja auch zeigen, aber die zentrale Patientenaufnahme ist nun einmal etwas anderes. Die erreicht man nicht mit dem NEF oder dem RTW.

Schließlich finden wir sie aber durch kooperatives Ausschauhalten nach Hinweisschildern.

Nachdem mich Dirk und Marcel sicher in die zentrale Patientenaufnahme begleitet haben und eine Dame vom Patientenbegleitdienst sich meiner annimmt, verabschiede ich die beiden. Beide drücken mir einen kräftigen Kuss auf die Wange und weisen die Dame, die staunend neben uns steht, daraufhin, dass sie sich besonders gut um mich kümmern muss, da ich das Maskottchen der JUH-Belegschaft sei. Das ist nun wirklich eine Frechheit. Immerhin bin ich doch wohl eine ernst zu nehmende Ausbilderin.

Tatsächlich habe ich mittlerweile die Lehrbefähigung als Rettungsassistentin. Bei der JUH bilde ich aber meistens betriebsintern Sanitätshelfer und Rettungshelfer aus. In der praktischen Unterweisung

unterrichte ich auch gelegentlich angehende Rettungsassistenten. Außerdem führe ich sogenannte Bevölkerungskurse durch, wie z. B. Erste Hilfe, Erste Hilfe am Kind und Herz-Lungen-Wiederbelebung. Meine Lieblingskurse sind aber die "Ersthelfer von Morgen". In diesen Kursen werden schon Kindergartenkinder in die Grundsätze der Ersten Hilfe eingewiesen und oft können die Kleinen damit besser umgehen als die Großen. Zum Teil liegt das natürlich daran, dass Kinder im Umgang mit den Dingen der Ersten Hilfe, wie z. B. einen anderen Menschen berühren zu

müssen, keine oder nur eine geringe Hemmschwelle haben. Selbst die Herz- Lungen-Wiederbelebung beherrschen die kleinen Ersthelfer schneller und besser als viele Erwachsene. Für Kinder haben wir eine spezielle Beatmungspuppe, den Junior. Von der Größe her entspricht sie in etwa einem sechs- bis siebenjährigem Kind. Ganz besonders lieben die Kinder aber unser Beatmungsbaby, das einem ungefähr vierwöchigen Säugling verblüffend ähnlich sieht. Da die Beatmung eines Säuglings vorsichtig und ohne Kraftaufwand erfolgen muss, sind Kinder geradezu prädestiniert für die Wiederbelebung. Es ist auch keineswegs so, dass Kinder in einem echten Notfall vor der notwendigen Hilfe zurückschrecken. Wenn Kinder einmal etwas gelernt und begriffen haben, haben sie keine Hemmungen mehr, das Gelernte auch anzuwenden.

Es waren auch Kinder, die unseren beiden Puppen zu Namen (Johannes und Johanna) und zu Kleidung verhalfen. Gerade für die kleinsten unter den Ersthelfern, nämlich die Kindergartenkinder, gibt es dann noch unsere Handpuppen Joni und Jona, mit deren Hilfe wir spielerisch und mit lustigen Dialogen die Erste Hilfe vermitteln. Dazu gehört natürlich auch ein bisschen schauspielerisches Talent, aber das ist mir wohl in die Wiege gelegt worden.

Eine Ausbildungsgruppe des Bundesausbildungsdezernates der JUH in Bonn hat zudem noch Lieder für Ersthelfer konzipiert, von denen das absolute Lieblingslied der Kinder "Mein Herz macht Bum-Bum" ist.

Anatomie leicht gemacht.

Dieser Ohrwurm geht aber auch Erwachsenen nicht mehr aus dem Gehörgang, wie wir vor einiger Zeit in Köln einmal feststellen konnten. Ein ganzes Rudel Rettungsmediziner und Rettungssanitäter bzw. -Assistenten lernte auf einem Symposium die Melodien und Lieder kennen. Auf unserem gemeinsamen Weg in die Kölner Innenstadt fing irgendjemand in der S- Bahn an, leise "Mein Herz macht Bum-Bum" vor sich hinzusingen und nacheinander fielen etwa fünfzig Stimmen ein und ernst zu nehmende Rettungsdienstler jeder Spezies wurden in ihren Herzen zu Kindern.

Übrigens: Den Kölnern hats gefallen!

Unsere kleinen Ersthelfer sind in der Regel furchtbar stolz auf ihre neuerworbenen Kenntnisse, ganz besonders, wenn sie am Ende eines Kurses eine Urkunde in die Hand gedrückt bekommen und mit - zig Verbänden geschmückt, die sie sich gegenseitig angelegt haben, nach Hause gehen.

Vor einiger Zeit haben wir diese Kurse in unserer Landeshauptstadt in Arztpraxen jeder Fachrichtung an Mittwochnachmittagen durchgeführt. Der Erfolg war gigantisch und die Kurse hoffnungslos ausgebucht.

Das alles erzähle ich der Patientenbegleiterin, die mich ohne Pause ausfragt, während wir auf meinen Aufruf warten. Sie ist begeistert über die "Ersthelfer von morgen"; von diesen Kursen hatte sie noch nichts gehört, findet sie aber prima.

 

Nach dem Aufruf begrüßt mich in der Patientenaufnahme Frau H., die sehr staunt, dass Dr. L. mittlerweile niedergelassener Arzt in meiner Heimatstadt ist. Sie erzählt mir, dass er noch bis September hier im Haus gearbeitet hat. Da sie selbst in Urlaub gegangen ist, hat sie seinen Wechsel nicht mitbekommen. Auf jeden Fall schwärmt sie in den höchsten Tönen von ihm, schließlich ist er ein überaus freundlicher Mensch. Sie freut sich, dass ich ihr ohne Zögern zustimme.

Die Dame vom Patientenbegleitdienst führt mich nach erfolgter Anmeldung auf die Station. Ein etwas brummiger Pfleger nimmt mich in Empfang und begleitet mich in mein Zimmer. Er weist mir das mittlere der drei Betten zu und macht sich schleunigst aus dem Staub. Schließlich könnte es ja passieren, dass ich ihn bitte, mir beim Auspacken meiner Tasche behilflich zu sein. Die beiden Damen, die das Zimmer mit mir teilen, hat er mir auch nicht vorgestellt. Irgendwie stört mich seine Art.

Was mich allerdings viel mehr stört, ist das ungepflegte Zimmer: Auf der Lichtleiste, die über den Betten verläuft, findet sich zentimeterdicker Staub.

In einer Zimmerecke hängt gar eine Spinnwebe und die Waschecke hat auch seit Längerem keine Putzfrau mehr gesehen.

Erst einmal aber stelle ich mich den beiden Damen vor, die mich mit unverhohlener Neugier mustern. Beide sind nicht mehr die Jüngsten und eine der beiden Damen scheint auch noch schwerhörig zu sein.

Meine ausgestreckte Rechte wird aber von beiden mit großer Freundlichkeit ergriffen und das warme Lächeln, dass sie mir schenken, muntert mich ein bisschen auf.

Noch während ich bei meiner Auspackerei bin, kommt die Visite durch. Da ich gerade erst eingetroffen bin, nehmen die vier Weißkittel keinerlei Notiz von mir. Lediglich eine kurze Frage an den Pfleger, was vorliege und die Anweisung, mein Bett in Stufe zu stellen, beziehen sich auf mich.

Klasse, diese Frage hätte ich auch alleine beantworten können, aber dann hätten die vier sich ja vorstellen müssen.

Unglaublich, was das an Zeit in Anspruch genommen hätte! Dann doch lieber die neue Patientin ignorieren.

Nicht einmal zu einem 'Guten Tag' lassen sich die Herren herab. Meine Stimmung sinkt immer mehr dem Nullpunkt entgegen.

"Das geht hier immer so." sagt meine rechte Bettnachbarin, die meinen Gesichtsausdruck richtig deutet. "Ich habe mich schon daran gewöhnt. Es bleibt einem ja auch nichts anderes übrig."

Jetzt bin ich aber doch geplättet. Ich fand das Verhalten der vier Weißkittel absolut unhöflich und bin keineswegs gewillt, mir das ohne weiteres gefallen zu lassen.

Zumindest die gebräuchlichsten Regeln der Höflichkeit und des guten Benehmens sollten die Herren Akademiker doch wohl beherrschen.

Ansonsten können sie bei mir gerne noch Nachhilfeunterricht bekommen.

 

Der Pfleger kommt zurück, um mein Bett einzustellen und mich nach meinen Essenswünschen zu fragen.

Mit den sechs kleinen Mahlzeiten, die ich am Tag wegen meiner Magengeschichte benötige, scheint er tatsächlich überfordert zu sein. Laut überlegt er, wie er das der Küche begreiflich machen soll und starrt ein bisschen ratlos die Essenkarten an. Da ich das System kenne, bitte ich ihn, Diätkarten zu holen, und fülle diese schließlich selbst aus. Auf diesen Karten kann man nämlich die sechs Mahlzeiten ankreuzen. Offenbar hat ihm das noch keiner gezeigt.

Meine beiden Bettnachbarinnen staunen mich an, aber auch der Pfleger kann sich einen etwas erstaunten Blick nicht verkneifen.

Wenn der so weiter macht, wird er noch öfter staunen, denke ich bei mir und finde mich im gleichen Moment ein bisschen gehässig.

"Ich hole Sie dann gleich zur Pflegeanamnese ab. Ich muss nur erst die Essensbestellung loswerden, sonst müssen Sie heute hungern." Damit ist er erst einmal wieder verschwunden.

Jetzt habe ich Zeit, mir meine Zimmerkolleginnen ein bisschen genauer zu betrachten. Beide sind sicher schon weit über siebzig Jahre alt. Im Verlauf des Tages erfahre ich, dass die eine 79 Jahre und die andere gar schon 86 Jahre alt ist.

Meine linke Bettnachbarin ist recht gut zu Fuß. Sie berichtet mir von ständigen Rückenschmerzen, die sie nicht mehr loswird. Da sie zu Hause alleine lebt, hielt ihr Arzt es für richtiger, sie einzuweisen. Seit 14 Tagen ist sie hier und befindet sich auf dem Weg der Besserung.

Meiner rechten Bettnachbarin geht es deutlich schlechter. Ihre Haut ist ungewöhnlich blass und sie hat kalte und feuchte Hände. Als ausgebildete medizinische Fachkraft habe ich sofort den zentralen Venenkatheter registriert, der aus ihrer Vena jugularis interna, einer Halsvene auf der linken Körperseite, herausführt. Seit Mai wird sie hier im Haus behandelt, erzählt sie mir. Dabei sollte es doch eine ganz einfache Hüftgelenk-OP sein. Leider hat sich die Operationswunde infiziert und der Infekt ist, trotz mehrfacher erneuter OPs, nicht in den Griff zu bekommen. Wenn ich mich so in diesem unsauberen Krankenzimmer umsehe, wundert mich das gar nicht.

Der Pfleger, der es nach dem dritten Anlauf endlich schafft, sich vorzustellen, holt mich zur Pflegeanamnese ab. In diesem Gespräch ermittelt er zum Beispiel, in wie weit ich durch meine Erkrankung eingeschränkt bin.

Daraus kann sich der Umfang der Pflege ergeben. Aber auch meine Vitalwerte (Blutdruck, Puls und Temperatur) werden ermittelt und festgehalten.

Zu diesem Gespräch führt mich der Pfleger, dessen Name Andreas ist, mich - ich kann es kaum glauben - in den Spülraum.

Ich finde es zwar außerordentlich freundlich und aufmerksam von ihm, dass er meine Intimsphäre wahren will, aber muss er mich dafür wirklich in die Spüle lotsen, wo sich Bettpfannen, Urinflaschen und Wasch- und Nierenschalen stapeln?

Als er mich auffordert, auf einem Toilettenstuhl Platz zu nehmen, ziehe ich es vor, stehen zu bleiben und ihn mit einem scharfen Blick zu mustern. Ich bin gespannt, wann er merkt, dass er mich verärgert. Er bemerkt meinen Unmut tatsächlich und entschuldigt sich damit, es sei zur Zeit kein anderer Raum frei. Als ich darauf nicht reagiere, entschließt er sich dann doch, mich im Flur in eine ruhige Sitzecke zu bitten. Na also, warum denn nicht gleich?

Mit meiner chronischen Refluxoesophagitis tut er sich dann wieder schwer. Er überlegt laut, wie man Oesophagitis wohl schreibt, nun ja, medizinische Nomenklatur ist nicht jedermanns Sache.

Als ich ihm behilflich sein will, erklärt er kategorisch, er schaue im Pschyrembel nach. Meinetwegen soll er ruhig. Wenn er es einmal richtig gelesen hat, kann er es sich vielleicht auch für die Zukunft merken.

Endlich bin ich damit durch und darf in mein Bett kriechen. Im Liegen geht es mir immer noch am Besten. Ruhe bekomme ich aber nicht, denn meine beiden Damen im Zimmer fangen an, sich lauthals zu streiten.

Klasse - und ich habe das Bett in der Mitte. Ich bin zu geschafft, um mir anzuhören, über was die beiden sich eigentlich in den Haaren liegen, fühle mich aber hoffnungslos genervt und ärgere mich, dass ich mich von Dr. L. zu diesem Krankenhausaufenthalt habe überreden lassen.

Das ist natürlich ein bisschen ungerecht, denn der arme Kerl kann nun wirklich nichts zu diesen Zuständen, aber einer muss ja schließlich schuld sein. Die beiden Damen unterbrechen ihren Streit erst, als ein Herr das Zimmer betritt, der sich als Masseur herausstellt. Während er die eine bearbeitet und locker einen Witz nach dem anderen zum besten gibt, grummelt die Andere säuerlich vor sich hin. Jedenfalls schafft der Masseur es, mich ein bisschen aufzuheitern, als er mir verkündet, er freue sich, endlich einmal wieder einen "Uhu" begrüßen zu dürfen. Mein Blick ist wohl etwas einfältig, denn er kugelt sich fast vor Vergnügen.

"Mensch Mädchen! 'Uhu' heißt 'unter hundert', ist doch logisch oder?"

Eine der beiden Damen beschwert sich jetzt, sie sei schließlich auch ein 'Uhu', das solle er ja nicht vergessen.

"Liebe Dame, das sieht man Ihnen aber gar nicht an." grinst er frech.

Offenbar kennen die beiden Damen den Herrn etwas besser, denn beide fangen schallend an zu lachen und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mitzulachen. Warum auch nicht!

Aber es heißt ja bekanntlich, lachen ist gesund und ich fühle mich durch das Lachen zumindest etwas befreit und bin bei dem Gedanken an Dr. L. Und meine Einweisung wieder versöhnlicher gestimmt.

 

Als das Mittagessen kommt, kontrolliere ich sofort, ob die Zwischenmahlzeit für 15.00 Uhr auf dem Tablett steht. Sie ist da. Na also, es funktioniert doch.

Der Pfleger weist freundlich daraufhin, dass Oesophagitis mit 'oe' geschrieben wird. "Ja, und mit ph'", rutscht es mir heraus. Dafür ernte ich dann auch gleich wieder einen grimmigen Blick. Lieber Himmel, lerne ich es denn nie, mich auch mal zurückzuhalten?

Meine Magenmedikamente habe ich vorsichtshalber mit ins Krankenhaus genommen, genauso wie das Beofenac und das Mydocalm. Nur die Tramal natürlich nicht. Wenn jetzt nicht bald ein Arzt für mich Zeit hat, komme ich mit der Schmerzmedikation nicht hin.

Trotz mehrmaligem Nachfragen passiert nichts. Immer wieder werde ich vertröstet. Mein Rücken lässt sich aber nun einmal nicht vertrösten.

Langsam wird es sehr unangenehm, die Schmerzspitzen nehmen zu. Da ich eine disziplinierte Patientin bin, das bilde ich mir zumindest ein, und mich auskenne, nehme ich meine Medikamente nach einem strengen Zeitplan, auf den ich mich selbst und mit viel Mühe eingestellt habe. Aber irgendwie bricht der gerade zusammen. Da sich niemand zuständig fühlt, muss ich mich wohl oder übel gedulden.

Erst am späten Nachmittag findet Dr. B. Zeit, die Aufnahmeuntersuchung durchzuführen, mittlerweile geht es mir richtig schlecht. Die Schmerzen haben ihren Höhepunkt erreicht und ich bin furchtbar gereizt.

Dr. B. gibt sich lässig-jovial, irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass er ein absoluter Besserwisser ist. Mit dem Ausfüllen des Anamnesebogens stellt er sich jedenfalls an, als sei es der Erste, den er jemals in seinem Leben gesehen und ausgefüllt hat. Wie ein AiP'ler, schießt es mir durch den Kopf.

Während er mir Fragen zu meiner Erkrankung stellt und den Antworten lauscht, klopft er permanent mit seinem Kugelschreiber auf die Kante des Schreibtisches. Es fehlt nicht mehr viel und ich nehme ihm dieses blöde Spielzeug weg.

Als wir zu meiner Medikation kommen, will er als erstes meine Medikamente für den Magen ändern. Mein Einwand, dass ich recht mühsam auf diese Medikamente eingestellt worden bin, will er nicht gelten lassen, schließlich würde Antra wohl auch seine Wirkung zeigen. Antra hat er im

übrigen auf der Station und das Pantozol, auf das ich eingestellt bin, muss er erst bestellen. Ich lasse mich nicht beirren, schließlich handelt es sich um meinen Magen. Ich erkläre ihm mit freundlichem Lächeln, dass Antra sicher seine Wirkung zeigen wird, und zwar in massivem Erbrechen und ständiger Übelkeit - längst getestet und für schlecht befunden. Grummelnd notiert er sich das Pantozol und die Dosierung.

Die Medikamente, die mir Dr. L. verordnet hat, will er auch allesamt streichen. Mir wird es zu bunt und ich reagiere wütend.

"Hören Sie mal. Ich sehe mich in keiner Weise genötigt, die Medikation jedes dahergelaufenen Orthopäden aufrecht zu halten."

Nun bin ich aber wirklich sauer:

"Dr. L. hat sich jede Mühe gegeben, die Medikamente auf meine chronische Magenerkrankung abzustimmen. Ich werde nicht zulassen, dass Sie das einfach so ändern. Es geht hier nämlich um mich. Es wäre wirklich nett, wenn Sie bedenken würden, dass ich der Patient bin. Glauben Sie ja nicht, dass ich das widerspruchslos hinnehme."

Mit so viel gesundem Selbstbewusstsein meinerseits hat Dr. B, nicht gerechnet. Ein bisschen verblüfft sieht er mich an. Dennoch glaubt er, immer noch einen Trumpf im Ärmel zu haben. So weist er mich daraufhin, dass er die Medikamente festlegt und ich zu nehmen habe, was mir das Pflegepersonal hinstellt.

Über diese Form der Machtdemonstration gerate ich nun wirklich in Zorn. Dennoch versuche ich Dr. B. möglichst sachlich, meinen Standpunkt klar zu machen: "Glauben Sie ja nicht, dass ich hier Versuchskaninchen spiele. Und was Ihr kleines Machtspielchen anbelangt, versuchen Sie es ruhig. Ich kann Ihnen versichern, dass ich meine Medikamente dabei habe und ich werde darauf zurückgreifen, wenn Sie nicht bereit sind, die Medikation zu übernehmen und weiterzuführen."

Ich habe Erfolg: Dr. B. gibt sich geschlagen und notiert schweigend meine Medikation. Ich finde es wirklich bedauerlich, dass die erste Begegnung von Dr. B. und mir so unharmonisch verläuft. Keine gute Basis, denke ich bei mir.

Offensichtlich kann Dr. B. aber mit meinem selbstbewussten Auftreten umgehen. Er fragt mich noch nach dem Tramal und in welcher Dosis ich es für gewöhnlich zu mir nehme. Ich erläutere ihm, dass ich mit 400 mg am Tag auskomme, aber auf eine geregelte Einnahme alle 6 Stunden angewiesen bin. Auch das notiert er sich. Als er mich schließlich wieder in mein Bett schickt, hat er dann doch noch ein aufmunterndes Lächeln für mich über.

Kurze Zeit später bringt mir eine Schwester meine gewohnten Abendmedikamente und stellt mir einen Becher mit Tramaltropfen auf den Nachttisch, nicht ohne darauf hinzuweisen, ich solle sie besser gleich nehmen. Bei meinen Schmerzen wäre ich da nie drauf gekommen!

Meine beiden Leidensgefährtinnen versuchen, mich ein bisschen auszufragen. Vor allen Dingen wollen sie wissen, wie ich Dr. B. finde. Ich gebe mich erst mal bedeckt, was die beiden ein bisschen verärgert. Aber momentan würde ich sicher kein gutes Haar an ihm lassen und das muss ja nun nicht sein. Vielleicht entwickelt sich ja doch noch alles positiv.

 

Am späteren Abend hat meine rechte Bettnachbarin noch einen Disput mit einer Schwester. Offensichtlich verträgt sie die Antibiotika nicht, die sie durch ihren ZVK verabreicht bekommt. Der Arzt hat ihr aus diesem Grund Vomex A, ein Medikament gegen Übelkeit, verschrieben, das der Infusion beigefügt werden soll. In der Infusion fehlt das Medikament aber und die alte Dame reagiert sehr ungehalten.

"Woher wollen Sie denn wissen, dass es nicht drin ist?"

Schwester Monika wirft einen triumphierenden Blick auf meine Bettnachbarin, die sich aber nicht beirren lässt.

"Na, es steht ja nicht drauf auf der Flasche und das muss es doch wohl, wenn es drin ist, oder?"

Die Schwester ist verblüfft. Das hat sie wohl noch nicht erlebt, dass die alte Dame so energisch wird.

Als die Schwester wieder raus ist, um das Vomex A zu holen, schenkt mir meine Bettnachbarin ein strahlendes Lächeln: "Sie machen mir richtig Mut, wissen Sie. Sonst habe ich mich ja nie getraut, was zu sagen. Aber wenn Sie das schaffen, dann kann ich das auch."

Ich verziehe mich vorsichtshalber unter meine Bettdecke. Spät am Abend muss sich die Nachtschwester noch mit mir auseinander setzen. Um Mitternacht wäre eigentlich mein Tramal fällig, aber sie kann es mir nicht bringen, weil Dr. B. versäumt hat, die Medikation in meine Akte einzutragen. Ich bin wütend, auf Dr. B., auf Dr. L. und auf mich selbst.

Schließlich hätte ich das Tramal ja einpacken können, dann hätte ich jetzt nicht solche Probleme.

Nachdem ich immer wieder nach der Schwester klingele, holt sie irgendwann in der Nacht schließlich den Bereitschaftsarzt.

Meine Schmerzen werden immer heftiger. Dr. F. lässt sich dazu herab, mir 20 Tropfen Novalgin zu bewilligen. Der Erfolg ist eher mäßig und die Nachtschwester hat unnötige Arbeit mit mir, weil ich nicht liegen kann und sie die Stufeneinstellung meines Bettes immer wieder ändern muss.

Ich bin ungehalten und schließlich passiert, was passieren muss.

"Wissen Sie, ich habe jetzt wirklich die Nase gestrichen voll, das ist jetzt das letzte Mal, dass ich dieses blöde Bett neu einstelle! Als wenn ich sonst nichts zu tun habe!"

"Das müssen Sie nicht mir erzählen, das müssen Sie dem Doktor sagen. Und mich interessiert es nicht die Bohne, ob Sie sich genervt fühlen oder nicht. Was glauben Sie wohl, wie ich mich fühle!"

"Also schön, dann werde ich Ihr Klingeln eben in Zukunft ignorieren!"

"Das können Sie gar nicht. Erstens wissen Sie nicht, wer von uns geklingelt hat und zweitens könnte es ja auch ein Notfall sein. Sollten Sie es trotzdem wagen, werde ich keineswegs davor zurückschrecken, mich über Sie zu beschweren."

Wutschnaubend rauscht sie ab. Ich kann nicht mehr, wieder einmal laufen mir Tränen. In letzter Zeit habe ich aber wirklich nahe am Wasser gebaut.

Während mir noch die Tränen laufen und ich in mein Taschentuch schniefe, kommt die Schwester zurück. Sie stellt eine kleine Schüssel mit kaltem Wasser und einem Waschlappen auf meinem Nachttisch ab und ohne viel zu sagen, tupft sie mir mit dem Waschlappen erst die Tränen und dann den Schweiß weg.

"Es tut mir leid, dass ich so unfreundlich geworden bin. So etwas dürfte mir gar nicht passieren. Aber glauben Sie mir, mich regt es auch auf, dass Dr. B. den Eintrag vergessen hat und Dr. F. Sich nicht traut, Ihnen ein vernünftiges Schmerzmittel zu verabreichen."

"Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Schließlich weiß ich ja auch, dass Sie nichts dazu können. Aber ich war so froh, diese unerträglichen Schmerzen wenigstens halbwegs im Griff zu haben und jetzt das. Hätte ich bloß das Tramal eingepackt."

"Die Nacht ist ja bald vorbei. Lassen Sie erst einmal Dr. B. wieder da sein, dann werden wir das schon wieder in den Griff kriegen."

Auch um sechs Uhr in der Frühe bekomme ich meine Tramal nicht, weil Dr. B. um diese Zeit natürlich noch nicht im Haus ist. Ich bin nörgelig wie ein kleines Kind, weil ich nicht begreife, warum ich mich hier herumquälen muss und weil ich mich ärgere, dass ich die Tramal zu Hause gelassen habe. Da ich selbst Krankenschwester bin, kann ich schon nachfühlen, dass ich für das Pflegepersonal langsam lästig werde. Im Moment ist mir das aber völlig gleichgültig.

Die beiden Damen greifen meinen nicht gerade freundlichen Ton auf und haben ständig etwas auszusetzen. Sie fangen an, die Schwestern ununterbrochen zu nerven und über alles zu meckern. Auch Pfleger Andreas versteht die Welt nicht mehr: Gestern waren die beiden doch noch lammfromm und heute werden sie zu Löwinnen.

"Sie haben absolut recht. Man sollte sich wirklich nichts gefallen lassen." erklärt mir meine linke Bettnachbarin, während sie mit großem Appetit in ihr Brötchen beißt.

Mir wird bei ihren Worten ein bisschen mulmig. Generell bin ich ja der Ansicht, dass der kritische und mündige Patient sich getrost zur Wehr setzen darf, wenn er sich falsch behandelt fühlt; aber das die beiden jetzt den "Aufstand der alten Damen" proben, lag nicht in meiner Absicht.

Ich versuche, den beiden klar zu machen, dass nun wirklich kein Grund besteht, über alles zu meckern. Aber irgendwie wollen die zwei das nicht hören. Wie kleine Kinder genießen sie ihr neues Spiel, schließlich bringt es Abwechslung in ihren tristen Klinikalltag.

Kurz nach acht Uhr macht mir Dr. B. einen Besuch. Er habe gehört, ich hätte mich über seine Medikation beschwert, erklärt er mir mit provokantem Lächeln. Ich kann mithalten, lächele trotz meiner starken Schmerzen tapfer zurück und äußere meine Meinung über die fehlende Medikation.

"Wissen Sie, ich denke, Sie brauchen überhaupt keine Schmerzmittel. Ich bin der Ansicht, dass die Schmerzen gar nicht so wild sein können. Sie sollten wirklich versuchen, ohne auszukommen. Und Ihnen als Krankenschwester muss ich ja nicht erklären, wie schädlich diese starken Analgetika sind. Letztendlich wird man nur abhängig davon. Und das wollen wir doch beide nicht, oder?"

Jetzt bin ich sprachlos. Bis ich mich wieder gefangen habe, ist Dr. B. Längst verschwunden.

Offenbar sind die Schwestern von Dr. B. informiert worden. Sie werfen mir mitleidige Blicke zu, wenn sie das Zimmer betreten. Ich bin wütend. Alle merken mir die heftigen Schmerzen an, aber keiner hat die Courage, gegen Dr. B. anzugehen. Ich als Patient darf dieses Machtspiel jetzt ausbaden. Zum einen mache ich mir Gedanken, ob ich dieses Verhalten durch mein loses Mundwerk heraufbeschworen habe, zum anderen denke ich aber, das ein Arzt sich niemals so weit herablassen dürfte, einem Patienten aus reinen Rachegelüsten heraus schaden zu wollen. Genau das möchte ich Dr. B. Im Augenblick aber unterstellen. Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt, wie in diesem Moment.

Bei der Visite übergeht mich Dr. B. mit der Bemerkung, wir hätten ja schon das Vergnügen gehabt.

Gegen zehn Uhr taucht der nette Masseur vom Vortag auf und verteilt großzügig Fangopackungen.

Als er mich eine halbe Stunde später massiert, werden die Schmerzen so heftig, dass mir die Tränen laufen. Bestürzt ändert er die Massagetechnik und ich erhalte nur noch zarte Streicheleinheiten, aber selbst die sind noch zu viel. Zwischendurch reicht er mir ein Taschentuch und einmal wischt er mir selbst die Tränen vom Gesicht. Als er die Massage beendet, rät er mir dringend, Schmerzmittel einzunehmen.

"Die Schwestern lieben die angebissenen Matratzen nicht sonderlich!"

Dieser Spruch kommt nicht von ungefähr. Tatsächlich habe ich, um Schmerzensschreie zu unterdrücken, meine Zähne tief in die Matratze gegraben.

Mitleidig streichelt er mir mein Haar.

Verdammt noch mal! Ich will kein Mitleid, ich will Rückenstärkung!

"Das können Sie ja mal Dr. B. erklären. Der ist davon überzeugt, dass Schmerzmittel absolut unnötig sind."

"Ach der schon wieder!" Der Masseur schüttelt den Kopf und verschwindet.

Ich bin hellhörig geworden. In dieser Hinsicht scheint Dr. B. ja wohl schon bekannt zu sein.

Dieser Verdacht bestätigt sich, als mich nach dem Mittagessen, das ich ebenso wie das Frühstück unangetastet zurückgehen lasse, die Krankengymnastin abholt.

Als Erstes verpasst sie mir Unterarmgehstützen. Sie hat sofort registriert, dass ich das rechte Bein, schmerzbedingt, nicht richtig aufsetze. Um mir mehr Sicherheit beim Laufen zu geben, bringt sie mir den Umgang mit den Stützen bei. Mit zusammengebissenen Zähnen laufe ich einige Male den Stationsflur rauf und runter, um das Laufen mit den Stützen zu erlernen.

Anschließend nimmt sie mich mit in den Therapieraum. Ich muss mich auf einer Liege ausstrecken und soll Dehnübungen machen. Es klappt nicht.

Zum einen kann ich nicht flach auf dem Rücken liegen und zum anderen ist wegen der Schmerzen ohnehin nichts möglich. Wieder laufen mir vor Schmerzen die Tränen über das Gesicht. Und wieder bekomme ich zu hören, es sei besser, wenn ich Schmerzmittel einnehmen würde. Auch der Krankengymnastin gebe ich den Rat, das doch besser mit Dr. B. auszudiskutieren.

"Dieses Theater haben wir andauernd mit dem Typen. Der tut wirklich so, als ob er die Schmerzmittel aus eigener Tasche bezahlen müsste. Er ist eben ein bornierter Lackaffe! Ich kann so jedenfalls nicht mit den Patienten arbeiten. Ich denke, wir lassen das erst mal."

Na Klasse! Jeder hier weiß anscheinend, wie Dr. B. arbeitet, aber keiner hat den Mut, etwas dagegen zu unternehmen. Ich finde das absolut beschämend.

Hier ist eindeutig der Patient der Leidtragende und es scheint noch nicht einmal irgend jemanden sonderlich zu stören.

Niedergeschlagen kehre ich in mein Zimmer zurück. So hatte ich mir den Krankenhausaufenthalt nicht vorgestellt. Mein Orthopäde zu Hause sicher auch nicht. Ich bin ratlos und weiß nicht so recht, was ich tun soll. Die Schmerzen werden immer heftiger und ich bin nicht bereit, das noch länger hinzunehmen.

Irgendwie muss ich meinen Frust loswerden und versuche, meinen Mann telefonisch zu erreichen. Natürlich klappt es nicht. Ich probiere es mehrfach, aber es geht niemand ans Telefon.

Derweil hat meine rechte Bettnachbarin andere Probleme. Schon am Morgen hatte sie darum gebeten, es möge jemand ihren ZVK-Verband erneuern. In der Tat hängt dieser auf "halb acht". Bisher hat niemand Zeit gehabt, sich darum zu kümmern.

Jetzt beschwert sie sich bei ihrer Tochter, die zu Besuch gekommen ist. Die kann ihr natürlich auch nicht helfen, will das aber auch gar nicht.

Sie berichtet mir von einem Streit, den ihr Mann, selbst Arzt, wegen seiner Schwiegermutter mit dem zuständigen Oberarzt hatte. Aber schließlich haben sich die Wogen ja geglättet und man muss doch nicht wegen so einem blöden Verband jetzt wieder unnötig einen Krach heraufbeschwören.

Irgendwie gerät mein Weltbild in diesem Haus zusehends ins Wanken. Seit einem halben Jahr wird die arme Frau hier im Haus wegen einer, möglicherweise verpfuschten, Operation behandelt und Schwiegersohn und Tochter haben nichts besseres im Sinn, als sich mit dem Oberarzt gut zu

stellen, weil alles andere ihrem gesellschaftlichen Image schaden könnte.

Das ist wirklich das Letzte.

Ich muss an meinen Vater denken, der mir schon in Kindertagen Respekt vor anderen Menschen beigebracht hat. Niemals hätte er es zugelassen, dass meine Brüder oder ich mich über andere lustig machten. Helfen und unterstützen war und ist das oberste Gebot in unserer Familie.

"Schütze den Schwächeren!", lautet ein ungeschriebenes Familiengesetz. Das selbe Motto haben sich übrigens auch die Johanniter zu eigen gemacht; vielleicht fühle ich mich deshalb mit dieser Organisation und ihren Zielen so verbunden.

Irgendwie kann ich diese Hochelegante, von den Haar- bis zu den Fußspitzen durchgestylte Frau, die sich selbst so furchtbar wichtig nimmt, nicht mehr ertragen und drehe mich auf die andere Seite. Mit einem Buch versuche ich mich von meinen Schmerzen abzulenken, es klappt nur bedingt.

Meine rechte Bettnachbarin ist froh, als ihre Tochter wieder abzieht. Sie muss dringend auf die Toilette. Da sie nicht aufstehen kann, ist sie auf das Steckbecken angewiesen, was ihr, besonders gegenüber ihrer Tochter, peinlich ist.

So hat sie geduldig ausgeharrt, bis diese sich verabschiedet hat.

Nach Beendigung ihres Geschäftes kommt eine übereifrige Schwester, die ich bisher noch nicht kennengelernt habe.

Mit viel Schwung zieht sie die Bettpfanne unter der Decke hervor und mit dem gleichen Schwung knallt sie es mir auf meinen Bettisch. Die Soße schwappt über. Nun bin ich wirklich bedient. Ohne sich zu entschuldigen, macht sie sich schließlich mit dem Steckbecken aus dem Staub. Wutschnaubend klingele ich. Eine der Schwestern erscheint und kann meinen Ärger überhaupt nicht nachvollziehen. Sie schüttelt über mein Ansinnen, den Bettisch zu säubern den Kopf und verschwindet wieder. Hat denn denen hier niemand die simpelsten Bedingungen der Hygiene beigebracht? Kein Wunder, das diese Station so vernachlässigt wirkt - bei der Einstellung. Ich hege Fluchtgedanken!

Eine Weile später kommt das Abendessen. Als der Pfleger Anstalten macht, mir das Tablett auf den verunreinigten Bettisch stellen zu wollen, werde ich pampig. Grimmig reinigt er den Tisch, desinfiziert ihn und straft mich derweil mit Verachtung.

Ich lasse das Abendessen zurückgehen. Für heute ist mir der Appetit endgültig vergangen.

Aber es scheint niemanden sonderlich zu interessieren, dass ich keine einzige meiner heutigen Mahlzeiten angerührt habe.

Meine Bettnachbarin wagt noch einen letzten Versuch, endlich den ZVK- Verband gewechselt zu bekommen. Durch mich sind die beiden Damen tatsächlich mutiger geworden. Leider wird sie wieder so abgekanzelt. Für heute hat sie es nun endgültig aufgegeben.

Später am Abend mache ich mich noch einmal auf den Weg zur Toilette. Als ich zurückkomme, entdecke ich direkt vor unserer Zimmertür den aseptischen Verbandwagen. Sofort fällt mir meine Bettnachbarin ein und ich bewaffne mich mit Verbandmitteln und sterilen Handschuhen. Vorsichtig wecke ich sie und frage, ob ich ihr den Verband wechseln darf. Hocherfreut nickt sie mir zu.

Als ich den alten Verband abnehme, der wirklich nur noch mit dem letzten Zipfel über dem Katheter hängt, entdecke ich anhand des Datums auf dem Verband, dass dieser das letzte Mal vor vierzehn Tagen gewechselt wurde.

Es ist üblich, auf einen ZVK-Verband das Datum des Verbandwechsels zu schreiben, um den Wechsel, der täglich erfolgen muss, kontrollieren zu können.

Ich kann es nicht glauben. Die alte Dame hat schon einen sogenannten "Nosokomial Infekt", und dann gehen die hier so schlampig mit dem Verbandwechsel um.

Die Wunde sieht nicht sehr gut aus. Mit zwei Fäden wird der ZVK festgehalten, aber die Eintrittwunde des ZVK's, die eigentlich trocken sein sollte, ist stark gerötet und nässt.

Aber was soll schon passieren, schließlich bekommt sie ja regelmäßig ihr Antibiotikum!

Ich bin entsetzt und angeekelt.

Also schleiche ich mich wieder vor die Zimmertür. Zum Glück steht der Verbandwagen noch dort. Leise öffne ich die Schubladen. Ich brauche etwas, um die Wunde zu desinfizieren, außerdem benötige ich ein weiteres Paar sterile Handschuhe. In der untersten Schublade finde ich ein Fläschchen Betaisodona. Ich kehre ins Zimmer zurück. Gespannt sehen mich die beiden an. Behutsam säubere ich die Wunde mit Kodanspray, welches ich auf die intakte Haut rings um die Wunde sprühe, dort einwirken lasse, um dann den Überschuss vorsichtig mit einer sterilen Kompresse wegzurufen.

Anschließend versuche ich den Katheter vorsichtig an der Eintrittsstelle in die Vene mit einem Watteträger und Kodanspray von dem feuchten Wundsekret zu säubern. Zum Schluss versorge ich die Wunde mit Betaisodona und verbinde sie steril. Natürlich versäume ich nicht, das Datum des Verbandwechsels auf den äußeren Verband zu schreiben.

Meine Bettnachbarin drückt mir dankbar die Hand. Ich lege ihr nahe, auf einem täglichen Verbandwechsel zu bestehen. Sie verspricht, sich diesbezüglich durchzusetzen.

Obwohl ich mich mit meiner Handlung über alle Regeln hinweggesetzt habe, klettere ich mit einem guten, sogar einem sehr guten Gefühl in mein Bett. Mehr als mich vor die Tür setzen können sie ja nicht, und die Entscheidung, nach Hause zu gehen, ist nach dieser unappetitlichen Einlage ohnehin längst gefallen.

Außerdem habe ich genug Courage, zu meiner Handlung, die ich im übrigen gerechtfertigt finde, zu stehen.

Selbst draußen auf der Straße versuchen wir möglichst, die Asepsis aufrechtzuerhalten. Und dort ist es weitaus schwieriger als hier in der Klinik und dennoch möchte ich behaupten, dass wir selbst auf der Straße ordentlicher und sauberer arbeiten, als die hier auf der Station.

Die Nacht wird qualvoll. Wieder holt die Nachtschwester den Bereitschaftsarzt und wieder mag er sich über die Entscheidung von Dr. B. nicht hinwegsetzen. Er veranlasst die Schwester, mir eine Paracetamol- Tablette zu bringen.

Ich finde das keineswegs komisch. Würden die ausreichen, brauchte ich gewiss kein Tramal. Dann würde ich wahrscheinlich überhaupt auf Schmerzmittel verzichten.

Als der Frühdienst zum Betten auftaucht, sieht mich eine der Schwestern prüfend an. Sie stellt fest, dass es mir augenscheinlich immer schlechter geht.

Ich bitte sie, Dr. B. darüber zu informieren, dass ich nach Hause gehe.

Sie ist auch diejenige, die den erneuerten ZVK-Verband bei meiner Nachbarin entdeckt. Da der Verbandwechsel in der Krankenakte nicht vermerkt ist, fragt sie nach, wer den Verbandwechsel vorgenommen hat.

Meine Nachbarin ist ein wenig verlegen. Ich merke ihr deutlich an, dass sie mich nicht verraten will. Also helfe ich ihr aus der Klemme.

"Das war ich!", erkläre ich mutig der Schwester. Diese ist einen Moment sprachlos.

"Aber das geht doch nicht!“, bringt sie schließlich hervor.

"Da muss ich Ihnen absolut recht geben. Der ist das letzte Mal vor vierzehn Tagen gewechselt worden, das geht wirklich nicht. Sollte ich auf meiner Station oder draußen im Rettungsdienst so arbeiten, würde mich mein Chef vor die Tür setzen, da können Sie aber wirklich Gift drauf nehmen! Im

übrigen habe ich Frau R. dringend geraten, auf einem täglichen Wechsel zu bestehen, und ich kann nur hoffen, dass sie aufpasst."

Etwas ratlos sieht sie mich an, trägt dann aber ohne weitere Worte den Verbandwechsel ein. Im Grunde gibt es dazu auch nichts zu sagen, es könnte sowieso nur peinlich werden.

Meine Bettnachbarin sieht mich mit offenem Mund an. Mit so viel Mut meinerseits hat sie nicht gerechnet.

Nach einer Weile kommt die Schwester zurück in unser Zimmer. Sie hält mir einen Medikamentenbecher unter die Nase: “Das ist Tramal, aber verraten Sie mich bloß nicht. Wenn das rauskommt, habe ich einen Heidenärger am Hals."

Das will ich gerne glauben, immerhin handelt es sich um ein verschreibungspflichtiges Medikament und sie hat sich mit dieser einsamen Entscheidung über eine ärztliche Anordnung hinweggesetzt.

Dankbar nehme ich den Becher entgegen und in unsere Gesichter schleicht sich ein verstehendes Lächeln ein.

Kurze Zeit später erscheint Dr. B.. Die Schwester hat ihn mittlerweile darüber informiert, dass ich nach Hause gehen will. Er baut sich am Fußende auf und starrt auf mich herunter. Ich halte seinem Blick stand.

"So so, nach Hause wollen Sie also. Wie soll ich das denn verstehen?"

"Fassen Sie es doch einfach als Spontanheilung auf."

So viel Frechheit meinerseits macht ihn sprachlos. Er hat sichtlich Mühe, seine Gesichtszüge, die zu entgleisen drohen, im Zaum zu halten. Ohne noch etwas zu sagen, verlässt er das Zimmer.

Nun bin ich mit meiner Fassung schon wieder mal am Ende. Ich fange an zu heulen und kann einfach nicht mehr aufhören. Schluchzend rufe ich meinen Mann an und bitte ihn, mich abzuholen. Er wird aus meinem abgehackten Gestammel, das von Schluchzern unterbrochen wird, nicht ganz schlau, verspricht aber, sich so bald wie möglich auf den Weg zu machen. Allerdings weist er mich vorsorglich daraufhin, dass es leicht Mittag werden kann, da er noch einen dringenden Termin im Betrieb hat, den er nicht verschieben kann. Das ist mir egal, Hauptsache er kommt.

Bei der Visite macht Dr. B. einen letzten Versuch, mich am gehen zu hindern. Demonstrativ legt er mir eine Kopie aus der "Roten Liste" auf die Bettdecke. Ich greife nach dem Blatt. Es handelt sich um das Medikament Tramal. Einige Punkte sind markiert, so z. B. der Hinweis auf eine mögliche

Abhängigkeit, die sich einstellen kann.

Ich reiche ihm das Blatt kommentarlos zurück. So kommt er also auch nicht weiter.

Nun versucht er es auf eine andere Tour: "Was glauben Sie eigentlich, was Ihr einweisender Arzt dazu sagt, wenn Sie jetzt einfach gehen? Glauben Sie wirklich, dass der Sie weiterbehandelt?"

"Ich habe absolutes Vertrauen zu meinem dahergelaufenen Orthopäden. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass er für Ihr Verhalten kein Verständnis aufbringt."

Aha, das hat gesessen. Die Retourkutsche steckt er nicht einfach so weg.

Nachdem er ein paarmal tief Luft geholt hat, erklärt er mir, ich müsste unterschreiben, dass ich gegen ärztlichen Rat nach Hause gehe.

Jetzt werde ich aber ernstlich böse und so entgegne ich ohne mit der Wimper zu zucken und so sachlich wie möglich: "Der Einzige, der hier irgendetwas schreibt, sind Sie - und zwar meinen Entlassungsbrief, und zwar pronto! Vorausgesetzt natürlich, Sie sind dazu nicht auch zu unfähig. Und was den ärztlichen Rat anbelangt, den hole ich mir lieber von kompetenterer Seite."

Gespannt verfolgen die anwesenden Pflegekräfte unseren Disput und auch meine Zimmergenossinnen halten die Luft an.

Dr. B. geht, ohne sich zu verabschieden.

Getroffen und versenkt, fährt es mir durch den Kopf und wahrscheinlich habe ich jetzt einen echten Feind.

Nur kurze Zeit später legt mir eine Schwester den Entlassungsbrief und meine Röntgenbilder aufs Bett. Als Gegenleistung nimmt sie die Gehstützen mit. Die brauche ich ja nicht mehr, schließlich bin ich geheilt.

Eine weitere halbe Stunde später erscheint Pfleger Andreas und fordert mich auf, das Bett zu verlassen. Da ich ja nach Hause gehe, brauche ich das auch nicht mehr.

"Das Bett bleibt stehen!" Mir reicht es wirklich. Wenn ich richtig sauer werde, kann ich furchtbar ungemütlich werden.

Verblüfft sieht er mich an, verzieht sich aber wieder.

Wenige Minuten später rückt er mit Verstärkung an. Seine Kollegin baut auf solidarisches Verhalten meinerseits, schließlich sind wir ja Kolleginnen.

"Sie wissen, doch wie das ist." Herausfordernd sieht sie mich an. Darauf kann ich doch wohl kaum etwas erwidern.

Sie hat sich geirrt.

"Ja, ich weiß, wie das ist. Und deshalb weiß ich, dass mir das Bett zusteht, solange ich hier bin. Wenn Sie anderer Meinung sind, können wir gerne meine Krankenkasse anrufen." Ich greife zum Telefonhörer. Sprachlos schüttelt sie den Kopf und macht sich von dannen.

 

Michael erscheint gegen halb eins und ist entsetzt, mich wie ein Häufchen Elend vorzufinden. Als er mich zur Begrüßung zärtlich umarmt, fange ich wieder an zu weinen. Mein Nervenkostüm ist wirklich arg strapaziert.

Meine beiden Bettnachbarinnen berichten meinem Mann, was im Einzelnen geschehen ist.

Eigentlich hatte ich auf ein bisschen Verständnis gehofft, aber mein Mann ist gar nicht begeistert von der Tatsache, dass ich nach Hause gehen will. Er macht sich außerdem Gedanken darüber, was mein Orthopäde dazu sagen wird. Schließlich sieht der keine Möglichkeit mehr, mich ambulant zu therapieren. Alleine die Tatsache, dass meine Entlassungspapiere bereits fertig sind, ist Grund genug, sich mit meiner Entscheidung abzufinden. Also hilft er mir, meine Tasche zu packen. Ich verabschiede mich von den beiden alten Damen und schärfe Frau R. noch einmal eindringlich ein, auf ihren ZVK- Verband zu achten, was sie mir auch verspricht. Beide finden es sehr schade, dass ich nach Hause gehe.

Unterwegs berichtet Michael mir, dass unsere jüngste Tochter seit zwei Tagen wieder einnässt. Seit über einem Jahr ist sie bereits trocken. Offenbar eine Reaktion auf meinen Krankenhausaufenthalt. Sie vermisst mich. Mein Mann hatte seine Mutter nachdrücklich gebeten, mir bei etwaigen Telefongesprächen nichts davon zu erzählen, da ich sonst unter Garantie nach Hause kommen würde. Er kennt mich ziemlich gut. Unter normalen Umständen hätte ich das sicher auch getan. Aber durch die ständigen Schmerzen bin ich egoistisch geworden. Im Moment ist mir wirklich wichtiger endlich von diesen quälenden Rückenschmerzen befreit zu werden.

Zu Hause angekommen werde ich von meinen drei Kindern stürmisch begrüßt. Sie tun so, als wäre ich ein ganzes Jahr fortgewesen, dabei waren es mal gerade zwei Tage.

In meinem Arbeitszimmer finde ich eine E-mail meines Bruders Ralf aus Kalifornien vor. Die E-Mail ist nicht sehr lang, aber liebevoll wie immer:

Monterey, 26.11.98

Liebes Nesthäkchen!

Habe von Michael gerade per E-Mail erfahren, dass du dich mit einem Bandscheibenvorfall in stationäre Behandlung begeben hast. Armes Kerlchen! Was machst du bloß immer für Sachen? Muss ja schon recht heftig sein, wenn sich ambulant nichts machen lässt oder hast du deinen Arzt so geärgert, dass er dich loswerden wollte, hm?

Du brauchst jetzt gar kein Gesicht zu ziehen, ich kenne dich. Keine Ehrfurcht vor uns weisen Männern der Heilkunst. Hast du nie gehabt und wirst du auch nie haben!

Ich hoffe natürlich nicht, dass das bedeutet, dass wir dich Weihnachten in der Klinik besuchen müssen.

Wenn du Rat brauchst, rufe mich an. Ich kann dich ja zurückrufen. Du hast hoffentlich Telefon am Bett, oder?

Übrigens haben Tamico und ich geplant, mit unseren zwei reizenden Ablegern über Weihnachten bei euch zu campieren. Lasst es uns rechtzeitig wissen, ob es zu viel für dich wird. Andererseits: Der Arzt im Haus erspart den ..., du weißt schon!

Wenn es euch passt, treffen wir am 24.12. am Nachmittag ein.

Halt die Ohren steif und, in Anbetracht Deiner ramponierten Bandscheibe, den Rücken gerade! Wird schon schiefgehen!!

Viele Grüße an meinen Schwager und die Mäuse und natürlich an deine Schwiegermama! In Liebe

Ralf

PS: Zwei dicke Küsschen von Kimberley und Meridith

 

Postwendend antworte ich mit einer noch kürzeren E-Mail:

Es ist schiefgegangen! Bin wieder zu Hause.

Ansonsten heißen wir euch Weihnachten herzlich willkommen!

 

 

Kapitel 8

 

 

 

Dr. L. staunt nicht schlecht, als ich am Freitag in seiner Sprechstunde auftauche. So plötzlich und vor allen Dingen so schnell, hat er nicht mit mir gerechnet.

Natürlich bin ich mit gemischten Gefühlen in die Praxis gekommen. So ganz sicher bin ich mir nicht, ob Dr. L. meine einsame Entscheidung gutheißt, zumal Michael mir vorgehalten hat, ich hätte Dr. L. aus dem Krankenhaus heraus ja auch anrufen können, bevor ich eine solche Entscheidung treffe. Aber ich baue auf sein Verständnis. Ein bisschen überrascht hört er sich meine Schilderung an. Ich bin froh, als er sich seinerseits über das Gebaren von Dr. B. ärgert. Wie sich herausstellt, ist Dr. B. Arzt im Praktikum (AiP'ler). Jetzt bin ich erst richtig sauer. Hätte ich das vorher geahnt, hätte ich nach einem anderen Arzt verlangt. Ich hätte wohl doch Dr. L. vorher mal anrufen sollen. Es ist mir absolut unbegreiflich, wieso ein AiP'ler Stationsarzt spielen darf und offenbar keiner Kontrolle durch erfahrene Ärzte untersteht.

Dr. L. ist das alles sehr peinlich. Schließlich hat er mir das Krankenhaus empfohlen, zumal er dort im Haus selbst tätig war. In seiner Zerknirschtheit tut er mir richtig leid. Letzten Endes kann er wirklich nichts dafür und ich schäme mich ein bisschen, ihn in Gedanken doch ein wenig für meine negative Erfahrung verantwortlich gemacht zu haben. Gott sei Dank kann er keine Gedanken lesen.

 

Ich habe noch in der gleichen Woche der zuständigen Krankenhausleitung einen Brief geschrieben, indem ich mich über die Missstände beschwert habe. Die Krankenhausleitung hat es vorgezogen, auf diesen Brief nicht zu antworten ...

 

Gemeinsam überlegen Dr. L. und ich, wie es weitergehen soll. Unter anderem bitte ich ihn, mir ein Rezept für die Unterarmgehstützen auszustellen. Er winkt lächelnd ab und erklärt, die ich könnte ich gleich in der Praxis bekommen.

Ich schätze es sehr, dass mir von meinem Orthopäden die Möglichkeit zur Mitbestimmung und Diskussion eingeräumt wird. Ich finde in einer Partnerschaft, und die Beziehung zwischen Arzt und Patient sollte jeder seine Meinung äußern und ohne Hemmungen Fragen stellen dürfen. Nur so ist eine gute Zusammenarbeit gewährleistet.

Ein gelungener Heilungsprozess setzt eine ehrliche Zusammenarbeit zwischen Arzt und Patient voraus.

Auch das ist keine Selbstverständlichkeit in Praxen und Krankenhäusern.

Viele Patienten haben von ihren Ärzten schon häufig Sprüche gehört wie:"Das machen wir so, weil es gut für sie ist!" oder "Lassen sie mich das entscheiden, das verstehen sie ja sowieso nicht."

Als Krankenschwester und Rettungsassistentin habe ich sehr oft solche und ähnliche Floskeln von Medizinern gehört. Als Patient sollte man sich nicht damit abfinden.

Aber auch Patienten sind oft zu einer Diskussion nicht bereit. Da bekommen Ärzte dann zu hören: " Sie werden schon wissen, was richtig ist." Und Ähnliches.

Wir Patienten sollten uns nicht mehr als Patient, sondern vielmehr als Klient sehen. Der Arzt ist ein Dienstleister, der sich für seine "Leistung" bezahlen lässt und es ist gewiss keine Glanzleistung, wenn ich als Patient mit dummen Sprüchen abgefertigt werde.

Wenn wir beispielsweise einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung unserer Interessen beauftragen, erwarten wir eine solide und fachgerechte Abwicklung unserer Angelegenheiten. Wir setzen voraus, dass der Anwalt unseres Vertrauens sich für uns einsetzt und uns über jeden Schritt, den er zu unternehmen gedenkt, informiert, damit wir ihn mittragen. Ist dem nicht so, kritisieren wir ihn, beschweren uns und wechseln im schlimmsten Fall den Anwalt.

Und was ist mit unseren Ärzten? Sehen wir sie doch als das, was sie sind: Anwälte unseres Körpers, unserer Gesundheit und unserer Seele. Der Anwalt, der uns im Umgang mit unserer Erkrankung unterstützt und berät, der sie in unserem Interesse heilt oder doch wenigstens zu lindern versucht.

Wir Patienten müssen hinter der Entscheidung unseres Arztes stehen und sie mittragen, warum lassen wir uns also mit Floskeln abspeisen? Wenn wir reif und erwachsen genug sind, unseren Arzt frei zu wählen, sind wir doch sicher auch reif und erwachsen genug, uns in allen Belangen mit ihm und unserer Krankheit auseinander zusetzen.

Nun, mein Orthopäde hat das System begriffen!

Gemeinsam überlegen wir, wie wir weitermachen können und gemeinsam sind wir immer wieder Rat - und hilflos. Wir helfen uns letztendlich gegenseitig. Ich darf meinen Frust bei ihm abladen und er wiederum darf mir gegenüber seine Hilflosigkeit zugeben. Ich finde es keineswegs schlimm, wenn ein Arzt seine Ohnmacht eingesteht. Es ist auf jeden Fall offener und ehrlicher, als wenn er auf Biegen und Brechen weiter therapiert, obgleich er keinen Sinn mehr darin sieht. Das ist ein Täuschungsmanöver, das niemandem guttut, weder Arzt noch Patient.

In meinem Fall entschließen wir uns zu einer Weiterführung der Kombination aus Massagen, Reizstromtherapie und Krankengymnastik.

Damit mir die Entspannung durch die Massagen auch etwas Linderung verschafft, stellt er mir großzügig einen Sammeltransportschein aus. Leider häufig auch keine Selbstverständlichkeit, schlägt sich doch alles aufs ärztliche Budget nieder, das Dank der Gesundheitsreform nicht gerade üppig ist.

 

Kapitel 9

 

 

 

Ich habe das große Glück, dass in einer größeren physiotherapeutischen Praxis in meiner Heimatstadt, die verordnete Behandlung kompakt durchgeführt wird. Zum Einstieg und Durchwärmen Fango und Massage, anschließend eine schonende Krankengymnastik, von meiner Therapeutin, die Gottlob immer dieselbe ist, vorsichtig und mit viel Sachverstand durchgeführt. Zur Schmerzlinderung als Abschluss Reizstromtherapie, die ich nach durchgestandenem Therapiestress besonders genieße. Nach den absolvierten drei Stunden Therapie bin ich restlos geschafft, aber für kurze Zeit geht es mir besser.

Dennoch zeigt die Therapie nicht den gewünschten Erfolg. Für kurze Zeit lassen die Beschwerden nach, aber dann treten sie unvermindert heftig wieder auf.

Dr. L. gibt mir schließlich den Rat, meinen Fall mit einem Neurochirurgen zu besprechen. Ganz wohl ist mir bei der Sache nicht. Ich lasse mich aber davon überzeugen, dass eine weitere Meinung sicher nicht das Verkehrteste ist und nur der Besuch bei einem Neurochirurgen bedeutet ja noch lange nicht Operation. Da mein Krankheitsverlauf sich aber derartig hinzieht, wissen wir natürlich beide, dass es möglicherweise auf eine Operation hinauslaufen wird.

Dr. L. versichert mir, dass der von ihm empfohlene Neurochirurg, Dr. K., eine Kapazität auf seinem Gebiet ist.

Um einen möglichst schnellen Termin in der Praxis von Dr. K. zu erhalten, ruft er persönlich dort an. Dadurch habe ich bereits zwei Tage später einen Termin bei Dr. K..

Wir sind beide gespannt, was Dr. K. zu meiner Krankengeschichte sagen wird und ob es eine akzeptable Möglichkeit gibt, mir zu helfen. Hoffen tun wir beide.

 

Mittlerweile haben wir Dezember. Es ist lausig kalt, als ich mich mit einer Kollegin von der JUH auf den Weg zu Dr. K. mache.

Nadine wirft mir immer wieder besorgte Blicke zu, denn das Sitzen im Auto ist wirkliche eine Qual. Aber es ist mir immer noch lieber, als in einem Krankenwagen zu liegen.

Nadine hat Grüße von allen Johannitern und ein Weihnachtsgeschenk dabei.

Die Mannschaft hat zusammengelegt und Nadine drückt mir einen Buchgutschein im Wert von 100 DM in die Hand. Ich freue mich riesig.

Ganz besonders, weil der Gutschein in einer medizinischen Fachbuchhandlung ausgestellt wurde. Ich kann also meine medizinische Fachliteratur um ein neues Exemplar erweitern. Ich bitte Nadine, nach dem Arztbesuch mit mir in die Buchhandlung zu fahren, dann kann ich mich gleich eindecken.

Die Sprechstundenhilfe bei Dr. K. ist sehr freundlich und entgegenkommend. Sie teilt mir als erstes bedauernd mit, dass ich mit einer halben Stunde Wartezeit rechnen muss, da heute sehr viel los ist.

Tatsächlich ist das Wartezimmer überfüllt, sämtliche Stühle sind besetzt und einige Leute haben, genau wie ich, nur einen Stehplatz erwischt. Im Augenblick stört mich das nicht. Nach der Autofahrt bin ich dankbar, ein bisschen stehen zu dürfen.

Nadine kurvt derweil um die Häuser, weil es vor der Praxis keine Parkplätze gibt. Es gibt dort zwar einen Stellplatz für wartende Krankentransportfahrzeuge, aber der ist von einem PKW belegt, der

keineswegs nach Krankentransport aussieht.

Die Sprechstundenhilfe kann es nicht ändern, meint aber, dass es ständig vorkommt, dass der Platz von unberechtigten Fahrzeugen blockiert wird. Nadine hilft das im Augenblick nicht viel weiter.

 

Das Wartezimmer von Dr. K. leert sich nur schleppend. Nach einer Stunde Wartezeit frage ich höflich an, wie lange es wohl noch dauern wird. Die Sprechstundenhilfe reagiert sauer. Schließlich bin ich ja nur ein schmerzgeplagter Patient und kann schließlich mit Wartezeit leben!

Ich muss tatsächlich geschlagene zwei Stunden warten. Das Wartezimmer leert sich immer mehr und schließlich bin ich die Einzige, die noch übrig ist.

Das kommt davon, warum musste ich auch nachfragen!?

Mein Ärger ist komplett, als ich dann erfahren muss, dass Dr. K. mittlerweile gar nicht mehr da ist, weil er ja schließlich auch noch Termine im Krankenhaus hat. Na super! Wieso passieren solche Sachen immer mir?

Der Assistenzarzt, der mich stattdessen untersucht, gibt sich nicht viel Mühe. Offensichtlich möchte er endlich in die wohlverdiente Mittagspause gehen. In Kurzform fragt er meine Krankengeschichte ab, untersucht mich in einem Tempo, als sei der Teufel hinter ihm her und das alles, um mir dann mitzuteilen, dass alles gar nicht so schlimm ist. Schließlich hätte ich dieses Problem mit der Bandscheibe ja noch nicht einmal volle drei Monate (viel fehlt allerdings nicht) und es würde sicher reichen, wenn ich Ende Januar mal wieder vorbeikäme. Sollte ich dann eine Operation wünschen, bitte, man ist zu jeder Tat bereit.

Ich bin sauer, wie so oft in letzter Zeit. So hatte ich mir den Besuch in dieser Praxis nicht vorgestellt.

 Mit Nadine fahre ich anschließend in die Buchhandlung, um meinen Gutschein gleich einzulösen. Gezielt frage ich nach einem Fachbuch über Neurochirurgie, schließlich muss man sich ja bilden.

Da ich ziemlich lange suche und herumblättere, ist die Buchhändlerin von meiner Fachkompetenz so überzeugt, dass sie mich die ganze Zeit mit Frau Doktor anspricht. Ich korrigiere sie nicht, schließlich habe ich einen Doktortitel, allerdings nicht in Medizin, sondern in Philologie, aber danach hat sie ja auch nicht gefragt.

Nadine amüsiert sich köstlich und guckt schließlich ganz entsetzt, als ich mich für ein Buch entscheide, das den stolzen Preis von 169,- DM hat. Sie sind halt teuer, die medizinischen Fachbücher.

Die Buchhändlerin ist von meiner Kompetenz jetzt restlos überzeugt. Immerhin habe ich nicht das erstbeste Buch genommen und mich am Ende sogar für ein recht teures Exemplar entschieden. Aber dafür sind die Möglichkeiten und chirurgischen Vorgehensweisen bei Bandscheibenvorfällen informativ, umfangreich und mit zahlreichem Bildmaterial gut und anschaulich erläutert.

Im Übrigen neige ich sowieso dazu, mir ärztliche Fachbücher zu kaufen, weil viele Dinge besser und umfangreicher geschildert werden, als in den Fachbüchern für den Pflegedienst; allerdings sind sie auch komplizierter.

Aber das ist nun wirklich kein Problem für mich.

 

Als ich Dr. L. von meinem Besuch bei Dr. K. Bericht erstatte, reagiert er ein bisschen sauer.

"Sie sollen im Januar wiederkommen? Das hat Dr. K. allen Ernstes gesagt?"

"Nein, nicht Dr. K., sondern der Assistenzarzt dort in der Praxis. Dr. K. glänzte durch Abwesenheit."

Dr. L. schüttelt ein bisschen unwillig den Kopf.

Ich kann ihn verstehen. Er weiß nicht weiter und hat auf Dr. K. gebaut. Bei Dr. K. in der Praxis fühlt sich aber niemand zuständig. Jedenfalls im Augenblick nicht. Wie ein Bumerang kehre ich wieder einmal zu Dr. L. zurück. Er hat den schwarzen Peter wiederbekommen - armer Kerl!

"Sollen wir noch einmal eine Epidurale machen?", fragt mich Dr. L..

"Können wir gerne probieren, wenngleich ich nicht weiß, ob es etwas bringt."

Dr. L. greift nach dem Telefonhörer, um Herrn H. anzurufen.

"Wir können gerne gleich heute die Epidurale durchführen." sagt er zu mir gewandt.

“Natürlich können wir, aber wenn ich wieder so heftige Kopfschmerzen kriege, dann liege ich bis um neun Uhr da oben, es ist nämlich schon fünf."

Dr. L. lässt den Hörer wieder auf die Gabel zurückfallen."Wo Sie recht haben, haben Sie recht. Das können wir also vergessen. Wir können natürlich statt dessen auch eine Cortison-Stoßtherapie mit Prednisolon versuchen."

Erwartungsvoll sieht er mich an. Ich nicke zustimmend. Im Augenblick würde ich jede Möglichkeit ergreifen und mein Vertrauen in Dr. L. ist unerschütterlich, trotz der Niederschläge, für die ich ihn aber nicht verantwortlich machen kann und will.

"Gut, dann lasse ich Ihnen den Einnahmeplan aufschreiben, einen Moment bitte."

Dr. L. verschwindet und für einen kurzen Augenblick kommt mir der Gedanke, was wohl mein Internist dazu sagen würde. Prednisolon ist für meinen Magen mehr als nur Gift, es ist geradezu eine Zeitbombe.

Dr. L. taucht mit einem ausführlichen Einnahmeplan wieder auf.

"Wenn Sie Probleme mit dem Magen bekommen sollten, können Sie natürlich noch Solugastril oder so etwas einnehmen."

"Ich nehme doch schon Magenmedikamente. Unter anderem Sucrabest, das sollte wohl reichen."

"Ja, natürlich. Ich schreib Ihnen noch das Rezept aus, aber ich muss erst einmal überlegen, in welcher Menge die abgepackt sind."

Einen Moment sitzt er da und grübelt über dieses Problem nach.

"Ach wissen Sie, das mache ich anders. Ich schreibe auf, welche Menge Sie insgesamt benötigen und dann soll Ihr Apotheker einfach mal schauen, wie das mit den Packungsgrößen ist. Der wird sich schon zurechtfinden."

Ich bekomme ein höchst kurioses Rezept in die Hand gedrückt.

"Vielen Dank," sage ich lächelnd zu Dr. L. Der nickt mir freundlich zu:

"Hoffentlich bringt es was. Übrigens habe ich in der nächsten Woche Urlaub, aber Sie wissen ja, wenn es Ihnen schlechter gehen sollte oder sonst irgendetwas ist, können Sie jederzeit hier zu meinem Kollegen kommen."

Ich nicke brav und wir verabschieden uns.

 

In der Apotheke amüsiert sich Frau W. köstlich über das Rezept von Dr. L..

"Zu dem muss ich auch mal hingehen, der ist ja einfach niedlich. In welcher Dosierung sollen Sie denn das Prednisolon einnehmen, hat er was gesagt?"

"Ja, das ist für eine Stoßtherapie. Einen Moment mal."

Ich krame in meiner Jackentasche nach dem Plan und reiche ihn schließlich Frau W. über den Tresen.

"Ach je, warten Sie mal, da muss ich erst einmal rechnen."

Flüsternd zählt sie die Menge zusammen.

"Ich schaue mal eben, wie viel mg eine Tablette hat."

Sie befragt ihren schlauen Computer, der ihr verrät, dass eine Tablette 5 mg Prednisolon enthält."Also, dann brauchen wir in etwa ..."

Sie läuft nach hinten und kommt mit einer Packung Prednisolon zurück.

"Also, wenn ich da jetzt 10 Stück raus nehme, dann müsste das eigentlich funktionieren. Wenn ich richtig gerechnet habe, müssten Sie am Ende sogar noch ein paar über haben.“

Sie rechnet noch einmal leise nach und nickt dann zufrieden.

"Ja, ich glaube jetzt haben wir es."

Sie füllt mir die Prednisolon aus und steckt sie in eine kleine Tüte, den Beipackzettel legt sie dazu. Das wäre nicht unbedingt nötig gewesen, denn ich besitze eine "Rote Liste".

Ich bedanke mich und mache mich auf den Heimweg.

 

Einige Tage später wage ich es, mit meinen Kindern nach langer Zeit mal wieder in die Stadt zu fahren. Irgendwie muss ich rauskriegen, was die drei sich zu Weihnachten wünschen.

Am Schlossplatz stehen zwei Händler, die Weihnachtsbäume verkaufen.

Genau in der Mitte des Fußweges steht eine umwerfend schöne Nordmann Tanne. Die Kinder

bleiben wie angewurzelt stehen. Sarah umkreist den Baum mehrmals und stellt sich dann vor mich hin, um blinzelnd zu mir hoch zusehen.

"Mami, hast du den Tannenbaum gesehen? Können wir den zu Weihnachten haben?"

"Ja bitte", fallen jetzt auch Amrei und Tim ein. Ich habe mich ja selbst auf Anhieb in diesen schönen, kerzengerade gewachsenen Baum verliebt.

Der Händler bekommt die Aufgeregtheit meiner Kinder mit und fragt höflich, ob er uns behilflich sein kann.

"Liefern Sie ins Haus?", frage ich ihn.

"Selbstverständlich, haben Sie sich schon umgesehen?“

"Das ist nicht nötig, wir haben den passenden Baum schon gefunden." Ich zeige auf die Nordmann Tanne.

"Dafür brauchen Sie aber ein großes Wohnzimmer. Die ist knapp zwei Meter hoch und Sie sehen ja, wie viel Platz die Zweige brauchen." Ein bisschen skeptisch sieht er mich an.

"Den Platz haben wir, das ist kein Problem. Entscheidend ist nur, dass Sie uns den Baum auch anliefern. Wie Sie sehen, bin ich nicht in der Lage, den Baum zu transportieren."

"Selbstverständlich liefere ich Ihnen den Baum, sogar kostenlos. Soll der hier es also sein?"

Ich nicke zustimmend und meine drei Kinder brechen in laute Jubelrufe aus.

Der Händler bringt ein "Verkauft"-Schildchen an unserem Baum an und notiert sich die Adresse. Ich bezahle und ziehe mit drei strahlenden, glücklichen Kindern ab.

 

Eine halbe Stunde später entdecken meine Kinder aus einiger Entfernung den Weihnachtsmann auf dem Wochenmarkt. Mit einer Schar weiß gekleideter und Gold beflügelter Engel scheint er dort einzukaufen. Zumindest behauptet Sarah das steif und fest und ihre Geschwister schließen sich dieser Behauptung an.

Tatsächlich ist es ein Werbegag, den ein Geschäft betreibt, um seine Waren besser an die Frau und den Mann zu bringen.

Für meine Kinder aber ist es ein wahr gewordenes Märchen. Wie verzaubert stehen sie neben mir und sehen zu, wie der Weihnachtsmann und seine Engel um die Ecke verschwinden.

Ich kann nicht anders, ich lasse mich von dem Zauber anstecken und trotz der immer gegenwärtigen Schmerzen, kommt ein bisschen Weihnachtsstimmung in mir auf. Ich finde es einfach wunderschön, dass meine Drei noch so intensiv an den Weihnachtsmann und seine Engel glauben.

 

Kapitel 10

 

 

 

Einige Tage später ist der vierteljährliche Besuch bei meinem Internisten wieder einmal an der Reihe. Seit der Magenblutung vor einem halben Jahr gehe ich notgedrungen regelmäßig zur Gastroskopie.

Mein Internist, mit dem ich schon vor längerer Zeit zum Du übergegangen bin, freut sich, mich mal wieder zu sehen.

Ein bisschen erschrocken sieht er auf meine Stützen und fragt, was ich gemacht habe. Ich erzähle ihm von meinem Bandscheibenvorfall und dem bisherigen Verlauf. Immer wieder schüttelt er den Kopf.

Er hat ein bisschen Bedenken, was die notwendige Untersuchung anbelangt. Vorher aber fragt er, ob die Magenmedikamente inzwischen wieder geändert werden mussten oder ob ich noch damit auskomme. Ich erkläre ihm, dass die Magenmedikation noch so besteht, dass aber durch den Bandscheibenvorfall einige andere Medikamente dazugekommen sind.

"Und welche?" Ich fange an aufzuzählen. Als ich beim Tramal ankomme, schaut Werner mich nachdenklich an.

"Du weißt, dass Tramal über das zentrale Nervensystem wirkt?" Natürlich!

"Also, ich werde dir das Dormicum natürlich spritzen, aber unter der Voraussetzung, dass du Tramal regelmäßig einnimmst, kann es natürlich passieren, dass das Dormicum nicht die volle Wirkung zeigt. Das heißt, im Klartext, dass die Gastro ein bisschen unangenehm werden kann. Ich

sag ‘s dir lieber vorher, obwohl wir um die Gastro nicht drum herumkommen."

Ich nicke. Werner ist von Natur aus ein einfühlsamer Arzt und ich fühle mich absolut sicher bei ihm.

Werner fragt, ob ich noch weitere Medikamente einnehme und ich berichte ihm von der Cortison-Stoßtherapie.

Werner starrt mich ungläubig an.

"Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen? Wie kannst du dich nach der Magenblutung im Mai denn darauf einlassen? Du kannst von Glück sagen, dass du um eine Operation herum gekommen bist! Musst du jetzt wirklich ein neues Malheur heraufbeschwören? Mensch Tina, wenn dein Orthopäde das vielleicht auch nicht überblickt, müsstest doch wenigstens du schlau genug sein! Und ich bin mir absolut sicher, hättest du ihm erklärt, wie gefährlich das Zeug für dich ist, hätte er es dir nie und nimmer verschrieben!“

Ich hatte ja mit einem Donnerwetter gerechnet, aber Werner blitzt mich so böse aus seinen blauen Augen an, dass ich völlig geknickt vor ihm sitze. Ich wage keinen Widerspruch.

Werner sieht mich ratlos an, schließlich steht er auf und legt den Arm um mich.

"Hör mal, ich habe mit dir schon so viel durchgemacht und wirklich Todesängste um dich ausgestanden. Du musst ja immer gleich richtig ernsthaft krank werden. Banalitäten sind ja nichts für dich, das sieht man ja jetzt auch wieder an deinem verkorksten Bandscheibenvorfall. Musst du

wirklich so leichtsinnig sein? Wie lange geht die Stoßtherapie denn noch?"

"Vier Tage" flüstere ich, während mir die Tränen kullern.

Werner zieht mich an sich und wischt mir die Tränen ab.

"Als du im Mai da auf der Intensiv gelegen hast, vollkommen blass und dich überhaupt nicht mehr gemuckst hast, da habe ich wirklich Angst gehabt, du stirbst dem Rolf da unter den Händen weg. Ich bin von Herzen froh, dass du dich wieder hochgerappelt hast und es dir wieder gut ging. Tina, du kannst nicht nur an dich denken, du hast Kinder! Sei in Zukunft bitte vorsichtiger, ja? Versprich mir das!"

Ich nicke und muss zugeben, er hat recht. Tatsächlich hätte mich diese Magenblutung fast das Leben gekostet.

Werner streicht mir über die Wangen und bittet mich, mich für die Untersuchung frei zu machen. Erst einmal tastet er vorsichtig meinen Bauch ab. Im epigastrischen Bereich bin ich sehr schmerzempfindlich, aber das weiß Werner und ist doppelt vorsichtig.

Als nächstes kontrolliert er meinen Blutdruck und nickt zustimmend.

Während seine Endoskopieschwester die letzten Handreichungen zur Vorbereitung der Gastro durchführt, injiziert mir Werner das Dormicum.

Normalerweise bin ich Ruck zuck weg und für wenige Minuten im Land der Träume. Wenn ich dann wieder zu mir komme, ist der Eingriff vorbei. Dieses Mal ist es anders. Mir wird übel und in einem Nebel sehe ich Werner verschwinden und wieder auftauchen. Irgendwie bin ich absolut unfähig, mich zu bewegen oder zu artikulieren.

Ich spüre, wie die Assistentin meinen Kopf hält und Werner das Endoskop einführt. Ich fange an, furchtbar zu würgen. Lediglich die Tatsache, dass ich mich nicht bewegen kann, verhindert, dass ich mich zur Wehr setze. Überdeutlich spüre ich, wie Werner das Endoskop hin- und herschiebt.

Der Würgereiz lässt nicht nach.

Werner versucht, leise auf mich einzusprechen, um mich zu beruhigen. Er erklärt mir genau, was er macht und obwohl ich die Worte gar nicht richtig umsetzen kann, benebelt wie ich bin, spüre ich doch, wie ich ruhiger werde. Plötzlich versinke ich in tiefe Dunkelheit, das Bewusstsein

schwindet ...

 

Als ich wieder zu mir komme, ist Werner dabei, mir mit einer Lampe in die Augen zu leuchten. Ich bin immer noch ganz benommen.

"Na, wie fühlst du dich denn?" Fragend sieht Werner mich an.

"Es geht wieder, was ist passiert?"

"Das Dormicum hat mit Verzögerung gewirkt. Tut mir leid, dass ich dich so geärgert habe. Hätte ich geahnt, dass du noch komplett abtauchst, hätte ich ein paar Minuten gewartet mit der Gastro."

"Ich habe Halsschmerzen."

"Völlig klar, du hast dich ja auch kräftig zur Wehr gesetzt und dich dabei vollkommen verkrampft. Wie hat dein Rücken das denn überstanden?"

"Weiß ich noch nicht. Ich habe mich gewehrt? Ich dachte, ich würde ganz ruhig liegen."

"Ob du es glaubst oder nicht, du hast dich gewehrt! Aber das ist eine ganz normale Reaktion, das macht jeder. Ohne das Dormicum wärst du allerdings zugänglicher gewesen. Irgendwie ist bei dir nicht angekommen, was ich dir gesagt habe."

"Jetzt geht es mir jedenfalls etwas besser."

"Na gut, du bleibst aber die nächste halbe Stunde noch liegen. Jutta wird deinen Blutdruck überwachen und wenn es dir schlechter gehen sollte, sagst du es ihr gleich. Ich kümmere mich erst einmal um meine anderen Patienten und schaue zwischendurch rein zu dir. Über das Ergebnis der Gastro reden wir nachher, wenn du wieder ansprechbar bist, okay?" Er nickt mir noch einmal zu und verschwindet.

Es dauert eine Weile, bis ich wieder klar denken kann. Endlich bin ich so weit, dass ich auf der Liege sitzen kann, ohne Angst zu haben, umzukippen.

Kurz darauf kommt Werner lächelnd herein.

"Na Tina, wie geht es dir jetzt?"

"Danke, ganz gut. Also, was hast du festgestellt?"

"Tut dein Hals noch weh?"

"Ja, ein bisschen. Aber das wird schon werden."

"Tut mir wirklich leid. Also, dein Magen sieht leider nicht so gut aus, wie ich mir das wünschen würde. Von deiner Speiseröhre will ich mal lieber nicht reden. Die Antrumgastritis kriegen wir auch nicht so richtig in den Griff. Aber was mir eigentlich viel mehr Sorgen macht, ist die Tatsache, dass ich eine Hiatushernie festgestellt habe, die im September noch nicht da war. Jetzt hast du die Dreißig überschritten und fällst langsam aber sicher auseinander, was? Wenn das so weitergeht mit dir, wirst du irgendwann um eine Operation nicht mehr herum kommen. Du musst in Zukunft noch mehr auf dich aufpassen. Keine Experimente mehr, hörst du?"

"Ja, du hast es mir ja inzwischen deutlich genug gesagt."

"Dir kann man es gar nicht deutlich genug machen. Keine Experimente mehr, das ist mein Ernst! Dennoch glaube ich, dass wir die Medikation erst einmal so lassen können. Ich nehme an, dass du mit dieser Bandscheibengeschichte demnächst mal wieder ins Krankenhaus gehst. Ich gebe dir ein Schreiben mit, wenn möglich, können die ja mal eine Infusionskur mit Antra versuchen. Oral verträgst du das Zeug ja nicht, aber infundiert klappt es ja vielleicht besser. Ansonsten lässt du erst mal alles wie es ist. Wenn du allerdings, bedingt durch die Medikamente, die du im Moment nimmst, in Schwierigkeiten kommst, kommst du bitte umgehend her. Allerdings bin ich im Januar erst einmal drei Wochen im Urlaub. Aber Birgit ist ja auch noch da."

"Ja gut, dann nehme ich die Medikamente wie bisher."

“Brauchst du noch ein Rezept?"

Ich schüttele den Kopf und stehe auf, um mich zu verabschieden.

"Ich wünsche dir ein frohes Weihnachtsfest und deinen Lieben natürlich auch. Und sieh bloß zu, dass du diesen Bandscheibenvorfall in den Griff bekommst. Ohne deine Arbeit bist du doch nur ein halber Mensch, ich kenne dich doch." Werner umarmt mich vorsichtig und ich lasse es mir gerne

gefallen. Ich mag ihn nämlich sehr.

"Ich wünsche dir und deiner Familie auch frohe Feiertage und rutscht gut rüber."

"Ja, ihr auch. Das heißt, du lieber nicht so heftig."

Wir lachen beide und ich ziehe von dannen.

 

Der Dezember wird für meine Familie zur Härteprobe. Bedingt durch die ständigen Schmerzen werde ich immer ungemütlicher. Irgendwo lese ich in diesen Tagen, dass der Mensch sich an Schmerzen gewöhnen kann. Ich weiß nicht, was das für ein Typ ist, der dieses Buch geschrieben hat, aber unter Garantie hat er noch nie Schmerzen über einen längeren Zeitraum gehabt. Oder bin ich anders geartet als andere Menschen?

Ich gewöhne mich jedenfalls nicht an die Schmerzen und werde immer unleidlicher.

Als wir beim Mittagessen sitzen, muss ich meinen Ärger und Unmut loswerden. Wie immer sind es die Schwächeren, die herhalten müssen, und so kritisiere ich permanent an den Kindern herum: "Amrei schmatze nicht so! Tim sitze gerade! Sarah, stopfe nicht so! Mit vollem Mund wird nicht gesprochen, Tim! Sarah, hör auf, ständig mit deinem Stuhl zu schaukeln! Amrei, es gehören beide Hände auf den Tisch! Tim spieße nicht mit deinem Messer in der Luft herum!"

Michael wird es zu viel. Wütend knallt er sein Besteck auf den Tisch und steht auf. "Ich werde nachher essen! Du bist unerträglich, ich halte das einfach nicht mehr aus! Wie wäre es denn, wenn du zur Abwechslung mal deinen Orthopäden anmaulst, damit der Mann endlich begreift, dass es so nicht geht!"

Michael verlässt die Küche. Meine Schwiegermutter sieht mich mitleidig an, während ich meinen Kopf in meine Hände stütze und zu weinen anfange - wieder mal!

Die Kinder sitzen mucksmäuschenstill auf ihren Plätzen und starren mich an.

"Es tut mir leid, entschuldigt bitte. Ich habe es nicht so gemeint. Hört einfach nicht hin, wenn ich herummeckere."

"Tina, so geht es aber wirklich nicht weiter mit dir." Meine Schwiegermutter betrachtet mich nachdenklich.

"Ich weiß das ja auch!", antworte ich ihr immer noch schluchzend.

"Du solltest vielleicht wirklich noch einmal mit deinem Arzt reden, wenn er aus dem Urlaub zurück ist."

"Ja prima, und worüber bitte?"

"Na ja, wie das weitergehen soll. So geht es doch wirklich nicht. Du kannst doch nicht pausenlos die Kinder anmaulen und an ihnen herumkritisieren."

"Und was soll Dr. L. deiner Meinung nach tun, wenn ich fragen darf?"

"Na ja, das weiß ich doch nicht."

"Fein, er auch nicht und ich noch viel weniger."

"Aber so geht es doch auch nicht."

"Mama, ich weiß das, du weißt es, Michael weiß es und Dr. L. weiß es ebenfalls. Er weiß nur nicht, wie er es anstellen soll."

"Aber es muss doch irgendeine Möglichkeit geben."

"Die einzige Möglichkeit, die er noch gesehen hat, war Dr. K. und die Geschichte ist ausgegangen wie das Hornberger Schießen - ein gelungener Misserfolg! Es ist nämlich alles überhaupt nicht schlimm. Was will ich eigentlich?"

Es bleibt nicht bei diesem Ausbruch.

Am nächsten Tag ruft Bernd mich an. Am Abend soll die obligatorische Weihnachtsfeier stattfinden. Meinetwegen hatten sie die Feierlichkeiten in meine Heimatstadt verlegt, obwohl das für einige meiner Kollegen einen riesigen Anfahrtsweg bedeutete. Sie hatten mich entsprechend eingeladen und ich hatte nicht einmal geantwortet. Bernd will also wissen, ob er mich gegen sieben Uhr abends abholen kann.

Mittlerweile habe ich bei meinem Arbeitgeber gekündigt.

Als ich Bernd das sage und ihm klar zu machen versuche, dass ich aus diesem Grund nicht teilnehmen will, brüllt er mich am Telefon zusammen.

Ausgerechnet der Bernd, der immer die Contenance wahrt, ' gerät außer sich.

Zum Schluss bekomme ich gesagt, dass er kurz vor sieben da ist, dann knallt er den Hörer auf.

Natürlich bin ich um sieben fix und fertig umgezogen. Bernd hat sich beruhigt und zieht mich in seine Arme.

Anfangs verläuft der Abend recht harmonisch. Irgendwann drehen sich die Gespräche aber, so wie es ja meistens geht, um unsere Einsätze. Ich fühle mich genervt.

Einer meiner Kollegen sagt ständig Verband-s-wechsel und Dreieck-s-tuch und als sich dann die Gespräche auch noch um orthopädische Notfälle drehen, hakt es bei mir aus. Völlig unbeherrscht brülle ich meinen Kollegen an: "Verdammt noch mal, du gehst mir auf die Nerven! Es heißt Verbandwechsel, Verbandmittel, Verbandkasten und Dreicktuch! Du sagst ja auch nicht Bratskarto feln! Und die orthopädischen Notfälle ertrage ich nicht, ich bin nämlich selbst einer, das kapiert nur niemand!"

Voller Wut werfe ich meine Gabel auf den Tisch. Sie schlittert über meinen Teller und wirft mit Schwung mein Mineralwasserglas um.

Bestürzt starren mich alle an. Langsam komme ich wieder zu mir. Welcher Teufel hat mich bloß geritten? Ich schäme mich in Grund und Boden!

Bernd, der neben mir sitzt, zieht mich an sich und wiegt mich wie ein kleines Kind in seinen Armen.

"Wir hätten dir diese Weihnachtsfeier nicht zumuten dürfen. Es ist meine Schuld. Manchmal bin ich wirklich ein Idiot."

Ich schäme mich noch mehr. Ich benehme mich total daneben und Bernd entschuldigt sich dafür. Wie weit ist es bloß mit mir gekommen!?

Jan rettet die Situation. Er kramt seine Gitarre hervor und fragt mich, ob wir meine "Songs" noch mal zum Besten geben wollen. Im vergangenen Jahr hatten wir uns die Mühe gemacht und zur Weihnachtsfeier verschiedenen Schlagern neue Texte zum Thema Rettungsdienst verpasst. Unter anderem kamen Sachen dabei heraus, wie zum Beispiel: Für uns ist die Ewigkeit 12 Stunden lang (Juliane Werding Titel: 3 Jahre lang) oder: ein Bett im RTW ist immer frei (Jürgen Drews Titel: Ein Bett im Kornfeld)

Auch jetzt kommen die Lieder gut an und meine unmögliche Laune, mit der ich selbst nicht klar komme, verfliegt. Zum Schluss wird der Abend doch noch schön und ich bin froh, dass ich hingegangen bin.

Gegen elf Uhr fährt Bernd mich nach Hause. Als wir vor unserem Haus stehen, schaltet er den Motor ab und sieht mich prüfend an.

"Sag mal, hast du wirklich gekündigt?"

"Ja, habe ich doch vorhin gesagt."

"Warum denn, um alles in der Welt?"

"Weiß ich denn, ob ich jemals wieder in meinem Beruf arbeiten kann?"

"Also komm, jetzt fang nicht an zu spinnen."

"Ich spinne nicht, es ist mir absolut ernst damit. Und wenn du meine Schmerzen ständig hättest, würdest du das auch begreifen."

"Tina, ich verstehe dich nicht. Wo ist dein unerschütterlicher Optimismus geblieben?"

"Irgendwo auf der Strecke. Irgendwann unterwegs habe ich ihn verloren."

"Na dann fang mal schnell an zu suchen, eh das noch schlimmer wird mit dir. Wie soll das denn jetzt überhaupt weitergehen?"

"Ich weiß es nicht, Bernd."

"Kann ich irgendwas tun?"

"Nur wenn du Neurochirurg bist."

"Willst du dich wirklich operieren lassen?"

"Von wollen kann ja wohl keine Rede sein. Müssen würde den Punkt wohl eher treffen."

"Du weißt schon, dass eine Bandscheiben-OP noch keine Garantie für eine Verbesserung ist?"

"Na toll! Wer hält mir denn hier Vorträge, von wegen, mein Optimismus und so! Du kannst einen ja wirklich motivieren!"

"Ja, entschuldige bitte. Du hast recht. Manchmal rede ich eben auch, ohne nachzudenken."

"Du meinst so wie ich heute Abend."

"Das war klasse! Die Gesichter - einmalig! Ich habe gar nicht gewusst, dass du so aus der Fassung geraten kannst. Dein Mann hat eindeutig recht, man kann dich zehn Jahre kennen und man kennt dich doch nicht."

"Mach dich nicht lustig über mich!"

"Ach komm, Engelchen. Das würde ich nie wagen."

"Ha, ha, ha!"

"Wirklich, ich schwöre!"

“Egal, was du schwörst, ich gehe jetzt in meine Koje. Gute Nacht, Bernd und Danke!"

"Warte mal, ich habe doch noch etwas für dich."

Bernd drückt mir ein kleines Päckchen in die Hand, eingewickelt in Blau silbernes Sternen Papier.

"Darf ich es gleich öffnen oder muss ich bis Weihnachten warten?"

"Nein, mach es ruhig gleich auf. Wenn es dir nicht gefällt oder so, kann ich es wenigstens noch umtauschen."

Ich beginne das Päckchen auszuwickeln und halte ein kleines Schmuckkästchen in der Hand. Als ich den Deckel hochhebe, kommt ein Halskettchen zum Vorschein. Im Dämmerlicht der Autobeleuchtung blitzt das chinesische Tai-Chi-Symbol auf.

"Meine Güte, Yin und Yang!" Ich bin begeistert.

"Ja, wir dachten das bringt vielleicht ..."

"... meine Harmonie wieder in Einklang."

"Was?"

"So nennen die Chinesen das. Wenn Yin und Yang nicht im Einklang sind, ist das Qi, also die Lebensenergie gestört. Beeinflusst man Qi positiv, kann man das Gleichgewicht von Yin und Yang und somit die Harmonie, also in diesem Fall die Gesundheit, wieder herstellen."

"Was du alles weißt." Bernd sieht mich verblüfft an.

"Ich habe einen chinesischen Freund. Er heißt Hsan und lebt in der Nähe von Peking. Hsan ist unter anderem Akupunkturarzt, ich habe einiges bei ihm gelernt. Da staunst du, was?"

"Wie kommt man denn an einen chinesischen Arzt?“

"Ich habe Hsan in Afrika kennengelernt, aber das ist eine lange Geschichte. Bitte nicht mehr heute Abend, Bernd."

"Also, das will ich irgendwann noch genau wissen. Was du für Leute kennst, unglaublich! Aber jetzt ins Bett mit dir!"

"Vielen Dank, Bernd. Ich freue mich riesig."

"Oh Moment, der Anhänger ist nicht von mir alleine. Hier, die Karte gehört dazu. Die ganze Wache hat sich beteiligt."

"Ach du meine Güte, und ich habe mich so daneben benommen."

“Deswegen haben wir ihn dir vorhin nicht mehr gegeben. Wir hatten Angst, du fasst das vielleicht falsch auf. Ich habe den Jungs versprochen, ihn dir später zu geben."

"Ich schäme mich so, Bernd. Wie kann ich das wieder gut machen?"

"Indem du aufhörst, dummes Zeug zu reden und wiederkommst. Wir brauchen dich und du fehlst uns, auch wenn du so deine Macken hast."

"Ich habe Macken?"

"Na und was für welche: Du bist vorlaut, besserwisserisch, inkompetent bis zum 'es geht nicht mehr' und eine verdammt lausige Autofahrerin. Du siehst also, wir können ohne dich nicht existieren. Über wen sollen wir uns denn in Zukunft aufregen?"

Ich kann nicht anders, ich muss Bernd einfach umarmen, so wohl tut mir die Freundschaft meiner Kollegen.

"Sage bitte allen, dass ich mich irrsinnig gefreut habe."

"Werde ich tun, mein Engel. Ich rufe dich die nächsten Tage mal an, okay?"

An diesem Abend fühle ich mich seit langem einmal wieder besser und kann ein bisschen optimistischer in die Zukunft sehen.

 

Kapitel 11

 

 

 

Zwei Tage später kämpfe ich mit plötzlich heftig auftretenden Schmerzen.

So heftig waren die Schmerzen bisher noch nie, mir bleibt fast die Luft weg.

Natürlich muss das mitten in der Nacht passieren. Vor Schmerz weiß ich nicht, was ich anfangen soll. Ich bin kurz davor, loszuschreien. Michael verständigt sofort den Bereitschaftsdienst, in der Hoffnung, dass der diensthabende Arzt etwas gegen meine Schmerzen unternehmen kann. Erst einmal erscheint er aber nicht, sodass Michael sich genötigt sieht, ein zweites Mal dort anzurufen. Auch dieses Mal tut sich nichts.

Nach drei Stunden ist auch Michael am Ende. Ich liege stöhnend und jammernd in meinem Bett, bemüht, nicht loszuschreien.

Michael reicht es, er verständigt den Notarzt, der innerhalb von zehn Minuten da ist.

Natürlich reagiert der ungehalten, denn schließlich hätte doch wohl der Bereitschaftsdienst ausgereicht, aber als er mich sieht, fühlt er sich mehr als zuständig.

Freundlich und beruhigend spricht er mit mir, während er mir ein Medikament in die Vene injiziert. In meinem Schleier aus Schmerzen bekomme ich überhaupt nicht mit, was er erzählt und was er spritzt.

Kurz nach der Injektion lassen die Schmerzen nach, aber ich bin nicht mehr in der Lage mich irgendwie zu bewegen. Ich habe das Gefühl, an mein Bett genagelt zu sein. Irgendwann dämmere ich dann weg ...

 

Am nächsten Morgen verabreicht Michael mir Valoron.

Der Notarzt hatte ein Rezept ausgestellt und Michael gebeten, mir das Valoron zu geben, wenn die Schmerzen am Morgen wieder einsetzen sollten. Fürs Erste muss ich dabei bleiben, denn selbst das Tramal bringt keine Linderung.

 

Dr. L. ist bestürzt, als ich ihm erzähle, dass ich während seines Urlaubs auf Valoron eingestellt wurde. Ein deutliches Zeichen dafür, das die Cortison- Stoßtherapie nicht den gewünschten und erhofften Erfolg gebracht hat.

Dr. L. ist ein bisschen sauer, weil er nicht weiß, wie es weitergehen soll. Langsam wird es mir unangenehm, dass sich keine Erfolge einstellen. Wir sind beide Rat - und hilflos und das ja nicht zum ersten Mal.

Dr. L. beschließt, bei Dr. K. anzurufen, weil mein Zustand ein Warten bis Ende Januar unmöglich macht. Natürlich ist Dr. K. wieder nicht erreichbar, warum auch. Es wäre ja auch zu schön gewesen.

Dr. L. erklärt der Sprechstundenhilfe, um was es geht und das die Angelegenheit nicht mehr warten kann.

Zu meiner Verblüffung erzählt ihm die Arzthelferin, dass Dr. K. bei mir eine Cortisonumflutung der betroffenen Nervenwurzel unter CT - Kontrolle durchführen will.

Dr. L. bittet die Arzthelferin, Dr. K. auszurichten, er möge sich mit mir in Verbindung setzen.

Als Dr. L. zu Ende telefoniert hat, schaut er mich vorwurfsvoll an, weil ich ihm diese Maßnahme unterschlagen habe.

"Warum lassen Sie das denn nicht machen?", fragt er mich ein bisschen ärgerlich. "Außerdem haben Sie mir davon gar nichts erzählt!"

"Das hätte ich gerne getan.", antworte ich ein bisschen gereizt, "wenn dieser merkwürdige Assistenzarzt es mir gesagt hätte, hat er aber nicht. Das ist für mich genauso neu, wie für Sie!"

Ich bin Stock sauer. Wieso muss ich mich jetzt eigentlich rechtfertigen?

Langsam reicht es wirklich!

Ich versuche, meinen Unmut nicht restlos explodieren zu lassen. Das Schlimmste wäre für mich im Augenblick, wenn Dr. L. jede weitere Behandlung ablehnen würde. Momentan ist er wirklich der Einzige, zu dem ich ohne Vorbehalte gehen mag.

Wir einigen uns darauf, erst einmal abzuwarten, ob sich Dr. K. bei mir meldet.

 

Zwei Tage später bekomme ich einen Anruf aus dem Krankenhaus, in dem Dr. K. Belegbetten hat. Vier Tage vor Weihnachten werde ich noch stationär aufgenommen. Dr. L. ist natürlich froh, was man von mir auch behaupten kann.

Der 21. Dezember, mein Aufnahmetag, ist ein Montag. Da wir natürlich davon ausgehen müssen, dass ich über Weihnachten im Krankenhaus bleibe, schmückt meine Schwiegermutter unseren Weihnachtsbaum bereits den Samstag vorher.

Die Kinder freuen sich über den hübschen Baum und darüber, dass sie beim Schmücken helfen dürfen. Dass der Weihnachtsmann noch ein paar Tage braucht, bis er kommt, stört sie nicht weiter. Es macht die Sache nur spannender.

Als es draußen dunkel wird, setzen wir uns gemütlich ins Wohnzimmer und feiern Weihnachten ein bisschen vor.

Die Kinder fühlen sich richtig wohl beim Kekse knabbern und Weihnachtslieder singen. Meine Schwiegermutter staunt über meine Sopranstimme. Sie wusste weder, dass ich überhaupt singen kann, noch dass ich schon seit Jahren in einem Gospelchor Koloratursopran singe. Überhaupt haben wir bisher, dadurch dass wir uns so selten gesehen haben, wenig übereinander gewusst. In dieser Zeit, seit meine Schwiegermutter bei uns ist, sind wir uns so nah wie nie zuvor gekommen. Wir genießen beide diese Nähe und freuen uns, wie wunderbar Schwiegermutter und -Tochter miteinander harmonieren können.

Als ich dabei bin den Kindern vorzulesen, was 'Michel aus Lönneberga' Weihnachten so alles trieb, klingelt es.

Bernd steht vor der Tür.

Er staunt Bauklötze darüber, dass unser Weihnachtsbaum bereits in vollem Schmuck im Wohnzimmer steht.

"Na ihr habt es ja eilig mit Weihnachten." sagt er lächelnd zu meiner Schwiegermutter.

"Na ja, wissen sie, meine Schwiegertochter geht am Montag ins Krankenhaus und da dachte ich, ich schmücke den Baum schon vorher. Wir wissen ja nicht, wann sie wieder nach Hause kommt. Wenn sie länger bleiben muss, hat sie am Ende gar nichts von dem schönen Baum, wäre doch wirklich schade."

Bernd dreht sich erstaunt zu mir um.

"Du gehst noch vor Weihnachten ins Krankenhaus? Wie kommt das denn so plötzlich?"

Ich berichte ihm von meinem letzten Besuch bei Dr. L. und seinem Telefonat bei Dr. K., das offenbar Erfolg zeigt. Bernd verspricht, auf jeden Fall vorbeizukommen, um mich zu besuchen.

 

Kapitel 12

 

 

 

Am Montag treffe ich wie vereinbart morgens um neun Uhr im Krankenhaus ein. Auf der Station werde ich mit ausgeprägter Freundlichkeit von einer Schwester in Empfang genommen, die mich sofort auf mein Zimmer begleitet und mir das Bett am Fenster zuweist.

Das Bett in der Mitte ist ebenfalls belegt. Die Schwester stellt uns gegenseitig vor und fragt dann, ob sie mir beim Auspacken behilflich sein soll. Das Angebot nehme ich gerne an.

Als wir mit der Auspackerei fertig sind, weist sie mich daraufhin, dass der Arzt sicher bald erscheinen wird, um mich zur Aufnahmeuntersuchung abzuholen. Ich solle also nicht allzu weit weglaufen. Das hatte ich ohnehin nicht vor, denn im Bett fühle ich mich nach wie vor immer noch am wohlsten.

Als ich es mir in meinem Bett gemütlich gemacht habe, setzt sich meine Bettnachbarin zu mir auf die Bettkante.

"Ich bin Helga, wenn sie nichts dagegen haben, dass wir uns duzen?"

"Nein, habe ich nicht. Ich bin Tina!"

Ich betrachte meine sympathische Bettnachbarin, die mir mit so viel Freundlichkeit begegnet. Sie dürfte etwa sechzig Jahre alt sein, zweiundsechzig, wie sich später herausstellt. Ihr blondes Haar ist sorgfältig gepflegt und geschmackvoll frisiert. Aber am meisten gefallen mir die vielen Lachfältchen um ihre Augen herum. Sie zeugen von einem humorvollen Wesen.

Wir unterhalten uns eine Weile, bis sich die Tür öffnet und ein schlaksiger, junger Mann hereinschneit. Er kommt direkt auf mein Bett zugeschossen und stellt sich als Herr B. vor, Arzt im Praktikum. Damit hat er bei mir schon gewonnen, endlich mal einer, der zugibt, dass er noch im Praktikum ist.

Her B. bittet mich, ihn ins Aufnahmezimmer zu begleiten, während Helga mir noch ein 'bis nachher' nachschickt.

Im Aufnahmezimmer betrachtet mich Herr B. nachdenklich.

Langsam wird es mir ungemütlich: Warum starrt der mich bloß so an?

Als könnte er Gedanken lesen, kommt die Antwort prompt: "Ich kenne Sie doch!"

"Mich? Unmöglich, dann müsste ich Sie doch auch kennen, tue ich aber nicht."

"Doch, doch, ich kenne Sie und ich weiß auch woher."

"Na, da bin ich jetzt aber gespannt."

"Aus Eschede!", "Aus Eschede?" Vor Verblüffung rutscht mir der Unterkiefer in den Keller.

"Na klar, das Zugunglück, Sie erinnern sich?"

"Ja, sicher. Aber ich kenne Sie ganz bestimmt nicht."

"Macht ja nichts, waren ja auch ein Haufen Leute da. Da kann man sich ja nun wirklich nicht jeden merken. Aber an Sie kann ich mich ziemlich gut erinnern."

"Da bin ich jetzt aber mal gespannt!"

"Sie sind Rettungsassistentin und arbeiten bei der JUH und in der Hochschule. Sie fahren ein NEF, ich habe Sie damit gesehen. Aber ich erinnere mich deshalb an Sie, weil Sie sich doch in Eschede den Rücken verletzt haben. Sie wissen schon, als der Waggon ins Rutschen kam und Sie sich nicht festhalten konnten, weil Sie doch ein Kind auf dem Arm hatten. Der Notarzt, Dr. H., mit dem ich zusammengearbeitet habe, hat Ihnen doch dann noch eine Injektion gegeben, weil die Schmerzen immer heftiger wurden. Trotzdem haben Sie weitergearbeitet. Ich habe mich ernsthaft gefragt, wie Sie das geschafft haben. War doch so, oder?"

Ich bin viel zu verblüfft, um irgendetwas abzustreiten, also nicke ich nur, um mich im gleichen Moment zu ärgern. Eigentlich wollte ich meinen Unfall in Eschede für mich behalten.

"Na sehen Sie, ich vergesse selten ein Gesicht!" Der junge Mann strahlt mich stolz an. Nun muss ich doch ein bisschen lächeln.

Sorgsam und vorsichtig untersucht er mich, stellt mir zwischendurch immer mal wieder ein paar Fragen und holt schließlich zwei Dokumente, die er noch mit mir besprechen möchte.

"Das eine ist die Einwilligung zur Myelographie. Soll ich Ihnen den Ablauf erklären?"

"Nicht nötig, ich weiß was im Einzelnen passiert."

"Na gut, das andere ist die Einwilligung zur OP, falls sie nötig sein sollte. Ich habe das mit Dr. K. schon so weit besprochen, aber wie gesagt, wir müssen natürlich erst die Myelographie abwarten."

Ausführlich erzählt er mir, was bei einer eventuellen OP im einzelnen passieren wird und am Ende unterschreibe ich ihm beide Formulare.

"Wann werden Sie die Myelographie machen?"

"Mal sehen, ich denke morgen. Aber versteifen Sie sich nicht zu sehr darauf. Sie wissen ja, wie das in Krankenhäusern immer zugeht. Wenn wir Pech haben, zieht sich das bis Mittwoch hin, was natürlich blöd wäre."

"Na ja, das ist ja auch schon übermorgen."

"Stimmt. Tja, ich denke, dann haben wir es erst mal. Wenn noch irgendetwas ist, melde ich mich bei Ihnen, okay?"

"Ja klar!""Ach so, was ich noch sagen wollte, wenn Sie mit der Schmerzmedikation nicht auskommen, sagen Sie Bescheid. Sie können jederzeit Dipidolor gespritzt bekommen, wenn es zu heftig wird. So ein Bandscheibenvorfall kann ja ganz schön weh tun."

"Was ist denn jetzt mit der Infusionstherapie mit dem Antra? Kriegen Sie das hin?"

"Oh ja klar, das können wir gleich in Angriff nehmen. Ich komme gleich zu Ihnen ins Zimmer und lege die Braunüle. Wenn Sie wollen, kann ich auch gleich die erste Flasche anhängen."

"Ja, das wäre wirklich toll."

"Na dann mache ich das doch!"

Knappe fünf Minuten später kommt Herr B. an mein Bett geeilt, bewaffnet mit grünen Braunülen.

"Wo hätten Sie die Braunüle denn gerne?", fragt er mich lächelnd. Reichlich blöde Frage!

"Auf dem Handrücken!", verblüffe ich ihn.

"Im Ernst?"

"Ja, was dachten Sie denn? Ich möchte mich schließlich noch bewegen können!"

Also beginnt er mit seiner Stocherei, allerdings mit herzlich wenig Erfolg.

Du lieber Himmel, bevor AiP'ler auf die Menschheit losgelassen werden, sollte ihnen erst einmal jemand beibringen, wie man Braunülen legt!!!

Auf jeden Fall hatte er sich gut vorbereitet, denn für zehn! Anläufe reichen die Braunülen, dann muss er passen.

"Ich hole erst mal eine neue Braunüle." Spricht' es und ist weg.

Helga betrachtet mich kopfschüttelnd.

"Sag mal, tut das nicht weh?"

“Nicht so weh wie mein Rücken!"

"Der Kerl stochert aber wirklich herum, ich hätte dem schon längst welche auf die Mütze gegeben."

Ich muss lachen und schüttele den Kopf: "Ach weißt du Helga, irgendwann muss er es ja mal lernen. Und ich verspreche dir, wenn die Braunüle da liegt, wo ich sie haben will, dann kann er es."

Helga sieht mich ungläubig an.

"Doch wirklich!"

Herr B. kommt zurück, drei neue Braunülen auf seinem Tablett. Erneut legt er mir die Stauung an und sprüht dann meine Ellenbeuge mit Kodanspray ein." Was soll denn das werden, wenn es fertig ist?", frage ich ausgesucht höflich an.

"Na ja, ich lege die Braunüle jetzt in die Ellenbeuge."

"Aha, und warum?"

"Weil die Venen auf Ihrem Handrücken entschieden zu fein sind für die Braunüle.“

"Erstens gibt es auch feinlumigere Braunülen und zweitens haben bisher alle Ärzte die Braunüle auf meinem Handrücken versenken können, also werden Sie das ja wohl auch schaffen."

"Na ja, aber Sie haben doch gesehen, dass es nicht funktioniert."

"Ich habe gesehen, dass Ihnen noch niemand die richtige Technik beigebracht hat. Also erhalten Sie jetzt einen Schnelllehrgang und dazu noch völlig gratis."

"Von Ihnen?"

"Von wem sonst?"

"Und Sie glauben, Sie können das?"

"Hören Sie, ich bin Rettungsassistentin, das wäre doch wohl peinlich, wenn ich das nicht könnte!"

"Na, da bin ich aber mal gespannt."

Er schaut ziemlich skeptisch, der Herr B.! stirnrunzelnd betrachtet er die Venen auf meinem Handrücken, die in der Tat nicht besonders hervortreten.

"Sehen Sie, ich sage ja, das wird nichts."

"Nö, so ganz bestimmt nicht. Machen Sie mal die Stauung auf."

Etwas widerstrebend und misstrauisch gehorcht er.

"So, jetzt lassen Sie meine Hand kurze Zeit unter Herzniveau, das führt dazu, dass das Blut bis in die Fingerspitzen läuft, aber nicht wieder zurück."

Staunend wie ein kleiner Junge beobachtet er, wie meine Hand immer mehr Farbe annimmt. Aber auch Helga schaut fasziniert zu.

"Gut, dann können Sie jetzt die Stauung anlegen. Zweckmäßigerweise knapp unterhalb der Ellenbeuge."

Widerstrebend macht Herr B., was ich ihm sage und sieht staunend zu, wie meine Venen gut gefüllt auf dem Handrücken hervortreten.

"Das ist ja irre, das hat mir noch keiner gezeigt."

"Wenn das mal nicht funktioniert, gibt es noch einen Trick."

"Ja ich weiß, warmes Wasser."

"Was viel besseres! Nitrospray!"

"Nitrospray!? Ist das Ihr Ernst?"

"Ja, machen wir im Rettungsdienst öfter, vor allen Dingen, wenn die Venen kurz vorm Kollabieren sind und man nicht mehr reinkommt."

Staunend betrachtet er mich und vergisst dabei völlig, was er eigentlich machen wollte.

"Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie endlich die Braunüle legen würden. Es wird nämlich unangenehm."

"Oh ja, natürlich. Entschuldigung!"

Herr B. geht zum großen Braunülen Angriff über und ich kann es einfach nicht glauben, der Mann ist absolut unfähig.

"So wird das nie was. Sie müssen die Vene, die Sie punktieren wollen, schon festhalten, die haut nämlich sonst ab und Sie stechen sozusagen ins Leere."

Er bemüht sich ehrlich.

"Schon ziemlich gut, und wenn Sie die Kanüle jetzt noch proximal vorschieben, könnte es direkt klappen. Oder muss ich Ihnen jetzt auch noch proximal erklären?"

"Natürlich nicht!"

"Na prima! Sieht doch gut aus."

Gemütlich schiebt er die Braunüle in meine Vene und hört leider nicht auf zu schieben.

"Stopp!"

"Was ist denn?"

"Wenn Sie jetzt weiterschieben, durchstechen Sie die Vene. Stahlkanüle etwas zurückziehen. - Vorsicht, nicht zu viel! Sie brauchen die Stahlkanüle noch zur Führung und zurückschieben ist nicht! Gut so! - Kunststoffkanüle vorschieben. Noch ein bisschen, passt doch - und noch ein bisschen. Stopp! Das reicht. Gut, jetzt können Sie die Stahlkanüle entfernen."

Nachdem er die Braunüle fixiert und die Infusion angehängt hat, lässt er sich erschöpft auf den nächsten Stuhl fallen.

"Das war echt gigantisch! Wir haben noch mehr AiP’ler im Haus.“

"Na ja, dann können Sie Ihr Fachwissen ja jetzt weiterreichen."

"Klasse! Ich kann es noch gar nicht glauben, dass ich das wirklich fertig gebracht habe."

"Ja, so ging es mir bei meiner ersten Braunüle auf dem Handrücken auch. Aber Sie sehen ja, man kann alles lernen." Überglücklich zieht er ab.

Helga guckt mich mit einem verschmitzten Lächeln an: "Da hast du jetzt aber jemanden richtig glücklich gemacht."

"Ja, jeden Tag eine gute Tat."

 

Am nächsten Morgen ist das Unglück perfekt!

Als ich aufstehe, um mich in die Waschecke zu begeben, rutscht mir der Boden unter den Füßen weg. Das Letzte, was ich merke, ist, dass ich mit dem Kopf auf den Fußboden aufschlage.

Blinzelnd stelle ich fest, dass ich in meinem Bett liege. War der Ohnmachtsanfall ein Traum? Ich versuche, mich zu orientieren.

Nun, die Ohnmacht habe ich wohl nicht geträumt, wenn mindestens fünf Leute um mein Bett herumstehen. Über mir schwebt eine Infusionsflasche.

Ich habe keinerlei Vorstellung, wie lange ich weg war.

Herr B. sitzt auf meiner Bettkante und sieht mich besorgt an: "Was ist passiert?"

"Sagen Sie es mir." antworte ich.

"Offensichtlich sind Sie zu Boden gegangen, aber wieso?"

"Woher soll ich das denn wissen?"

"Sie haben eine ausgeprägte Tachykardie, ich würde gerne wissen, wo die herkommt. Angst vor der Myelographie?"

"Nein, überhaupt nicht. Ich liebe solche invasiven Eingriffe!"

"Alles klar! Ich kann Ihnen aber versichern, dass wir die Myelographie erst mal nicht vornehmen."

"Warum?"

"Weil wir Ihre Schilddrüsenwerte überprüft haben und der TSH -Wert ist zu niedrig. Möglicherweise haben Sie eine Überfunktion und dann wäre die Myelographie unter Umständen lebensgefährlich."

"Ist ja wirklich toll! Und wie geht es jetzt weiter?"

"Erst einmal ruhen Sie sich jetzt ein bisschen aus. Dann fährt Sonja Sie zum Röntgen, Sie haben eine ganz schöne Beule am Kopf, und ich werde mal sehen, wie wir weitermachen. Ich sage Ihnen nachher Bescheid."

Erst mal ist er weg.

 

Ich komme irgendwie überhaupt nicht richtig durch. Den ganzen Tag bin ich wie benommen, so als stünde ich permanent unter irgendwelchen Sedativa.

Das Röntgen des Schädels bekomme ich kaum mit. Der Radiologe macht sich Sorgen, weil ich doch recht weggetreten scheine. Diverse Untersuchungen laufen. Ich werde von einer zur anderen geschoben und bekomme alles nur halb mit. Am frühen Nachmittag ist eine Schilddrüsen- Szintigrafie an der Reihe. Eigentlich sollte sie schon am Vormittag stattfinden, aber da ich nicht in der Lage war, die Einwilligung zu unterschreiben, hatte man sie verschoben.

Ich muss einen umfangreichen Fragebogen ausfüllen und anschließend eine ganze Weile auf die Ärztin warten. Das stört mich aber nicht, denn ich genieße heute das Privileg, in meinem Bett bleiben zu dürfen.

Die Ärztin kommt und hält mir ein weiteres Dokument unter die Nase, welche ich unterschreiben soll.

"Was ist das?", man kann ja schließlich mal fragen, nicht, dass ich am Ende eine neue Waschmaschine geliefert bekomme."Mit dieser Unterschrift versichern Sie uns, dass Sie wirklich nicht schwanger sind. Sollte sich herausstellen, dass Sie doch schwanger waren, geht das Risiko an Sie über."

"Sind die Frauen wirklich so blöd, das zu unterschreiben?" Ich bin total perplex.

"Wie bitte?" Die Ärztin sieht mich verständnislos an.

"Schon gut. Aber eine Frage gestatten Sie mir schon, oder?"

"Selbstverständlich, wenn nötig auch mehrere."

"Haben Sie meinen ausgefüllten Fragebogen gelesen?"

"Ja, natürlich!"

"Und warum bekomme ich dann diesen albernen Zettel zur Unterschrift vorgelegt?"

"Wieso, ich verstehe Ihre Frage nicht."

"Wie Sie meinem Fragebogen unschwer entnehmen konnten, hatte ich im Juli eine Hysterektomie. Ich wäre also ein medizinisches Weltwunder, wenn ich schwanger wäre. Dieser Zettel ist somit absolut überflüssig und ich sehe keinerlei Begründung, warum ich ihn unterschreiben sollte."

Sie sieht mich sprachlos an und verzichtet auf die Unterschrift. Ich kann es einfach nicht bleiben lassen, aber so viel Ignoranz muss bestraft werden!

Die Rache folgt auf dem Fuße.

Am späten Nachmittag beehrt mich Dr. K. mit seinem Besuch.

Er steht am Fußende und starrt auf mich herab. Etwas, was ich ganz und gar

nicht leiden kann.

"So, so, Sie sind das also!" Was meint er damit?

Da ich mich nicht aufsetzen kann, mir wird immer noch schwindelig, wenn ich hochkomme, bitte ich Dr. K., sich zu setzen. Ich mag es lieber, wenn ich mit meinem Arzt auf einem Niveau bin und direkten Blickkontakt halten kann. In der 'Horizontalen' fühle ich mich irgendwie hilflos.

Dr. K. kommt meinem Wunsch nach und setzt sich auf Helgas Bett. "Sie wissen schon, dass Sie keinen Bandscheibenvorfall haben?"

Jetzt bin ich aber mehr als verblüfft. Wann das kein Bandscheibenvorfall ist, was behandelt mein Orthopäde denn dann seit Monaten?

"Nein, das weiß ich ganz und gar nicht," erwidere ich also.

"Na ja, Sie haben vielleicht einen kleinen in Höhe L4/L5, aber Bandscheibenschäden in der Höhe machen keine Probleme. Außerdem ist der links und rechts tut es angeblich weh, das ist ja nun schon mal ganz ausgeschlossen. So etwas gibt es nicht!"

Ich traue meinen Ohren nicht. Mein Blick wandert zu Herrn B., der verlegen zur Seite guckt. So ist das also. Dieser Möchtegern Neurochirurg erzählt den totalen Stuss und keiner traut sich, ihm das zu sagen. Ich bin also wieder einmal die Dumme!

Ich habe allerdings nicht vor, mir das gefallen zu lassen. Also lege ich Einspruch ein, was dazu führt, dass Dr. K. mich untersucht.

Er ist hektisch und grob und ignoriert schlicht und ergreifend meine Schmerzensschreie.

Als er fertig ist mit der Untersuchung, bekomme ich zu hören: "Na sehen Sie, es fehlt Ihnen doch nichts."

Aha, so funktioniert das. Man ignoriert, dass der Patient Schmerzen hat, und dann kann man ihn als geheilt entlassen. Auch eine interessante Methode. Dr. K. verlässt mit seinem 'Stab' das Zimmer.

Mir reicht es jetzt endgültig. Völlig am Ende mit meinen Nerven, breche ich in einen heftigen Weinkrampf aus.

Helga versucht anfänglich, mich zu trösten, da ich mich aber überhaupt nicht beruhigen kann, klingelt sie nach der Schwester. Die wiederum zieht es vor, Herrn B. zu holen, der sich, das schlechte

Gewissen in Person, an mein Bett setzt und Händchen hält.

"Ich will, dass Sie eine neue MRT vornehmen!" Vorwurfsvoll sehe ich ihn an.

"Tja, ich weiß nicht, was das bringen sollte?"

"Was das bringen sollte? Verdammt noch mal, ich habe diesen Bandscheibenvorfall bei L5/Sl, ich lasse mich doch von diesem Typen nicht auf den Arm nehmen!"

"Sind sie jetzt wütend?"

"Was denken Sie denn?"

"Also gut, ich werde sehen, was ich tun kann."

Keine zehn Minuten später rollt er mich persönlich zur MRT. Ich habe es wieder mal geschafft, mich durchzusetzen.

Die Bilder bringen nichts Neues, wie mir Herr B. versichert. Nach wie vor habe ich einen Bandscheibenvorfall in Höhe L5/Sl... Siehe da!

 

Den nächsten Tag bekomme ich Dr. K. nicht zu sehen und glaube schon nicht mehr daran, dass er überhaupt noch auftaucht. Dafür telefoniere ich aber mit Dr. L., der irgendwie aber nicht begreift, was ich ihm klarzumachen versuche, nämlich dass Dr. K. nicht gewillt ist, irgendetwas zu unternehmen. Dr. L. versichert mir aber, sollte ich wider Erwarten vor Weihnachten entlassen werden, könne ich selbstverständlich zwischen den Feiertagen in seine Sprechstunde kommen.

Resigniert lege ich auf. Dr. K. erscheint am nächsten Tag, dem 24. 12., und legt mir den Entlassungsbrief aufs Bett. Ich bin keineswegs überrascht.

"Sehen Sie," sagt er zu mir,“ ich denke, dass Sie sich das alles nur einbilden. Wie mir Herr B. erzählt hat, waren Sie bei dem Großeinsatz in Eschede im Juni und ich bin der Überzeugung, Sie leiden an einem "Eschede Tauma".

Sie kommen mit diesen Erlebnissen nicht klar und um nicht mehr arbeiten gehen zu müssen, bilden Sie sich Schmerzen ein, die nicht da sind. Sie verstehen also, dass es keinerlei Grund gibt, Sie zu operieren. Sie sollten eine psychosomatische Kur machen oder so was, das wird mehr helfen."

Damit geht er. Ich kann es einfach nicht glauben. Seit fast acht Jahren arbeite ich im Rettungsdienst. Ich habe die haarsträubendsten Sachen gesehen und erlebt und jetzt soll mich dieses Unglück in Eschede derartig aus den Fugen gehoben haben?

Wahrscheinlich gehöre ich noch mit zu den Leuten, die am wenigsten Schaden, zumindest seelisch, davon getragen haben.

Ich bin dabei meine Tasche zu packen, als Herr B. hereinkommt, um sich zu verabschieden.

"Es tut mir schrecklich leid," murmelt er zerknirscht. "Kann ich irgendetwas tun?"

"Ja, lernen Sie Zivilcourage, um auch mal zu widersprechen!"

"Ich verstehe ja, dass Sie wütend sind."

"Nein, ich bin nicht wütend. Ich bin enttäuscht und verletzt und das ist viel schlimmer!"

Er sieht mich betroffen an und sucht das Weite.

 

Kapitel 13

Mein Mann öffnet mir höchst überrascht die Haustür, als ich gegen halb zwei vor der Tür stehe.
„Wo kommst du denn her?"
„Na woher schon, aus dem Krankenhaus."
“Das ist ja toll, dass du zu Weihnachten zu Hause bist. Wir haben gar nicht damit gerechnet. Warum hast du denn nicht angerufen, ich hätte dich doch abgeholt."
“Vielleicht wollte ich nicht abgeholt werden.”
“Das verstehe ich nicht. Du wolltest nicht, dass ich dich abhole?“
„Du hast es erfasst."
Mein Mann starrt mich verblüfft an und ich kann es ihm keineswegs verübeln.

 
“Tina, das ist ja wundervoll, dass du zu Hause bist. Da werden sich die Kinder aber freuen."
Meine Schwiegermutter kommt aus der Küche und umarmt mich. „Möchtest du etwas essen?"
“Ich möchte, dass ihr mich einfach in Ruhe lasst.”
Ich schlage den Weg Richtung Schlafzimmer ein und beide folgen mir.
„Was ist denn?“
Michael sieht mich besorgt an.
"Nichts, ich möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden.”

“Komm, das kannst du mir nicht erzählen, dass alles in Ordnung ist. Ich kenne dich doch. Irgendwas ist passiert und vielleicht erzählst du mir mal, was los ist?"
"Kannst du nicht verstehen? Ich will in Ruhe gelassen werden!".
Ich knalle meinem verdutzten Ehemann die Schlafzimmertür vor der Nase zu. Auch etwas Neues! Ich werfe zwar schon mal mit Gegenständen, wenn ich richtig wütend werde. Das passiert in zehn Jahren ungefähr einmal, aber ich knalle niemals Türen.
Michael gibt nicht auf.
“Sag mal, hakst du jetzt langsam komplett aus? Ich hätte gerne eine Erklärung von dir!"
“Ich will aber nicht, verdammt noch mal!“
Meine Schwiegermutter geht schließlich dazwischen, ehe wir unseren allerersten Ehekrach miteinander haben.
“Nun lass sie doch zufrieden. Sie ist von der Fahrerei hierher sicher ganz erledigt und müde. Wenn es ihr nachher besser geht, wird sie dir schon erzählen, was passiert ist.
„Ruh'! dich aus, Tina."
Damit schiebt sie Michael aus dem Schlafzimmer.
Ich lehne mich einen Moment an unseren Kleiderschrank und hole tief Luft.
Plötzlich fällt mir auf, dass irgendetwas an meinem Bett anders ist als sonst. Zuerst komme ich nicht drauf, aber dann fällt mir auf, dass es höher ist als vorher.
Unsere Betten haben ohnehin schon normale Sitzhöhe, ich kann die niedrigen Betten nicht ausstehen. Aber meines ist deutlich um einige Zentimeter höher als Michaels.
"Michael, kommst du mal!"
Michael kommt sozusagen im Laufschritt,
"Hast du es dir anders überlegt?" Erwartungsvoll betritt er das Schlafzimmer,
"Nein, was ist mit meinem Bett passiert?"
"Ach so, dein Bett. Tja also, das ist nicht mehr dein Bett. Ich wollte sagen, nicht dein ursprüngliches"
"Aha, was ist es dann?"
"Also, wir haben zusammengelegt und dir ein orthopädisches Bett gekauft"
"Was habt ihr?"
"Dir ein orthopädisches Bett gekauft, also, dieses Bett ist wirklich super! Pass auf, du kannst mit dieser voll elektronischen Bedienung das Bett einstellen, wie immer du es für dich brauchst. Du musst nicht mal mehr aufstehen. Na, wie findest du das?"
Mein Mann sieht mich erwartungsvoll und strahlend an.

"Seit ihr eigentlich völlig bescheuert? Verdammt noch mal, ich will kein orthopädisches Bett zu Weihnachten! Was bekomme ich denn dann zum Geburtstag? Rheuma Unterwäsche? Muss ich denn wirklich ständig und immer daran erinnert werden, dass ich einen Bandscheibenvorfall habe? Könnt ihr mich nicht einfach wie einen normalen Menschen behandeln?"

"Aber das tun wir doch!"
"Nein, dass tut ihr eben nicht! Mama schottet mich von allem ab, die Kinder trauen sich ja schon gar nicht mehr zu mir, weil sie dauernd zu hören bekommen, Mama braucht Ruhe, Mama geht es nicht gut! Ich darf mir nicht einmal selbst einen Tee kochen, der Wasserkocher könnte ja zu schwer für mich sein! Wenn ich mal länger als zehn Minuten hoch bin, kriege ich zu hören, leg' dich lieber wieder hin! Seid ihr eigentlich völlig übergeschnappt? Könnt ihr mich nicht endlich mal in Ruhe lassen? Ich muss mit dieser Erkrankung leben und ich will es auf meine Art tun!“
"Das verstehe ich jetzt nicht? Ich denke, der K. operiert dich. Wie kannst du dann behaupten, das du mit dieser Erkrankung leben musst?"
"Nein, er wird eben nicht operieren!"
"Wieso denn nicht?"
"Weil ich nichts habe, verstehst du? Alles pure Einbildung, na was sagst du nun?"
Michael steht immer noch in der Tür und starrt mich sprachlos an. Inzwischen hat sich auch Filius eingefunden, der mit größtem Interesse meinen Ausbruch verfolgt hat.
"Weißt du was ich glaube, meine Liebe? Du nimmst dich selbst viel zu wichtig! Schlaf dich erst einmal aus und wenn du wieder klar denken kannst, können wir uns gerne weiter unterhalten! Auch über dein Weihnachtsgeschenk! Was das anbelangt, kann ich mich erinnern, dass du dir dieses Bett schon gewünscht hast, als du noch keine Probleme mit deiner Bandscheibe hattest! Und noch etwas und das ist mein Ernst; Wenn du den Kindern den heiligen Abend verdirbst, kannst du was erleben!" Mein Mann dreht sich um und geht.

Filius kommt langsam ins Schlafzimmer geschlendert und setzt sich gemütlich in meinen Schaukelstuhl.
"Was willst du denn?", maule ich ihn an.
"Nett, wirklich nett. Wir haben uns überhaupt noch nicht gesehen, aber anstatt zu sagen: 'Hallo, mein Sohn, schön dich zu sehen! ', werde ich angemault."
"Ich habe dich nicht gebeten, hereinzukommen.”
"Weiß ich."
"Was willst du also?"
"Ich wollte dir sagen, dass du ungerecht und unfair bist.“, "Wie bitte!?" Nun hört sich ja wohl alles auf.
"Die Familie hat sich was dabei gedacht, dir dieses Superbett im stolzen Wert von einigen tausend Mark zu schenken. Wir wollten, dass es dir so gut wie irgend möglich geht. Irgendwie können wir alle nicht so wahnsinnig viel zu deinem Wohlbehagen beitragen und da dachten wir eben, dieses Bett wäre vielleicht eine Möglichkeit, dass es dir wenigstens ein bisschen besser geht. Wir wollten dich nicht damit kränken, wir wollten dir wirklich nur helfen und dachten du freust dich. Und was das Weihnachtsgeschenk als solches betrifft: Michael hat in Berlin bei einem HSJ eingekauft!”
"Bei einem was?"
"HSJ - High Society Juwelier! Du weißt schon, einer von der Sorte, die Geschäfte in Berlin, Paris und New York haben. Eigentlich sollte ich dir das ja nicht verraten, aber ich finde, du bist in letzter Zeit völlig daneben. Du bist wirklich der netteste und fröhlichste Mensch den ich kenne, aber seit einiger Zeit bist du nur noch frustriert und genervt. Ich versuche ja wirklich, dich zu verstehen, aber es fällt verdammt schwer, Mum. Wenn mich einer fragen würde, was ich mir zu Weihnachten wünsche, dann würde ich ihm sagen: Ich will meine fröhliche, intelligente und unkomplizierte Mutter zurück. Die, die alle meine Kommilitonen für meine Schwester halten, weil sie so herrlich jung und unbekümmert ist. Wenn ich sehe, wie sehr eine Erkrankung einen Menschen verändern kann, bin ich ehrlich entsetzt."
Filius geht und schließt leise die Tür hinter sich.
Tief in mir drin weiß ich, dass Michael und Filius in gewisser Weise recht haben. Dennoch bin ich im Augenblick zu sehr gekränkt und verletzt, um es mir selbst eingestehen zu können.
Erst einmal verziehe ich mich wie immer, wenn ich nicht weiter weiß, in mein Bett. Das habe ich schon als Kind getan.

 
Offenbar bin ich irgendwann eingeschlafen. Es ist bereits dunkel, als ich wieder aufwache. Ich habe keine Ahnung, wie spät es wohl sein mag.
Das Haus hallt wider von fröhlichen Gesprächen und Lachen. Anscheinend sind inzwischen unsere Gäste, zumindest teilweise, eingetroffen.
Normalerweise liebe ich es, wenn unser Haus voll ist. Je mehr Menschen um mich herum sind, um so wohler fühle ich mich. Im Augenblick habe ich allerdings das Gefühl, ich kann niemanden ertragen.
Es dauert noch eine Weile, bis sich jemand traut, leise an die Schlafzimmertür zu klopfen. Ich mag nicht und so rolle ich mich in meine Bettdecke und drehe mich auf die der Tür abgewandten Seite.
Obgleich ich niemanden hereingebeten habe, öffnet sich die Tür und wird sachte wieder geschlossen. Da es im Zimmer dunkel ist und niemand Licht macht, bin ich mir nicht sicher, ob überhaupt jemand hereingekommen ist.
Doch!

Meine Nachttischlampe flammt auf. Ich vergrabe mich tiefer in meine Decke.
"Tina?" Das ist die Stimme von Ralf, meinem jüngstem Bruder. Nun drehe ich mich doch langsam um.
“Hallo mein Nesthäkchen! Wie geht es dir?", werde ich zärtlich gefragt.
Ralf drückt mir einen Kuss auf die Stirn und streichelt mein Haar.
"Ihr seid ja schon da," bringe ich hervor.
"Schon ist gut. Die Maschine in Basel hatte eine Stunde Verspätung.”
“Wie spät ist es denn?"
"Schon sechs und die Familie möchte wissen, ob du an der Bescherung teilnehmen möchtest, dann warten wir noch, bis du so weit bist. Aber die Kleinen sind nicht mehr zu halten, weißt du."
"Warum habt ihr mich denn nicht früher geweckt?“
"Michael meint, du seist heute ein bisschen kompliziert. Er wird nicht ganz schlau aus dir und ist ein wenig geknickt. Mit anderen Worten, es hat sich niemand zu dir rein getraut.”
“Ich fürchte, ich werde unausstehlich. Das Schlimmste ist, dass ich nicht weis, wie ich es aufhalten soll. Ich fühle mich schrecklich."
"Lass uns später darüber reden, ja? Kommst du jetzt also?“

“Ja sicher, aber ich werde eine Viertelstunde brauchen."

"Lass dir Zeit, Nesthäkchen.
Ich richte mich mühsam auf und Ralf starrt mich etwas entgeistert an.
“Ist irgendwas?", frage ich ihn.
"Ja, wieso hast du denn kurze Haare? Wo sind denn deine schönen, langen Haare geblieben?"
"Sozusagen der Bandscheibe zum Opfer gefallen. Ich musste meine langen Haare über Kopf waschen und das funktioniert momentan überhaupt nicht, also habe ich sie schneiden lassen. Gefällt es dir nicht?"

„Doch schon, aber mit langen Haaren hast du mir besser gefallen."

„Das sagt Michael auch, Aber die wachsen ja wieder. Und jetzt geh', ich will mich fertig machen."

Knappe zwanzig Minuten später betrete ich die Küche, die sich inzwischen gut gefüllt hat. Neben Ralf, seiner Frau Tamico und den beiden zehn - und zwölfjährigen Töchtern Meredith und Kimberley, sind auch mein Schwiegervater und mein Schwager Horst mittlerweile eingetroffen. Am Küchenschrank lehnt ein langbeiniges, brünettes Mädchen, von dem ich keine Ahnung habe, wer sie ist und wo sie herkommt. Aber das Rätsel löst mein Sohn schnell. "Mum, darf ich dir Melissa vorstellen?"
Ich reiche der brünetten Schönheit, die wahrscheinlich genauso alt ist wie Filius, die Hand.
"Hallo, herzlich willkommen bei uns." Melissa ergreift ohne Zögern meine Hand und begrüßt mich
mit einem festen Händedruck. "Vielen Dank für Ihre freundliche Einladung. Es wäre für mich wirklich nicht leicht gewesen, Weihnachten im Studentenwohnheim verbringen zu müssen.“

Sie bedankt sich für die Einladung? Welche Einladung? Ich kann mich an nichts erinnern und werfe Filius einen fragenden Blick zu. Dieser studiert aber mit Hingabe eine Packung Filtertüten, als hinge sein Leben davon ab. Nun, das ist wohl Antwort genug!

Nach der Begrüßungszeremonie fangen die Kinder an zu drängeln. Sie wollen endlich wissen, ob der Weihnachtsmann da gewesen ist. Also schreiten wir zur Bescherung.
Nachdem sich die Jubelrufe unserer Kinder einigermaßen gelegt haben, verhilft mir mein Schwiegervater zu einem bequemen Platz auf der Couch. Kaum Platz genommen, türmen sich Päckchen auf meinem Schoss. Nacheinander wickele ich alles aus. Es kommen diverse Bücher zum Vorschein.

René schenkt mir einen neuen Porzellanclown für meine schon recht umfangreiche Sammlung und auch mein Schwiegervater hat einen für mich. Den hatte er in Kanada erstanden. Schließlich finde ich auch das kleine Päckchen von dem HSJ, von dem René mir ja schon erzählt hat. Es handelt sich tatsächlich um einen weltweit bekannten Juwelier. Als ich den Deckel des Schmuckkästchens hochhebe, kommt ein wunderschöner Ring aus Weißgold zum Vorschein. Er ist von schlichter Eleganz und in der Mitte findet sich ein sauber gefasster Brillant.
Ich erkenne diesen Ring. Im Sommer hatten wir auf dem Ku'damm in Berlin vor dem Schaufenster dieses Juweliers gestanden. Von allen dort ausgestellten Schmuckstücken hatte es mir dieser Ring besonders angetan. Ich habe mir sozusagen die Nase am Schaufenster platt gedrückt, wie ein kleines Mädchen, dass sehnsüchtig eine Puppe betrachtet. Mir bleibt fast die Luft weg. Erfreut, aber auch fassungslos starre ich meinen Mann an.
"Himmel, der hat doch ein Vermögen gekostet!?"
"Ist das wichtig? Entscheidend ist, dass du dich freust." Michael umarmt mich zärtlich und flüstert mir ins Ohr: "Ich liebe dich über alles."
Ich kann nur nicken. Lieber Gott, ich fühle mich so beschämt.
Aber ehe ich weiter darüber nachdenken kann, legt mir meine Schwiegermutter ein Paket in den Schoss.
"Das ist gestern gekommen, aus China."
H' san! Ach du liebe Güte. Ich habe ihn und seine Familie völlig vergessen. Nicht einmal eine Weihnachtskarte habe ich abgeschickt. Nun, dann werde ich nachher ein E-Mail auf die Reise schicken und um Verzeihung bitten müssen.
In dem Paket findet sich für jedes Familienmitglied etwas. Ich selbst ziehe aus einem Bambus Kästchen ein seidiges Etwas hervor, dass sich beim auseinander falten, als Morgenmantel herausstellt. Schwere, dunkelblaue China Seide, liebevoll mit Vogelmotiven und den obligatorischen Pflaumenblüten bemalt. Ich bin wirklich hingerissen.

Nach dem Abendessen verziehe ich mich in einen stillen Winkel unseres geräumigen Wohnzimmers.
Nur die Kerzen am Weihnachtsbaum lassen ihr sanftes Licht leuchten und verleihen dem Raum eine ungewohnte Gemütlichkeit und Wärme.
Aus meiner kleinen Ecke heraus betrachte ich meine Familie.
Michael liegt der Länge nach auf dem Fußboden und baut mit Tim Lego.
Sarah spielt mit Hingabe mit ihrem Doktorkoffer und verarztet Opa, der sich das mit einem Schmunzeln gefallen lässt.
Amrei versucht währenddessen Oma zu frisieren, was ein bisschen schwierig ist, weil Omas Haare zu kurz sind. Filius weiht Melissa in die Geheimnisse meiner umfangreichen Bibliothek ein und erzählt ihr nebenbei Familienanekdoten, die sie mit einem hinreißenden Lachen quittiert.
Meine beiden zauberhaften Nichten Meridith und Kimberley sitzen mit Schwager Horst auf dem Teppich und spielen Monopoly.
Tamico lehnt mit einem Glas Wein in der Hand an der Terrassentür und beobachtet mit einem Lächeln ihre Töchter, die sich in deutscher Sprache versuchen, während Horst ihnen in Englisch antwortet.
Wie so oft bewundere ich meine Schwägerin. Tamicos Mutter war Japanerin, ihr Vater Amerikaner. Aber Tamico hat die Feingliedrigkeit der Japaner geerbt. Sie ist bewundernswert schlank und ihr blauschwarzes Haar reicht bis über die Hüften. Obgleich sie auch schon siebenundvierzig Jahre alt ist, wirkt sie immer noch wie ein Teenager. Tamico arbeitet die Woche über als Staatsanwältin in San Francisco und wenn man sich diese zierliche Person ansieht, kommt man nicht auf die Idee, das es zu ihrem Leben gehört, ständig mit Gewaltverbrechern umzugehen.

Mein Blick schweift weiter durch den Raum und trifft auf meinen Bruder Ralf. Er wird doch tatsächlich grau, an den Schläfen zeigt es sich deutlich. Ansonsten sieht er wirklich unglaublich gut aus. Schlank und durchtrainiert. Neben dem Volleyballspiel ist er ein leidenschaftlicher Surfer, aber das gehört in Kalifornien wohl irgendwie dazu. Außerdem ist er es seinem Beruf gegenüber schuldig, ein leuchtendes Beispiel für seine 'Wohlstands Patienten' zu sein. Ralf dreht mir den Kopf zu und lächelt mich amüsiert an. |

“Tina betrachtet wie eine stolze Glucke ihre Lieben," sagt er zu Michael gewandt. Mein Mann sieht hoch zu mir und schenkt mir ein verstehendes Lächeln.
Ein wohliges Gefühl durchläuft meinen Körper. Ich liebe diese Familie und selten habe ich mich so glücklich und geborgen gefühlt wie heute.

 

Am nächsten Tag ist das Haus wegen Überfüllung vorübergehend geschlossen.

Meine restlichen vier Brüder haben sich, nebst ihren Familien und meiner Mutter eingefunden. Wir tauschen Neuigkeiten aus und Peter und Ingo berichten aus Afrika. Sie haben eine Menge Post und Grüße für Michael und mich im Gepäck, über die wir uns wahnsinnig freuen. Offenbar hat uns niemand in Burkina vergessen.

Am späteren Nachmittag taucht noch meine Cousine Karin mit ihrem Ehemann auf. Sie ist Patin bei Sarah und bringt Weihnachtsgeschenke für die Kinder.

Die Familie macht es sich bei Kaffee und Kuchen gemütlich und meine Brüder fangen natürlich sofort an, sich über ihre doch unterschiedliche Arbeit zu unterhalten.

Während Peter, Ingo und Thomas von ihren Erfahrungen in der dritten Welt berichten, schütteln Ralf und Christian immer wieder, teils vor Erstaunen und teils vor Entsetzen den Kopf.

Zur allgemeinen Erheiterung trägt dann aber schließlich Karin bei. Sie ist ein Hypochonder wie aus dem Bilderbuch. Die ganze Familie weiß das und es macht meinen Brüdern immer wieder Spaß, Karin zu ärgern. Heute ist es aber Filius, der den Vogel abschießt.

Wie immer schildert Karin tausend Symptome, die ihren armen geplagten Körper quälen. Während meine Brüder stillschweigend Blicke untereinander austauschen, hört Filius so gebannt zu, als sei er ein großer Professor, der einem unheilbar kranken Patienten sein Gehör schenkt.

Nachdem Karin ihre Ausführungen beendet hat, nickt Filius gedankenschwer und sagt schließlich:

“Diese Erkrankung, die du da beschreibst, ist sehr schwerwiegend!“

Du lieber Himmel, was hat er nun wieder vor?

Mittlerweile sind auch meine Brüder aufmerksam geworden und werfen interessierte Blicke über den Tisch.

Ich versuche, Filius mit strengen Blicken und leichtem Kopfschütteln aufzuhalten, aber wie immer reagiert er nicht, Er sieht nicht einmal in meine Richtung.

Karin beugt sich erwartungsvoll vor und fragt mit angehaltenem Atem:

“Kennst du dich denn schon damit aus?"

„Na hör mal," erwidert Filius ein bisschen beleidigt, "ich bin schließlich schon im vierten Semester."

Wer sich ein bisschen auskennt, weiß was mein Sohn bestenfalls beherrscht. Jedenfalls noch keine Diagnostik. Ich räuspere mich, worauf mir Ingo ein spöttisches Lächeln zuwirft, so nach dem Motto, 'gib dir keine Mühe, er will dich nicht bemerken'!

Karin will es jetzt wissen:

"Also, was ist es?“

Lieber Gott, lass es nicht zu, dass dieses unreife Kind die ganze Familie blamiert. Aber es ist zu spät: Laut und vernehmlich höre ich die Stimme von Filius, der Karin allen Ernstes erzählt, sie litte an Oligophrenie (ein frühzeitig erworbener Intelligenzdefekt).

Während ich die Augen schließe, als könnte ich Filius damit in nichts auflösen, grinsen meine Brüder sich an. Karin ist natürlich entsetzt. Oligophrenie klingt mächtig ernst und ganz und gar medizinisch. Sie ist vom Können meines Erstgeborenen restlos überzeugt, ich dagegen bin kurz davor, den fragwürdigen Meister zu erwürgen.

"Oh Gott, dass ist ja einfach furchtbar, René, bist du auch ganz sicher?”

Aha, sie sagt René. Ein deutliches Zeichen dafür, wie ernst sie ihn nimmt.

"Na klar, alle Symptome sprechen dafür, also ich an deiner Stelle, würde schnellstens einen Arzt aufsuchen. Wer ist denn dein Hausarzt?"

Filius, treibe es nicht zu weit! Aber wer hört schon auf das innerliche Flehen einer geplagten Mutter; die eigenen Kinder gewiss nicht und auch der liebe Gott scheint nicht eingreifen zu wollen.

"Also mein Hausarzt ist Dr. S., meinst du, das ist der richtige Arzt für so was?“

"Na ja, das weis ich nun nicht gerade. Ich kenne ja die Qualifikation dieses Herrn nicht, aber er kann dir ja notfalls eine Überweisung geben."

Meine Brüder verfolgen das Gespräch mit sichtlicher Belustigung. Ich finde das allerdings überhaupt nicht komisch.

"Wie heißt das noch gleich?"

"Oligophrenie!"

"Ob ich mir das merken kann?"

"Also, der Verlust der Merkfähigkeit ist auch ein Symptom für diese Erkrankung. Aber wenn du willst, schreibe ich dir das gerne auf.”

"Oh ja, mach das doch bitte. Sag mal, ist das tödlich?”

"Na ja, weißt du, das Gehirn wird stark geschädigt, und wenn man nicht gleich etwas unternimmt, tja, also dann ...”

"Ach du meine Güte. Claus, ich kann morgen schon tot sein, hast du das gehört?"

"Nein," antwortet der Ehemann meiner Cousine etwas genervt." Das habe ich nicht gehört. Ich glaube allerdings das du, gelinde ausgedrückt, ein bisschen spinnst!”

Filius nickt dazu mit ernstem Gesicht, was meinen Bruder Peter dazu treibt, fluchtartig das Wohnzimmer zu verlassen.

Inzwischen hat Karin nach ihrer Handtasche, die eher einem Reisekoffer gleicht, geangelt. Nachdem sie ungefähr zwei Dutzend Medikamente ausgepackt hat - man muss schließlich auf jeden Notfall eingerichtet sein, fördert sie einen Notizblock zu Tage, den sie mit Kugelschreiber zwischen den Kaffeetassen hindurch über den Tisch schiebt.

Ohne mit der Wimper zu zucken, schreibt Filius ihr den medizinischen Begriff auf den Block. Bevor er ihn allerdings wieder zurückreichen kann, bin ich schneller. Ich entwende Filius den Block und reiße den Zettel ab. Karin schreit empört auf.

"Karin, lass dich doch nicht von diesem Quacksalber reinlegen. Filius hat überhaupt keine Ahnung von Medizin, er kann gerade mal das Wort Medizin fehlerfrei schreiben. Und wenn hier einer an Oligophrenie leidet, ist er das!“

“Er ist doch aber schon im vierten Semester,“ wirft sie ein.

"Das hat überhaupt nichts zu bedeuten!"

"Also, ich glaube doch, er kann mehr als du. Schließlich studiert er ja!"

"Ja, aber er hat noch einige Jahre vor sich.“

Meine Brüder amüsieren sich königlich. Ich ärgere mich, weil mir keiner von ihnen zu Hilfe eilt. Ich kann Karin doch schlecht erzählen, was Oligophrenie bedeutet.

Filius siegt, wie so oft!

Karin lässt sich den Begriff buchstabieren und notiert sich das Wort selbst. Das ist ein Problem, ich kann ihr ja schlecht ihren eigenen Notizblock entreißen.

Kurz danach bricht sie mit ihrem Mann auf, denn nun geht es ihr furchtbar schlecht. Sie fühlt sich ganz elend und wackelig auf den Beinen,

Ich gebe mich seufzend geschlagen und lasse sie ziehen, in der Hoffnung, der Allmächtige möge dafür sorgen, dass sie diesen blöden Notizblock verliert. Kaum ist sie verschwunden, knöpfe ich mir meinen Sohn vor: "Sag mal, bist du völlig übergeschnappt? Was sollte denn das? Stell dir vor, die geht nach Weihnachten zu ihrem Hausarzt und legt ihm diesen Zettel vor! Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie peinlich das ist?“ Filius ist von meinem Wutausbruch überhaupt nicht beeindruckt, genau wie meine, ach so erwachsenen Brüder.

 

Sie kugeln sich vor Begeisterung und unbändigem Lachen auf dem Fußboden. Das also sind ernst zu nehmende Akademiker!

Trotzdem lasse ich nicht locker.

„Wie bist du bloß auf diese Schnapsidee gekommen, René, ich finde dich wirklich unmöglich!“

Melissa grinst mich an und erklärt lapidar, dass sei ihre Idee gewesen. Nachdem ihr Filius von Karin erzählt hatte, haben sich die beiden den Pschyrembel vorgenommen und waren irgendwann über diesen Begriff gestolpert.

„So was kann man doch nicht machen, ihr beiden!“

"Wieso Mum? Du musst das mal ganz pragmatisch sehen. Sie ja die, die damit bei ihrem Hausarzt aufläuft, vielleicht geheilt. Das ist jetzt eben eine invasive Therapie, wenn man das auf ihr erbsengroßes Hirn bezieht.“

Ich starre meinen Sohn entgeistert an, während meine Brüder sich vor Begeisterung gar nicht mehr einkriegen.

“Mensch Filius, du bist ja wirklich genau wie deine Mutter! Das ist doch wirklich köstlich!" Ingo ist total begeistert von der Diskussion

 

Natürlich will mein Schwiegervater wissen, warum sich alle so amüsieren. Ingo erklärt es ihm. Nach anfänglich ungläubigem Staunen brechen mein Schwiegervater und mein Schwager Horst in lautes Gelächter aus. Die Heiterkeit kennt keine Grenzen mehr.

Es hilft nichts, ich kann mich der komischen Seite dieser Geschichte nicht länger entziehen und fange ebenfalls an zu lachen. Dennoch möchte ich von meinem Bruder wissen, wie er das gemeint hat, Filius sei genau wie seine Mutter.

Ich hätte wohl besser nicht gefragt.

Zur allgemeinen Begeisterung erzählt Ingo eine kleine Episode aus meinem Dasein.

Vor Jahren waren wir, meine Eltern, meine Brüder und meine Wenigkeit bei Verwandten in Bayern. Diese Gelegenheit nutzten wir zu einem Spaziergang im bayrischen Nationalpark. Dort gibt es eine große Voliere mit Krähenvögeln, in der sich Kolkraben und Saatkrähen neben Elstern und Drosseln tummeln. Vor dieser Voliere saß eine Dame, die mittels Kohle die Vögel auf einem Zeichenblock festhielt, was mich zu dem Ausspruch "Eine Krähe malt die andere!“ animierte. Natürlich so laut und überdeutlich, dass bewusste Dame es mitbekommen musste. Meine Mutter wäre am liebsten im Erdboden versunken, während meine Brüder und mein Vater vor Lachen keinen Schritt mehr weitergehen konnten.

Filius betrachtet mich nach dieser Geschichte spöttisch und will von Ingo wissen, ob es noch mehr so 'hochinteressante Geschichten' gibt. Ich funkle Ingo böse an. So antwortet er Filius mit einem breitem Grinsen, die würde er ihm dann später erzählen. Wehe, er wagt es!

 

Am Abend beehrt uns Bernd mit seinem Besuch, der unbedingt meine Brüder kennenlernen will. Ich tue ihm den Gefallen und stelle ihm die fünf nebst Ehefrauen und Kindern vor. Bernd bewundert sichtlich meine Schwägerin Tamico, aber auch von der schönen Frau meines Bruders Christian, Florence, einer Schwarzafrikanerin von der Elfenbeinküste, kann er seine Augen nicht abwenden. Dazu haben die beiden noch zwei zauberhafte Kinder, Antoine, fast vier Jahre alt und Germaine, die erst zwei Jahre alt ist. Bernd ist mal wieder total in seinem Element.

Nachdem er seine Hemmschwelle überwunden hat, unterhält er sich schließlich auch mit meiner indischen Schwägerin Sheriyah, die aus Kalkutta stammt. Ihre Familie ist gut betucht und gehört einer hohen Kaste an. So ganz habe ich das Kastensystem der Inder bis heute nicht begriffen. Sheriyah spricht nur englisch und Bernd hat anfänglich seine Probleme, bis meine Nichten Meredith und Kimberley ihn unterstützen und ihm weiterhelfen.

 

Als wir beim Abendessen sitzen, will Ralf wissen, wie es für Bernd ist, mit mir zusammen zu arbeiten. Schließlich hätte ich doch ein ziemlich vorlautes Mundwerk und sei doch wohl auch sonst nicht so ganz einfach.

Irgendwie ist diese Frage eine Frechheit und das Bernd sofort darauf anspringt, war ja wohl auch klar.

Mit Genuss kramt er alle die kleinen und großen Pannen hervor, die einem beim Arbeiten nun mal passieren. Natürlich bezieht er mich jedes Mal auf die 'weißt du noch' Tour mit ein, damit ich ja nichts abstreite.

"Weißt du noch, wie du die ganzen Gluko-Styx in den Schnee geworfen hast?"

"Wie hat sie das denn geschafft?"

"Na ja, sie wollte mir die Uhrzeit sagen, hat die Hand gedreht, um auf die Uhr zu schauen und nicht daran gedacht, dass sie das Röhrchen mit den Styx in der Hand hielt - natürlich offen!" Ha ha ha. “Und weißt du noch, wie du dir die Braunüle in den Zeigefinger gerammt hast?"

„Was hat sie gemacht?", fragt Ingo entgeistert.

"Sie hat sich eine Braunüle in den Zeigefinger gerammt. Ehrlich - von der Fingerspitze bis zur Fingerwurzel, steckte die Braunüle in ihrem Zeigefinger. Ohne Witz - ich schwöre, dass es wahr ist!"

Er hat recht. Ich sollte Bernd eine grüne Braunüle anreichen. Wieder einmal kämpfte ich mit der Tücke der Schutzkappe. Irgendwann packte mich die Wut und ich zog mit aller Kraft an der Kappe, was zu einem Rückstoß führte, als die Braunüle sich aus der Kappe löste. Ehe ich mich versah, steckte die Braunüle in voller Länge in meinem linken Zeigefinger.

Meine Brüder starren mich entsetzt, aber auch belustigt an.

"Was hast du denn gemacht, als die Braunüle in deinem Zeigefinger steckte?" Peter starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an.

"Na was schon? Ich habe sie raus gezogen, ich konnte sie ja schlecht drin lassen oder?"

Bernd grinst über das ganze Gesicht.

"Die Frau ist so abgebrüht, das glaubt man gar nicht. Die Besatzung vom RTW hatte einen Hospitanten dabei, dem ist derartig schlecht geworden, das er in die Büsche verschwinden musste. Und was macht Tina? Zieht sich in aller Gemütsruhe die Braunüle aus dem Zeigefinger und fragt den armen Jungen, ob er ihr ein Pflaster besorgen kann. Für den war der Tag gelaufen. Wahrscheinlich hat ihn das für alle Zeiten vom Rettungsdienst kuriert."

"Also, ich habe ja schon immer gewusst, dass du ein sehr einnehmendes Wesen hast, aber meinst du nicht, dass du hier ein bisschen übertrieben hast?" Mein Schwager Horst grinst mich frech an.

"Wieso, man muss alles mal ausprobieren, wie soll man denn sonst mitreden?", kontere ich.

Und so kramt Bernd eine Gehässigkeit nach der anderen raus.

Aber schließlich kann ich auch zurückschießen:

"Weißt du noch, wie du den RTW einparken wolltest und die Blaulichter abgefahren hast?"

"Jetzt wirst du aber gehässig, Tina!"

"Aber es stimmt!"

"Ja, aber ich konnte doch nicht wissen, dass das Hallentor schon zur Hälfte runter gelassen war."

"Na ja, wie auch immer. Wenigstens wissen die Jungs jetzt, wie man nicht einparkt."

"Ich finde, solche Sachen können einem ja schon mal passieren!"

"Ach ja? Und was war, als du zu blöd warst, den Koffer richtig aufzumachen und den ganzen Inhalt auf der Straße ausgekippt hast?"

"Ist ja schon gut, ich werde mich in Zukunft zurückhalten. Ich gebe ja schon klein bei und schwöre, nie wieder über dich herzuziehen. Und den Rest der Geschichten behältst du jetzt bitte für dich, das wird sonst nur peinlich!"

Hurra, ich habe gewonnen!"

"Diese Frau bringt mich noch um meinen Verstand," stöhnt Bernd.

"Oligophrenie!l", wirft Fillus ein und hat die Lacher natürlich wieder auf seiner Seite.

Selbstverständlich müssen wir Bernd erklären, was es mit der Oligophrenie auf sich hat. Er wirft Filius einen Blick zu und lacht über das ganze Gesicht. „Fillus, du bist genau meine Kragenweite!" “Unterstütze ihn noch bei diesen Frechheiten!"

„Tja, meine Liebe, der Apfel fällt nicht weit vom Birnbaum, stimmt 's?"

Habe ich das nicht heute schon mal gehört? Jedenfalls sinngemäß?

Der Abend verklingt so gemütlich, wie nur ein Winterabend im Familien und Freundeskreis zu Ende gehen kann.

 

Am nächsten Tag mache ich mit meinem Bruder Ralf einen kleinen Spaziergang. Immerhin schaffe ich es, das bemerkenswerte Tempo einer Schnecke beim Kurzstreckenlauf einzuhalten.

Ralf will wissen, wie es mir denn nun wirklich geht. Es sei typisch für mich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ich weiß selbst nicht genau wie es mir eigentlich geht.

Momentan bin ich unzufrieden und quengelig wie ein kleines Kind. Mir dauert das alles viel zu lange und das macht mich wahnsinnig. Außerdem bekomme ich die ständigen Schmerzen nicht in den Griff.

“Irgendwann muss man das doch mal in den Griff kriegen.“ Ralf sieht mich besorgt von der Seite an. Schließlich bleibe ich stehen.

“Ich fange langsam an, an mir selbst zu zweifeln, Ralf.”

“Magst du mir erzählen, was da eigentlich im Krankenhaus passiert ist?“

"Wie kommst du darauf, das etwas passiert ist?"

"Michael sagt, seit du zurück bist, ist mit dir nichts mehr anzufangen. Komm Kleines, ich kenne dich doch. Wer hat dich geärgert? Erzähl es deinem großem Bruder, hm?"

"Wenn ich es dir erzähle, gehst du dann hin und verprügelst ihn?“

"Na klar, wen? Diesen Dr. K.?“

"Ja, ich würde es gut finden.“

„Ehrlich gesagt‚ bin ich aus dem Alter raus, aber vielleicht erledigt das ja Tamico. Sie kann Karate."

"Wir können sie ja fragen." „

„Also hat dich Dr. K. geärgert, dann berichte!“

„Geärgert ist vielleicht nicht das richtige Wort. K. sagt, ich bilde mir das alles nur ein, er meint, ich hätte eine Psychose. Glaubst du, dass das sein kann?"

"K. sagt, aha! Der Respekt ist also weg! Was deine Frage anbelangt, ich weiß nicht, nein - eigentlich glaube ich das nicht. Ich kenne dich zu gut, bilde ich mir ein. Du bist nie sehr wehleidig gewesen. Die Geschichte mit der Braunüle sagt doch genug aus. Das hätte ich allerdings gerne gesehen. Hat das nicht furchtbar wehgetan?“

"Nein, im ersten Moment nicht. Da war der Schreck auch noch zu groß. Aber später - ich hatte keine Ahnung, wie oft man den Zeigefinger für irgendetwas braucht. Es hat wochenlang wehgetan. Aber du lenkst vom Thema ab."

"Nein, tu ich nicht. Du bist nicht der Typ für so eine Psychose. Du hast dich Problemen immer gestellt und versucht, sie zu lösen. Wenn ich nur überlege, wie du das mit René gedeichselt hast. Abi und Studium und anschließend eine Doppel - ach was sag ich, Dreifachausbildung und alles mit Kind. Was das anbelangt, habe ich Hochachtung vor dir. Obwohl Mutti und Paps es dir einige Male angeboten haben, hast du dich nicht eine Minute von René getrennt. Nach der Schule hast du Mutter gespielt und abends warst du so fertig, dass du über deinen Schulaufgaben eingeschlafen bist. Aber du hast um's Verrecken nicht klein beigegeben. Du bist ein zähes kleines Biest und wenn der Dr. K. dich so gut kennen würde, wie ich dich kenne, wüsste er, dass er den totalen Unsinn zum Besten gegeben hat. Also lass dich nicht unterkriegen, Nesthäkchen. Wir wissen es besser. Vor allen Dingen, du weißt es besser, lass dich nicht verunsichern. Wie ist er denn überhaupt auf eine solche Idee gekommen?"

"Weißt du, die deutsche Medizin hat ein neues Schlagwort: Eschede Trauma! Das passt sowohl auf die Unfallopfer, wie auch auf die Helfer, die jetzt nicht mehr klar kommen.“

"Eschede war sicher schlimm, hm?"

“Eschede war ein Inferno. Jeder der es nicht erlebt hat, soll froh sein. Es war mit Abstand das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Wir sind buchstäblich über Leichen gegangen, um an die Überlebenden zu kommen, aber weißt du, es waren nicht nur Leichen. Die Opfer waren zerstückelt, auseinandergerissen, teilweise nicht mehr zu erkennen. Es ist völlig klar, dass es Menschen gibt, die damit nicht zurechtkommen. Es waren ja auch eine Menge Hilfskräfte da, Sanitätshelfer und Rettungshelfer oder eben auch nur einfache Ersthelfer. Wie sollen die auch mit diesen entsetzlichen Bildern fertig werden? Man kann sie einfach nicht vergessen. Nur weißt du, ich habe bereits so viel Grässliches im Rettungsdienst und in Afrika gesehen, ich kann damit umgehen.“

"Was sagt denn dein Orthopäde dazu?"

“Ich war noch nicht wieder bei ihm."

"Muss ja was Besonderes sein, dieser Typ. Du kannst doch Orthopäden nicht ausstehen. Wie war das? Arrogante was?"

"Wichtigtuer!"

“Wichtigtuer! Genau."

"Es hat dich aber nicht davon abgehalten, Orthopäde zu werden.”

“Wenn du Kardiologen oder Urologen nicht hättest ausstehen können, wäre ich Kardiologe oder Urologe geworden."

“Soll das heißen, ich bin schuld, das du Orthopäde geworden bist?"

"Natürlich, ich liebe die Herausforderung. Es ist immer ein besonderes Vergnügen, sich mit dir anzulegen."

“Du bist manchmal ein Ekel, wenngleich auch ein liebenswertes,.“

Eine liebevolle Umarmung ist die Antwort,

 

Auf dem Nachhauseweg begrüßt mich Charlie, der Neufundländer unseres Nachbarn Hermann. Auch Charlie ist die letzte Zeit zu kurz gekommen. Er ist es gewöhnt, mit mir zu toben und zu spielen. Da er aber so wild ist, habe ich die letzten Wochen vorsichtshalber einen großen Bogen um ihn gemacht.

Ralf hat ein bisschen Mühe, den Hund zu bremsen, der, vor Freude mich zu sehen, immer wieder an mir hochspringen will.

Wir müssen beide lachen, weil Charlie, dieses Riesenvieh von einem Hund, immer wieder neuen Anlauf nimmt, um an mich heranzukommen, aber jedes Mal an Ralf scheitert, der sich ihm in den Weg stellt.

Offenbar gefällt Charlie dieses Spielchen, denn er wird immer aufgeregter und wilder. Schließlich erlöst uns Hermann, der seinen Hund zu sich ruft. Charlie folgt dem Ruf seines Herrn nur widerwillig, aber er tut es schließlich. Er ist nun mal, trotz seiner Wildheit, ein gut erzogener Hund.

 

Am Nachmittag leistet Ingo mir Gesellschaft. Da ich es vor Schmerzen nicht mehr aushielt, hatte ich mich ins Schlafzimmer verzogen.

Ingo stöbert in meinen Bücherregalen im Schlafzimmer. Dort stehen nur die Bücher, die ich alle noch lesen möchte, bisher aber keine Zeit dafür gefunden habe. Durch meine Bandscheibengeschichte haben sich mittlerweile aber schon Lücken gebildet. Selten hatte ich so viel Zeit zum Lesen wie momentan.

"Wieviel liest du eigentlich so am Tag?", fragt Ingo interessiert.

"So im Schnitt etwa vierhundert Seiten."

"Vierhundert?!"

"Ja, ich habe ja Zeit und Ruhe dazu."

"Da schaffst du ja im Schnitt ein Buch pro Tag."

"Nein, nicht bei denen, die ich im Moment lese."

"Was liest du denn gerade?"

"James Michener: Chesapeake, im amerikanischen Original. Es hat ungefähr 1600 Seiten."

Ich reiche Ingo den Wälzer rüber, Ingo schüttelt den Kopf, “Ich kenne niemanden, der so viel liest wie du. Das ist einfach unglaublich."

Ingo erzählt schließlich ausführlich von seiner Arbeit in Afrika und flechtet immer wieder kleine Anekdoten ein. So vergeht der Nachmittag wie im Flug.

Nach einer Weile bringt meine Schwiegermutter uns Kekse und Tee und zieht sich dann wieder diskret zurück.

"Du hast nette Schwiegereltern, Kleines.”

“Ich habe ja auch einen netten Ehemann,"

"Das glaube ich bis heute noch nicht so recht, das dich einer unter die Haube gekriegt hat. Ich hätte immer schwören können, du heiratest nie."

“Wie bist du denn darauf gekommen?”

"Du bist so schrecklich selbstständig und emanzipiert.”

"Das ist doppelt gemoppelt.”

"Was?"

"Emanzipiert heißt selbstständig."

"Ja, oder Frauenbewusst"

"Blödes Wort.”

"Bist du gerne verheiratet?”

“Mit dem richtigen Mann, ja.”

"Und Michael ist der richtige Mann?”

"Ja.”

"Wieso?"

"Er ist zärtlich und einfühlsam, gebildet und charmant. Das einzige, was mich stört, ist die Tatsache, dass man mit ihm nicht streiten kann.”

"Bist du sicher, dass du die richtige Frau für ihn bist?“

“Na klar. Ich bin zärtlich und einfühlsam, überdurchschnittlich intelligent, weltoffen und eine gute Mutter.”

"Du bist ja überhaupt nicht eingenommen von dir.”

“Na hör mal, wenn du aber auch so blöde Fragen stellst. Das ist eine Sache, über die man nicht nachdenkt. Entweder man hat die gleiche Wellenlänge und versteht, liebt und respektiert sich oder eben nicht. Wir haben auch nicht darüber nachgedacht. Wir haben uns gesehen und sofort gewusst, das passt.”

"Sofort?"

"Na ja, ich habe sofort gewusst, dass es passt. Michael hat ein paar Monate länger gebraucht, um das zu wissen."

"Da gibt es eine Sache, die deine Brüder brennend interessiert. Darf ich das mal fragen?"

„Frag’ doch, vielleicht beantworte ich sie dir.”

"Hat Michael dir einen Heiratsantrag gemacht oder du ihm?"

"Mein lieber Ingo, Brüder können ganz schön neugierig sein. Aber es gibt auch Sachen, die euch nicht die Bohne angehen.”

Ingo verpasst mir einen sanften Nasenstüber, aus dem eine lange, innige Umarmung wird. Es ist wirklich schade, das meine Brüder so bald wieder abreisen. Ich hätte sie gerne viel öfter um mich.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 14

 

 

 

Einige Tage später beehre ich meinen Orthopäden mit meinem Besuch.
Dr. L. kann es wieder einmal nicht fassen, was ich im Umgang mit seinen Kollegen so alles erlebe.
Und wieder einmal frage ich mich, ob es nicht vielleicht doch auch an mir liegt. Ich könnte ja auch mein loses Mundwerk ein bisschen im Zaume halten - wenn ich nur wüsste wie.
Dr. L. reagiert ein bisschen säuerlich, als ich ihm berichte, das Dr. K. der Ansicht sei, dass ich mir die Schmerzen nur einbilde. Leider kann ich nicht herausfinden, ob er mit der säuerlichen Miene mich oder Dr. K. meint.
Ein bisschen Zuspruch seinerseits hätte mir jetzt gut getan, aber diesbezüglich sind ihm wohl die Vokabeln ausgegangen. Auf Trost muss ich jedenfalls verzichten, was meine Laune nicht gerade bessert. Aber kann man es ihm verdenken? Irgendwann langt es auch mal dem gemütlichsten Menschen.
Wieder einmal einigen wir uns darauf, medikamentös weiterzumachen, bis uns vielleicht eine bessere Idee kommt. Also schön, machen wir wie gehabt weiter. Was Besseres fällt mir auch nicht ein.

Michael fährt über Sylvester nach Magdeburg - „Mumien Express“, wie er sagt” Mit anderen Worten: Alles Leute über fünfzig mit Geld, die im Maritim ins Neue Jahr feiern wollen.
Ich selber mag lieber die ruhigen, beschaulichen Jahreswechsel, wie ich sie aus meinem Elternhaus gewohnt bin. Ganz in Ruhe das vergangene Jahr noch einmal Revue passieren lassen, die guten und schönen Dinge mit in das neue Jahr hinüber nehmen und die unschönen und unliebsamen Dinge des alten Jahres über Bord werfen.
Und am liebsten das Ganze im Kreis lieber Freunde. Aber in diesem Jahr sind wir nur im reinen Familienkreis. Filius hatte zwar diverse Einladungen, aber auch er zieht es vor, ruhig und gemütlich zu feiern. Ich hege ein bisschen den Verdacht, dass er seine alte, kranke Mutter nicht alleine lassen will, aber wenn ich ihn darauf anspreche, wird er sauer.

In meinem Elternhaus war es üblich, dass die Familie um den tatsächlich runden Tisch saß und jeder einzelne an die Reihe kam und aufzählte, was ihm das Jahr über besonders gefallen hatte oder eben auch nicht. Das vergangene Jahr verarbeiten, nannte mein Vater das. Merkwürdigerweise habe ich diesen schönen Brauch beibehalten und gehe gern unbeschwert in das neue Jahr.
Mit Heiterkeit in die Zukunft schauen!
Vielleicht hat dieser Lebensstil auch dazu beigetragen, dass meine Brüder und ich so unsagbar positive Menschen geworden sind.

Nach einem gemütlichen Abendessen marschieren unsere drei Kleinen in ihre Betten. Filius und ich verziehen uns ins Schlafzimmer und reden über Gott und die Welt. Schwiegermama sitzt am Computer und surft mit Begeisterung durchs Internet.
Eine Tätigkeit, an die sie sich zuerst nicht herantraute, um dann schließlich darüber sogar den Sonntagsbraten zu vergessen, was ihr im Nachhinein natürlich peinlich war.
Später am Abend lauschen Filius und ich mit Hingabe einem Melodien Reigen von André Rieu. Wir lieben beide klassische Musik und sind so hin und weg, dass wir gar nicht mitbekommen, wie spät es inzwischen ist. Erst als Schwiegermama mit der Sektflasche in der Hand ins Schlafzimmer kommt, merken wir, dass es schon kurz vor Mitternacht ist.
Im Bett möchte ich ungern auf das neue Jahr anstoßen und so verlegen wir das Anstoßen lieber ins Wohnzimmer. Filius drückt mir ein halbes Glas Sekt in die Hand und legt liebevoll seinen Arm um mich.
Mittlerweile hat er die stolze Größe von knappen zwei Metern erreicht und ich komme mir immer schrecklich klein neben ihm vor. Und auch heute Abend habe ich wieder das Pech, meinen Kopf in den Nacken legen zu müssen, wenn ich ihm in die Augen sehen will.
Als unsere Kaminuhr zwölf schlägt, haucht mir mein Sohn einen Kuss auf die Stirn und wünscht mir ein gesundes, neues Jahr. Das kann ich wahrhaftig gebrauchen.

Trotz der eisigen Kälte draußen, wagen wir uns vor die Tür. Ich selbst in dem etwas eigenartigem Outfit von Schlafanzug und Wintermantel.
Rings um uns her schießen Raketen in die Luft und unser kleines Dörfchen leuchtet in allen Regenbogenfarben auf.

"Mein Gott, ich hätte nicht gedacht, das die hier so viel Raketen abschießen, Mum." Filius staunt.
Ich staune genauso. Es ist unser erster Jahreswechsel in diesem Zuhause. Aber dass wir inzwischen dazu gehören, merken wir daran, dass sämtliche Nachbarn zu uns herüberkommen, um uns ein frohes, neues Jahr zu wünschen und teilnahmsvoll nachfragen, was denn meine Bandscheibe macht.
Kaum haben wir das Haus wieder betreten, klingelt das Telefon Sturm. Es ist Michael. Stöhnend jammert er, wie schrecklich es in Magdeburg ist und das er viel lieber bei uns zu Hause wäre. Ich kann ihn gut verstehen. Ich hätte ihn auch viel lieber bei mir.
Der nächste Anrufer ist Bernd. Auch er kann nicht gebührend feiern. Es hat ihn wieder mal erwischt, er hat Dienst. Dennoch ist er froh, das es offensichtlich sehr ruhig ist. Bisher hatten sie nicht viel zu tun und hatten Zeit, mit alkoholfreiem Punsch zu feiern. Lediglich zum Anstoßen haben sie sich jeder ein halbes Glas Sekt gegönnt. Wir schaffen es immerhin fünfzehn Minuten zu telefonieren, bis ein Alarm Bernd vom Telefon wegholt.
Bernd bangt ein bisschen bei dem Gedanken, es könnte sich um ein Sylvester - Raketen - Unglück handeln oder noch schlimmer, die erste Alkoholleiche.

Ich krabbele schließlich wieder in mein warmes Bett, während Filius es sich in meinem Schaukelstuhl gemütlich macht.
"Und, bist du mit dem vergangenen Jahr nun zufrieden gewesen?" Erwartungsvoll betrachtet mich mein Sohn.
"Ich weiß nicht so recht. Ich finde, es war ein ziemlich durchwachsenes Jahr und dann war ich noch die meiste Zeit krank. Fast das ganze Jahr."
"Echt, das ganze Jahr? Übertreibst du jetzt nicht ein bisschen?"
"Also im Februar war ich vier Wochen mit Scharlach im Krankenhaus ..."
"Wer geht denn heutzutage auch noch mit Scharlach ins Krankenhaus? Das du immer so übertreiben musst!"
"Dann im April die Magengeschichte. Kaum hatte ich mich erholt, bin ich zur Unterleibs Operation ins Krankenhaus gegangen. Schließlich die Chemo, die war auch nicht ganz ohne und endlich bin ich wieder fit, fängt mein Rücken an. Weißt du, was Werner gesagt hat? Ich falle auseinander!"

"Ist ja cool. Wie im Mittelalter, als die Leute nur vierzig Jahre alt wurden."
"Ja, aber sie wurden nur vierzig oder fünfzig, weil sie an so banalen Sachen, wie einem Schnupfen gestorben sind."

"Das bringst du auch noch fertig. Das wird wahrscheinlich irgendwann dein großer Abgang. Ich sehe jetzt schon die Mediziner, wie sie sich die Haare raufen und die Köpfe schütteln und die Welt nicht verstehen, weil du an einem Schnupfen gestorben bist. An schweren Krankheiten sterben, kann ja jeder, aber an einem Schnupfen, dass ist angeborenes Talent."
"Du bist mal wieder unmöglich, Filius."
"Sag mal, ob Ärzte so eine schwarze Liste haben, wie früher die Kaufleute?"
"Was denn für eine Liste?"
"Na ja, wo drin steht, wen man lieber nicht behandeln sollte, weil Komplikationen eingeplant sind."
"Was willst du damit sagen?"
"Von dir sollte man lieber die Finger lassen, du bist viel zu kompliziert. Onkel Ralf sagt, du bist so was wie ein Montagsauto. Man kann reparieren, so viel man will, du hast gleich wieder einen neuen Schaden. Das wächst sich ins Uferlose aus."
"Das hat er gesagt?"
"Ja und er hat gesagt, wenn Dr. L. nicht sozusagen funkelnagelneu gewesen wäre, hätte er dich als Patientin abgelehnt, weil du hier mit Sicherheit schon einen ganz miesen Ruf als Patientin hast. Man kriegt dich nicht gesund und außerdem hast du auch noch ein loses Mundwerk. Wenn dein Orthopäde nicht so neu wäre, hätte er sagen lassen, er sei total ausgebucht. Aber so ist er voll in die Falle gestolpert, der arme Kerl. Der wird irgendwann total verzweifeln. Und wenn er es endlich geschafft hat, das eine auszukurieren, fängst du mit was anderem an. Der kann einem wirklich leidtun."
"Ist ja wirklich super, dass ihr alle so viel Mitgefühl mit meinem Orthopäden habt. Und was ist bitteschön mit mir?"

"Och, du packst das schon, du bist ja ein zähes Luder. Sagt auch Ralf!"
Nett, über was sich meine Familie so hinter meinem Rücken unterhält. Ich bin wirklich begeistert.
Ich antworte lieber nicht mehr, sondern schicke nur noch einen tiefen Seufzer in die Richtung meines Sohnes.

Einen Tag später feiert mein Sohn seinen Geburtstag und lässt, gerade zwanzig geworden, sein Leben Revue passieren. Er ist ja jetzt auch entsetzlich alt, der arme Junge. Noch nie richtig gearbeitet, aber schon kurz vor der Rente. Nicht nur über sein Leben grübelt er nach, nein, er muss auch über mein Leben nachdenken.
"Mum, hast du es eigentlich nie bereut, dass du mich so früh bekommen hast?"
"Nein, eigentlich nicht. Jedenfalls nicht mehr, seit du auf der Welt bist."
"Und vorher?"
"Na ja, weißt du, es war nicht ganz einfach am Anfang. Es gibt auch immer genügend Leute, die meinen, sie müssten Moralapostel spielen, obwohl das auch nichts mehr nutzt, wenn das Kind einmal in den Brunnen gefallen ist."
"Warum habt ihr eigentlich nicht verhütet? Ich meine, als Tochter von einem Arzt warst du doch wohl umfassend aufgeklärt, oder irre ich mich da?"
"Nein, natürlich war ich aufgeklärt. Aber weißt du, wir sind weitergegangen, als wir eigentlich wollten. Es geht bis zu einem bestimmten Punkt, hat man den überschritten, kann man nicht mehr anhalten. Da schaltet sich der Verstand ab. Der rutscht sozusagen in tiefere Ebenen. Das eigentlich Kuriose daran ist, dass es wissenschaftlich erwiesen ist, dass eine junge Frau ungefähr ein Jahr vom ersten sexuellen Kontakt an, bis zu einer möglichen Empfängnis braucht - rein statistisch gesehen. Das hat irgendwas mit den Hormonen zu tun. Der Körper bereitet sich sozusagen auf seine Gebärfunktion vor. Nur bei mir hat die Statistik versagt. Aber, wie heißt es so schön: Erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt!"

"Haben Oma und Opa dir nie Vorwürfe gemacht?“

"Nein, nicht eine Sekunde lang. Was hätte das auch noch bringen sollen? Es war eh' schon zu spät. Du warst unterwegs und Vorwürfe hätten da auch nichts mehr dran geändert. Wozu also?“

"Eigentlich hast du unglaublich moderne Eltern gehabt. Ich meine vor zwanzig Jahren, da hat man einfach noch keine unehelichen Kinder bekommen, mal ganz zu schweigen von deinem Alter.“ "Eigentlich ist das selbst heute noch ein Problem, mein Sohn. So aufgeklärt, wie unsere Zivilisation auch immer tut. Du musst dir nur mal die Gesichter ansehen, wenn mich irgendwelche Leute nach dem Alter meiner Kinder fragen. Dich hebe ich mir dann immer bis zum Schluss auf. Ich mag die Reaktionen, sie amüsieren mich."

“Du bist schon eine tolle Frau, Mum. Ich liebe dich unendlich, weißt du das?“

“Ich liebe dich auch, mein Großer. Und ich bin furchtbar stolz auf dich."

“Ich glaube, wie Kinder sich entwickeln, liegt an der Erziehung. Du bist wirklich die einzige Mutter, die ich kenne, die nicht bei jedem bisschen in Panik ausbricht. Alles darf man versuchen und ausprobieren, außer es ist wirklich zu gefährlich. Ich finde das klasse.“

"Ich gebe nur weiter, wie ich von meinen Eltern behandelt wurde. Pestalozzi hat einmal gesagt: Kinder sind Besucher, die nach dem Weg fragen. Also versuche ich euch auf den richtigen Weg zu bringen. Das klappt sicherlich nicht immer reibungslos. Ich mache schließlich auch Fehler und vielleicht entscheide ich manchmal auch falsch. Wer weiß das schon immer so genau. Manchmal zeigt es sich eben erst hinterher, ob es richtig oder falsch war, weißt du. Aber ich hege die Hoffnung, dass ihr nicht nachtragend seid, wenn ich wirklich mal falsch entschieden haben sollte. Kinder zu selbstbewussten und verantwortungsvollen Menschen zu erziehen, ist gar nicht so leicht."

"Kinder sind Besucher, die nach dem Weg fragen! Klingt irgendwie schön, aber auch traurig. Das hört sich so an, als müsste man irgendwann Abschied voneinander nehmen.”

"Das werden wir ja auch eines Tages tun müssen. Auch wenn du jetzt immerzu zu Hause rumhängst, eines Tages wirst du doch deinen eigenen Weg gehen wollen und auch müssen. Nur, der Abschied bei Eltern und Kindern ist langwierig und mühsam. Es ist schwer, für Eltern zu akzeptieren, das der kleine Mensch, den sie vor allem Bösen haben bewahren wollen, flügge wird und man euch irgendwann nicht mehr vor allem beschützen kann. Es wäre auch nicht gut. Jeder muss eigene Erfahrungen sammeln und da gehören die Unangenehmen auch dazu. So ist das nun mal.”
"Bist du traurig darüber, dass wir erwachsen werden?"

"Nein, ich bin unsagbar stolz auf euch vier. Mit jedem Jahr, in dem ihr an Reife und Erfahrung gewinnt, werde ich ein kleines bisschen stolzer."
“Du kannst doch bei den drei Kleinen nicht von Reife sprechen.”
"Warum denn nicht?"
"Ich weiß nicht so genau.“
"Tja, ich denke schon, das man bei deinen Geschwistern schon von Reife sprechen kann. Reife ist doch ein lang andauernder Lernprozess, es kommt ständig etwas Neues dazu. Die Erfahrungen die wir machen, prägen uns und machen uns zu den Menschen, die wir sind. Das ist bei Kindern doch nicht anders, mein Großer. Tim hat im letzten Jahr zum Beispiel durch seine Einschulung die Erfahrung gemacht, dass das Leben nicht nur aus Spiel, sondern auch aus Pflicht besteht. Amrei hat erkennen müssen, dass einem nichts geschenkt wird, wenn man nicht selbst Leistung zeigt und Sarah hat begriffen, dass sie zu Dingen fähig ist, die sie sich vorher nicht zugetraut hat: Sie hat nämlich beim Fußball ihr erstes Tor geschossen.”
"Wie kommt es nur, dass du diese Lern- und Erfahrungsprozesse bei deinen Kindern so mitbekommst?”

"Weil ich meine Kinder liebe und respektiere mit all ihren guten und negativen Seiten. Und weil ich mir die Zeit nehme, mir ihre großen und kleinen Erfolge und Misserfolge anzuhören."
"Negative Seiten? Habe ich auch welche?”
"Jeder hat welche, ich auch."
"Wie auch immer. Mit dir haben wir jedenfalls das große Los gezogen und darüber bin ich wirklich froh.”
"Ist es nicht viel wert, wenn man ohne viele Vorbehalte lieben und vertrauen kann?"
"Ja, so müsste es für alle Menschen auf der Welt sein. Schade, dass nicht alle so denken.”
"Wie du schon sagst: Alles eine Frage der Erziehung und des Umganges mit den eigenen Kindern. Sie geben nur das weiter, was sie von den Großen, den Erwachsenen lernen. Das war schon immer so. Man lehrt seine Kinder die eigenen positiven Seiten und sollte dabei nie vergessen, dass sie sich leider auch die negativen Seiten abgucken."
"Denkt Michael auch so?"
“Ich hätte ihn nie geheiratet, wenn es nicht so wäre. Wir haben natürlich auch in Erziehungsfragen mal Meinungsverschiedenheiten, aber auch das ist ein Lernprozess. Wenn du irgendwann aufhörst zu lernen, dann ist dein Leben gelaufen, das kannst du mir glauben. Und jetzt lass uns zu Abend essen, sonst kriegt mein Magen schlechte Laune. Das ist auch ein Lernprozess!”

 


 

 

 

 



 

 

Kapitel 15

 

 

 

Anfang Januar begebe ich mich mal wieder ins Krankenhaus. Schließlich hatten wir das ja auch lange nicht mehr. Diesmal weniger wegen der Bandscheibe, als vielmehr wegen meiner Schilddrüse und dem Schwächeanfall, den ich im Dezember hatte.
Eigentlich wäre es mir lieber gewesen, die Untersuchungen ambulant durchführen zu lassen, aber die dortige Oberärztin war der Ansicht, stationär würde alles viel schneller laufen und man könnte infolgedessen auch schneller über die Ergebnisse verfügen. Also habe ich mich darauf eingelassen. Wieder etwas, über das ich mich später ärgere.
Nach ersten Anlaufschwierigkeiten schaffe ich es schließlich, doch noch ein Bett zu bekommen. Es ist schon ein Problem, wenn der eine nicht weis, was der andere macht. Offensichtlich hatte die Oberärztin versäumt, weiterzugeben, dass ich stationär aufgenommen werden sollte und selbige ist natürlich noch im Weihnachtsurlaub.
Meine Anreise ins Krankenhaus beginnt schon mit der ersten Panne. Trotz frühzeitiger Bestellung eines Transportes erscheinen meine Kollegen der JUH nicht. Obgleich ich dreimal in der Wache anrufe, scheinen sie es nicht auf die Reihe zu kriegen. Ich werde immer wütender. Meine Wut ist vollkommen, als schließlich ein Wagen der Malteser vor unserem Haus hält.
Da hört sich doch wohl alles auf!
Einer überzeugten Johanniterin die Malteser zu schicken ist wohl der größte Fauxpas, den sich ein Zentralist der JUH jemals geleistet hat und das erfährt er auch umgehend, da ich mich keineswegs scheue, in der Wache anzurufen. Peinlich für den armen Kerl. Er hatte keine Ahnung, wem er da die Malteser schickt. Ich bin jetzt aber meinerseits stur und lasse mich von dem netten jungen Mann des Bruderunternehmens fahren, der sich köstlich über meine Wut amüsiert.
Auf jeden Fall habe ich dafür gesorgt, dass der JUH- Zentralist in Zukunft vorher genau überprüft, wem er welches Fahrzeug zukommen lässt.
Mein ist die Rache, sprach der Herr.
Das war jetzt zwar nicht ganz ladylike, aber mir geht es jedenfalls besser.

Im Krankenhaus erwartet mich die nächste Panne. Ich bin für eine stationäre Aufnahme nicht vorgemerkt und das, nachdem ich mir den Tag vorher die Finger wund gewählt hatte. Langsam werde ich mehr als wütend. Nachdem die Dame in der Patientenaufnahme nicht so recht weiß, was sie mit
mir anfangen soll, schickt sie mich schließlich in die Notaufnahme. Das ist natürlich besonders klug, denn ich sehe in keinster Weise wie ein Notfall aus und die Leute dort wissen erst recht nicht, was sie mit mir anfangen sollen.
Frau Dr. W., die die stationäre Aufnahme überhaupt verschlampt hat, ist immer noch im Urlaub.
Also werde ich erst mal in den Wartebereich abgeschoben, bis man geklärt hat, ob und wo ich aufgenommen werden soll.
Es dauert geschlagene drei Stunden, bis man sich endlich geeinigt hat.
Inzwischen hatte mich eine mitleidige Seele schon in die Personalkantine mitgenommen, damit ich wenigstens in den Genuss eines Mittagessens komme.
Endlich auf Station angelangt, bin ich vom langen Sitzen völlig geschafft. Ich habe nur noch den einen Wunsch, nämlich so schnell wie irgend möglich in mein Bett. Immerhin findet sich eine nette junge Schwester, die mir beim Auspacken meiner Tasche behilflich ist.
Sie stellt mich meiner Zimmergenossin Frau R. vor, die seit dem Vorabend das Krankenhausbett hütet.
Wie mir Frau R. berichtet, kommt sie aus Cuxhaven und hatte mit einer Freundin Einkäufe tätigen wollen. Irgendwie machte ihr Kreislauf nicht mehr mit und das nächste, an was sie sich erinnern kann, ist die Tatsache, in einem Krankenhausbett aufgewacht zu sein. Das stelle ich mir ja auch toll vor. Nun wartet sie auf ihren Ehemann, der aus Cuxhaven kommen muss, um ihr Wäsche zu bringen.

Kaum habe ich es mir in meinem Bett halbwegs gemütlich gemacht, erscheint ein junger Doktor, der auf mich wirkt, wie ein unreifes Kind. Genauso benimmt er sich auch. Als erstes mault er mich an, wieso ich denn schon im Bett liege, das sei doch nun wirklich völlig überflüssig.
Ich meinerseits finde, nach drei Stunden sitzen in der Notaufnahme, habe ich mir die Ruhepause wirklich verdient, und das bekommt er auch ganz unmissverständlich gesagt. Irgendwie bringt ihn das jetzt so aus dem Konzept, das er nicht mehr weiß, was er eigentlich wollte und wieder verschwindet.
Frau R. und ich grinsen uns an. Nun habe ich den armen Kerl wirklich verunsichert. Da hat er wohl Pech gehabt. Erst nach gut einer Stunde taucht er wieder auf, um Blut abzunehmen und verschwindet ebenso wortlos wieder, wie er gekommen ist.
Ich stelle erneut fest, dass Ärzte die Höflichkeit wirklich nicht gepachtet haben. Aber das steht ja wohl auch kaum auf dem Vorlesungsplan, wie soll man dann also wissen, dass Höflichkeit zum guten Ton gehört?

Am späten Nachmittag erscheint der Ehemann meiner Bettnachbarin und bringt die ersehnten Nachthemden. Es ist wirklich zu blöd, wenn man die ganze Zeit im Engelshemdchen rumlaufen muss.
Herr R. verabschiedet sich gleich wieder, weil er erst mal ein Hotelzimmer buchen will, was totales Unverständnis bei seiner Frau hervorruft. Eigentlich war sie davon ausgegangen, dass er am Abend wieder nach Hause fährt, denn schließlich müssen Hund und Katze versorgt werden. Herr R. hat aber längst die eigenen Kinder, die nicht mehr zu Hause wohnen, eingespannt. Jetzt ist Frau R. erst richtig sauer. Eigentlich wollte sie nicht, dass die Kinder von ihrem Krankenhausaufenthalt etwas mitbekommen. Und wenn ich überlege, dass ich Zuhause wie ein rohes Ei behandelt werde und kaum einen Schritt alleine machen darf und kann, verstehe ich sie nur zu gut.

Als Herr R. wieder erscheint, überschüttet er seine Frau mit Zeitschriften, die man für gewöhnlich in jedem Arztwartezimmer findet: Regenbogenpresse in rauen Mengen. Vielleicht war er ja der Ansicht, wenn schon Krankenhaus, dann müsse er auch noch für das richtige Ambiente sorgen. Damit hat er jetzt aber endgültig verloren. Seine Frau findet das gar nicht komisch. Ein gutes Buch wäre ihr lieber gewesen. Aber damit kann ich aushelfen. Wie immer habe ich mich gut eingedeckt.

Daraufhin bietet mir Herr R. die Zeitschriften an und ist enttäuscht, dass ich mich auch nicht begeistern kann. Mit allen Mitteln versucht er nun, uns die Zeitschriften schmackhaft zu machen. Man kann ja auch wichtige Neuigkeiten nachlesen, zum Beispiel aus den europäischen Königshäusern. Frau R. und ich sind uns weiterhin einig, dass es uns nicht im mindestens interessiert, ob Charles nun Camilla heiratet oder die Queen sich den Knöchel verstaucht hat und ausgerechnet jetzt der königliche Hoforthopäde im Urlaub ist. Die Zeitschriften kann er dann aber doch noch loswerden. Eine der jungen Schwestern nimmt sie schließlich mit wahrer Begeisterung, was Herr R. dann auch entsprechend kommentiert: Es gibt eben doch noch junge Menschen, die an den Geschehnissen in Europa interessiert sind.

Meine Lektüre bestaunt er dann allerdings auch gebührend, ich lese nämlich zur Zeit Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel. Keine einfache und entspannende Lektüre. Man sollte schon Latein beherrschen. Günstig, wenn man dann auch noch englisch kann und wer zu allem Überfluss auch noch italienisch und französisch beherrscht, ist sozusagen prädestiniert. Aber englisch und lateinisch ist kein Problem und ein bisschen französisch kriege ich auch noch hin, mir gefällt das Buch.
Herr R. kann das gar nicht fassen und fragt natürlich nach, was ich beruflich mache. Mit meiner Aussage kann er nichts anfangen, was hat eine Krankenschwester mit diesem Buch zu schaffen? Kann sie es überhaupt begreifen? Na vielen Dank auch!
Sein Gesicht leuchtet erst auf, als ich ihm erzähle, dass ich auch mal Geschichte und Literatur studiert habe. Ja dann!
Aber genau genommen hat er ja recht. Für den Normalsterblichen kann Umberto Eco dieses Buch nicht geschrieben haben! Weiß der Kuckuck, was er sich bei diesem Werk gedacht hat.

Am Abend bekommen wir noch unerwarteten Besuch. Gegen viertel nach Acht steht nach etwas zaghaftem Klopfen ein junger Mann im Zimmer, der unverkennbar nach Mediziner ausschaut, allerdings eher nach AiP'ler.
Frau R. und ich sehen uns ein bisschen verblüfft an. Um diese ungewöhnliche Zeit?
Eigentlich finden wir beide nicht, dass wir zu den sogenannten Risikopatienten gehören, denen man am Abend noch einen Besuch abstattet.
Der junge Mann bemerkt unsere Blicke und stellt sich ein bisschen schüchtern als Dr. M. vor. Aha!
Das erklärt aber immer noch nicht, was er um diese Zeit bei uns will. Aber auch diese Frage beantwortet er, ehe wir nachfragen können.
"Ich dachte, dass sie vielleicht Fernsehen schauen," stottert er ein bisschen hilflos.
Fernsehen? Nun tauschen wir schon wieder ratlose Blicke. Wir hatten beide kein Bedürfnis nach Fernsehprogramm und sehen ein bisschen erstaunt Dr. M. an.
"Na ja, wissen sie, in den anderen Zimmern, da liegen nur ältere Damen und da kann ich ja schlecht fragen und da dachte ich, dass sie vielleicht ..." Er stockt ein bisschen hilflos.
"Na, nun sagen Sie doch schon, was Sie möchten," ermuntert ihn Frau R. mit einem Lächeln.
"Ja, also ich dachte, dass sie vielleicht auch, also, weil doch heute Mittwoch ist, da dachte ich, dass Sie vielleicht, was ich sagen wollte ist, ehm ..."
Mir dämmert es langsam und ich kann es nicht verhindern, dass ich laut loslachen muss, was jetzt wiederum mir einen erstaunten Blick von den anderen beiden einbringt.
"Heute ist Mittwoch, ja natürlich! Das ich da nicht dran gedacht habe!"
Ich könnte mich immer noch kugeln. Frau R. wirft mir einen völlig hilflosen Blick zu und auch Dr. M. scheint jetzt einigermaßen irritiert und versucht, diskret den Rückzug anzutreten.
 "Na, jetzt bleiben sie schon hier. Frau R. hat sicher nichts gegen ihr Bildungsprogramm einzuwenden," muntere ich ihn auf und zeige gleichzeitig auf den Stuhl, der zwischen unseren Betten steht. Ein bisschen unsicher sieht er mich noch an, der junge Mann, aber als ich nach der Fernbedienung greife, setzt er sich schließlich doch. Frau R. begreift offenbar erst, um was es eigentlich geht, als ich den Fernseher eingeschaltet habe und die ersten Szenen der Serie 'Emergency Room' über den Bildschirm flimmern. |
"Jetzt begreife ich das mit dem Bildungsprogramm," lacht sie auf.
"Ja, Sesamstraße für Mediziner, darf man nicht verpassen. Wie konnte uns so ein Fauxpas unterlaufen?" Ich schüttele schockiert ob unserer Unterlassungssünde den Kopf und nun müssen wir alle drei lachen.
Wir tauschen uns gebührend aus über Dr. Green, Dr. Ross und natürlich Schwester Hathaway. Ärgern uns gemeinsam über die Überheblichkeit von Dr. Benton und amüsieren uns über die manchmal einfach herrliche Unbeholfenheit von Dr. Carter.
Ich muss gestehen, wenn ich mich auch keineswegs für die deutschen Arztserien begeistern kann, 'E.R.' hat es auch mir angetan.
So verbringen wir in der Gesellschaft von Dr. M. einen ausgesprochen fröhlichen und unterhaltsamen Fernsehabend. Da kann man doch sogar einem Krankenhausaufenthalt noch etwas Nettes abgewinnen.

Der nächste Tag ist genauso ereignislos wie der erste. Abgesehen von einer weiteren Blutabnahme passiert nichts bemerkenswertes.
Dafür komme ich aber mit meinem Umberto Eco ein ganzes Stück weiter und das hat natürlich auch was.
Nach dem Mittagessen leistet uns Herr R. wieder Gesellschaft und wir plaudern sehr angeregt über Literatur. Wir stellen fest, dass wir einige Autoren gleichermaßen schätzen und tauschen uns entsprechend aus. Einige Male staune ich über das ungeheure Wissen von Herrn R., aber er versichert mir, dass Literatur ein großes Hobby von ihm ist und meint mit einem leichten Bedauern in der Stimme, dass ihm leider nie die Idee gekommen ist, Literatur zu studieren. Da hätte man doch wirklich Beruf und Hobby verbinden können. Es interessiert ihn aber brennend, wieso ich Literatur studiert habe.
Daran war mein Vater schuld. Das muss man ganz einfach mal so sagen, auch wenn mein Vater das nie hat hören wollen. Für ihn war es eigentlich immer ganz klar, dass ich, wie meine Brüder, Medizin studieren würde.
Mit neun Jahren schenkte mir mein Vater das Buch Reineke Fuchs von Goethe. Eine wunderschöne Ausgabe mit zahlreichen Federzeichnungen, die noch heute zu meinen schönsten und wertvollsten Büchern gehört. Damit weckte er in mir die große Liebe zur Literatur. Mit knapp elf Jahren las ich Goethes 'Faust'. Was ich nicht verstand, ließ ich mir von meinem Vater erklären. Mit zwölf Jahren interpretierte ich zum Erstaunen meines Deutschlehrers eine Kurzgeschichte von Franz Kafka und machte von da an keinen Halt mehr vor jeder Form von Literatur. Ich las alles, was mir in die Finger kam, von Shakespeare bis Tolstoi und schreckte selbst vor den medizinischen Fachbüchern meines Vaters nicht zurück.
Geschichte und Literatur miteinander zu verbinden, erschien mir völlig logisch. Wie kann man Literatur begreifen, wenn man die Geschichte nicht kennt und wie Geschichte verstehen, wenn einem die großen Literaten nicht vertraut sind? Ich habe niemals Kaiser und Könige auswendig gelernt. Mich interessierte das eher kleine Volk. Wie lebte der normale Bürger während der unterschiedlichsten Epochen und wie sah gemeinhin sein Schicksal aus. Natürlich kommt man da an den großen Fürsten und Regenten nicht vorbei, dass versteht sich von selbst. Aber ihr Wirken war nur im Zusammenhang mit dem kleinen Mann für mich von Wichtigkeit.
Hat man die Zusammenhänge einmal begriffen, begreift man auch die großen Literaten verschiedener Zeitepochen. Man sieht somit, das eine funktioniert nicht ohne das Andere.
Meine Erklärung führt dazu, dass wir uns anschließend über Tolstoi's Meisterwerk 'Krieg und Frieden' unterhalten. Herr R. gibt zu, dieses Mammutwerk nie richtig begriffen zu haben, aber mit dem geschichtlichen Wissen würde er es vielleicht doch noch schaffen. Seine Frau schüttelt ein bisschen den Kopf, als er mir versichert, die Sache jetzt einfach mal ein bisschen anders anzugehen. Und mit einem Lächeln in Richtung des Buches auf meinem Nachtschrank fügt er hinzu, den Umberto Eco vielleicht auch. Ich fürchte allerdings, da gehört noch ein bisschen mehr dazu, als nur geschichtliches Grundwissen. Aber natürlich will ich Herrn R. auch nicht entmutigen.

Der nächste Tag verläuft zunächst einmal genauso langweilig wie die beiden vorher,
Eine nichtssagende Visite, im Eiltempo abgehalten und Frau R. und ich sind wieder uns selbst überlassen.
Eine Stunde später taucht der junge Arzt von vorgestern auf, um mir zum dritten Mal Blut abzuzapfen. Langsam finde ich das nicht mehr komisch und so frage ich ihn denn auch, ob sie mein Blut fürs Mittagessen verwenden. Ein völlig irritierter Blick und ein Kopfschütteln ist die Antwort. Lieber Himmel, der Knabe hat aber wirklich nicht das eine Fünkchen Humor.
Bald darauf bin ich diejenige, der der Humor ausgeht. Kurz nachdem der Doktor mir das Blut entnommen hat und mit den Proben verschwunden ist, taucht er wieder auf und legt mir nahezu kommentarlos meinen Entlassungsbrief auf die Bettdecke. Jetzt bin ich aber wirklich wieder einmal fassungslos.
Lapidar wird mir erklärt, die geplanten Untersuchungen könne ich auch ambulant durchführen lassen. Das hatte ich ja eigentlich schon im Dezember so gewollt, warum rege ich mich also auf? Eigentlich dürfte ich mich doch inzwischen über nichts mehr wundern. Also verzichte ich auf jede Diskussion und bitte nur noch um einen Transportschein. Ein ungläubiger Blick trifft mich:
"Was wollen Sie?"
"Einen Transportschein! Spreche ich so undeutlich?" Man kann ja mal fragen.
"Wo kommen Sie denn her?"
Ich nenne ihm den Namen meiner Heimatstadt.
"Also, ich kann Ihnen einen Transportschein bis zum Bahnhof ausstellen, was anderes kommt nicht in Frage."
"Zum Bahnhof!? Sagen sie mal, geht es ihnen noch gut? Ich verlange, dass Sie mir einen vernünftigen Transportschein ausstellen und das bitte zügig." Wenn ich nicht aufpasse, werde ich richtig pampig.
"Das wird der Krankenkasse aber gar nicht gefallen," lautet die Antwort.
"Das mag sein. Aber die Tatsache, dass sie hier drei Tage Krankenhauspflege abrechnen werden und außer dreimal Labor rein gar nichts unternommen haben, nicht einmal die übliche Aufnahmeuntersuchung, wird der Krankenkasse noch viel weniger gefallen. Glauben sie ja nicht, dass ich das so auf sich beruhen lassen werde - und jetzt bitte meinen Transportschein. Ich habe ansonsten auch kein Problem damit, Ihnen die Taxirechnung zukommen zu lassen."
Einen Moment starrt er mich verblüfft an, macht dann auf dem Absatz kehrt und verschwindet.
Frau R. sieht mich mit großen Augen an.
"Du lieber Himmel, sie können ja richtig Haare auf den Zähnen haben. Das hätte ich aber nun auf keinen Fall gedacht. Wirklich schade, dass sie nach Hause gehen. Das hätte sonst noch ganz gemütlich werden können mit uns beiden."
Da hat sie sicher nicht ganz unrecht.
Einen kurzen Augenblick später reicht mir eine der Schwestern einen Transportschein herein. Es hat also wieder mal funktioniert. Was für ein Glück, dass ich über eine gesunde Portion Selbstvertrauen verfüge.

Nachdem die Schwester mir beim Packen geholfen und ein Taxi gerufen hat, nehme ich Abschied von Frau R. Schade ,dass unsere Bekanntschaft zu Ende geht.
Monate später ärgere ich mich dann noch einmal über diesen Pseudomediziner: Durch eine andere Geschichte bekomme ich den Bericht dieses Mediziners in die Hände und stelle fest, dass der junge Mann über eine Menge schriftstellerisches Können verfügt. Dafür, dass er mich nie untersucht hat, hatte er nämlich einen ausgesprochen ausführlichen Bericht abgeliefert. Aber vielleicht hat er ja auch nur den Bericht der Neurochirurgen abgeschrieben, wer weiß. Auf der Heimfahrt beschäftigt mich allerdings nur eine Frage, die dafür aber sehr intensiv: Wie erkläre ich das nun wieder meinem Orthopäden? Langsam muss der ja wirklich sonst was von mir denken. Es kann doch einfach nicht sein, dass ich immer und überall solche Sachen erlebe. Ich würde wirklich gerne wissen, ob es anderen Patienten auch so geht!

 


 

 

 

 

 

 


 

 

Kapitel 16

 

 

 

Wenigstens meine Familie freut sich, dass ich wieder zu Hause bin. Es gibt wohl nichts Schöneres, als jubelnde Kinder, die einem entgegen stürmen.
Zum Abendessen hat sich auch Filius wieder eingefunden. Es ist Wochenende und wie so oft verbringt er es daheim.
Eigentlich freue ich mich ja, wenn er auftaucht. Dennoch denke ich manchmal, er sollte sich doch lieber noch ein bisschen mehr abnabeln. Möglicherweise liegt seine Anhänglichkeit daran, dass ich ihn zwölf Jahre allein erzogen habe. Vor Michael gab es keinen Partner in meinem Leben.
Daher ist es wohl verständlich, dass meine Brüder einigermaßen erstaunt waren, als sie plötzlich eine Einladung zur Hochzeit bekamen. Irgendwie hatten sie schon befürchtet, vor lauter Arbeit und steter Weiterbildung würde es noch dazu kommen, dass ich auch meinen Lebensabend alleine verbringen würde. Die Gefahr, als alte Jungfer zu sterben, war ja nicht mehr gegeben; obgleich meine Brüder immer behauptet haben, einmal sei kein mal.
Dass sie sich mit meinem Mann auf Anhieb verstanden, war ein weiterer Pluspunkt.
Aber auch Filius war von seinem Stiefvater sofort sehr angetan. Er hat Michael zwar niemals mit Papa angesprochen, aber bei Verwandten, Freunden und Bekannten spricht er nur von seinem Vater.
Glück und Freude also reichlich und in manch stiller Stunde frage ich mich, wie lange dieses Glück ungestraft anhalten mag.

Erst einmal aber sitze ich wieder im Kreise meiner Lieben, bei einem unserer ausgesprochen lebhaften Abendessen. Da unsere Kinder uns nicht immer gemeinsam haben, haben wir nie auf dem, in manchen Familien obligatorischem, Redeverbot für Kinder bestanden. So schnattern unsere Kinder munter durcheinander und wenn ich ganz ehrlich bin, ich liebe es.
Meine Schwiegereltern hatten ihre Kinder dagegen viel strenger erzogen. Kinder hatten bei Tisch den Mund zu halten und so tut sich meine Schwiegermutter immer noch sehr schwer damit, dass unsere Kinder einfach nicht ruhig zu kriegen sind.
Ich kannte ein Redeverbot für Kinder in meinem Elternhaus auch nicht. Es wurde zwar streng auf gute Tischmanieren geachtet und man konnte durchaus raus fliegen, wenn man sich nicht ordentlich benahm. Was mir einige Male passierte, aber wir durften reden, wie uns der Schnabel gewachsen war. Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass uns niemand ruhig bekam.
Ich selbst war ein unglaublich quirliges Kind und konnte kaum eine Minute still sitzen, geschweige denn den Mund halten. Im Übrigen wäre ich ja auch die einzige gewesen, die den Mund hätte halten müssen, denn meine Brüder waren ja doch viel älter als ich.
Wie auch immer, ich fühle mich im Kreis meiner Kinder sehr wohl und die einzige, die man gelegentlich bremsen muss, ist Amrei, die vermutlich mein loses Mundwerk geerbt hat. Sie ist eben erblich belastet, wie Filius mir kürzlich erklärte. Dann ist er es aber auch. Oder wo hat er das lose Mundwerk und diese ausgesprochenen Frechheiten her? Tim erzählt mir mit vollgestopftem Mund begeistert, dass er mit Papa am Computer Einladungen für seine Geburtstagsparty entworfen und gedruckt hat. Interessiert frage ich nach, ob ich mir eine ansehen kann, aber Tim schüttelt den Kopf:
"Alle schon verteilt und Papa hat es dann wieder gelöscht.”

"Schade, und wen hast du eingeladen?"
"Also, warte mal - ehm, Sascha, Dennis und Dennis, Florian, Frederik, Jaqueline, Kim, Tobias, Jan und - äh -, ach ja, Markus!"
Jetzt bin ich geplättet. Wenn ich richtig mitgezählt habe, dann waren das zehn Kinder! Meine Blicke wandern von Tim zu Michael und wieder zurück.
"Zehn Kinder?", frage ich vorsichtshalber noch einmal an. Mein Mann und Tim nicken. Ich werfe einen hilfesuchenden Blick zu meiner Schwiegermutter, die sofort abwehrend die Hände hochhebt:
"Ich habe Massage!"
"Du gehst doch immer vormittags zur Massage," wage ich zu widersprechen.
"Sonst schon, aber an dem Tag gehe ich nachmittags!"
Eine klare Aussage, die, dem Tonfall nach, keine Widerrede zulässt. Also sehe ich meinen Mann an, aber auch der schüttelt den Kopf: "Tut mir leid, ich bin in Stralsund!"

"Na das ist ja toll! Du erlaubst Tim sage und schreibe zehn Kinder einzuladen und bist selber nicht zu Hause. Das finde ich ja wirklich super! Was glaubst du eigentlich, wie ich das schaffen soll? Irgendwie kann ich mich zur Zeit nicht sonderlich gut bewegen, wie soll ich also mit dreizehn Kindern klarkommen? Die möchten nämlich beschäftigt werden!"
"Wieso dreizehn?"
"Weil wir uns erdreistet haben, selbst auch noch drei Kinder zu produzieren und ihnen auf die Welt zu verhelfen. Die musst du wohl mitrechnen oder soll ich sie solange in den Keller sperren?"
"Ach so, da habe ich im Moment nicht drüber nachgedacht."

"Du scheinst reichlich wenig nachzudenken in letzter Zeit!"
Meine Schwiegermutter schaltet sich ein:
“Ich würde dich ja gerne entlasten Tina, aber wirklich, zehn Kinder ist mir zu viel."
"Was ist das denn für ein Wochentag, der 19.?" Filius sieht mich fragend an.
"Ein Dienstag."
"Tja, dann würde ich doch vorschlagen, ich komme am Nachmittag und spiele ein bisschen Kindergeburtstags-Animateur!"
Unsere drei Kleinen stimmen ein markerschütterndes Jubelgeschrei an, während ich den Kopf schüttele.
"Das kommt nicht in Frage. Du wirst keine Vorlesung schwänzen!"
"Mum, jetzt bleib mal locker! Ich habe Dienstags nur vormittags Vorlesungen, das heißt ich kann mich spätestens um halb zwei auf den Weg machen. Das schaffe ich lässig bis um drei, ehrlich. Und außerdem, selbst wenn ich eine Vorlesung schwänzen würde, würde davon die Welt auch nicht untergehen. Das mache ich sowieso manchmal. Das macht jeder Student, das ist doch gerade das Schöne am studieren."
"Deine Mutter hat wahrscheinlich nie geschwänzt!" Michael wirft Filius einen gekonnt strengen Blick zu, der den aber offenbar nicht weiter beeindruckt:
"Also wenn Mum wirklich nie geschwänzt hat, ist sie sozusagen Beispiellos. Es kann doch einfach nicht sein, dass diese Frau niemals eine Vorlesung oder die Schule geschwänzt hat. Jeder macht das! Sei doch mal ehrlich Mum, du hast doch nicht wirklich jede! Vorlesung besucht, oder?"
"Soll das heißen, dass du die Schule geschwänzt hast? Wann? Wieso weiß ich das nicht?"
"Also Mum, ich bitte dich, wirklich! Klar habe ich die Schule geschwänzt, aber ich war nun wirklich nicht so blöd und habe mich erwischen lassen - schon gar nicht von der eigenen Mutter."
Sprachlos starre ich meinen Sohn an, da tun sich ja Abgründe auf.
"Was ist denn schwänzen?", fragt Tim neugierig nach. Da heißt es jetzt vorsichtig sein, denn Tim betet seinen großen Bruder an, er verehrt förmlich den Boden, auf dem René dahinschreitet.
"Das brauchst du jetzt noch nicht wissen," werfe ich vorsichtshalber ein. Vielleicht kann ich damit Filius stoppen. Ich habe mich geirrt, wie immer.
"In der ersten Klasse braucht man das noch nicht wissen, frühestens in der Zweiten und dann kriegst du ganz alleine raus, was schwänzen ist. Aber wenn es dich so brennend interessiert: Schwänzen heißt, einfach nicht zur Schule zu gehen. Du darfst dich bloß nie von Mama oder Papa erwischen lassen. Eltern finden das nie besonders lustig, obwohl sie früher garantiert auch geschwänzt haben. Das heißt, deiner Mutter traue ich tatsächlich zu, dass sie nie geschwänzt hat, die ist nämlich das Pflichtbewusstsein in Person. Aber wenn das so ist, darfst du dich erst recht nicht erwischen lassen. Merk dir das, Timi"
"Eine Frage habe ich ja nun doch noch, mein Großer," werfe ich ein, ehe das Kapitel geschlossen wird. "Soll das heißen, du hast schon in der zweiten Klasse geschwänzt?'"
"Klar!"
Was soll man zu so viel Chuzpe sagen, ich jedenfalls bin sprachlos. Mein Mann rettet die Situation, indem er mich daran erinnert, dass wir ja unmittelbar neben der Grundschule wohnen und ich nur einen Blick aus dem Küchen-oder Wohnzimmerfenster zu werfen brauche, um zu kontrollieren, ob Tim auch wirklich zur Schule geht.
"Aber ich kann ja auf den Schulhof gehen und gehe hinten wieder runter. Das kannst du dann nicht sehen, Mama." Ich staune, selbst Tim ist schon mit allen Wassern gewaschen. Aber natürlich bekommt er auch gleich von Filius eins auf den Deckel.
"Mensch Tim, so was darfst du auf gar keinen Fall verraten. Das sind Tricks, die musst du für dich behalten, wenn du so was weißt, du kommst sonst nie auf einen grünen Zweig. "
"Also Filius wirklich, das wird er jetzt irgendwann ausprobieren!"
"Novitas gratissima rerum!"
"Ja ja, du musst es ja wissen."
"Also Mum, nur um mal auf den Anfang unseres Gespräches zurückzukommen, soll ich nun kommen oder nicht? Wie ich das sehe, hast du ziemlich genau drei Möglichkeiten:
a) ich komme dir helfen,
b) du kommst alleine zurecht oder..."
"Oder was?"
"Oder du sagst die Fete ab!"
Ohrenbetäubendes Protestgeschrei bricht aus, wie zu erwarten.
"Also schön, du hast gewonnen. Aber wehe dir, du bist nicht pünktlich.
Damit können wir erst mal wieder zur Tagesordnung übergehen,

Kurze Zeit nach dem Abendessen schicke ich mein Menü wieder über Bord. Michael war mir ins Bad gefolgt und betrachtet mich besorgt.
„Bin ich jetzt schuld daran?", fragt er zerknirscht ...

"Wie kommst du denn darauf?“
"Na ja, vielleicht hast du dich wegen der zehn Kinder doch mehr geärgert, als du zugeben magst. Vielleicht ist dir das jetzt auf den Magen geschlagen."
"Mir ist ganz was anderes auf den Magen geschlagen."

"Was denn?"
"Weiß ich nicht, aber ganz sicher nicht Tims Geburtstagsfeier, wenngleich ich auch ein bisschen sauer bin. Das Recht musst du mir nun wirklich einräumen."
"Ja, tut mir leid, ich habe wirklich nicht nachgedacht." Ich gebe meinem Göttergatten einen Kuss und wir schließen Frieden. Wir können eben doch nicht streiten.

Am nächsten Morgen hat sich nichts geändert. Schon der bloße Anblick des Frühstückstisches treibt mich ins Bad. Diesmal ist es Filius, der mir folgt.
"Mum, was ist denn jetzt wieder los mit dir? Bist du etwa schwanger?" Seine Augen blitzen freudig auf.
"Habe ich mich während meiner Schwangerschaften jemals übergeben?"
"Nö, eigentlich nicht."
"Also!"
"Was ist dann los mit dir?"
"Ich weiß es nicht!"
"Da fällt mir grade ein, dass du ja nie und nimmer schwanger sein kannst. Manchmal bin ich wirklich ein bisschen blöd, sorry! Aber ich hätte es wirklich super gefunden, noch einmal großer Bruder zu werden, eigentlich schade."
Ich schüttele ein bisschen genervt den Kopf.
Ich finde, ich bin mit meinen vier Kindern schon ausreichend bedient. Ich habe wirklich keinen Bedarf nach einem fünften Kind, das dann den gesamten Unfug der anderen vier nachahmt.
Ein Glück, dass weiterer Kindersegen ganz und gar ausgeschlossen ist.
Die permanente Übelkeit hält an. Ich darf es nicht wagen, irgendwas zu essen, es findet gleich wieder den Weg nach draußen. Nicht einmal Zwieback oder Haferschleim sind möglich. Dazu kommen heftige Schwindelanfälle. Ich habe die Nase gestrichen voll. Wie um alles in der Welt soll denn das weitergehen?
Nachdem Michael nicht aufhört, mich wegen eines Arztbesuches zu nerven, gehe ich zu Birgit, die wieder einmal den Kopf schüttelt.
"Was ist denn bloß los mit dir? Kommen die Medikamente auch wieder raus?"
Ich nicke ein bisschen betrübt mit dem Kopf.
"Was soll ich denn bloß mit dir anfangen? Weißt du, du solltest zu Werner gehen. Ich fürchte, dass hängt alles mit deinem Magen zusammen. Sag mal, du spuckst doch nicht etwa wieder Kaffeesatz, oder?" Sie sieht mich prüfend an. "Nein, tu ich nicht. Werner ist bis nächste Woche noch im Urlaub."
"Ja, ist klar, wenn man den mal wirklich braucht! Was machen wir denn jetzt?“

„Du bist der Arzt!“

„Was dich bisher nicht davon abgehalten hat, immer alles zu monieren.“

„Nicht alles!“

„Aber das meiste! Wo wir gerade dabei sind: Kommst du mit Dr. L. Noch zurecht?“

„Ja, wieso denn nicht?“

„Weil er Orthopäde ist, und Orthopäden sind doch arrogante ... „

„Ja ja, schon gut. Der Spruch wird mich noch bis in den Tod verfolgen. Aber Ausnahmen bestätigen die Regel, das war schon immer so!“

„Na ja, vielleicht hast du sogar recht. Ich war zwischen Weihnachten und Neujahr in Bayern und bin wirklich blöde ausgerutscht. Nichts Schlimmes, aber immerhin ein verstauchter Knöchel. Also was macht man, man geht zum Orthopäden und stell dir mal vor, dieser Typ war ein arrogantes Miststück. Ich hätte ihm am liebsten sonst was ... Na, lassen wir das lieber.“

„Also wieder mal der Inbegriff eines Orthopäden!“

„Mich würde interessieren, woran das liegt?“

„Hast du dir Orthopäden schon einmal genauer angesehen? Sportlich, schlank und durchtrainiert bis in die Haarspitzen. Wenn dann so ein Pummelchen auftaucht wie ich, dann ist alles zu spät.“

Birgit sieht mich belustigt an:

„Seit wann hast du denn Komplexe? Mal davon abgesehen, dass du nach vier Kindern ruhig ein bisschen pummelig sein darfst. Früher gehörte das zum Mutterbild dazu. Außerdem, du bist doch auch nicht ganz ohne. Wenn du Dr. L. Nur halb so viel dazwischen redest wie mir, beweist er schon ein ziemlich stabiles Nervenkostüm!“

„Was willst du denn damit sagen?“

„Muss ich dir das wirklich erklären? Manchmal weißt du einfach zu gut, was du willst. Und meistens willst du mit dem Kopf durch die Wand.“

„Sag mir lieber, was ich jetzt tun soll.“

„Siehst du, genau das meine ich! Ich schreibe dir Pariet auf, das ist ein neues Magenmedikament. Ich hoffe, dass du es drin behältst. Wenn Werner wieder da ist, gehst du bitte zu ihm. Er ist der Fachmann für deine Innereien. Außerdem schreibe ich dir noch ein Antiemetikum auf. Ich hoffe wir kriegen es damit in den Griff. Wann ist Werner denn wieder da?“

„Nächste Woche, so viel ich weiß.“

„Dann mach aber auch gleich einen Termin aus, hörst du?“

„Ja, schon gut.“

Und wenn du wieder Kaffeesatz spuckst, kommst du nicht erst zu mir, sondern fährst direkt ins Krankenhaus, verstanden?“

Ich nicke brav, dennoch betrachtet mich Birgit kopfschüttelnd und noch nicht so ganz überzeugt. Sie kennt zu genau meine Aversionen gegen Krankenhäuser. Auf der anderen Seite weiß sie aber auch, dass ich seit dem Blutsturz im vergangenen Jahr sehr vorsichtig geworden bin.

"Was macht denn dein Rücken, gibt es was Neues?"
"Wir haben einen Antrag für die Reha-Klinik gestellt."

„Gute Idee und?“
“Erst mal abgelehnt. “
“Wie bitte? Warum denn das?“
“Weil der Doktor von der BFA sagt, dass er nicht glaubt, dass das Ganze ohne OP viel Sinn macht, darum."
"Und nun?“
“Noch ein Krankenhaus! Diesmal eine Empfehlung der BFA, aber ich habe erst Ende Februar einen Termin."
"Na prächtig."

 

Die Medikamente schlagen nicht an, auch weiterhin kann ich nichts essen.
Dann kommt erst mal Tims Geburtstag. Er ist sagenhaft stolz, das er jetzt sieben Jahre alt ist. Natürlich ist er furchtbar aufgeregt wegen seiner Geburtstagsfeier.
Fillus taucht wie versprochen kurz vor drei Uhr auf, Tim erhält ein weiteres Geburtstagsgeschenk und nimmt seinen großen Bruder sofort unter Beschlag.
Pünktlich um drei tauchen die Gäste nacheinander auf. Die Mütter hatten zusammengelegt und so erhält Tim einen großen Lego Baukasten, den er am liebsten sofort zusammenbauen möchte. Ich lasse ihn nicht, schließlich hat er reichlich Besuch. Aber was das anbelangt, ist er typisch 'Mann', was interessieren ihn die Gäste, wenn er noch tausend andere wichtige Sachen zu tun hat. Später einmal kann er ja versuchen, die Gäste an seine Ehefrau abzuschieben, momentan hat er es aber mit seiner Mutter zu tun und die entscheidet knallhart, dass er sich um seine Gäste selbst kümmern soll.
Filius versucht in den wild gewordenen Haufen Kinder ein bisschen Ruhe und Ordnung zu bekommen. Er hat sich tatsächlich die Zeit genommen und diverse Spiele vorbereitet. Momentan sitzen alle im Wohnzimmer in einem großen Kreis und würfeln um Schokolade.
Ich sitze wieder mal in meiner Lieblingsecke und sehe dem bunten und wilden Treiben zu. Filius scheint voll in seinem Element zu sein. Mit ausgesprochen guter Laune hockt er zwischen den Kinder und man sieht ihm deutlich an, wie sehr er das genießt.
Mein Sohn hat vor, Pädiater zu werden und wenn ich ihn mir so ansehe, kann ich mir das sehr gut vorstellen.

Nach zwei Stunden entlässt er alle Kinder erst mal, um selbst Luft zu holen. Mittlerweile ist meine Freundin Frauke mit ihrem einjährigen Sohn Nico eingetroffen.

Nico macht seine ersten tapsigen Schritte und mein erwachsener Sohn bekommt vor Begeisterung leuchtende Augen. Die nächste Stunde gehört Nico, der sich nicht so recht zwischen mir und Filius entscheiden kann.
Zwischendurch gehe ich mal nach der Kinderhorde sehen. Alle spielen in Tims geräumigem Kinderzimmer.
Damit mehr Platz ist, haben unsere Kinder riesige Hochbetten und man kann unten drunter oder auch oben drauf herrlich spielen. Allerdings toben die Kinder derart, dass ich es für besser halte, sie runter zu scheuchen. Ich habe wirklich Angst, es könnte eines fallen, was bei der Toberei nicht ausgeschlossen ist. Vor allen Dingen achtet bei dem wilden Gewusel der eine nicht auf den anderen. Gerade habe ich es mir mit Frauke wieder im Wohnzimmer gemütlich gemacht, als ein schriller Schrei und im gleichen Moment ein dumpfer Aufschlag uns fast zu Tode erschreckt.
Das Gebrüll, das im selben Moment ertönt, gehört ohne Frage Frederik. Dann ist er jetzt also vom Bett gefallen. Als wenn ich es nicht geahnt hätte, dass das passiert.
Frauke will sofort losstürmen, aber ich halte sie zurück. Filius ist ja da.
Einen kurzen Augenblick später kommt dieser mit dem brüllenden Frederik unter den Arm geklemmt, ins Wohnzimmer.
"Frederik ist vom Bett gefallen!"
"Das war nicht zu überhören."
"Was soll ich denn jetzt tun? Nicht, dass er noch stirbt!"

"Also Filius, ich bitte dich! Bei der Schreierei!"
Eine alte Rettungsdienstweisheit lautet: Solange der Patient schreit, mach dir nicht allzu viel Gedanken!
"Ja schön, was soll ich denn jetzt mit ihm anfangen?“ Filius wird ungnädig.
Ich betrachte mir Frederiks Stirn. Offenbar ist er mit dem Kopf aufgeschlagen. Eine große Beule zeugt davon.
"Kühl es erst mal."
"Womit denn?"
"Na mit einem Kühlelement. Die liegen im Gefrierschrank ganz oben. Aber wickel es vorher in ein Handtuch!"
René ist völlig aufgelöst.
"Einfach so drauflegen?"
"Hörst du nicht, was ich sage? Hol das Kühlelement!"

"Will er wirklich Arzt werden?" Frauke sieht mich skeptisch an. Ich nicke nur. Irgendwie wird er es auch lernen, wie alle anderen vor ihm auch schon.
Filius bringt das Kühlelement. Unterdessen hatte ich den lauthals brüllenden Frederik auf die Couch verfrachtet.
Frauke besorgt ein Geschirrtuch aus der Küche, in das wir das Kühlelement einwickeln. So eingewickelt lege ich das Kühlelement auf Frederiks Stirn. Vorsichtig kühle ich die Haut kreisförmig rund um die Beule.

"Ich dachte, man muss das Element direkt auf die Beule legen, Mum. "

"Erst muss man drum herum kühlen, sonst tut es noch mehr weh. Nachdem Frederik sich beruhigt hat, weder über Übelkeit klagt oder sich gar übergeben muss, können wir davon ausgehen, dass offenbar alles noch mal glimpflich abgegangen ist“.

Zwischendurch betrachte ich Frederik fachmännisch, aber von dem Sturz ist nichts mehr zu bemerken.

 "Also wie du das hinkriegst Mum, ist einfach klasse!" Filius betrachtet mich anerkennend.

"Ach du, das ist doch mein Job. "

"Glaubst du, ich lerne das auch noch, so ruhig zu bleiben? Ich habe von dem Schrecken immer noch Wackelpudding in den Knien.“

"Aber natürlich, mein Großer. Und glaube man ja nicht, ich hätte keinen Schreck bekommen“.

 

Zum Abschluss des Tages backt Filius mit allen dreizehn Kindern Pizza. Jeder darf sich seine Ecke selbst belegen, was die Kinder natürlich mit wahrer Begeisterung und ausgiebigem Mantscherei tun. Meine gut gepflegte Küche gleicht einem Schlachtfeld! Aber wieder einmal bin ich froh, dass ich so eine herrlich große Küche habe. Als sich später die Gäste verzogen haben, stelle ich fest, dass mein Sohn für eine blitzblanke Küche gesorgt hat: Von der Pizza Schlacht ist keine Spur mehr zu sehen. Bevor mein Sohn sich auf seinen Heimweg macht, sitzen wir noch eine Weile beisammen. Filius erinnert mich an den 19. Januar vor sieben Jahren, als sein kleiner Bruder geboren wurde. Tim ist im Grunde daran schuld, das Filius jetzt Medizin studiert. Gegen Abend setzten bei mir die Wehen ein und da ich ja von Natur aus ein eher gelassener Mensch bin und eine Geburt dazu noch ein ganz normaler, natürlicher Vorgang ist, hatte ich die Ruhe weg. Mein Mann, der mit unserem Nachbarn verabredet war, wollte zu Hause bleiben. Ich war diejenige, die ihn wegschickte, weil das alles ja noch so furchtbar viel Zeit hat. Hatte es dann aber doch nicht. Holterdipolter war Tim da, so schnell, dass Filius und ich nicht einmal nachdenken konnten. Filius war der Einzige, der da war, um mir während der Blitzentbindung behilflich zu sein. Ich muss gestehen, dass ich nicht eine Sekunde lang auch nur einen Gedanken daran verschwendet habe, ob die plötzliche Assistenz meinem Sohn gut tun würde oder nicht. Entscheidend war, da war ein Baby, dass schnellstens auf die Welt wollte. Also gab ich meinem Sohn knappe und präzise Anweisung, wie er helfen konnte und gemeinsam brachten wir seinen kleinen Bruder zur Welt.
Meinem staunenden Großen erklärte ich, wann man abnabelt und auf was man achten muss und dann schaffte er auch diesen Prozess mit Bravour. Anschließend badete Filius seinen kleinen Bruder und zog ihn liebevoll an. Als er mir unser neues Baby in den Arm legte, glühte sein Gesicht vor Stolz. Dann saß er bei mir auf der Bettkante und staunte über dieses Wunderwerk in meinem Arm, das wirklich und wahrhaftig ein kleiner Mensch war. Und von dieser Minute an war für meinen Großen sein Lebensziel klar: Er würde Pädiater werden!
Übrigens verdankt Tim nicht nur die reibungslose Geburt seinem großen Bruder, sondern auch seinen Vornamen. Eigentlich hatten wir uns für den Namen Jan entschieden, aber René erklärte uns kategorisch, der Name Jan sei eine Zumutung für jedes Kind. Also empfahlen wir Filius, doch selbst einen Namen auszuwählen. Zu dieser Zeit las René mit Hingabe die 'Tim und Struppi-Bücher. So entschied er sich recht schnell für den Namen Tim.
Auf Tims Taufe erzählte meine Schwiegermutter dann Freunden von uns, das Kind sei nach einem Hund benannt worden.
Ich stelle fest, auch heute noch kommt der ganze Stolz wieder hervor, der meinen Sohn an diesem Abend vor sieben Jahren erfasst hatte. Nachdenklich und mit einem leisen Lächeln beobachtet er seinen kleinen Bruder, der sich mit zusammengebissenen Zähnen abmüht, einen Lego Kran zusammen zubauen. Liebevoll wuschel ich meinem Großen durch sein Haar.

Filius erklärt sich noch bereit, seine Geschwister ins Bett zu stopfen und während er damit beschäftigt ist, beim Ausziehen und Zähneputzen behilflich zu sein und nebenbei herumzualbern, stehe ich an der Badezimmertür und bin stolz auf meine wundervollen vier Kinder.
Anschließend versammelt Filius seine Geschwister um sich, wickelt alle drei in Wolldecken, drückt jedem sein Lieblingskuscheltier in die Arme und liest mit Hingabe Märchen vor. Und noch eines - und noch eines - und noch eines...

 


 

 

 

 


 

 

Kapitel 17

 

 

 

Am nächsten Tag habe ich den ersehnten Termin bei Werner. Statt einer Begrüßung studiert er ausgiebig mein Aussehen und macht mich damit nervös. Ich kann es nicht leiden, angestarrt zu werden.
"Wie viel hast du abgenommen?"
“Ich wünsche dir einen guten Tag, Werner!"
Werner nickt ein bisschen gedankenverloren in meine Richtung.
“Wie viel hast denn nun abgenommen?“
"Also ich weiß nicht, ich stelle mich doch nie auf eine Waage."
"Gut, dann zieh dich aus. Wir werden dich wiegen!“
Das ist nun eigentlich nichts Besonderes; das macht Werner bei jedem meiner Besuche, wahrscheinlich sogar bei jedem Patienten. Es ist eher die Art, wie er es sagt, die mich verunsichert. Aber ich tue brav, wie geheißen.
Werner starrt die Waage an, als sei sie ein Schreckgespenst.
"Was ist?", frage ich vorsichtig an, während Werner abwechselnd in meine Karteikarte und auf die Waage starrt.

"Weißt du eigentlich, wie viel du abgenommen hast?"
"Nö, wie viel denn?"
"Sechzehn Kilo, wohlgemerkt Kilo!"
"Ist ja irre! Das hätte ich jetzt aber wirklich nicht gedacht. Das ist ja geradezu super!"
"Super?! Ich höre wohl nicht recht? Du hast in vier Wochen, ich wiederhole: In vier Wochen! sechzehn Kilo abgenommen. Bist du wahnsinnig geworden?"
"Wieso maulst du mich deswegen an?"
"Weil das unvernünftig ist! Das muss ich dir doch wohl nicht auch noch erklären!"
“Ich kann doch überhaupt nichts dafür! Meinst du vielleicht, ich mache freiwillig eine Nulldiät oder was?"

"Wie meinst du das?"
"Ich kann nichts mehr essen, schon seit Wochen. Ich muss mich nach jedem Essen postwendend übergeben. Was meinst du wohl, warum ich hier bin? Das Vierteljahr ist noch nicht um!”
"Oh Gott, was denn noch alles?" Werner sieht mich verzweifelt an.
"Behältst du die Medikamente drin?" Ich schüttele den Kopf: "Birgit hat mir Medikamente verordnet, die spucke ich aber auch wieder aus."
"Von was lebst du denn?"
"Von Tee."
"Ach du meine Güte! Was hat Birgit denn gesagt?“
"Die weiß auch nicht, was sie machen soll."
"Also, ich an ihrer Stelle hätte dich ins Krankenhaus geschickt. Bist du nüchtern?"
Statt einer Antwort verdrehe ich die Augen.
"Ja, entschuldige. Das war eine völlig bescheuerte Frage. Leg dich hin, ich mache eine Gastro."
"Die ist doch erst wieder in zwei Monaten dran!”
“Die ist dran, wenn ich das entscheide, ist das klar?" Ich nicke.
Irgendwie schaffe ich es nie, gegen Werner anzukommen. Er ist mit Abstand nicht nur der einzige Mensch, sondern auch der einzige Arzt, der meine Widerreden schlicht und ergreifend ignoriert.

Diesmal habe ich wenigstens kein Problem mit der Konstellation Tramal - Dormicum. Da ich ja meine Medikamente nicht mehr drin behalte, kann auch nichts die Dormicum Injektion beeinflussen. Für einen Moment bin ich weg und als ich wieder zu mir komme, ist alles gelaufen. Das Schöne ist, dass ich sofort wieder fit bin, ganz im Gegensatz zum letzten Mal.
Werner scheint allerdings nicht begeistert zu sein.

"Also?"”, frage ich, während ich mich wieder anziehe.

"Tina, das geht so nicht mehr weiter, hörst du? Dein Magen sieht verheerend aus. Du kannst froh sein, dass sich der Magen auf diese Weise zur Wehr setzt. Aber die ewige Spuckerei wird ihm auf Dauer genauso schaden, wie die Medikamente. Vor allen Dingen deine Speiseröhre, da muss was passieren."
"Aha, und was?"
"Weiß ich nicht!"
Na wunderbar, das bringt mich ja jetzt enorm weiter!
"Die Medikamente kannst du jedenfalls nicht mehr nehmen. Versuch es mal ohne die Medikamente und mit Kost Aufbau. Du weißt schon: Zwieback, Haferschleim, Brühe! Wenn das klappt, kannst du weiter aufbauen. Aber es klappt nur ohne die Medikamente."
"Was glaubst du eigentlich, was ich die ganze Zeit versuche? Es klappt eben nicht!"
“Dann gehst du ins Krankenhaus! Du darfst auf keinen Fall weiter so rapide abnehmen. Wenn das also nicht klappt, sorgen wir dafür, dass du parenteral ernährt wirst. Was du an Nährstoffen brauchst, geht nur über einen ZVK, ergo nur im Krankenhaus. Völlig klar, oder?"
Ich starre Werner wie ein Häufchen Unglück an und so fühle ich mich auch. Was soll ich bloß machen?
"Kannst du mir vielleicht mal verraten, was mit mir los ist, Werner?”
Werner setzt sich neben mich und zieht mich in seinen Arm. "Ich wünschte, ich könnte es, Tina. Ich werde mal darüber nachdenken, vielleicht kommt mir ja doch eine Idee, Aber im Augenblick bin ich überfragt. Was macht denn eigentlich dein Rücken?"
"Immer noch dasselbe. Irgendwie geht es keinen Schritt vorwärts, das macht mich wütend und frustriert. Ich mag nicht mehr. Wieso kann man diese ständigen Schmerzen nicht einfach irgendwie abstellen?" Mir kommen die Tränen.
"Ach Tina, was sollen wir denn bloß mit dir anstellen? Na komm, jetzt versuchst du noch ein paar Tage ohne Schmerzmittel auszukommen und vielleicht kriegen wir dann wenigstens deinen Magen wieder in den Griff, hm?" Ich nicke, wenngleich ich auch keinesfalls überzeugt bin.
"Wieso passiert denn mit deinem Rücken nichts? Ich denke du warst wieder im Krankenhaus? Neurochirurgie oder so was und die können nichts tun?"
"Das weiß ich nicht.“
"Wieso weißt du das nicht?"
"Weil mir diese Koryphäe von einem Neurochirurgen gesagt hat, das ich nichts habe. Das heißt, ich habe doch etwas: Ein Eschede Trauma - du verstehst?"
"Hat er das gesagt?"
"Hat er!"
"Und wie siehst du das?"
"Warum fragt mich eigentlich jeder, wie ich das sehe? Verdammt noch mal, ich habe ständig Schmerzen; ich finde das also keineswegs komisch!"
"Erwartest du vielleicht ein bisschen viel?"
"Was?! Alles was ich will, ist meine Schmerzen loswerden! Ich möchte wieder spazieren gehen können, Radfahren, Reiten, mit den Kindern herumtoben, arbeiten und..."
„Und? "
"Ist nicht so wichtig."
"Mit deinem Mann schlafen, sag es doch ruhig! Bist du jetzt seit Oktober durchgehend krank geschrieben?"
"Nein, ich habe im Dezember gekündigt."
"Was hast du? Warum denn um alles in der Welt? Bist du verrückt geworden?"
"Wenn das mit meinem Rücken nicht mehr in Ordnung kommt, dann kann ich die Pflege und vor allen Dingen den Rettungsdienst komplett abhaken, und dann?“
"Meinst du wirklich? Na ja, vielleicht hast du recht, wenn sich das noch länger hinzieht. Aber du hast doch studiert. Du hast doch immerhin noch ein zweites Standbein. Da wird sich doch was machen lassen."

"Das will ich aber nicht. Mir macht mein Beruf Spaß, ich kann ohne Patienten gar nicht leben."
"Na weißt du, das artet ja schon in Sucht aus. Aber eigentlich sehe ich da keine Probleme. Du hast ein ungeheures Fachwissen; warum fängst du später nicht in einer Arztpraxis an. Du bist doch intelligent, Abrechnungswesen lernst du doch nebenbei. Jeder Arzt kann sich glücklich schätzen, wenn du in seiner Praxis anfängst. Ich könnte auch noch eine gute Fachkraft gebrauchen, zum Beispiel in der Endoskopie. Wie wäre das denn? Ich würde dich ohne Vorbehalte sofort einstellen. Na was sagst du?"
"Ach Werner, du bist wirklich ein Schatz, aber weißt du, das ist mir zu langweilig. Ich brauche einen gewissen Anspruch, ein gewisses Arbeitslevel und das kannst du mir in deiner kleinen internistischen Praxis einfach nicht bieten."
"Ich verstehe, du brauchst deinen regelmäßigen Adrenalinschub. Den habe ich hier wirklich höchstens alle zwei Jahre einmal. Schade!"
"Werner, ich bitte dich. Darauf kommt es doch nicht an, aber ich brauche einen Job, wo ich auch eigenverantwortlich arbeiten kann. Eine Arbeit, die Ansprüche an mich stellt. Zum Beispiel stetige Fortbildung, Strukturveränderungen, was weiß ich. Ich bin über den Status der Arzthelferin weit hinaus, selbst über den der Krankenschwester. Ich brauche ein gewisses Niveau, das kann mir kaum eine Arztpraxis bieten. Ich meine, das ist wirklich lieb gemeint von dir, aber..."
"Ja, ich verstehe dich. Vielleicht solltest du doch noch Medizin studieren, das wäre auf jeden Fall dein Niveau.”

"Mit fünfunddreißig, ich bitte dich, Werner."
"Was spricht denn dagegen?"
"Wenn ich fertig bin, bin ich Rentnerin."
"Aber als AiP'lerin würdest du ernster genommen als die jungen Kollegen. Du strahlst ja jetzt schon Fachautorität aus. Denk mal drüber nach."
Lächelnd schüttele ich den Kopf. Dennoch tut es mir gut, dass Werner mir so viel Können zutraut.

Am Abend erzähle ich Filius am Telefon von meinem Gespräch mit Werner. Filius ist begeistert bei der Vorstellung, ich könnte Medizin studieren und rechnet sich aus, wie praktisch es wäre, wenn ich mitsamt Kind und Kegel nach Göttingen ziehen würde.
Er würde natürlich sofort seine Studentenbude aufgeben, denn schließlich ist es im 'Hotel Mama' ja viel bequemer. Und er bietet mir tatsächlich Nachhilfe in Sachen Medizin an. Ganz schön unverfroren, der Knilch.
Außerdem hätte die Sache noch einen Vorteil für ihn: Momentan ist es so, dass er mir ständig meine medizinische Bibliothek leer räubert. Wenn ich nicht höllisch aufpasse, landen meine wertvollen Bücher alle in Göttingen. Würden wir also nach Göttingen ziehen, hätte er sie immer parat. Kein übler Gedanke - für Filius!
Leider muss ich meinen Sohn enttäuschen. Ich werde weder Medizin studieren, noch nach Göttingen ziehen. Filius gibt sich geschlagen, wenngleich auch höchst ungern.

 

 

Kapitel 18

 

 

 

Einige Tage später habe ich Geburtstag. Mir ist keineswegs nach Feierlichkeiten zumute und so hatten wir auch niemanden eingeladen.
Im Stillen hegte ich die Hoffnung, dass keiner aus unserem Freundes und Bekanntenkreis an meinen Geburtstag denken würde, aber wie üblich hatte ich mich getäuscht. Wahre Freunde vergessen so einen Tag nicht. Zu allem Überfluss ist auch noch Sonntag und so tauchen schon am Vormittag nach und nach Freunde, Familienangehörige und Kollegen auf.
Echte Freunde nehmen aber auch Rücksicht. Offenbar merken sie mir an, dass es mir gesundheitlich immer noch nicht besonders gut geht und so verabschieden sich auch alle bald wieder. Ich atme erleichtert auf, als gegen Mittag der Besuch wieder fort ist und ich endlich mal wieder Luft holen kann.
Offenbar habe ich mich zu früh gefreut. Es ist noch keine halb drei, als es wieder klingelt.
"Hoffentlich will nicht wieder jemand zu mir," seufze ich ein bisschen genervt, während Filius bereits Bernd ins Wohnzimmer schiebt.
"Soll ich wieder gehen?", fragt Bernd mit einem kleinen Lächeln.
"Nur, wenn du nicht alleine bist.”
"Na, dann kann ich ja bleiben. Ich bin ja auch eigentlich nur gekommen, um Dich abzuholen."
"Mich abholen? Wohin denn?"
"Das ist eine Überraschung! Nur so viel, wir haben eine ganz besondere Einladung und deshalb habe ich Michael gebeten, dafür zu sorgen, dass deine Geburtstagsgäste am Vormittag erscheinen und beizeiten wieder gehen. Ich meine, dass hätte doch wohl ein bisschen blöd ausgesehen, wenn du nicht zu Hause gewesen wärst und alle möglichen Leute dir gratulieren wollen."
"Moment mal, ihr beiden steckt schon wieder unter einer Decke? Das kann doch wohl nicht wahr sein!"
"Also komm, mach kein Drama draus, geh dich umziehen und dann fahren wir."
"Und wenn es mir aber nicht gut genug geht, um mit dir irgendwohin zu fahren?"
"Das hatte ich auch mit Michael besprochen. Er hatte mir zugesagt, mich anzurufen, wenn du dich für eine Autotour zu schlecht fühlen würdest - hat er aber nicht! Also, komm bitte in die Strümpfe!"
Also das ist doch wieder mal typisch für die beiden Männer. Ständig werde ich vor vollendete Tatsachen gestellt. Ich frage mich ernsthaft, was das nun wieder soll?!


Wir fahren eine für mich sehr bekannte und vertraute Strecke, ich bin nun doch gespannt, wo es hingeht.
Nach fast einer Stunde halten wir vor einem mir bekannt erscheinenden Grundstück. Irgendwoher kenne ich dieses kleine Einfamilienhäuschen, aber woher?
Mein Erinnerungsvermögen lässt mich im Stich.
Erst als ich aussteige und links die Doppelgarage entdecke, die heute geschlossen ist, fällt es mir wieder ein. Hier hatten Bernd und ich im Oktober schon einmal gestanden. In diesem Haus leben Christians Eltern.
Die Eltern des jungen Mannes, der im Oktober durch ein riskantes Überholmanöver sein Leben verloren hatte. Wir hatten Christians Vater nach Hause gefahren und uns, so weit es in unseren Kräften stand, ein bisschen um das Ehepaar gekümmert.
Wie im Oktober wird uns die Tür von der dunkelhaarigen Frau geöffnet, die uns heute allerdings lächelnd begrüßt. Dennoch habe ich das Gefühl, ein Dejavu - Erlebnis zu haben, so vertraut ist mir alles.
Das Ehepaar begrüßt uns so überschwänglich, wie man wohl liebe Freunde begrüßen würde, die man lange Zeit nicht mehr gesehen hat. Sie bitten uns, sie doch mit ihren Vornamen anzusprechen, Greta und Hans-Joachim.
Die Einladung, die sie uns hatten zukommen lassen, gehört sozusagen in den Rahmen der Trauerarbeit, wie uns Greta mit einem schüchternen Lächeln erklärt. Seit Oktober versuchen die beiden, mit ihrer Situation klarzukommen und langsam würde es auch gelingen.
“Christian fehlt uns natürlich an allen Ecken und Enden," seufzt Hans-Joachim. "Aber wir müssen einfach damit leben, dass er nicht wieder zurückkommt, auch wenn es schwer fällt und weh tut.
Es klingt vielleicht ein bisschen verrückt, aber die ersten Wochen habe ich immerzu aus dem Fenster gesehen und darauf gewartet, dass er fröhlich pfeifend um die Ecke kommt.“

„Immer wenn es geklingelt hat, dachte ich, dass ist jetzt Christian, der wieder einmal seinen Schlüssel vergessen hat, aber er war es nie," sagt Greta mit einem traurigen Lächeln, das mir zu einer Gänsehaut verhilft.
Hans-Joachim betrachtet uns nachdenklich.
"„Für Sie ist das ja sicherlich Alltag. Sie sehen das doch bestimmt jeden Tag, oder? Denkt man überhaupt über die Hintergründe nach, oder ist das vielmehr schon Routine?" während Bernd die Frage mit 'Nein' beantwortet, sage ich gleichzeitig 'Ja’.
Wir können nicht anders, nun müssen wir beide lachen, auch Greta und Hans-Joachim stimmen in unser Gelächter mit ein.
"Ja, es ist Routine oder nein, es ist keine?". Hans-Joachim sieht fragend von mir zu Bernd.
"Also, ich finde es ist keine Routine," meint Bernd.

"Das sehe ich anders!" Nachdenklich betrachte ich Bernd. Bernd sieht mich fragend an, dann nickt er plötzlich und lächelt:
"Sie hat irgendwie recht. Wissen Sie, als wir von hier zu unserem Standort gefahren sind, an dem Abend im Oktober, da hat sie...
Ich weiß nicht so recht, ob ich das überhaupt erzählen darf, es ist doch sehr persönlich."
Ich sehe Bernd ein wenig nachdenklich an und nicke schließlich.
So erzählt Bernd von meinem kleinen Zusammenbruch, von den Tränen, die geflossenen waren und von meiner Bestürzung darüber, wie wenig wir uns eigentlich mit unseren Patienten und ihren Angehörigen auseinandersetzen und oft auch gar nicht bereit dazu sind. Schließlich belastet diese Auseinandersetzung ja auch.
Während ich ein bisschen Gedankenverloren in meinem Tee herumrühre, breitet sich nachdenkliche Stille aus. Das Schweigen wird schließlich von Greta durchbrochen, die leise murmelt: "Aber sie haben sich doch mit uns auseinander gesetzt. Ich meine, sie haben meinen Mann nach Hause gefahren, dass ist doch gar nicht Ihre Aufgabe gewesen, das hätten sie doch genauso gut der Polizei überlassen können. Darüber hinaus haben sie meinen Mann nicht nur einfach hier abgesetzt, was sie auch hätten tun können, sondern sie haben ihn hinein begleitet und dann haben sie auch noch mit mir zu tun gehabt. Was wir ihnen aber ganz hoch anrechnen, und deshalb sind sie auch so wichtig für uns, ist die Tatsache, dass sie meinen Mann mit seinem Kummer nicht alleine gelassen haben. Ich meine, ich hatte natürlich auch meinen Kummer, aber nachdem sie mich so abgeschossen hatten... Na ja, sie wissen schon.“
"Nun, das verdanken sie jetzt aber wirklich ganz alleine meiner Kollegin, die hat das nämlich instinktiv gespürt, dass ihr Mann nicht alleine sein konnte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ohne Tina wirklich wieder umgekehrt wäre. Ich möchte beinahe sagen, eher wohl nicht."
"Dann haben sie aber eine ganze Menge Einfühlungsvermögen," sagt Greta an mich gerichtet. "Schön das es so etwas heutzutage noch gibt. So viel Einfühlungsvermögen hatten nicht einmal unsre engsten Freunde."
Langsam wird es mir peinlich. Ich war doch immer nur davon ausgegangenen, dass wir lediglich unsere Pflicht getan haben, aber vermutlich hat Greta Recht, es ging wohl doch weit über unsere Pflicht hinaus. Auf jeden Fall war es damals und ist es auch heute noch, ein befriedigendes Gefühl, dennoch sehe ich mich gezwungen, die Sache mal wieder in richtige Bahnen zu lenken: "Wissen sie, wir waren damals gar nicht mehr einsatzfähig. Wir hatten reichlich Material verbraucht, das wir erst wieder auffüllen mussten, sonst hätten wir hier nicht so die Ruhe weg gehabt."
"Glauben sie ihr kein Wort," wendet Bernd ein und betrachtet mich mit einem spöttischen Grinsen.
"Sie müssen nämlich wissen, dass sich Tina über alle Regeln hinwegsetzt, wenn sie zu der Ansicht kommt, dass es angebracht ist. Unsere Koffer hätten ruhig gut bestückt sein können, sie wäre genauso und mit der gleichen Ruhe hier geblieben, wie sie es mit den leeren Koffern getan hat. Das ist eben Tina. Nur der Mensch, mit dem sie im Augenblick zu tun hat, ist wichtig und sonst niemand. Manchmal ist das auch Nervtötend, aber man muss sie nun mal nehmen, wie sie ist. Gelegentlich muss man sie auch auf den Boden der Tatsachen zurückholen, weil sie manchmal auch ein bisschen
übertreibt, aber eigentlich mögen wir sie, wie sie ist. Sie hat nur das Problem, dass sie immer Chefs braucht, die ähnlich denken, wie sie selbst und Verständnis aufbringen, für ihre Eskapaden und da fängt es dann an haarig zu werden."
"Und, haben sie jetzt so einen Chef?"
"Mein Chef ist immer der gerade diensthabende Rettungsmediziner und manchmal wird es schon schwierig. Aber die meisten biege ich mir zurecht, das funktioniert schon."
"Ihr Chef ist der diensthabende Rettungsmediziner?! Da kann ich ja nur lachen! Wenn hier überhaupt einer der Chef ist, dann ist es Tina. Sie müssen dazu natürlich die Hierarchie im Rettungsdienst kennen. Es ist keineswegs so, dass der Doktor der Chef ist, Chef ist immer der versierte Rettungsassistent; mit anderen Worten, der Fahrer des NEFs. Glauben sie es mir, Tina kennt die Hierarchie und legt viel Wert darauf, dass sie eingehalten wird!"
Na, da hat er es mir ja mal wieder gegeben, aber komm du mir erst mal nach Hause!

Meinen Geburtstag haben wir später bei uns zu Hause dann noch sehr gemütlich ausklingen lassen. Bernd hat sich allerdings noch ein bisschen was zum Thema "Hierarchie im Rettungsdienst' anhören müssen. Allerdings muss ich bei meinen Erklärungen ein bisschen was falsch gemacht haben, er hat sich nämlich in seiner bisherigen Meinung nur bestätigt gefühlt, was er mir dann auch als geplante und vorsätzliche Absicht ausgelegt hat.
Wieso muss dieser Mensch eigentlich immer das letzte Wort haben?
Außerdem habe ich mir dann auch noch, natürlich unter Zustimmung meines geliebten Ehemannes und dieses frechen Knilches, der behauptet mein Sohn zu sein, anhören müssen, ich sei ein provokantes Biest. Frechheit!!!
Übrigens – Rheuma Unterwäsche habe ich keine zum Geburtstag bekommen, dafür aber von Filius ein Buch mit dem sinnigen Titel 'Schmerz'. Das kommt der Rheuma Unterwäsche schon ziemlich nahe!

Am nächsten Tag vertiefe ich mich in das Buch von Rene, vielleicht kann ich ja noch etwas für meine Bildung tun, wer weiß? Gute zwei Stunden lese ich in dem Buch und am Ende der Lektüre habe ich tatsächlich dazu gelernt: Patienten mit ständigen Rückenschmerzen sind Simulanten, arbeitsscheu und kommen auch sonst mit ihrer kleinen Welt nicht zurecht. Dieses Meisterwerk ist wirklich die Krönung der Ignoranz.
Filius will natürlich wissen, wie mir das Buch gefallen hat und reagiert mit Unglauben, als ich ihm erkläre, dass mich derart die Wut gepackt hat, dass ich das Buch seinem wirklichen Bestimmungsort zugeführt habe: dem Mülleimer!
"Du hast es weggeworfen?!"
"Du hast absolut richtig gehört."
"Wieso denn?!"
"Diesem Buch zufolge habe ich Schwierigkeiten in meinem sozialen, familiären und beruflichen Dasein. Weißt du auch, voran das liegt? Ich bin in meiner Kindheit nicht nur zu kurz gekommen, oh nein! Durch meine zerrüttete Kindheit haben sich Aggressionen aufgestaut, denen ich nun Luft machen muss. Da ich aber die direkte Konfrontation scheue, bekomme ich Schmerzen. Außerdem setze ich Schmerz mit Bestrafung gleich, was wiederum dafür spricht, dass ich Schuldgefühle hege. Und an diesen Schuldgefühlen wiederum bin ich selbst schuld, weil ich ein so unzulänglicher Mensch bin." |
"Sag mal, was redest du eigentlich für einen Stuss zusammen? Hast du was getrunken?"
"Ja, einen Tee!"
"Willst du mir etwa erzählen, dieser ganze Quatsch, den du da zum Besten gibst, steht in diesem Buch drin?"
"Warte mal ab, es kommt noch viel besser. Weil diese Schmerzen nicht in den Griff zu bekommen sind, habe ich Schuldgefühle meinem Arzt gegenüber. Bei chronischen Schmerzen versagt nämlich der Patient. Der arme Doktor ist dann der Leidtragende und das verursacht besagte Schuldgefühle beim Patienten. Diese wiederum führen dazu, dass der Patient sich nicht an den Einnahmeplan seiner Medikamente hält, weil er dem Arzt ja schließlich eine Erfolgsmeldung überbringen muss, nicht das der Doktor plötzlich an Minderwertigkeitskomplexen leidet! Also schluckt der Patient mehr Tabletten als gut für ihn ist und das führt zwangsläufig zum Medikamenten abusus. Dieser Medikamenten abusus führt ohne Frage und völlig logisch zu einer Verstärkung der Schuldgefühle. Dieser Circulus vitiosus endet für den Patienten zwangsläufig in der Klapsmühle.”
"Okay, wenn das so ist: Ich werde dich da besuchen kommen! Aber jetzt mal im Ernst Mum, das steht doch nicht wirklich so in diesem Buch?“
“Doch, allerdings von mir straff zusammengefasst. Es ist natürlich weitschweifiger geschrieben, aber am Ende kommt man mit ein bisschen Intelligenz auf genau diese Konsequenz."
"Was ist denn der Autor von Beruf?“
"Dreimal darfst du raten!"

“ - - - „
"Psychiater, was sonst?“
"Hält er jede Form von Schmerz für Einbildung?"
"Nein, der echte und nicht eingebildete Schmerz ist zum einen der Schmerz, der durch Verletzungen verursacht wird, zum Beispiel wenn ich es beim Kartoffelschälen zum tausendsten Mal schaffe, mir den halben Finger weg zu säbeln. Und jetzt pass gut auf mein Sohn, Kopfschmerzen!”

"Langsam, Kopfschmerzen sind echt und Rückenschmerzen sind irreal? Habe ich das richtig verstanden?“
"Genauso! Außer natürlich du triffst beim Kartoffelschälen nicht den Zeigefinger, sondern die Wirbelsäule, aber das soll relativ selten vorkommen."

"Aber gerade Kopfschmerzen haben doch häufig eine psychische Ursache, oder liege ich da jetzt falsch?"
"Du liegst absolut richtig. Aber du musst bedenken, dieser Mann ist Psychiater. Denken kann Kopfschmerzen verursachen. Wenn man jetzt davon ausgeht, das der Denkprozess Kopfschmerzen bereitet, muss man dann nicht parallel zu dem Schluss kommen, das Denken ein invasiver Prozess für das Gehirn bedeutet? Dann sind wir wieder bei der Verletzung, die realen Schmerz erzeugt. Und mit der Wirbelsäule kann man nun mal nicht denken, also?“
“Ich an deiner Stelle würde generell nur noch behaupten, Kopfschmerzen zu haben und ich sollte wohl besser das Denken einstellen, ehe ich größeren Schaden nehme."

Ein weiteres Buch, das mich in diesen Tagen beschäftigt, ist das Werk eines Dr. Med., der lieber nicht namentlich genannt werden möchte.
Das ist auch kein Wunder, denn der Herr zieht systematisch über seine Kollegen her, die alle unfähig und inkompetent sind. Er alleine ist offensichtlich der einzige Arzt, der weiß, wie man mit Patienten sinnvoll umgeht, wobei sinnvoll nicht gleichbedeutend ist mit verständnisvoll und korrekt.
Ich kann nur den Kopf schütteln, wenn er mehrfach betont, das dem Patienten am meisten geholfen ist, wenn man ihn mit Placebos vollstopft. Wer will schließlich hören, dass er ein Hypochonder ist und das sind, nach Ansicht dieses Möchtegern Doktors so ziemlich alle Patienten; grob zusammengefasst so ungefähr 98% aller Fälle. Natürlich lässt er sich auch über die Gesundheitsreform aus und beschreibt, wie er dagegen angeht. Kein Patient wird ohne Chipkarte behandelt, hat er sie vergessen, muss er nach Hause gehen und sie holen. Die Sprechstundenhilfen werden prozentual am Gewinn beteiligt, so dass wirklich kein Patient versehentlich so durchrutscht. Patienten werden angerufen, um sie an Nachsorge Termine zu erinnern und der schlampige Patient, der gar den Termin verschwitzt, ohne sich korrekt abzumelden, wird telefonisch getadelt wie ein unmündiges Kind und
selbstverständlich zur Kasse gebeten.
So ist das Wartezimmer immer gut gefüllt und die Wartezeiten für die Patienten werden unzumutbar. Aber Wartezeiten muss man als Patient schließlich in Kauf nehmen, dafür ist man Patient. Und glauben Sie jetzt bitte nicht, dass dieser Doktor, der auf der einen Seite seine Patienten zur Kasse bittet, wenn sie den Termin nicht einhalten, auf der anderen Seite Geld an seine Patienten zahlt, wenn die Wartezeit über Gebühr lang ist.
Im Übrigen lässt er kein gutes Haar an den Kollegen, die eine Gemeinschaftspraxis führen. Hier wird wissentlich und fahrlässig doppelt und dreifach abgerechnet, der Patient wird mit Gewalt in der Praxis festgehalten und das Resultat der Überlegungen zum Thema Gemeinschaftspraxis geht dahin, dass Gemeinschaftspraxen ausschließlich vom Betrug leben. Dabei handelt es sich um Betrug gegenüber den Patienten, den Steuerzahlern, den Krankenkassen und den rechtschaffenen Kollegen, die sich mit einer Einzelpraxis zufrieden geben. Mit anderen Worten: Ärzte, die in Gemeinschaftspraxen tätig sind, sind durch die Bank weg kriminell und gehören nach Erachten dieses Mediziners hinter Schloss und Riegel.
Ein weiterer Dorn im Auge dieses literarischen Talentes sind die Ärzte, die sich der Ganzheitsmedizin und hier gar den chinesischen Heilkünsten, beispielsweise der Akupunktur widmen. Alles Scharlatane, auf die der arme, gebeutelte Patient hereinfällt und für diesen Betrug zahlt er auch noch ein Heidengeld. Schließlich kann niemand nachweisen, dass Akupunktur effektiv ist, denn hier ist ja kein Blindtest, wie bei Medikamenten Beispielsweise, möglich.
Schade, dass dieser Herr nicht den Mut hat, seinen Namen anzugeben, obgleich einen das bei dem, was er so zusammenschreibt, nicht wundert. Schließlich könnte er sich ja nirgendwo mehr sehen lassen. Ich jedenfalls würde ihm gerne schreiben und ihm nahelegen, sich doch einmal mit einschlägiger Fachliteratur zu beschäftigen. Würde er das tun, wüsste er zum Beispiel, dass es in Heidelberg inzwischen einen erfolgreichen Akupunktur-Blindtest gegeben hat, der eindeutig die Wirkung der Akupunktur, gerade im Gebiet der Analgesie, nachgewiesen hat. Allerdings vermute ich, dass dieser Herr vor Neid auf seine erfolgreichen Kollegen schon ganz gelb angelaufen ist, denn mehrfach betont er, wie schlecht das Geschäft doch geht. Ein großer Patientenfreund ist er jedenfalls nicht und auch die eigenen Kollegen sind ihm ein Dornbusch im Auge. Zu dieser Erkenntnis kommt man ohne Probleme, wenn man zwischen den Zeilen liest. Das Buch ist jedenfalls das Verlogenste, was ich seit langer Zeit lese. Man kann für den Herrn nur hoffen, dass er sich mit Hilfe seines Werkes gesund stoßen konnte, ansonsten wird er wohl bald am Hungertuch nagen oder noch etwas Schlimmeres.

 

 

 

 


 

 

Kapitel 19

 

 

 

Wieder ist ein Besuch bei Dr. L. fällig. Standardmäßig tauschen wir Frage und Antwort aus:
"Wie geht es Ihnen?"
"Wie immer!"
Ein inzwischen eingespieltes Ritual.
Diesmal muss ich Dr. L. allerdings mitteilen, dass ich meine Schmerzmittel abgesetzt habe. Mit erstauntem und etwas kritischem Blick mustert Dr. L. mich:
"Wollten sie etwa ausprobieren, wie weit sie ohne Schmerzmittel kommen? Funktioniert das denn?"
"Natürlich funktioniert es nicht und selbstverständlich wollte ich keineswegs ausprobieren, ob ich ohne Schmerzmittel auskomme. Vielmehr musste ich gezwungener Maßen darauf verzichten."
"Was ist denn passiert?"
"Nichts weiter, außer dass mein Magen völlig verrückt spielt. Ich behalte weder die Schmerzmittel noch sonst irgend etwas drin. Mein Internist hat mir beinahe den Kopf abgerissen, weil ich tatsächlich innerhalb der letzten vier Wochen sechzehn Kilo abgenommen habe.”
"Na ja, ging ja ziemlich lange gut mit dem Magen. Irgendwie musste das ja kommen." Dr. L. betrachtet mich ein wenig nachdenklich und ungläubig. Vermutlich überlegt er, wo die sechzehn Kilo abgeblieben sind. |
"Was kann ich denn jetzt für sie tun?", fragt er schließlich ein bisschen ratlos.
"Ich fürchte, momentan nichts. Ich muss irgendwie diese blöde Magengeschichte in den Griff bekommen und dann können wir weitersehen."
"Kommen Sie auf jeden Fall wieder, wenn ich irgendetwas tun kann!", bekomme ich mit auf den Weg, als ich mich verabschiede.


Dr. L. braucht nicht lange auf meinen Hilferuf zu warten. Nur zwei Tage später bin ich wieder in der Praxis vorstellig. Bedingt durch die Tatsache, keine Schmerzmittel einnehmen zu können, werden die Schmerzen nahezu unerträglich.
"Was sollen wir denn jetzt bloß tun?" Hilflos betrachtet er mich.
Warum fragt er mich das? Ich bin doch nicht der Arzt! Aber jetzt werde ich in Gedanken wieder unfair. Schließlich steht er dieser Situation genauso hilflos gegenüber wie mein Internist oder Birgit. Die beiden wissen ja auch nicht, wie sie mir helfen sollen.
Dr. L. überlegt einen Moment, wie er jetzt vorgehen soll‚ und greift schließlich zu einer drastischen Maßnahme.
Über die BfA war ich ja in einem Krankenhaus angemeldet. Für Ende Februar war mir ein Termin genannt worden, das sind noch fast vier Wochen Wartezeit.
Dr. L. aber stellt kurzerhand eine Notfalleinweisung und einen Transportschein für einen Liegendtransport aus. Dadurch ist zumindest die Klinik in Zugzwang. Vielleicht ist die Idee ja gar nicht so dumm. Ich bin jedenfalls gespannt, was passieren wird. Selbstredend baue ich natürlich auch auf fachliche und qualitative Hilfe.
Da ich immer noch sauer auf die JUH bin, rufe ich bei den Maltesern an und lasse mich von der netten KTW- Mannschaft ins Krankenhaus fahren. Da ich mit den 'Mallis' auch zur Gymnastik und Massage fahre, sind die Jungs schon fast so auf dem Laufenden über den Verlauf meiner leidigen Bandscheibengeschichte, wie mein Orthopäde. Sie sind kurz davor, Wetten darüber abzuschließen, wie dieser Krankenhausbesuch nun wieder ausgehen wird. Auf jeden Fall aber schaffen sie es, mich seelisch ein bisschen aufzurichten und das ist auch schon viel wert.

Am Spätnachmittag treffen wir in der Notaufnahme des Krankenhauses ein. Ich werde von einem sehr netten jungen AiPp'ler in Empfang genommen. Interessiert studiert er die Einweisung meines Orthopäden und fragt schließlich höflich an, wie lange ich die Probleme mit der Bandscheibe denn schon habe. Er wechselt ein bisschen die Farbe, als ich ihm meine Anamnese herunter bete, und entscheidet dann sofort, dass er wohl nicht die richtige Fachkraft für mein Problem ist. Allerdings

dauert es nur einen kleinen Augenblick, bis er mit einem anderen jungen Mann im Schlepptau wieder erscheint. Er stellt mir Dr. W. vor und versichert mir, Dr. W. würde wohl wissen, was zu tun sei. Dr. W. scheint, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, nicht so ganz davon überzeugt zu sein.
Zum zweiten Mal erzähle ich meine Anamnese. Dr. W. hört sehr aufmerksam zu, unterbricht mich hin und wieder, um Fragen zu stellen und lächelt mich zwischendurch aufmunternd und freundlich an. Als ich meinen Vortrag beendet habe, nickt Dr. W. noch einmal nachdenklich, um mir dann zu erklären, es sei wohl doch besser, wenn er einen Neurologen zu Rate zöge. Vielleicht könne er ja auch einen Neurochirurgen auftreiben.
"Glauben sie ja nicht, dass ich meine Krankengeschichte noch mal erzähle. Ich hoffe sehr für sie, dass sie gut zugehört haben, damit sie Ihrem Kollegen auch Bericht erstatten können."
Dr. W. lacht leise auf und beruhigt mich: Er würde keinesfalls erwarten, dass ich noch einmal alles erzähle.
Nach einer Viertelstunde ist Dr. W. wieder da und versichert mir, er habe einen erfahrenen Kollegen ausfindig gemacht, der sich gleich um mich kümmern wird. Wenn ich jetzt erwartet habe, dass Dr. W. wieder verschwindet, habe ich mich getäuscht. Um die Wartezeit zu überbrücken, organisiert er sich erst einmal einen Stuhl und setzt sich dann zu mir. Es interessiert ihn brennend, wieso ich die medizinischen Fachausdrücke beherrsche und staunt, als ich ihm erzähle, was ich beruflich mache. Es dauert nicht lange und wir beiden fachsimpeln ausgiebig, denn Dr. W. ist in der Ausbildung zum Rettungsmediziner. Dafür dauert es aber, bis der Kollege von Dr. W. auftaucht. Wie Dr. W. versprochen hat, muss ich meine Anamnese nicht noch einmal erzählen. Dr. W. gibt das, was ich ihm erzählt habe, nahezu lückenlos wieder und das, ohne seinen schlauen Zettel zu Rate zu ziehen. Ich bin beeindruckt. Es gibt tatsächlich noch Krankenhausärzte, die sich die Mühe machen, einem zuzuhören.
Dr. S. hatte sich als Neurochirurg vorgestellt und betrachtet ein bisschen stirnrunzelnd meine Einweisung: “Also der Kollege muss doch wissen, dass das so nicht geht. Was denkt der sich denn dabei, sie einfach hierher zu schicken?“
Dr. W. betrachtet seinen Kollegen eine wenig nachdenklich und meint schließlich:
„Also, ich würde das die Verzweiflungstat eines frustrierten Orthopäden nennen.”
Nun muss auch Dr. S. lachen und meint schließlich, ein bisschen versöhnlich gestimmt:
"So wird es wohl sein. Das Problem ist nur, dass wir sie nicht stationär aufnehmen können. Wir sind ohnehin schon überbelegt. Normalerweise überweisen wir dann weiter, aber da sie in den beiden anderen Häusern schon gewesen sind, können wir das getrost vergessen. Fakt ist allerdings, dass man sie in dem Zustand, in dem sie sich momentan befinden, eigentlich nicht nach Hause schicken kann.
Ich gehe gerade mal telefonieren. Vielleicht hat die Orthopädie ja noch ein Bett frei und kann sie erst mal aufnehmen, bis wir Platz haben.“
"Und wenn nicht?“ Dr. W. schaut ein bisschen ungläubig. “Ich glaube nicht, dass die noch was frei haben. Bei dem Wetter, dass wir momentan haben, sind die doch überbelegt mit Oberschenkelhals und solchen Sachen. Was machen wir also, wenn die auch keinen Platz haben?"
"Dann sollen die mir auf jeden Fall einen Orthopäden rüber schicken und dann überlegen wir zusammen weiter. Es muss doch irgendwas machbar sein, so was gibt es doch gar nicht. Wo sind wir denn hier? Über zweitausend Betten und kein einziges frei? Das kann es einfach nicht geben.“
Dr. S. streichelt meine Schulter und verschwindet.
Dr. W. wirft mir einen mitleidigen Blick zu:
"Also, ich will sie ja nicht völlig frustrieren, aber ich fürchte, die Orthopädie hat auch kein Bett und mit der Bandscheibengeschichte nimmt die Gynäkologie sie nicht." Diese klare Aussage führt zumindest dazu, dass wir beide lachen müssen.
"Wenigstens ihr Humor ist noch nicht baden gegangen. Allerdings begreife ich nicht, wie sie das machen. Gab es die gute Laune mal irgendwo im Sonderangebot und sie haben sich einen Vorrat angelegt oder wie machen sie das?"
"Ich bin wohl von Natur aus ein gut gelaunter Mensch. Irgendwie habe ich das mit in die Wiege gelegt bekommen. Anders würde ich das alles wohl auch gar nicht ertragen."

"So viel Optimismus ist einfach Wahnsinn. Sagenhaft wie sie das machen!"
Kurze Zeit später ist auch Dr. S. wieder da. Leider bringt er keine Erfolgsmeldung. Wie Dr. W. schon vermutet hat, ist auch in der Orthopädie kein Bett mehr frei. Dafür taucht aber nur zwei Minuten später ein Orthopäde auf. Ein bisschen ungläubig hört er sich die Problematik meiner Aufnahme an und fragt schließlich an, warum ich denn nicht in der Neurologie aufgenommen werde, so verkehrt wäre das doch wohl auch nicht. Dr. S. winkt ab: "Die Neurologie ist voll!"
"Wieso das denn? Wo haben die denn die ganzen neurologischen Fälle her?" Dr. W. staunt nun aber doch. "Von uns! Wir haben unsere neurochirurgischen Patienten so weit wie möglich dort untergebracht und deshalb gibt es da jetzt auch keine Betten mehr." Dr. S. zuckt die Achseln.
"Also ihr seid das, die immer alles vollpacken! Könnt ihr nicht in eurer Abteilung bleiben?" Der Orthopäde raunzt Dr. S. an.
"Was sollen wir denn machen, wenn wir so viel zu tun haben?" Dr. S. wehrt sich.
Ehe die drei Kollegen sich noch länger darüber streiten, wer an was und wieso schuld ist, wird der Vorhang meiner Untersuchungskabine mit Schwung aufgerissen. Ein Herr in dezentem OP-grün, fragt an, ob die Kabine noch lange belegt ist.
"Ja, wieso?"
"Weil ihr die Kabine hier schon seit: ich weiß nicht wie lange - belegt haltet. Da kann man ja wohl mal anfragen?" Ehe der Herr in Grün wieder verschwinden kann, wird auch er um Rat gefragt. Er wirft mir ein paar ratlose Blicke zu und schüttelt den Kopf:
“Da weiß ich auch keinen Rat. Außer ihr verhelft ihr zu irgendeinem weiteren Leiden in einem Fachbereich, in dem es noch ausreichend freie Betten gibt. Wie wäre es mit einem Nieren oder Blasenleiden? Ich glaube in der Urologie haben die noch jede Menge Betten frei!”
"Ja, toller Vorschlag!"
Der Herr, der sich bei mir schließlich als Dr. P. vorstellt, lässt sich kurz erklären, warum ich denn nun überhaupt eingewiesen wurde, und schlägt vor, einen Schmerztherapeuten zu Rate zu ziehen. Möglicherweise gibt es in der Schmerztherapie ja noch freie Betten.

"Das wäre seit hundert Jahren das erste Mal!“ Dennoch wird die Idee mit dem Schmerztherapeuten aufgegriffen und wieder verschwindet einer, um zu telefonieren. Wenn das so weiter geht, lerne ich noch den gesamten diensthabenden Ärztestab kennen. Allerdings hege ich langsam den Wunsch, zu Hause geblieben zu sein. Der Schmerztherapeut ist überraschend schnell zur Stelle. Er stellt sich als Dr. T. vor und versichert als erstes, auch in seiner Abteilung seien, so leid es ihm tue, keine Betten frei. Das läge natürlich vorrangig daran, dass in der Schmerztherapie in der Regel Bestellpatienten aufgenommen werden. Dennoch gibt er sich immerhin die Mühe, darüber nachzudenken, unter welcher Voraussetzung man mich wieder nach Hause schicken könnte.

Er schlägt schließlich eine Infusionstherapie und die Injektion eines Depotanalgetikums vor, ein Vorschlag, der sofort aufgegriffen. wird. Nach einem ausführlichem Blick auf meine Anamnese wirft er mir entsetzte Blicke zu. Er will wissen, ob ich tatsächlich alle diese schweren Erkrankungen schon gehabt habe, wie die bakterielle Meningitis, die Allgemeinsepsis, die Peritonitis und was sich sonst so alles in den Jahren angesammelt hat. Ich nicke nur. “Sie wissen jawohl, dass sie rein statistisch gesehen längst tot sind?“ Er grinst mich frech an und ich grinse zurück und nicke, versichere ihm aber, dass ich noch lange nicht vorhätte, abzudanken. Er fragt nach, wo ich geboren wurde, wo meine Eltern und Großeltern geboren wurden und stellt fest, dass er eine waschechte Heidjerin vor sich hat. “Daher also, echtes Heidekraut! Das kann man nur kurz fressen, ausrotten kann man das nicht!“ Verständnislose Blicke treffen uns. Wir geben keine Erklärung ab, tauschen nur verschwörerische Blicke. Dr. T. erteilt präzise Angaben, was in die Infusion soll und welches Medikament ich zusätzlich als Depot injiziert bekommen soll. Während er mir die Braunüle legt, gibt er mir den Rat, das Tramal doch zu injizieren, wenn eine Einnahme enteral nicht möglich ist. Außerdem rät er mir zur Akupunktur. Als ich ihm sage, dass mein Orthopäde die Akupunktur sicher gerne durchführt, nickt er zustimmend und zufrieden. Schließlich fragt er noch an, wie es mit Entspannungsübungen ist und ist mehr als zufrieden, als ich ihm versichere, sowohl Autogenes Training, wie auch verschiedene Formen der chinesischen Entspannungsmethoden zu beherrschen und diese seit Monaten auch relativ erfolgreich zu Hause durchzuführen. Während die Infusion im Zeitlupentempo durchläuft, statten mir die Herren Mediziner immer wieder zwischendurch kleine Besuche ab und versuchen mich aufzumuntern. Auch die diensthabenden Schwestern schauen immer wieder nach mir und servieren mir zwischendurch Tee. Nach gut sechs Stunden, in denen ich sehr nett und fürsorglich betreut wurde, werde ich mitten in der Nacht wieder in einen KTW verfrachtet und kehre müde, aber doch einigermaßen schmerzfrei nach Hause zurück. Dr. T. hatte mich vorsorglich noch mit Tramal Fertigspritzen ausgerüstet und es mir damit ermöglicht, zumindest das Wochenende zu überbrücken. Allerdings spätestens Dienstag muss ich wieder zu Dr. L., aber ich gehe mal davon aus, dass der nicht wirklich geglaubt hat, dass in der Klinik ein Bett für mich frei ist - jedenfalls nicht an einem Freitag und nicht ohne Vorbestellung!

 

 

 



 


 

 

Kapitel 20

Dr. L. gibt keinen Kommentar ab, als ich am Dienstag wieder vor ihm sitze. Offenbar hat er es mittlerweile vorgezogen, sich nicht mehr zu wundern. Warum sollte er auch? Ich tue es ja auch nicht mehr!
Ausführlich erstatte ich Bericht. Auch wenn er sich ein bisschen ärgert, muss er über den 'frustrierten Orthopäden und seine Verzweiflungstat' schließlich doch schmunzeln, erklärt aber, dass das ja so verkehrt nicht gewesen sei.
Der Idee mit der Akupunktur stimmt er ohne Bedenken zu und versichert mir, sich schnellstens um eine Bescheinigung für die Krankenkasse zu kümmern, damit wir möglichst bald mit der Behandlung anfangen können. Auch gegenüber den Tramal Injektionen hat er, in Anbetracht der Tatsache, dass ich Krankenschwester bin und somit keine große Einweisung benötige, keine größeren Bedenken und stimmt auch hier zu. Wir sind beide froh, zumindest im Rahmen der Schmerzbekämpfung weitermachen zu können.

Als ich nach Hause komme, ist ein E-Mail meines chinesischen Freundes Hsan da. Er bittet mich um einen Telefonanruf bei ihm, da er mich nicht hat erreichen können. Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Es ist gerade dreizehn Uhr, das heißt in Peking ist es jetzt acht Uhr abends. Ich kann also bei Hsan anrufen, ohne ihn bei irgendetwas Wichtigem zu stören.
Hsan Huangdi habe ich in Westafrika kennengelernt. Zum damaligen Zeitpunkt war er der Chefarzt des chinesischen Krankenhauses in Ouagadougou in Burkina Faso. Da ich bei den Ärzten ohne Grenzen tätig war und wir unsere Materialien im chinesischen Krankenhaus auffüllten, lernte ich Hsan schon recht früh kennen, aber außer einem freundlichen Gruß, wenn wir uns über den Weg liefen, sprachen wir kaum miteinander.
Das blieb Monatelang so, bis ich mir auf einem unserer Flüge einen Spinnenbiss im rechten Oberschenkel einfing. Die Spinne, die mich gebissen hatte, hatte die höchst unangenehme Eigenschaft, ihre Eier unter meiner Haut abzulegen.
Zuerst merkte ich gar nichts davon, bis plötzlich heftige Schmerzen im linken Oberschenkel und hohes Fieber einsetzten. Die Ursache war zwar schnell gefunden, aber es ließ sich erst einmal nicht viel dagegen tun. Wir hatten leider keinerlei Anästhetika mehr an Bord und ich lehnte es vehement ab, mir ohne Lokalanästhesie den Oberschenkel aufschneiden zu lassen, von wem auch immer. Da meine Kollegen das natürlich absolut nachvollziehen konnten, wer lässt sich so etwas auch schon gefallen, flogen wir zurück in die Hauptstadt und landeten unmittelbar am chinesischen Krankenhaus.
Doch das Problem war nun keinesfalls gelöst, denn auch die Ärzte im chinesischen Krankenhaus hatten keinerlei Narkosemittel mehr. Das war keineswegs etwas Besonderes, in dieser Realität lebten wir Tag für Tag. Selten reichten die Medikamente, die wir vor Ort hatten, wirklich aus.
Der Flieger aus Frankreich, der die Medikamente bringen sollte, würde erst in zwei Tagen landen. Da aber dieser Flieger auf gar keinen Fall abgewartet werden konnte, schlug Hsan eine Lokalanästhesie mittels Akupunktur vor. Ich war keineswegs begeistert und stand entsetzliche Ängste aus. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ein paar dünne Nadeln, die in die Haut gebohrt werden, zu einem schmerzfreiem Eingriff beitragen konnten,

Am liebsten hätte ich die Flucht ergriffen. Aber bedingt durch das hohe Fieber und die starken Schmerzen, war ich nicht in der Lage, aufzustehen. Damit war eine Flucht von vorn herein ausgeschlossen. Weg gelassen hätten mich meine Kollegen vermutlich aber sowieso nicht. Wie Wachhunde umstanden sie den OP-Tisch, auf dem ich bereits lag. Ich hatte keine Wahl. Ich musste mich auf dieses, in meinen Augen höchst erschreckende Unterfangen einlassen. Meine überaus netten Kollegen schlugen vor, mich zu fixieren, nur für den Fall dass die Geschichte mit der Akupunktur vielleicht doch nicht so klappt und ich dann als einzigen Ausweg aus der verzwickten Situation den Hechtsprung vom Tisch hinunter erwägen sollte.
Dr. Huangdi lehnte diese Idee zwar lächelnd, aber doch sehr entschieden ab und hatte sofort Pluspunkte bei mir.

In allen Einzelheiten erklärte er mir mit ruhiger und gelassener Stimme, wie Akupunktur funktioniert. Er zeigte mir die goldenen und silbernen Nadeln und erklärte mir, er würde die Wirkung der Akupunktur verstärken, aber auch gleichzeitig aufrechterhalten, indem er die Nadeln permanent drehen würde. Während der ganzen Zeit der langen und ausführlichen Erklärung hielt er meine Hand und streichelt sehr sanft meine Finger.
Trotz der ausführlichen Erklärungen verspannte ich mich völlig und wurde nun erst einmal darüber belehrt, dass Akupunktur nur funktioniert, wenn der Patient möglichst entspannt ist.
Also machte Hsan mit unerschöpflicher Geduld und Langmut zunächst Entspannungsübungen mit mir und brachte es tatsächlich fertig, mich so ruhig und entspannt zu bekommen, wie er mich haben wollte. Ich spürte deutlich, wie die Schmerzen immer mehr nachließen, nachdem Hsan mit der Akupunktur begonnen hatte. Es dauert vielleicht eine halbe Stunde, bis mein linker Oberschenkel ausreichend betäubt war. Von dem Eingriff selbst habe ich nichts in Erinnerung, den habe ich friedlich schlummernd verpasst.
Als ich wieder wach wurde, lag auf meiner Bettdecke eine kleines Kästchen aus Bambus. Als ich es öffnete, fand ich darin eine goldene Akupunkturnadel und einen zusammengerollten Seidenstreifen. Es standen chinesische Schriftzeichen darauf, die ich natürlich nicht entziffern konnte.
Im gleichen Moment tauchte wie gerufen Hsan an meinem Bett auf, deutete auf den Zettel und erklärte mit einem unwiderstehlichen Lächeln:
"Es bedeutet: Vertraue dem Meister! Damit will ich dir sagen, wann immer du dich in die Hände
eines Arztes begibst, vertraue ihm und seinem Können. Wenn du das, aus welchen Gründen auch immer, nicht kannst oder nicht willst, gehe lieber wieder. Vergiss das nie!"
Hsan und ich wurden enge Freunde. Er brachte mir die chinesische Küche näher, erklärte mir die Philosophie seiner ganzheitlichen Medizin und lehrte mich eine Form der Massage, die chinesische Ärzte vor der Akupunktur einsetzen, um die Meridiane und die daran liegenden Akupunkturpunkte zu stimulieren.
Die Ausbildung in diesem Bereich der Massage umfasste zwei Jahre und ich habe sie in Afrika mit einem Zertifikat abschließen können.
Nach langem Hin und Her und steter Hartnäckigkeit meinerseits, ist mir diese Zusatzausbildung auch in Deutschland anerkannt worden. AM: Da diese Form der Akupunkturvorbereitung in Europa noch weitgehend unbekannt ist, sind die Aussichten auf eine Anstellung in einer Akupunkturpraxis nahezu aussichtslos. Und ich bedaure natürlich, dass man diese Form der Massage nicht bei sich selbst anwenden kann.
Ich wiederum wies Hsan in die Geheimnisse der europäischen Geschichte und Literatur ein, feilte sein Englisch noch ein bisschen zurecht und schleifte ihn und seine Frau gemeinsam mit meinem Mann durch sämtliche europäischen Restaurants, die wir in Ouagadougou finden konnten. Außerdem bekochte ich ihn, seine Frau und seine fünf Kinder mit deutschen Gerichten, über die Hsan allerdings manchmal den Kopf schüttelte.
Übrigens das einzige deutsche Wort, das Hsan beherrscht, ist das Wort 'Karbol Mäuschen' und ich habe bis heute nicht herausfinden können, welcher meiner 'netten' Kollegen ihm dieses Wort beigebracht hat.
Bis zum heutigen Tag hat unsere enge Freundschaft gehalten, auch wenn wir vorwiegend per Telefon oder e-Mail kommunizieren müssen. Hsan und seine Familie sind immer für uns da, wenn wir einen Rat oder Hilfe benötigen. Selbst über die vielen Kilometer hinweg bemüht sich Hsan, mir mit Ratschlägen behilflich zu sein. So hatte er mir, als er von meiner Bandscheibenerkrankung erfuhr, einen chinesischen Diätplan erstellt. Die Chinesen sind felsenfest davon überzeugt, dass unterschiedliche Nahrungsmittel, sinnvoll eingesetzt, Yin und Yang und somit auch Qui vorteilhaft beeinflussen können.

Da ich chinesische Küche sehr liebe, fiel mir die Umstellung nicht sonderlich schwer. So hatte mir Hsan zum Beispiel alle 'warmen' Nahrungsmittel empfohlen, wie etwa Lammfleisch. Auf jeden Fall war es eine sehr kompakte Liste und Hsan's Ehefrau hatte sich mit Rezepten beteiligt. Das Telefon läutet eine ganze Weile, ehe sich jemand bei Hsan zu Hause meldete. Mittlerweile habe ich meine Hemmungen, in Peking anzurufen, verloren. Seit einem Urlaub vor gut zwei Jahren in dieser Atemberaubenden Stadt weiß ich, dass so ziemlich jeder Chinese mehr oder weniger gut englisch spricht. Auch diesmal ist nicht Hsan am Apparat, sondern seine Frau Mishu. Das ist aber völlig normal, wenn man in China jemanden anruft. Ab einer bestimmten Uhrzeit gehen nur noch die Ehefrauen an das Telefon und entscheiden dann, wer den Gatten noch stören darf und wer nicht. Ich darf Hsan offenbar stören, doch zuvor muss ich Mishu erst einmal alle familiären Ereignisse herunter beten, ehe sie endlich ihren Mann ans Telefon holt. Hsan will natürlich ausführlich wissen, wie es mir geht und was der Rücken macht. Leider kann ich ihm keine großen Neuigkeiten erzählen. Allerdings erzähle ich ihm von der geplanten Akupunktur. Das hätte ich wohl besser erst einmal für mich behalten, denn Hsan lässt mich fast nicht mehr zu Wort kommen. In allen Einzelheiten erklärt er mir, auf was ich achten muss, was für mich wichtig ist und, und, und... Schließlich fällt ihm ein, zu fragen, um was für einen Arzt es sich denn überhaupt handelt, der sich zutraut, Akupunktur durchzuführen. Ich erzähle ihm von meinem Orthopäden und seiner Ausbildung in diesem Bereich, Wie schön, dass ich mir das Infoblättchen aus der Praxis mitgenommen hatte, Ich hätte nicht gedacht, wie wichtig es werden könnte.
Hsan ist trotzdem nicht so ganz zu überzeugen. Er misstraut seinen europäischen Kollegen, aber das tun viele chinesische Ärzte.
Zum Teil liegt es natürlich auch daran, dass es leider noch eine ganze Reihe sogenannter 'schwarzer Schafe' unter den Akupunkturärzten gibt. Da sind zum Beispiel diejenigen, die einen Wochenendlehrgang besucht haben und nun meinen, sie seien Koryphäen auf diesem Gebiet. Und dann soll es auch noch welche geben, die ihr ganzes Wissen ausschließlich aus Büchern haben und letztendlich den Patienten auf höchst fragwürdige Art und Weise das Geld aus der Tasche ziehen.
Hsan ist also sehr misstrauisch, möchte er mich doch wieder mal vor Schaden bewahren.
Aber er versäumt nicht, mich an die Schmerzbetäubung mittels Akupunktur in Afrika zu erinnern. Er schärft mir eindringlich ein, mich auch wirklich zu entspannen und erinnert mich an die chinesischen Meditationstechniken, die ich bei ihm erlernt habe.
Weiterhin empfiehlt er mir, vor jeder Behandlung eine große Tasse grünen Tee zu trinken. Grüner Tee enthält in einer größeren Menge D-Phenylalanin (D-PA). Das D-PA bewirkt, genau wie die richtig angewandte Akupunktur, eine Endorphinausschüttung im Gehirn und verstärkt somit die schmerzlindernde Wirkung. Trinkt man eine Stunde vor der Akupunktur den Tee, ist bei Durchführung der Akupunktur die volle Wirkung des D-PA erreicht.
Vorsorglich weist mich Hsan noch daraufhin, dass man D-PA bei uns in Deutschland auch in Reformhäusern als Kapseln oder Dragees erhalten kann.
Hsan zieht allerdings die Teekur vor, weil man weder falsch dosieren, noch die Wirkungsspitze verpassen kann. Wichtig ist allerdings, dass der grüne Tee ohne Zusatzstoffe, wie beispielsweise Aromen ist und dass er aus China oder Korea kommt.
Zum Schluss bekomme ich noch die mahnenden Worte: "Vertrau dem Meister!" mit auf den Weg. Da unterstützt er nun doch wieder seinen unbekannten europäischen Kollegen, dem er nicht so ganz über den Weg traut.
Ich muss ein bisschen lächeln, als ich den Telefonhörer wieder auflege.

 
Kurz darauf klingelt mein Telefon erneut. Diesmal ist es Werner, der mich ein bisschen an mault, weil er schon seit 'Stunden' versucht, mich zu erreichen, ich aber ja wohl Dauergespräche führen würde.
Nachdem er sich einigermaßen beruhigt hat, frage ich vorsichtig an, warum er mich denn eigentlich anruft. Er erklärt mir ganz einfach, mein Besuch bei ihm sei erwünscht. Aha!
Auf weitere Nachfrage erklärt er lediglich, meine Fachkompetenz sei gefragt und legt einfach und ohne jeden weiteren Kommentar wieder auf.
Ich schüttele ein bisschen irritiert den Kopf und starre mein Telefon an. Aber solche Sachen bin ich von Werner gewöhnt.

Am nächsten Tag muss ich wegen des Antrages auf Akupunktur ohnehin in die Stadt und suche Werner auf.
Seine neue Arzthelferin zeigt sich ein bisschen pampig und will mich ohne Chipkarte auf gar keinen Fall vorlassen. Also erkläre ich ihr genauso schnippisch und mit Nachdruck, dass der Doktor etwas von mir will und nicht ich von ihm. Sie sieht mich zwar ungläubig an, geht dann aber schließlich doch nachfragen, wann der Chef denn wohl Zeit hat für mich.
Staunend kommt sie mit Werner im Schlepptau zurück.
Werner begrüßt mich überschwänglich und haucht mir einen Kuss auf die Wange. Schließlich stellt er mich der jungen Dame nicht nur als Frau Doktor, sondern auch als absolute Fachkoryphäe für was auch immer vor, was dazu führt, dass die junge Dame abrupt die Farbe wechselt. Typisch Werner!

Werner schließt hinter mir die Tür seines Sprechzimmers und schüttelt den Kopf:
"Musst du schon wieder meine Sprechstundenhilfen erziehen?“

"Du bist doch wohl derjenige, der hier unmöglich ist: 'Frau Doktor!' Was wird die jetzt wohl denken?"
"Auf jeden Fall wird sie dich in Zukunft nicht mehr so von oben herab behandeln. "
"Werner! So was regele ich gut alleine! Was willst du nun eigentlich so furchtbar dringend?"
"Sieh dir doch bitte einmal das hier an, was ist das?“ Werner hält mir eine Maske mit einer offenbar endlos langen Nase daran, vors Gesicht. Sie ist in verschiedenen Pastelltönen bemalt und die Nase biegt sich krumm mach unten, ungefähr so, wie man sich die Nase einer typischen Märchenhexe vorstellen würde.
Erheitert nehme ich ihm die Maske aus der Hand: "Deshalb bestellst du mich so dringend in deine Praxis?“

 "Ja, ich habe das Ding von einem Patienten geschenkt bekommen und wollte unbedingt wissen, was es damit auf sich hat. Er behauptet, im Mittelalter sind die Ärzte mit so was herumgelaufen, das kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen. Ich dachte, du weißt es vielleicht, schließlich hast du ja mal Geschichte studiert. Also?“

"Doch, doch, das haben im Mittelalter wirklich Ärzte getragen. Es handelt sich um eine typische Schnabel Maske.“

"Aha, Schnabel Maske - und weiter?“
"Ja, das war doch alles, was du wissen wolltest!"

"Willst du mich jetzt verschaukeln, oder was? Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Haben das wirklich Ärzte getragen? Ich kann mir nicht vorstellen, warum man sich freiwillig so verunziert?"
"Freiwillig war das ja auch nicht, jedenfalls nicht so ganz. Diese Schnabel Maske haben Pest Ärzte getragen. In den Schnabel wurden Duftkräuter gestopft und dann hat man diese Kräuter auch noch mit Duftöl beträufelt, das ganze wurde dann als Geruchshemmer benutzt."
"Sagenhaft! Wann haben die das getragen, bei Operationen?"

"Pest Ärzte haben nicht operiert, stell dir mal die Ansteckungsgefahr vor!"
"Ja, aber wann braucht man denn so was? Warte mal, die dienten als Geruchshemmer? Vielleicht bei Hausbesuchen?"

"Pest Ärzte haben auch keine Hausbesuche gemacht. Das heißt, sie haben schon, aber während der Pestzeiten haben sie niemals ein Haus betreten.“
"Konnten sie das denn verweigern?"
"Natürlich nicht. Schließlich haben sie ja auch im Mittelalter schon den Eid des Hippokrates abgelegt und da heißt es, wie du sicher weißt: In alle Häuser aber..., will ich kommen zum Nutzen der Patienten..."
"Ich meine heute ist das ja normal, dass Ärzte keine Hausbesuche mehr machen oder machen wollen, aber wie haben die sich im Mittelalter denn herausgeredet? Da war dieser Eid ja auch noch wichtig, ich meine im Gegensatz zu heute!"
"„Sie haben sich gar nicht heraus geredet, sie haben Hüte getragen. "
"Na, das ist ja jetzt die Erklärung überhaupt! Was hat das denn mit den Hüten zu tun?"
“Mehr als du ahnst! Also, Ärzte, wenn sie denn richtig studiert hatten, waren Lateiner und damit gesellschaftlich sehr hoch gestellt. Deshalb hatten sie es auch nicht nötig, vor anderen Leuten ihren Hut zu ziehen, außer vor Personen, die noch wichtiger waren, aber die gab es ja kaum. Diese Regelung haben die Ärzte ausgenutzt. Sie schafften sich turmhohe Spitzhüte an und da sie die Hüte ja nicht abzunehmen brauchten, passten sie nicht mehr durch die Haustüren und somit hatte sich der Hausbesuch erledigt. Sie wickelten sozusagen alles als Haustürgeschäft ab. So einfach war das!“
"Und warum das Ganze?"
“Ach Gott Werner, du bist aber wirklich schwer von Begriff. Wegen der Ansteckungsgefahr natürlich. Glaubst du vielleicht, die Herren Mediziner wollten sich die Pest holen? Das waren Ärzte und keine barmherzigen Samariter!“

"Ich begreife das trotzdem nicht. Die werden doch die Medikamente, die sie verteilt haben, nicht verschenkt haben, oder doch? Wenn die solche Angst hatten, sich anzustecken, konnten sie es denn überhaupt wagen, Geld anzunehmen? Und kamen sie bei der Bezahlung nicht zwangsläufig mit den Patienten oder ihren Angehörigen in Kontakt?"
"Also schön: Erstens gaben sie niemanden die Hand. Damit sie gar nicht erst in die Verlegenheit kamen, trugen sie so eine Art dubiosen Umhang, der umständlich auf der Schulter geschlossen wurde. Um sich da wieder heraus zu wurschteln, brauchten sie ihren Hausdiener, denn alleine war das nicht zu bewerkstelligen. Also konnten sie niemandem die Hand reichen. Das Geld nahmen Dienstboten in Empfang, damit sich Herr Doktor nicht die Seuche holt. Das Geld wurde erst mal gereinigt, bevor der Arzt es auch nur ansah. Das war kein Problem, es gab ja nur Münzen. Holte der Dienstbote sich dummerweise die Pest, wurde er vor die Tür gesetzt und Herr Doktor setzte sich ab. So lief das im Mittelalter. Dieser Dienstbote war sozusagen die Erfindung der Arzthelferin. Die sprachen nämlich auch die Termine ab und regelten die Visiten."
"Hört sich so an, als hätte sich in den letzten fünf bis sechshundert Jahren nicht viel verändert."
"Tja, das kannst du sicher viel besser beurteilen als ich."
Wir müssen beide lachen und verabschieden uns voneinander mit der gewohnten herzlichen Umarmung.
Ich bin schon fast zur Tür hinaus, als Werner hinterher gespurtet kommt:
"Bevor du gehst, was macht denn eigentlich deine Magengeschichte? Geht es dir denn da jetzt ein bisschen besser?"
"Dank Vomex A und einer ausgeklügelten chinesischen Diät kann ich wieder halbwegs normal essen. Danke der Nachfrage.“
"Die Diät hat doch sicherlich dein Freund Hsan ausgearbeitet, oder?“
"Na wer denn sonst? Aber es funktioniert super."
"Na wenigstens was! Wenn du Probleme hast, meldest du dich hoffentlich!?'"
"Ja natürlich, Werner. Darf ich jetzt gehen? Ich habe nämlich noch so einiges zu regeln."
"Machs gut, du alte Gewitterziege!"
Charmant dieser Mann, das kann man nun wirklich nicht anders behaupten.
Wobei ich mich natürlich auch frage, woran es denn wohl liegt, dass alle Männer, die ich ein bisschen näher kenne, mich mit so netten Kosenamen titulieren. Oder sollen das etwa Komplimente sein?
Darüber muss ich bei Gelegenheit doch mal nachdenken.

 

 

 

 


 

 

Kapitel 21

 

 

 

Die Woche beginnt mit der ersten Akupunktursitzung bei Dr. L. Ich hoffe, dass die Akupunktur wirklich etwas bringt, aber einen Versuch ist es auf jeden Fall wert. Außerdem habe ich ja auch eindeutig schon gute Erfahrungen mit Akupunktur sammeln können. Dr. L. begrüßt mich auf seine charmant-freundliche Art. Dennoch gehört er, jedenfalls im Umgang mit seinen Patienten, eher zu den zurückhaltenden Menschen. Man muss sich schon ganz schön anstrengen, ihm mal ein paar private Worte zu entlocken. Dr. L. erklärt mir in kurzen, prägnanten Sätzen das Grundprinzip der Akupunktur. Er erläutert mir genau, wo er die einzelnen Nadeln setzen wird.

Mit einem leichten Grinsen erzähle ich ihm von meiner ersten Akupunkturerfahrung. Meine Fluchtgedanken kann er durchaus nachvollziehen, findet es aber ausgesprochen witzig, was mir so alles passiert. Aber heute kann ich ja selbst darüber lachen. Während ich versuche, mich auf dem Bauch auszustrecken, eine Übung, die mir nicht nur schwerfällt, sondern auch unangenehm schmerzhaft ist, stellt er mir ein Telefon auf die Liege: "Das ist ein Telefon!", erklärt er mir.

„Ach nee, wirklich? Da wäre ich nicht drauf gekommen!"

"Also - ja, ehm... Gut, gut, ich gebe zu, das war nicht sonderlich intelligent. Was ich eigentlich sagen wollte, ist folgendes: Die Nadeln sollen ungefähr zwanzig Minuten verbleiben. Leider vergessen wir gelegentlich unsere Akupunkturpatienten. Aus den Augen, aus dem Sinn. Aber wenn Sie die 11 wählen, haben Sie vorne die Anmeldung dran, sagen Sie einfach Bescheid, dass die zwanzig Minuten um sind und dann kommt jemand, um die Nadeln zu entfernen."

"Kein Problem, ich glaube, das bekomme ich gerade noch geregelt."

Dr. L. verteilt mit Hingabe die Nadeln auf meinem Rücken und meinen Beinen. Zum Schluss sticht er jeweils eine Nadel im Bereich des Handrückens zwischen Daumen und Zeigefinger ein. Dieser Punkt nennt sich Dickdarm 4 oder in chinesisch Hegu. Dr. L. hat für diesen Punkt einen netteren Namen: der Aspirin Punkt. Dieser Name kommt nicht von ungefähr. Der Punkt hat eine, auf den ganzen Körper sich ausbreitende schmerzlindernde Wirkung. Diesen Punkt kennen sogar meine Kinder, denn bei Kopf und Gliederschmerzen, bedingt durch Erkältungskrankheiten, benutze ich ihn als Akupressur Punkt.
Ein weiterer Punkt, den meine Kinder bereits selbst stimulieren, ist der Yintang, Er liegt zwischen den Augen über der Nasenwurzel und ist ebenfalls in Erkältungszeiten von wichtiger Bedeutung. Zum einen kann man damit leidige Kopfschmerzen beheben, zum anderen ist er sehr wirkungsvoll gegen verstopfte Nasen.
Dr. L. ist mittlerweile mit seiner Piekserei am Ende angelangt und wünscht mir angenehme zwanzig Minuten.
Wie ich es bei Hsan gelernt habe, schließe ich die Augen und konzentriere mich auf die Stellen meines Körpers, an denen jetzt die Nadeln ihre Wirkung tun sollen. Nach und nach setzt die totale Entspannung ein. Ich spüre ein warmes Kribbeln, das sich wohltuend über den gesamten Körper ausbreitet. Die Entspannung jedenfalls muss irgendwann perfekt gewesen sein, denn ich schlafe ein. Als ich wieder wach werde, habe ich Schwierigkeiten mich zu orientieren. Im ersten Moment habe ich keinerlei Ahnung, wo ich eigentlich bin. Langsam fängt es allerdings an zu dämmern. Ein Blick auf die Uhr versetzt mir einen Schrecken, ich habe tatsächlich eineinhalb Stunden geschlafen. Ich kann es nicht glauben.
Ein bisschen zerknirscht greife ich zum Telefon und wähle die Anmeldung an. Frau A. meldet sich und ist ein bisschen geplättet, dass ich immer noch da bin. Sofort kommt sie angesaust, um mich von den Nadeln zu befreien und entschuldigt sich mehrfach, weil ich vergessen worden bin. Mit einem Schmunzeln erkläre ich ihr, dass sie sich gar nicht so sehr entschuldigen braucht, denn ich sei schließlich auch nicht ganz unschuldig. Wäre ich nicht eingeschlafen, hätte ich hier auch nicht so lange herumgelegen.
Frau A. sieht mich völlig entgeistert an:
"Was sind Sie?”
"Eingeschlafen!”
"Also, das hat ja bis jetzt hier noch niemand gebracht und ist hier einfach eingeschlafen. Damit werden Sie in die Annalen dieser Praxis eingehen, da können Sie aber sicher sein.”
“Ich kann es ja selbst nicht glauben."
Langsam rappele ich mich von der Liege hoch, Irgendwie fühlt sich mein Körper bleischwer an, ich bin immer noch fürchterlich müde und hege den Wunsch, schon in meinem Bett zu liegen.

Langsam mache ich mich auf den Heimweg. Es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre auch noch im Bus eingeschlafen. Aber Herr B., der nette Busfahrer, hält mich durch eine kleine Plauderei wach. Ich bin jedenfalls heilfroh, als ich endlich zu Hause angekommen bin. Meine Schwiegermutter hat bereits Tee gekocht, aber ich winke nur ab. Ich bin nicht einmal mehr in der Lage, zu sprechen. Ich fühle mich wie narkotisiert. Einmal im Bett, schaffe ich nicht einmal mehr, mich zuzudecken, das erledigt mein Mann für mich. Erst am späteren Abend werde ich vorsichtig geweckt. Michael schüttelt sachte meine Schulter. Hsan ist am Telefon, ob ich mit ihm sprechen möchte. Ich schäle mich aus meiner Bettdecke und tapse ins Wohnzimmer. Noch völlig benommen melde ich mich. Hsan entschuldigt sich sofort, er habe mich nicht wecken wollen und wenn Michael gesagt hätte, das... Ich unterbreche seinen Redestrom und erkläre ihm, das sei überhaupt nicht schlimm und ich könne ja auch gleich weiterschlafen.
Hsan will natürlich wissen, wie die Akupunktur gewesen ist. Ich habe keine Ahnung, woher er weiß, dass sie heute war, aber ich bin viel zu müde, um nachzufragen. Also erzähle ich ihm, dass ich während der Akupunktur eingeschlafen bin. Stille am anderen Ende. "Bist du noch dran?", frage ich vorsichtig nach. "Ja, natürlich. Du bist eingeschlafen?” "Ja, bin ich. Aber wenn mir das jetzt jedes Mal passiert, brauche ich mein eigenes Bett dort in der Praxis. Diese Liege ist zum Schlafen zu unbequem.”

Ich schicke ein Gähnen hinterher, sozusagen als Bekräftigung.

"Bist du immer noch müde?" Eine staunende Frage von Hsan. Dann höre ich leises Getuschel, vermutlich erzählt er jetzt Mishu, was mir passiert ist.

"Ich könnte im Stehen einschlafen, Hsan. Lass uns bitte Schluss machen, ich bin zu müde, um den Hörer festzuhalten.”

"Dieser Mann, zu dem du da gehst, der versteht was von seinem Handwerk. Das beruhigt mich sehr. Du kannst weiter zu ihm gehen.” Jetzt bin ich aber doch halbwegs wach: "Du rufst mich an, um zu kontrollieren, ob mein Arzt wirklich etwas von Akupunktur versteht? Sag mal, bist du noch zu retten?"

"Natürlich, wenn er nicht gut wäre, hätte ich dir geraten, dir einen anderen zu suchen. Aber wenn du eingeschlafen bist, brauche ich mir keine Sorgen mehr zu machen." "Ich hoffe, ich werde jetzt nicht jedes Mal einschlafen!"

"Selbstverständlich nicht, aber es zeigt deutlich, dass die Akupunktur schon überfällig war. Hast du auch grünen Tee getrunken?" „Ja, wie befohlen!".

"Schön, dann wünsche ich dir und deinem Arzt weiterhin guten Erfolg. Geh' wieder ins Bett und schlaf gut. Ach ja und schöne Grüße von Mishu. Ich melde mich in den nächsten Tagen und schicke dir einen neuen Diätplan. Während der Akupunktur musst du dein Essen wieder umstellen. Schlaf schön, mein Mädchen, “
“Danke Hsan und auch Grüße von mir an deine Lieben. Und du bist jetzt also wirklich sicher, dass ich zu dem richtigen Arzt gehe?“
“Ja, du hast großes Glück, Er muss sehr gut sein, wenn du einschläfst. Ich bin sicher, dass die Akupunktur dir sehr helfen wird“.
Ich höre noch, wie leise der Hörer aufgelegt wird und muss doch ein bisschen lachen über meinen besorgten Freund. Es ist wirklich schade, dass Dr. L. diesen interessanten Mann nicht kennt, zumal nach diesem riesigen Kompliment.
Dazu muss man wissen, dass Hsan Professor an der Medizinischen Akademie in Peking ist. Er lehrt dort nicht nur als Professor für angewandte chinesische Medizin, sondern auch als sogenannter Akupunktur-Meister. In dieser Eigenschaft unterrichtet er Ärzte, die aus der ganzen Welt nach Peking kommen, um dort die Kunst der Akupunktur zu erlernen.
Aber heute Abend ist mir das eigentlich ziemlich egal.
Ich will nichts anderes mehr, als nur endlich wieder in mein Bett zu klettern und weiterzuschlafen.
Michael leistet mir noch einen Moment Gesellschaft und drängt mich, wenigstens einen Tee zu trinken, wenn ich schon nichts essen möchte. Doch selbst für den Tee bin ich viel zu müde.
Dafür genieße ich aber seit Monaten das erste Mal wieder eine komplett durchgeschlafene Nacht!

Als ich zur nächsten Akupunktursitzung antrete, will Dr. L. natürlich auch wissen, wie mir die erste Behandlung bekommen ist. So berichte ich ihm auch von meinem ungestörten Schlafvergnügen in seiner Praxis. Er schüttelt ein bisschen den Kopf und erklärt mir dann mit einem verschmitzten Lächeln: "Wir haben das natürlich mitbekommen, wir haben in der Tür gestanden und Ihnen beim Schlafen zugesehen und entschieden, dass wir Sie nicht wecken werden. Schließlich schlafen Sie doch seit längerer Zeit nicht besonders gut," "Und das soll ich Ihnen jetzt glauben, ja? Ha-ha-ha!“
Wir müssen beide lachen.
"Na ja, spätestens die Putzfrau hätte Sie gefunden und vor die Tür gesetzt, wenn Sie nicht wach geworden wären, Also hier zu übernachten, wird ein bisschen schwierig.“
"Na, da bin ich aber beruhigt!"
Diesmal schlafe ich nicht ein. Dafür habe ich ein anderes Problem, Das Telefon steht oben auf einem Regal, unerreichbar für mich. Soll ich meinem Doktor jetzt einen Vorwurf machen? Ich habe ja genauso wenig daran gedacht wie er.
Ich habe Glück, nach gut fünfunddreißig Minuten kommt Frau A. mal nachsehen, ob ich wohl wieder eingeschlafen bin, weil ich mich nicht melde.
"Das Telefon steht da oben. Da komme ich nur leider nicht ran," erkläre ich ihr.
Frau A. schüttelt den Kopf:
"Dieser Mann ist einfach unglaublich. Der sprüht förmlich über vor Intelligenz, aber die einfachsten Dinge bekommt er nicht geregelt! Was soll man mit dem bloß anstellen, damit er es endlich kapiert?"
"Ich hätte da eine Idee. Binden Sie ihn so auf die Liege, dass er nicht hochkommt. Sagen Sie ihm, nach zwanzig Minuten soll er sich melden und lassen Sie das Telefon rein zufällig da oben stehen. Ich garantiere Ihnen, der vergisst das Telefon nie wieder."
"Die Idee ist grandios. Bei Gelegenheit, wenn er mit nichts Bösem rechnet, werden wir das in die Tat umsetzen."

"Rufen Sie mich vorher an, da möchte ich gerne dabei sein!"
"Versprochen!”
"Aber mal ganz davon abgesehen, ich hätte natürlich auch an das Telefon denken können."
"Ja, nach der vierten oder fünften Behandlung, wenn Sie daran gewöhnt sind und wissen, dass Sie das Telefon benötigen. Bis dahin ist der Doktor dafür verantwortlich."

Auf dem Nachhauseweg spüre ich die ganze Zeit ein unangenehmes Stechen im Rücken. Mehrmals versuche ich mit der Hand an die Stelle zu kommen, aber es gelingt mir nicht.
Zu Hause bitte ich meine Nachbarin Christina, doch mal nachzusehen. Sie schaut mir von oben in die Bluse und langt schließlich gezielt mit der Hand hinein. Mit spitzen Fingern hält sie mir einen Gegenstand unter die Nase: "Was ist das denn?"
Mit einem Lachen betrachte ich die Akupunkturnadel, die Christina zwischen ihren Fingern hin und her dreht.
"Das ist eine Akupunkturnadel, die ist wohl übersehen worden.”
“Übersehen worden, aha!" Christina schüttelt den Kopf. "Was es alles gibt. Und die Dinger lässt du dir in den Körper bohren?”
"Ach Christinchen, das tut doch nicht weh und außerdem fühle ich mich sehr wohl hinterher.“
"Sind deine Schmerzen weg?"
"Nein, dass nicht, aber so ganz allgemein fühle ich mich viel besser. Sagen wir mal so, es wird erträglicher." "Na fein, dann kannst du ja mit mir einen Tee trinken, oder?“

 

 


 

 

Kapitel 22

 

 

 

Ende Februar ruft mich Dr. S. aus der Klinik an, in die mich mein Orthopäde per Noteinweisung eingewiesen hatte und die zum damaligen Zeitpunkt kein freies Bett hatte.
Dr. S. hat inzwischen die MRT Bilder von Dr. K. angefordert und erhalten und wollte diese gerne mit mir besprechen. Den Transportschein erhalte ich in der Klinik, so dass mir nur noch die Aufgabe zukommt, mir ein Fahrzeug zu beschaffen.
Als am nächsten Morgen der junge Mann an der Tür klingelt, der mich ins Krankenhaus begleiten soll, schneit es heftig. Draußen ist bereits alles weiß. Im Schneckentempo schleichen wir durch die Gegend und brauchen für die Strecke, für die man normalerweise einen Zeitaufwand von 45 Minuten benötigt, sage und schreibe zweieinhalb Stunden. Dennoch wird uns die Fahrt keineswegs langweilig. Der junge Mann, der mit Vornamen Lars heißt, hatte vor einiger Zeit einen EHF -Kurs (Erste Hilfe für Fortgeschrittene) bei mir besucht und jetzt eine Ausbildung zum Rettungssanitäter begonnen.
Während der Fahrt gebe ich ihm Tipps für die Ausbildung und erkläre ihm, wobei er bei der Auswahl von Praktikumsstellen achten soll.
Im Krankenhaus eingetroffen, muss ich ausnahmsweise keine Wartezeit in Kauf nehmen. Bedingt durch die Tatsache, dass Dr. S. mich bestellt hat, komme ich postwendend an die Reihe.
Dr. S. erklärt mir die Bilder und wundert sich einigermaßen über Dr. K., der in seinen Berichten immer wieder von einem Bandscheibenvorfall in Höhe L4/L5 spricht, obgleich der Vorfall tatsächlich eine Etage tiefer liegt. Warum Dr. K. aber bei seiner Aussage bleibt, ist uns absolut schleierhaft.
Dr. S. weist mich weiterhin auf eine Verschattung im Bereich S1 hin, die im Grunde genommen alles mögliche bedeuten kann: Ein verkapseltes Hämatom kommt genauso in Frage, wie ein möglicher Tumor. Es kann sich aber auch lediglich um eine Unschärfe bei der Aufnahme handeln. In jedem Fall möchte Dr. S. aber baldmöglichst eine Myelografie durchführen, um die Verdachtsmomente, wie er sagt, auszuräumen,
Bedingt durch meine Schilddrüsenerkrankung, die immer noch im Raume schwebt, ist die Untersuchung, bei der ein jodhaltiges Kontrastmittel in den Wirbelkanal injiziert wird, mit erheblichen Risiken verbunden. Aus diesem Grund kann die Untersuchung erst durchgeführt werden, wenn eine
exakte Diagnose eines Radiologen oder eines Endokrinologen betreffs meiner Schilddrüse, vorliegt.
Also heißt das für mich wiederum, erneute Diagnostik der Schilddrüse, denn die Unterlagen des Krankenhauses, in dem die Erkrankung festgestellt wurde, sind bisher nicht bei meinen Ärzten eingetroffen.
Im Grunde genommen hätte mir Dr. S. das auch alles am Telefon erzählen können, er hätte mir dann zwar die Bilder nicht zeigen können, aber ich hätte diese Mammuttour nicht in Kauf nehmen müssen.
Lars hat inzwischen geduldig auf mich gewartet und fragt bei meinem Erscheinen nach, ob ich Zeit und Lust habe, irgendwo eine kleine Mittagspause einzulegen. Da ich selber Hunger verspüre, habe ich nichts dagegen. Also machen wir uns auf den Weg zu einem netten griechischen Lokal, das uns beiden bekannt ist. Seit ewigen Zeiten habe ich schon kein Gyros mehr gegessen, dass war längst mal wieder überfällig, außerdem ist es nett mit Lars zu plaudern, so dass ich meine Diät heute mal sein lasse.

Ein paar Tage später erzähle ich Dr. L. von dem ambulanten Termin bei Dr. S.
Dr. L. ist ein bisschen erschrocken, als ich ihm von der 'Verschattung' auf dem Kernspin-Bild erzähle. Sofort macht er sich Gedanken und Vorwürfe, vielleicht irgendetwas versäumt oder übersehen zu haben. Ich bin keineswegs der Ansicht, dass sich Dr. L. Gedanken machen müsste. Zum einen habe ich absolutes Vertrauen zu ihm und zum anderen stehe ich diesen 'Verschattungen' ein bisschen skeptisch gegenüber. Meistens steckt nämlich nichts dahinter.

 

 

Kapitel 23

 

 

 

Während ich von einem Arzttermin zum nächsten hetze, hat sich mein Mann unserer Kinder angenommen, für die mal wieder der standardmäßige Gesundheitscheck anliegt.
Ein bisschen genervt kommt er mit unseren drei Quälgeistern von Birgit nach Hause. Er kann einfach nicht begreifen, dass es Birgit Spaß macht, sich mit unseren Kindern zu beschäftigen. Ich kann das schon verstehen. Wenn sie einmal zu jemandem Vertrauen gefasst haben, sind sie einfach unwiderstehlich, die drei.
Die Kinder sind so weit in Ordnung, berichtet mein Mann. Lediglich Sarah zeige Störungen im Gangbild, aber die Überweisung für den Orthopäden habe ihm Birgit gleich mitgegeben. Es mache mir ja sicherlich nichts aus, Sarah zu Dr. L. mitzunehmen. Nun, mir macht es keineswegs etwas aus, erkläre ich meinem besten Stück. Allerdings werde ich den Termin für Sarah so legen, dass ich gleich anschließend Akupunktur habe und ob Sarah die notwendige Geduld aufbringt, wird sich dann zeigen.
Aufmerksam beobachte ich die nächste Zeit meine Tochter, kann aber an Sarahs Gangbild nichts Auffälliges feststellen. Na ja, warten wir es ab.
Einige Tage später schnappe ich mir meine aufgeregte Tochter, die es immer furchtbar interessant findet, wenn sie mit mir irgendwo hingehen darf. Diesmal ist es etwas Besonderes, denn sie hat ja schließlich selbst einen Termin bei Dr. L., auch in den Augen ihrer Geschwister ist sie dadurch im Ansehen gewachsen.
Also, ich fand als Kind Arztbesuche nicht sonderlich aufregend, aber das kann natürlich auch daran gelegen haben, dass wir genug Ärzte im eigenen Haushalt hatten.
Zuhause jedenfalls hat Sarah noch die große Klappe, die ich von ihr gewöhnt bin, mal sehen, wie lange die anhält. Zuerst einmal tauscht Sarah mit Frau A. Familieninterna aus, als ob die beiden sich seit Jahren kennen würden.
Nicht nur ich amüsiere mich königlich über meine vorlaute Tochter, sondern auch die anwesenden Mitpatienten.
Als wir zu Dr. L. ins Sprechzimmer gerufen werden, ist das vorlaute Mundwerk aber erst einmal verschwunden. Höchst misstrauisch beäugt sie Dr. L., den sie Erstens noch nicht kennt und von dem sie Zweitens nichts Gutes vermutet. Dennoch lässt sie sich schließlich dazu herab, zu erzählen, wie viele Geschwister sie hat und wie alt sie selbst ist, nur für die Untersuchung ausziehen will sie sich erst mal lieber nicht. Also lässt uns Dr. L. für kurze Zeit alleine und ich schaffe es schließlich, meine Tochter zu überreden, ihre Hose und die Strumpfhose auszuziehen.
Sarah will auf keinen Fall auf ihrem Stuhl sitzen bleiben, lieber stellt sie sich hin und harrt der Dinge, die da hoffentlich nicht kommen. Immerhin ist sie psychisch noch nicht so angeschlagen durch diesen Arztbesuch, dass sie nicht noch etwas zu meckern finden würde. Hier sind es zum einen die ‘'hässlichen Bilder‘! an der Wand, die ihr nicht gefallen und zum anderen ist der Fußboden schmutzig, wie sie mir erklärt.
“Der Fußboden ist schmutzig?“, frage ich verdutzt.

„Ja, da sind Krümel unter meinen Füßen. Zu Hause sagst du immer, wir dürfen nicht so herum krümeln und hier sind lauter Krümel auf dem Fußboden. Hat der Doktor Kekse gegessen?"

"Also, das musst du ihn schon selbst fragen, das weiß ich auch nicht, mein Schatz. Aber ich sehe gar keine Krümel.”

"Da sind aber welche, wirklich Mama!“, beharrt meine dreijährige Tochter, was soll ich dagegen tun?
Als Dr. L. wieder erscheint, hätte er gerne, dass Sarah ein Paar Schritte läuft. Meine Tochter denkt überhaupt nicht daran. Auch der Bestechungsversuch mittels Lutscher und Minispielzeug-Hubschrauber scheitert. So leicht ist Sarah nicht zu kriegen. Selbst mein Zureden bringt uns nicht weiter. Dr. L.'s Versuch, sich in die hinterste Zimmerecke zu begeben und Sarah zu bitten, ihm doch den Hubschrauber zu zeigen, schlägt fehl. Sarah entscheidet grundsätzlich selbst, auch im Kindergarten und Zuhause, wann sie etwas machen will und wann nicht - und jetzt will sie vieles, nur nicht laufen!
Nach einer Weile können wir Sarah schließlich dazu bewegen, sich in Richtung Untersuchungsliege vorwärts zu bewegen, weil sie sich ja daraufsetzen soll. Mit ein bisschen mehr Grips unsererseits hätten wir das auch schon eher haben können. Auf jeden Fall ist sie jetzt endlich ein paar Schritte gelaufen.
Als Sarah endlich auf der Liege steht, wirft sie ein paar ausgesprochen kritische Blicke nach unten auf ihre Füße. Während sie Dr. L. und seine Wünsche, er hätte gerne, dass sie sich hinlegt, schlichtweg ignoriert, hebt sie mit gerunzelter Stirn einen Fuß hoch, um dann mit strafendem Blick Dr. L. zu mustern. Unter ihren kleinen Füßen haben sich auf der Liege Sandkörnchen angesammelt. Vorwurfsvoll betrachtet Sarah Dr. L. und erklärt mit strafendem Ton und zur Belustigung der beiden Sprechstundenhilfen, die sich von Sarah nicht losreißen können: "Das ist Schmutz! Du musst mal wieder sauber machen!“
“Ich glaube du hast recht, wir sollten hier mal wieder ausfegen,” stimmt ihr Dr. L. zu. Damit hat er bei Sarah sichtlich gewonnen. Mit einem zufriedenen Lächeln stimmt sie ihm zu und lässt sich auch den Rest der Untersuchung gefallen. während Sarah und ich schließlich im Flur Platz nehmen, denn meine Akupunktur steht ja noch an, flitzt Dr. R. im Laufschritt an uns vorbei.
Dr. R. hat die Angewohnheit, immer mit vorgestrecktem Oberkörper und in einem ungeheuren Tempo von einem Sprechzimmer ins Nächste zu sausen. Dabei schneidet er gekonnt Kurven, so dass alle Patienten, die gerade im Flur sitzen, unweigerlich ihre Köpfe und Beine einziehen.
Mir geht es da auch nicht anders. Nur Sarah biegt ihren Oberkörper so weit wie möglich nach vorne und streckt gleichzeitig die Beine vor, so dass ihr Körper die Form eines Hufeisens annimmt. Mehrmals ermahne ich Sarah, sich endlich vernünftig hinzusetzen, denn mit meinen geistigen Augen sehe ich schon mit Grausen, wie Dr. R. an Sarah hängen bleibt und dadurch unweigerlich fliegen lernt. Offenbar hegt meine Tochter ähnliche Gedanken, denn sie flüstert mir laut und auch für alle anderen Patienten deutlich vernehmbar ins Ohr: "Mama, weißt du, was ich möchte?“
"Nein, was möchtest du denn?" Hatte ich mir jetzt eingebildet, sie würde mich um Eis oder Schokolade bitten, hatte ich mich aber wieder einmal in einem meiner Kinder gründlich getäuscht.
"Ich möchte dem anderen Doktor, der immer so läuft, mal ein Bein stellen. Bitte Mama, darf ich?“
Ungläubig starre ich meine kleine Tochter an, die mit ihrem Blondhaar und dem zuckersüßen Lächeln aussieht wie ein unschuldiges Engelchen; aber so soll Eva im Paradies ja auch ausgesehen haben.
Nun, immerhin fragt dieses Kind wenigstens vorher um Erlaubnis, die ich selbstverständlich nicht erteile. "Warum denn nicht, Mama?“
„Na hör mal, möchtest du vielleicht auf die Nase fallen, nur weil dir irgendjemand ein Bein stellt? Das finde ich nicht lustig und im Übrigen kann der Doktor sich schrecklich wehtun, das möchtest du doch nicht wirklich, oder?"
Sarah zieht einen Flunsch, gibt sich aber noch nicht geschlagen:
"Kann er sich ein Bein brechen, Mama?"

"Ja, oder den Hals!"
"Dann kann er doch zu Dr. L. gehen, da muss er nicht mal weit laufen, Mama, bitte! Nur einmal!“
"Überhaupt nicht mein Fräulein und jetzt gib endlich Ruhe!"
Sarah ist zutiefst beleidigt und macht weiterhin ein beleidigtes Gesicht, während ich Kopfschüttelnd dasitze. Wie um alles in der Welt, kommt ein dreijähriges Mädchen auf eine solche Idee?
Während Dr. L. mir die Nadeln für die Akupunktur setzt, ist Sarah so beschäftigt und findet das so aufregend, dass sie dabei völlig vergisst, dass sie ja eigentlich beleidigt ist.
"Bohrst du die Nadeln durch das Hemd?", fragt meine Maus hoch interessiert Dr. L., was uns beide zum Lachen bringt. "Nein, ich schiebe das Hemd ein bisschen nach oben, siehst du?"
Nacheinander sticht Dr. L. so um die zwanzig Nadeln in mich hinein. Sarah staunt: "So viele?"
Wir amüsieren uns köstlich. Schließlich verabschiedet sich Dr. L. mit dem Wunsch, ich möge angenehme zwanzig Minuten haben.
Wenn er gedacht hat, er kommt auch heute so weg, hat er sich geirrt. Sofort legt Sarah Protest ein. Sie will wissen, ob er die Nadeln auch wieder wegnimmt.
"Sarah, ich schwöre dir, ich komme wieder und ziehe die Nadeln wieder raus. Ehrenwort!" Weg ist er.
Sarah traut der Sache trotzdem nicht so ganz. Misstrauisch fragt sie, ob mir die Nadeln wehtun und ob Dr. L. auch ganz bestimmt wieder kommt.
"Natürlich, du Trollkind. Vielleicht kommt auch Frau A. und zieht die Nadeln wieder raus."
"Das geht nicht. Der Doktor hat gesagt, er kommt wieder!"

"Ja schon, aber wenn er viel zu tun hat, mein Schatz, dann schafft er das vielleicht nicht und dann schickt er Frau A., die macht das dann."
"Das soll er aber selber machen, er hat sie doch auch rein getan!"
Dieser Satz ist absolut logisch und bürgt von den erzieherischen Fähigkeiten meines Mannes und mir: 'Wenn du etwas angestellt hast, dann bring es auch wieder in Ordnung!'
Hat Dr. L. die Nadeln gesetzt, hat er sie auch wieder zu entfernen; diese Angelegenheit ist für Sarah ganz klar. Allerdings bin ich verblüfft, als Dr. L. nach Ablauf der zwanzig Minuten wieder das Behandlungszimmer betritt, um die Nadeln zu entfernen. Offenbar hat er das Ehrenwort Sarah gegenüber ernst genommen und damit hat er jetzt bei uns beiden Pluspunkte gesammelt.
Sarah ist aber erst zufrieden, nachdem sie mich ausgiebig begutachtet hat und feststellt, die Nadeln sind offenbar alle wieder entfernt worden.
Zuhause berichtet sie dann ihren Geschwistern von der Akupunktur, wodurch sich unschwer feststellen lässt, dass dies das wichtigste Erlebnis des Tages war.
Tim ist natürlich keineswegs davon zu überzeugen, dass Mama sich 'jede Menge' Nadeln in den Körper piksen lässt und kommentiert Sarah ihren Bericht schlicht und ergreifend mit:
"Sarah, du bist eine Spinnrübe!"
"Frag' doch Mama!", trompetet Sarah lautstark zurück, was Tim auch sofort in die Tat umsetzt.
"Mami, hast du dir wirklich einen Haufen Nadeln in den Rücken stechen lassen?"
"Ja, Tim."
"Mann, musst du blöd sein..."
Jetzt muss ich meinen drei Kindern auch noch das Prinzip der Akupunktur erklären. Tim leuchtet ganz und gar nicht ein, warum etwas, das doch wohl weh tun muss, Schmerzen lindern soll. So etwas kann es ja wohl nicht geben.
Leider habe ich überhaupt keine Ahnung, wie ich Tim erklären soll, dass es eigentlich ja gar nicht weh tut und wieso die Nadeln Schmerzen nehmen können. Ich bin hilflos den Fragen meines Sohnes ausgesetzt.
Es ist Filius, der mich rettet. Er steckt mitten im Prüfungsstress und benötigt mal wieder Mamas Fachbibliothek. Der arme Kerl hat ja auch gar keine eigenen Bücher.
Auf jeden Fall nimmt sich Filius der Geschichte mit der Akupunktur an und zwar drastisch. Seine kleinen Geschwister müssen ihre Hände ausstrecken und ehe sie sich versehen haben, hat ihnen der große Bruder feine Kanülen, wie man sie zur subcutanen Injektion benutzt, in die Haut der Handinnenflächen gebohrt.
"Das tut ja gar nicht weh!" Tim ist total perplex und auch die Mädchen sind begeistert.
Mit einem großen Bogen Zeichenkarton und Farbstiften malt ihnen Filius bunte Linien und putzige Männchen auf. Nervenbahnen, Endorphine und was eben alles wichtig Ist. Er schafft es tatsächlich, ihnen das Prinzip der Akupunktur so zu erklären, dass selbst unsere Sarah es begreift.
Ich muss es ja zugeben, ein bisschen bewundere ich meinen Großen ja, aber das werde ich selbstverständlich nicht laut sagen. Dann schnappt er nämlich gleich wieder über und wird am Ende noch Größenwahnsinnig.

 

 

 

 


 

 

Kapitel 24

Ein weiterer und zudem völlig unnützer Arzttermin steht auf dem Plan: Ein Besuch bei einem Radiologen zwecks einer Schilddrüsen-Szintigrafie.

Ich bin Stock sauer. Diese Untersuchung hatte ich bereits im Dezember über mich ergehen lassen und nur weil das Personal des Krankenhauses, in dem ich die Untersuchung schon einmal habe machen lassen, die Unterlagen weder an meine hiesigen Ärzte, noch an den medizinischen Dienst schickten, darf ich den Spaß jetzt noch einmal mitmachen. Es ist ja nicht nur so, dass diese völlig überflüssige zweite Untersuchung das Budget unnötig belastet, die Untersuchung belastet auch meinen Organismus über Gebühr. Wären wir in Amerika, könnte ich das besagte Krankenhaus auf Schmerzensgeld verklagen, da ich keine Zeit mehr habe, um noch länger auf die Befunde zu warten.

In der Radiologie Praxis werde ich überaus freundlich begrüßt. Da ich beizeiten schon mitgeteilt hatte, dass ich nicht allzu lange im Wartezimmer sitzen kann, komme ich sofort an die Reihe. Man kann sich sicherlich vorstellen, dass ich hocherfreut bin. Dr. K. begrüßt mich, ein charmanter Berliner, der seine Herkunft nur schlecht verbergen kann und sich bei mir für sein Berlinerisch entschuldigt. Mich stört seine Berliner Schnauze keineswegs, ganz im Gegenteil, sie macht ihn ausgesprochen sympathisch. Nachdem ich die Szintigrafie über mich ergehen lassen habe, das Liegen auf dem Rücken ist immer noch eine Tortur, nimmt Dr. K. noch eine Sonografie der Schilddrüse vor. Von dem Ergebnis ist er keineswegs begeistert: Im Ultraschallbild finden sich drei auffällig große Knoten, die alle drei immerhin die Größe von elf Millimetern aufweisen. Für Knoten in der Schilddrüse schon eine beachtliche Größe. So entschließt er sich also, noch eine Punktion der Knoten vorzunehmen, was mich keinesfalls begeistert. Die Vorstellung, mir bohrt einer mit einer Kanüle im Hals herum, finde ich eher beängstigend, dennoch ist mir klar, dass nicht darauf verzichtet werden kann. Also Augen zu und durch. Und mal wieder ist es halb so schlimm, wie es sich im ersten Moment anhört. Dennoch bin ich froh, es hinter mir zu haben. Jetzt heißt es wieder Geduld aufbringen und warten. Dauert gut zwei Wochen, bis das Ergebnis der Szintigrafie vorliegt, das Ergebnis der Gewebeprobe lässt noch auf sich warten,

Birgit ist ein bisschen unzufrieden, weil die Szintigrafie kein konkretes Ergebnis gebracht hat. Dr. K. kann weder bedingungslos einer medikamentösen Therapie noch einer Operation zustimmen. Alles ist jetzt erst mal abhängig von der Gewebeprobe. Was, wenn die genauso unklar ist?

"Wieso kannst du denn nicht auch mal deinen Körper auffordern, wenigstens in einem Punkt mit präzisen Ergebnissen rüber zukommen. Bei dir hat man immer das Gefühl, man muss Katz und Maus spielen, egal was es ist. Wenn du mit unklaren Symptomen kommst, kriege ich Angstzustände, weil ich nie weiß, was dabei rauskommt. Vor allen Dingen, ob überhaupt etwas bei herauskommt. Können die denn jetzt im Krankenhaus was damit anfangen?"

“Weiß ich auch nicht, Birgit. Am besten ist es wohl, wir warten erst einmal die Gewebeprobe ab, oder?"
"Ja, werden wir wohl müssen, aber dass wir dann schlauer sind, möchte ich noch bezweifeln.“

 
Es dauert tatsächliche weitere vierzehn Tage, bis das Ergebnis endlich vorliegt. Es sind tatsächlich maligne Zellen gefunden worden. Allerdings ist es immer noch nicht sicher, ob es sich um einen Schilddrüsentumor handelt oder nicht, lediglich der Verdacht ist erhärtet. Die malignen Zellen können auch noch von meinem Gebärmutterkrebs im Juli des Vorjahres herrühren. Diese Zellen haben, wie mir erklärt wird, die Angewohnheit, sich in der Schilddrüse abzulagern. Das heißt aber nicht, dass sie dort auch einen erneuten Krebsherd auslösen. Oft passiert über viele Jahrzehnte gar nichts, wenn man sie in Ruhe lässt. Unglaublich, was es alles gibt.

 
Eigentlich bräuchte ich jetzt jemanden zum Reden, aber die Familie ist komplett ausgeflogen.
Meine Schwiegermutter ist nach Hause gefahren, um in ihrem gut vierhundert Kilometer entferntem Heim nach dem Rechten zu sehen und hat Amrei und Sarah mitgenommen.
Michael ist für ein paar Wochen in London, um von dort aus Urlaubsfahrten durch England für den Betrieb zusammenzustellen.

Filius hat seine Prüfung erfolgreich geschafft und erholt sich mit einigen anderen Kommilitonen in Dänemark vom Prüfungsstress und Tim wohnt vorübergehend bei einem Schulfreund um die Ecke, wäre aber wohl auch nicht der rechte Gesprächspartner für meine Sorgen und Gedanken. Dennoch genieße ich die Ruhe im Haus, lese, höre klassische Musik, male und faulenze den ganzen Tag.
Es ist niemand da, der mir andauernd erzählt, ich müsste doch etwas essen oder mich mal wieder ein bisschen hinlegen oder sonst etwas.
Selbst die Pflanzenpflege in meinem üppigen Wintergarten darf ich mal wieder alleine durchführen und kann so einige Pflanzen vor dem sicheren Tod durch Überdüngung bewahren.
Meine Schwiegermutter meint es nicht nur mit mir, sondern auch mit meinen Blumen viel zu gut. Den Dünger werde ich wohl verstecken müssen.

Mein Zahnarzt reißt mich aus meiner Lethargie.
Als meine Rückenprobleme im Oktober gigantische Ausmaße annahmen, waren wir mitten in einer Zahnbehandlung. Mehrmals versuchten wir, die Behandlung zum Abschluss zu bringen, aber es war unmöglich. Ich konnte beim besten Willen nicht im Behandlungsstuhl liegen.
Mittlerweile hat mein Zahnarzt, der ohnehin dabei war, seine Praxis zu modernisieren, einen Behandlungsstuhl erworben, in dem eine Stufenlagerung möglich ist. Ich darf ihn sozusagen einweihen. Ich kann es nicht glauben, aber es funktioniert. Die Stufenlagerung macht es uns möglich, die Zahnbehandlung abzuschließen.
Leider stellt sich heraus, dass ein Zahn, bei dem Dr. M. eine Wurzelbehandlung durchgeführt hatte, nun doch gezogen werden muss. Der erste Zahn bei mir, der dran glauben muss. Dr. M. hatte mir vor Jahren die Angst vorm Zahnarzt genommen. Jahrelang, genauer gesagt Jahrzehntelang, hatte mich keiner mehr zu einem Zahnarzt bekommen.
Als ich vierzehn war, wollte mir mein damaliger Zahnarzt einen Backenzahn rechts unten ziehen. Was auch immer er gemacht hat, der Zahn blieb drin, dafür war mein Unterkiefer ausgerenkt.
Mein Vater schleppte mich sofort zu einem Kieferorthopäden, der ohne jede Vorwarnung den Kiefer reponierte. Das war sicher richtig so und ein Schmerzmittel war vermutlich auch unnötig, denn es war ein zwar heftiger, dafür aber auch ein sehr kurzer Schmerz. Sinnvoll wäre es aber wohl gewesen, hätte er mich vorgewarnt. Nach diesem Zwischenspiel bin ich zu keinem Zahnarzt mehr gegangen, bis ich durch Freunde auf Dr. M. stieß.
Wir waren zu einer Grillparty eingeladen und dort unterhielt ich mich mit einem jungen Mann über meine Aversion gegen Zahnärzte. Meine Ängste konnte er durchaus nachvollziehen und bot mir spontan an, doch mal in seine Praxis zu kommen. Er könnte doch mal ganz unverbindlich einen Zahnstatus aufnehmen und dann könne man ja weitergehen.
Bis zu diesem Augenblick hatte ich keine Ahnung gehabt, dass es sich um einen Zahnarzt handelte, aber ich wagte den Schritt und besuchte ihn in seiner Praxis. Ich bin froh darüber, ihn kennengelernt zu haben. Endlich ein Zahnarzt, der mit meiner Angst umgehen konnte und viel Fingerspitzengefühl bewies.

 
Am frühen Freitagvormittag hatte mir der Radiologe Dr. K. zu einem Krankenhausbett verholfen, nachdem er dem Kollegen dort klargemacht hatte, wie dringend ich das Bett benötigte.
Gleich anschließend hatte ich meinen Zahnarzttermin und hatte eigentlich geplant, von dort aus zu Dr. L. zu gehen, um mir die Einweisung und den Transportschein abzuholen. Nachdem nun aber der Zahn nicht Planmäßig gezogen werden musste und wir uns aufgrund des bevorstehenden Krankenhausaufenthaltes für sofort entschieden, musste ich doch erst einmal zu Hause Zwischenstation einlegen. Nach etwa vier Stunden war klar, dass keine Schmerzen einsetzen würden und ich konnte mich auf den Weg zu Dr. L. machen. Trotz meiner leichten Sprachschwierigkeiten, die ich noch habe, unterhalten wir uns kurz über die Blitzaktion mit den Bett. Dr. L. trägt dem Krankenhauskollegen immer noch die Geschichte mit der kollegialen Rüge wegen der Noteinweisung nach und ärgert sich, dass plötzlich so akut ein Bett frei ist, was doch vor Wochen noch unmöglich war. Dennoch ist er natürlich froh, dass es offenbar weitergeht.

 


 

 

Kapitel 25

 

 

 

Montagmorgen stehe ich mal wieder in einer zentralen Patientenaufnahme - ein inzwischen vertrautes Ritual. Dank meines Fahrers, der sich nicht gescheut hatte, sich an der Anmeldung vorzudrängeln, lande ich schnell auf der Station.
Es ist ein eigenartiges Gefühl, als Patient in ein Haus zu gehen, in dem man selbst gearbeitet hat. Alles ist vertraut und „doch irgendwie fremd. Zum ersten Mal spüre ich überdeutlich, dass ich hier auf der anderen Seite stehe: Ich bin Patient!

Auf der neurochirurgischen Station werde ich freundlich begrüßt. Man spricht mich mit Du an, denn schließlich bin ich eine Arbeitskollegin. Schwester Sonja erklärt mir, als ehemalige Mitarbeiterin des Hauses hätte ich Anspruch auf ein Einzelzimmer, momentan sei aber keines frei, ob sie denn das Zimmer für mich vormerken soll. Nein, ich will kein Einzelzimmer. Ich brauche Gesellschaft. Wenn ich den ganzen Tag hier alleine rumliegen soll, werde ich wahnsinnig. Ich bin auch nicht der Typ, der von morgens bis abends fernsehen kann, dazu ist mir das Fernsehprogramm viel zu trivial.
Pfleger Olaf führt mich also in ein Dreibett-Zimmer und erklärt mir auf dem Weg dorthin, man habe, weil ich doch eine Kollegin sei, die sich möglichst wohl fühlen soll, einen Fensterplatz für mich reserviert.
Von diesem Fensterplatz bin ich überwältigt. Wir befinden uns im sechsten Stock und ich habe einen gigantischen Blick über die Stadt vor mir. Eine riesige Fensterfront lässt alles offen, man darf nur keine Höhenangst haben. Ein Blick, wie aus einem Fünfsternehotel.
Olaf stellt mir meine beiden Zimmergenossinnen vor:
Frau R., die nach einer operativen Entfernung eines Hirnabszesses das Sprachvermögen verloren hat, aber ansonsten geistig völlig fit ist. Sie versteht alles und kann auch mit Hilfe eines Blatt Papiers und eines Kugelschreibers antworten, nur sprechen kann sie eben leider nicht.
Frau L. hatte auf der linken Hirnseite ein Aneurysma, eine krankhafte Erweiterung einer Hirnarterie, das entfernt wurde. Auch auf der rechten Seite befindet sich eines, auf die OP wartet sie nun noch.
Eigentlich hätte Olaf mir das alles gar nicht erzählen dürfen, damit hat er eindeutig die Schweigepflicht verletzt. Wobei ich mich aber immer wieder frage, wo die ärztliche Schweigepflicht eigentlich bei der Visite bleibt. Da wird schließlich auch ungeniert über den Patienten, seine Diagnose und die therapeutischen Maßnahmen diskutiert und die wenigsten Patienten setzen sich zur Wehr.
Natürlich wäre es übermäßig Zeitaufwendig, jeden Patienten einzeln ins Arztzimmer zu bitten und es ist auch nicht durchführbar, jedem Patienten ein Einzelzimmer zu ermöglichen, aber wenn man der Gesetzgebung genügen wollte, müsste man so arbeiten. Vermutlich steht man auf dem Standpunkt, die Patienten tauschen sich ja sowieso aus. Wenn man danach geht, könnte man die Schweigepflicht genauso gut abschaffen, denn auch in Wartezimmern bei niedergelassenen Ärzten werden Krankengeschichten ausgetauscht und nicht selten passiert es auch hier, das an der Anmeldung schon Dinge aus der Privatsphäre des Patienten diskutiert werden.
Ich habe jedenfalls schon häufiger dumme Gesichter zu sehen bekommen, wenn mich eine Arzthelferin an der Anmeldung nach meinen Beschwerden fragte und zu hören bekam, dass ich das doch lieber mit dem Arzt besprechen würde. Insbesondere dann, wenn noch zehn andere Patienten um einen herumstehen. Warum Olaf mir alles über meine Mitpatienten erzählt hat, bekomme ich allerdings schnell heraus. Man baut auf meine Mitarbeit. Beide Damen kommen nicht alleine zurecht, sie sind auf ständige Hilfe angewiesen und brauchen eigentlich eine Kontrolle rund um die Uhr. Da das nicht möglich ist, hofft man, dass ich zumindest die Klingel bediene, wenn irgendetwas nicht stimmt.
Am Anfang sträubt sich alles in mir, bei dem Gedanken an dieses Ansinnen. Schließlich bin ich Patient. Gottlob nicht so krank wie die beiden neben mir, aber doch krank genug, um hier nicht Krankenschwester zu spielen.
Je besser ich die beiden kennenlerne, um so lieber mag ich sie und um so weniger stört mich das Ansinnen des Pflegepersonals.
Frau R. liebt es über alles, wenn man ihr vorliest und Händchen hält, ihr ab und zu mal über die Wange streichelt und ihr ein bisschen was erzählt. Dann leuchten die blauen Augen auf und strahlen einen glücklich an. Nur wer sich ausgiebig mit ihr beschäftigt, spürt, dass ihr starke Schmerzen zu schaffen machen. Wenn man dann ihre Hand nimmt, ist sie glücklich und alles scheint leichter zu ertragen zu sein. Außerdem ist sie rundum verkabelt: Monitoring, ZVK, Perfusoren, die ständig wegen irgendetwas piepsen, Infusionen, Magensonde, Drainagen und, und, und...
Mit der Zeit wird es für mich zur Gewohnheit, wenn ich an ihrem Bett stehe und es fängt irgendwo an zu piepsen, einen fachkundigen Blick auf die Apparate zu werfen. Und, wie ich es einmal gelernt habe, reflexartig Knöpfe zu drücken, um die Piepserei abzustellen, neue Infusionen in Gang zu bringen oder den Perfusor zu entlüften.
Frau L. ist genauso liebenswert. Durch die OP ist sie in ihrer Gehirnfunktion stark eingeschränkt. Das Gedächtnis funktioniert nicht mehr richtig, geistig scheint sie eine rapide Rückentwicklung durchgemacht zu haben und sie wirkt phlegmatisch. Eigentlich soll sie mindestens sechs Stunden am Tag mobil sein, spazieren gehen, am Tisch sitzen und so weiter, aber die meiste Zeit liegt sie im Bett und schläft. Sachte versuche ich sie anzutreiben und ermuntere sie immer wieder zu kleinen Spaziergängen. Obgleich mir das Laufen, bedingt durch die Schmerzen schwerfällt, mache ich mit ihr Wanderungen über den Stationsflur und manchmal fallen ihr dann Kleinigkeiten aus ihrem Leben ein, die sie mir erzählt. Wenn ich dann über ihre kleinen Anekdoten lache, leuchtet auch ihr Gesicht vor Glück auf. Jedes Mal wird mir dann um so härter bewusst, wie sehr mir meine Arbeit fehlt.
Auch mit den Angehörigen meiner beiden 'Sorgenkinder' freunde ich mich schnell an. Wenn die Damen frische Blumen für den Nachtschrank mitgebracht bekommen, ist auch für mich ein Strauß dabei. Bücher häufen sich auf meinem Nachttisch und Pralinenschachteln stapeln sich gleich daneben und das, wo ich doch überhaupt keine Süßigkeiten esse. Aber meine Kinder werden sich freuen.
Die Bücher rühre ich erst einmal nicht an, denn das Krankenhaus verfügt über eine hervorragende Bibliothek. In Anbetracht meiner Gehstützen bringt mir die Bibliothekarin einen Autorenkatalog, den ich aber etwas lustlos durchblättere. Schließlich fragt sie mich, was ich denn gerne lese.
“Interessant muss es sein, spannend und anspruchsvoll,“ erkläre ich ihr. Sie überlegt einen Augenblick und stapelt dann fünf Wälzer vor mich hin. Ich sehe den kleinen Stapel durch und erkläre zu ihrer Verblüffung: "Nicht schlecht und wenn Sie jetzt noch etwas finden, dass ich noch nicht gelesen habe, dann haben Sie mir sehr geholfen."
Letztendlich ziehe ich mit sechs Neuerscheinungen im Gepäck wieder ab.
Bei diesen Besuchen in der Bibliothek treffe ich immer wieder auf eine alte Dame. Endlich kommen wir beide mal ins Gespräch. Ich staune, als sie mir erzählt, dass sie bereits 92 Jahre alt ist. Für dieses sagenhafte Alter finde ich sie noch ganz schön rüstig.
"Ja mein Kind und wissen Sie was mich am Leben hält?“ "Na, da bin ich jetzt aber gespannt."
“Die Bücher hier,“ sagt sie und dreht sich mit ausgebreiteten Armen einmal im Kreis. "Es gibt nämlich so vieles, was ich noch nicht gelesen habe! Sie sehen, ich habe noch lange keine Zeit zum Sterben.“

Also wenn das kein Grund ist, was dann? Nach einer Woche Krankenhausaufenthalt hat sich Dr. B., der stellvertretende Stationsarzt, endlich zu diagnostischen Maßnahmen entschlossen. Als erstes hat er, zum Eingewöhnen sozusagen, eine Lumbalpunktion geplant. Mit einer Krankenschwester als Verstärkung rückt er am Nachmittag an, um zur Tat zu schreiten. Die leichte Lokalanästhesie, die für gewöhnlich vorher vorgenommen wird, will er nicht machen. Die würde doch genauso weh tun, als wenn er gleich punktiere, erklärt er mir. Hier irrt das Genie, denke ich bei mir. Anders gesehen möchte ich es aber auch so schnell wie möglich hinter mich bringen und so verzichte ich ausnahmsweise auf das Diskutieren. Außerdem bin ich ja hart im Nehmen und Schmerzen habe ich so oder so ständig, da machen ein paar mehr auch nichts aus. Ich soll mich so weit wie möglich nach vorne beugen, am besten so weit, dass ich das Kinn auf die Brust legen kann. Es funktioniert nicht. Meine Schmerzen werden durch diese Haltung unerträglich, so dass ich mich instinktiv dagegen wehre. Aber ist der Patient nicht willig, gebraucht die Schwester Gewalt. Wahrscheinlich macht Schwester Bärbel jeden Tag ein paar Stunden Bodybuilding, denn mühelos schafft sie es, mich in die Position zu zwängen, die dem Doktor genehm ist. Mir ist jetzt schon völlig gleichgültig, ob Dr. B. die Lumbalpunktion mit oder ohne Lokalanästhesie durchführt, es tut auch so schon genug weh. Mir laufen wieder mal vor Schmerzen die Tränen. Dazu kommt noch, dass Dr. B. offenbar Probleme mit der Einstichstelle hat. Immer wieder tastet er die Lendenwirbelsäule ab und das nicht gerade mit Feingefühl. Endlich scheint er mit dem gefundenen Punkt zufrieden zu sein, markiert sich aber vorsichtshalber die Stelle noch mit Kugelschreiber. Es könnte ja sein, dass er jetzt desinfiziert und bis das Desinfektionsmittel gewirkt hat, hat er die Stelle wieder vergessen, nicht auszudenken. Meine unmittelbare Bettnachbarin zieht hörbar die Luft ein, als sie die Spinal Kanüle sieht, mit der mir Dr. B. zu Leibe rückt. Ich kann meine Bettnachbarinnen nicht sehen, aber an der angespannten Atmung und der Spannung, die im Raum liegt, spüre ich deutlich, dass sie mit mir fühlen.
Wenn Dr. B. doch endlich zu Rande käme. Aus mir unbegreiflichen Gründen hat er seine Utensilien wieder zur Seite gelegt. Was macht der bloß?
Jetzt hat der tatsächlich vergessen sterile Handschuhe anzuziehen, das kann doch nicht wahr sein!?
Schwester Bärbel lässt mich los, weil der Doktor die Handschuhe im Verbandswagen nicht findet, obgleich der Karton mit den sterilen Handschuhen gut sichtbar oben auf dem Wagen steht. Ich jedenfalls sehe ihn von meiner Position aus deutlich.
Während Schwester Bärbel dem Doktor in die Handschuhe hilft, kann ich einen Blick auf meine Zimmerkolleginnen werfen. Beide sehen blass aus, hoffentlich wird ihnen nicht noch schlecht. Diesen Eingriff bei mir, in unserem Zimmer vorzunehmen, ist für meine beiden Leidensgefährtinnen eine echte Zumutung, aber offenbar gibt es auf dieser Station keinen Untersuchungs- oder Behandlungsraum.
Endlich ist Dr. B. einsatzfähig. Hoffentlich ist er jetzt nicht so dämlich und fasst noch irgendetwas an, was nicht steril ist, dann kann er die Handschuhe gleich wieder wechseln gehen.
Nun, diesmal scheint es ja so zu klappen, wie er sich das vorstellt. Vorsichtshalber desinfiziert er noch einmal und greift zu einer neuen Spinal Kanüle, während Schwester Bärbel mich wieder im Schraubzwingen Griff hat. Also dann, auf ein Neues!
Jetzt trifft er den richtigen Punkt nicht, das darf einfach nicht wahr sein. Wenn er schon die leichte Betäubung vorweg ablehnt, dann soll er gefälligst auch vernünftig arbeiten, denke ich bei mir und werde langsam sauer. Wenn er jetzt nicht gleich trifft, kann er was erleben.
Nach dem fünften Versuch, ich bin bereits schweißgebadet, er wahrscheinlich auch, verkündet er stolz, jetzt sei er 'drin'. Das hoffe ich für ihn, denn langsam wird es unerträglich, aber der heftige Schmerz, den ich gerade verspürte, spricht dafür, dass er jetzt an Ort und Stelle ist.
Wenigstens verzichtet er auf die Methode des Aspirierens. Dabei wird mittels Spritze der Liquor abgesaugt. Als Patient hat man dabei ständig das Gefühl, das Stromstöße durch den Körper jagen.
Das liegt an der Nervenreizung, die durch das Ansaugen ausgelöst wird.
Doktor B. hält lediglich ein Probenröhrchen unter die Öffnung der Spinal Kanüle und fordert mich einige Male auf, zu husten. Durch den Druck, der beim Husten entsteht, fließt der Liquor von alleine ab und tropft durch die Kanüle in das Röhrchen. Diese Methode ist für den Patienten weniger unangenehm und geht genauso schnell wie das Aspirieren.
Beim Herausziehen der Kanüle durchfährt mich der gleiche heftige Schmerz, wie beim Einstechen vorhin. Mit der Betäubung vorweg, wäre das nicht nötig gewesen, aber ich lebe ja noch.
Kaum ist die Kanüle draußen, setzen heftige Kopfschmerzen ein.
Mein übliches Problem, da ist es wieder!
Sofort werde ich auf dem Rücken gelagert, eine Rolle unter die Knie und jetzt hoffen alle, dass ich auch so liegen kann. Im Augenblick schon, die Frage ist nur, wie lange?
Immerhin ist Dr. B. so nett, mir sofort etwas gegen die Kopfschmerzen zu spritzen. Für alle Fälle legt er vorsorglich noch eine Braunüle.
Hier ist er auf jeden Fall Fachmann, die Braunüle liegt da, wo sie hingehört, nämlich auf dem Handrücken. Tausend Dank!
Die Übelkeit lässt auch nicht lange auf sich warten und prompt fange ich auch wieder an zu spucken. Postwendend erhalte ich eine Infusion nebst Vomex A, hoffentlich hilft es.
Dr. B. fühlt sich ein bisschen verantwortlich für meinen Zustand. Ein bisschen zerknirscht gesteht er, mehr Liquor entnommen zu haben, als eigentlich gut ist. Aber für die geplanten Test' s hätte er sonst mindestens drei Punktionen durchführen müssen und so kommen wir mit zwei aus. Wirklich nett, dass er mir erzählt, dass er zwei Lumbalpunktionen geplant hat. Dennoch erkläre ich ihm, dass er trotz allem nicht viel für meinen Zustand kann; seid der letzten bakteriellen Meningitis bin ich einfach überempfindlich und vor Jahren haben mir bereits Neurologen mitgeteilt, dass sich daran auch nichts ändern wird. Ich könne ohnehin froh sein, dass das die einzige Schädigung ist, die ich davon zurück behalten habe.
Ausgesprochen liebevoll versuchen die Pflegekräfte, sich um mich zu kümmern und auch Schwester Bärbel, die von mir schon den etwas unfeinen Spitznamen 'Schwester Rabiater' erhalten hat, kehrt das mütterlich-Feinfühlige nach außen. In Gedanken leiste ich Abbitte.

Die Angehörigen meiner beiden 'Sorgenkinder' fühlen sich heute für mich zuständig. Immer wieder legt mir jemand einen kühlen Waschlappen auf die Stirn oder hält tatsächlich meinen Kopf, wenn ich mich übergeben muss und die Schwestern nicht schnell genug sind. Zwischendurch sitzt auch mal jemand auf meiner Bettkante und hält Händchen. Es ist schon etwas dran: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es auch heraus!
Das Abendessen darf Schwester Maike gleich wieder mitnehmen. Schon der Anblick verursacht Würgereiz. Da sie aber den Tee hat stehen lassen, reicht mir der Lebensgefährte von Frau L. den Fencheltee Teelöffelweise an. Ich behalte ihn tatsächlich drin, das Spucken lässt nach.
Kurz nach sechs Uhr beehrt mich Bernd mit seinem Besuch. Erschrocken starrt er auf mich herunter und fragt vorsichtig an, was sie denn mit mir angestellt haben. "Lumbalpunktion," flüstere ich. Selbst meine eigene Stimme verursacht Kopfschmerzen bei mir.
“Das darf doch nicht wahr sein, davon geht es dir so schlecht?"
"Das ist normal, so geht es mir immer, wenn irgendjemand meint, er müsse mit einer Nadel in meiner Wirbelsäule herumstochern. Warum lasse ich mir das bloß immer wieder gefallen?"
"Weil du ein kluges Mädchen bist und einsiehst, wenn etwas notwendig ist. Was hast du denn überhaupt, ist dir übel? Du bist weiß wie ein Laken. Man findet dich kaum wieder in deinen Kissen."
"Auch, aber in erster Linie habe ich scheußliche Kopfschmerzen. Du könntest mir bitte einen Gefallen tun, Bernd."
"Was denn, mein Engelchen?"
"Sprich bitte nicht so laut!"
"So schlimm sind deine Kopfschmerzen? Ich werde nur noch flüstern, versprochen oder soll ich lieber ganz meinen Mund halten?"
"Nein. Hast du Feierabend?"
“Ja und da dachte ich, ich schau noch mal kurz bei dir rein. Jan und Roland wollten eigentlich mitkommen, aber ich habe ihnen gesagt, ich schau erst mal, wie es dir geht. War wohl eine innere Eingebung."
"War viel los?"
"Na ja, war ziemlich hektisch heute."
"Wer hat dich gefahren?"
"Stephan.“
"Stephan. Das ist ja nicht schlecht, da hast du wenigstens einen vernünftigen Fahrer."
"Mach dir mal keine Sorgen, dass klappt schon. Du solltest lieber versuchen zu schlafen, kann ich noch irgendetwas für dich tun?"
"Stellst du mir das Kopfteil ein bisschen höher?"
"Ist das gut? Solltest du nicht lieber flach auf dem Rücken liegen?"
"Das tue ich seit Stunden, es geht nicht mehr. Bitte Bernd, die anderen machen es doch nicht. Die sechs Stunden sind noch nicht herum."

"Dann sollte ich das auch nicht tun."

"Na schön, dann stehe ich jetzt eben selbst auf und mache es, ich komme doch im Liegen nicht ran, weil ich mich nicht so verdrehen kann."

"Wirst du wohl liegen bleiben!"

“Schlimmer können die Kopfschmerzen auch nicht mehr werden."

"Nee, aber sie können Wochenlang anhalten, wenn du jetzt aufstehst. Das hat doch alles seinen Sinn, das solltest du doch wissen."

"Denkt vielleicht auch mal jemand an meinen Rücken?"

"Na schön, aber nur ein kleines bisschen. Und wenn dich irgendwer fragt, wer das Kopfteil höher gestellt hat, wage es nicht zu erzählen, dass ich das war!“

"Danke. Es reicht ja auch, wenn du es nur ganz wenig anhebst. So ist schon genug. "

"Du wirst quengelig! Das hätte ich nie geglaubt, jedenfalls nicht bei dir. Aber wenn ich Monatelang so herumlaufen müsste, wer weiß - ich glaube, ich wäre noch viel schlimmer.“

"Bist du mir böse, wenn ich dich jetzt nach Hause schicke. Ich fühle mich total daneben."

"Natürlich nicht, Engelchen. Versuch zu schlafen, ja? Ich komme die nächsten Tage mal wieder rein." Bernd verabschiedet sich mit einem Kuss von mir, selbst der ist mir heute zu viel, aber das kann ich ihm ja schlecht sagen. Zum Glück geht es mir am nächsten Morgen besser. Also beschließt Dr. B., dass er dann ja auch das Schädel CT machen lassen kann. Wieder einmal bin ich froh darüber, dass ich nicht unter Klaustrophobie leide. Auf der anderen Seite frage ich mich allerdings aber, was ein Schädel CT bringen soll. Aber ich bin ja nicht der Arzt.
Die Myelografie, wegen der ich eigentlich hier bin, ist immer noch nicht gemacht. Erst mal haben sie wieder Blut abgenommen, um anhand der Schilddrüsenwerte zu sehen, ob eine Durchführung schon möglich ist. Das CT war Zeitaufwändig, aber nicht sonderlich belastend. Trotzdem bin ich froh, als ich wieder in meinem Bett liege. Der gestrige Tag hängt mir doch noch nach. Für Erheiterung sorgt Frau L., die mich, wuschelig wie sie im Augenblick manchmal ist, fragt, wo ich ihr Auto geparkt habe. Zuerst bin ich etwas ratlos, was soll ich ihr denn antworten? Ich habe ihr Auto ja noch nie gesehen. Am leisen Glucksen von Frau R. höre ich, dass diese sich über die Frage von Frau L. amüsiert.
Ein zweites Mal fragt Frau L. nach ihrem Auto, diesmal schon deutlich hartnäckiger.
"Also, ich denke, dass steht draußen auf dem Parkplatz,” murmele ich ein bisschen unsicher.
"Da wird es ja nass!" entrüstet sich Frau L,
"Na ja, also genau genommen, habe ich es ja unter der Überdachung geparkt," erkläre ich ihr.
"Das ist gut, da wird es dann ja auch nicht nass. Wo hast du denn den Schlüssel?"
"Den Schlüssel? Also, ich weiß gar nicht, wo der geblieben ist. Vielleicht in deiner Handtasche?"
"Nein, da ist er nicht, das weiß ich genau!"
"Tja, wo kann er denn da sein?" Ich bin wirklich ein bisschen hilflos, was soll ich ihr denn bloß sagen?
"Ich weiß wo der ist!", ruft Frau L. plötzlich triumphierend aus. Lieber Himmel, was kommt jetzt?
"Wo denn?", frage ich vorsichtig an.
"Den hat mein Mann. Der ist mit meinem Auto nach Helgoland gefahren."
"Nach Helgoland? Mit dem Auto?" Nun bin ich doch ein bisschen verwirrt, aber auch erheitert.
"Na klar mit dem Auto, wie soll man denn sonst nach Helgoland kommen?"
Diese Frage werde ich jetzt mal lieber nicht beantworten. Dafür lacht Frau R. plötzlich laut und vergnügt los. Wie schön. dass sie so lachen kann, bisher hat sie höchstens mal gelächelt. Ein herrliches Glücksgefühl breitet sich in mir aus, so, als sei eine liebe Freundin aus einer tiefen Traurigkeit erwacht.

Die nächsten paar Tage passiert erst mal wieder nichts. Ein bisschen genieße ich die Ruhe vor dem Sturm und verbringe die Zeit lesend und träumend.
Die Ruhe hält nicht lange an. Dr. B. hat sich mal wieder eine neue Quälerei ausgedacht.
Gleich nach dem Frühstück werde ich zur EMG begleitet. Bei der EMG (Elektromyografie) wird die Muskelaktivität gemessen und das auf eine höchst barbarische Art.
Dr. G., ein Neurologe mittleren Alters begrüßt mich überaus freundlich. Er erklärt mir kurz den Untersuchungsverlauf und macht sich dann unverzüglich an die Arbeit.
Ich muss mich auf einer Liege lang ausstrecken. Wie ich das Liegen auf dem Rücken hasse!
Dr. G. bringt Elektroden an verschiedenen Punkten an meinem rechten Bein an und erklärt mir, er würde nun kleine Stromstöße auslösen, die zu einer Muskelanspannung und - Entspannung führen würden. Aufgrund der späteren Auswertung könne man Rückschlüsse auf eine mögliche Muskelerkrankung ziehen.
Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich noch keine Ahnung, was auf mich zukommt.
Die ersten Stromstöße erfolgen sachte und mit Vorwarnung, also kein großes Problem. Leider werden die Stromstöße immer heftiger und schließlich kommen sie ohne jede Vorwarnung. Die Stromstöße lösen nicht nur heftige Schmerzen aus, ich werde auch höchst unsanft von der Liege gehoben. Woran liegt es wohl, dass mich dieser Vorgang so intensiv an den Defi in meinem NEF erinnert?
Irgendwie verliere ich jede Form der Kontrolle über meinen Körper, aber mir ist jetzt auch klar, warum die Schwester mich gedrängt hatte, vorher noch auf die Toilette zu gehen. Bei einer gut gefüllten Blase wäre das jetzt, aufgrund der mangelhaften Körperkontrolle, schief gegangen.
Nach einer Weile werden die Elektroden am linken Bein angebracht, das ganze Spiel noch mal!
Ich atme auf, als auch am linken Bein die Elektroden entfernt werden.
Wenn ich jetzt gedacht habe, das sei alles gewesen, habe ich mich aber geschnitten. Die Tortur fängt erst an.
Dr. G. erklärt mir mit einem freundlichen Lächeln, dass er nun Nadelelektroden in die Beinmuskulatur stechen wird. Auch über diese Elektroden werden Stromstöße in die Muskeln geleitet. Na vielen Dank auch!
Jetzt kommt wirklich die schlimmste Form dieser Untersuchungsmethode. Während das Einstechen der Nadel an sich noch kein Problem und auch nicht wirklich schmerzhaft ist, verursachen die Stromstöße dagegen ausgesprochen heftige Schmerzen. Zudem werden die Nadeln auch noch hin und her bewegt. Mir laufen wieder mal die Tränen und ich kann mir hin und wieder ein lautes Stöhnen nicht verkneifen. Der einzige Gedanke, der mich beherrscht ist: Hoffentlich ist der bald fertig!!!
Irgendwann habe ich es überstanden, aber ich zittere am ganzen Körper und habe meinen Körper irgendwie nicht mehr richtig unter Kontrolle. Ein furchtbares Gefühl.
„Tut mir wirklich leid, dass ich Sie so gequält habe, aber wenn ich mir den Ausdruck hier so ansehe, möchte ich doch meinen, dass alles okay ist.”

“Neurologen sind ausgemachte Sadisten!", rutscht es mir heraus.
Zuerst mustert mich Dr. G. entgeistert, dann huscht ein Lächeln über sein Gesicht, das sich zu einem breiten Grinsen auswächst.

"Da haben Sie gar nicht mal so unrecht. Wissen Sie, was wir geworden sind, als es noch keine Neurologen gab?"

"Na, da bin ich jetzt aber gespannt.”

"Sie werden es nicht für möglich halten: Henkersknechte!”

"Nach dieser Geschichte glaube ich das allemal.“

"Na ja, Sie sind ja auch selbst schuld, so gesehen. Man hat doch nicht rechts Schmerzen, wenn man links einen Bandscheibenvorfall hat, das müssen Sie doch nun wirklich zugeben."

"Vielleicht haben Sie damit recht, aber jetzt müssen Sie auch was zugeben."

"Aha, was denn?"

"Trotz der Folter habe ich geschwiegen und es mir nicht anders überlegt. Also, wer hat jetzt den längeren Atem?”

"Ja, ich werde Dr. B. folgendes mitteilen: Patientin gestand auch unter Folter die Hypochondrie nicht ein. Leider weiß ich nicht, was ich Ihnen jetzt noch antun kann, um Sie eines Besseren zu belehren. Sie haben recht, diese Runde ging eindeutig an Sie!"

Wir müssen beide lachen und sind miteinander versöhnt. Dennoch bleibe ich dabei: Neurologen sind Sadisten!

 

Es ist mal wieder Wochenende und nichts passiert. Ich weiß immer noch nicht, ob die nun die Myelografie noch machen oder nicht. Aber ich staune.

Seit zwei Wochen bin ich jetzt schon hier und es ist noch keiner auf die Idee gekommen, mich vor die Tür zu setzen. Der Samstag vergeht ruhig und gemütlich. Für einen kurzen Augenblick ist Michael mit den Kindern da, aber weil die Kinder sich langweilen, gehen sie bald wieder. Später besuchen mich ein paar Kollegen der JUH und versorgen mich mit neuem Lesestoff.

Den Vogel schießt Bernd ab, als er kurz vor sieben Uhr noch hereinschaut. Mit weiterem Besuch hatte ich schon gar nicht mehr gerechnet.

Bernd bringt mir Miniaturutensilien für die Aquarellmalerei mit, ein Hobby, das ich schon als Kind ausübte.

Ich muss über die kleinen Farbtöpfchen, die Minipalette und diese winzige Staffelei lachen, aber es hat tatsächlich im kleinsten Koffer Platz.

Ich muss Bernd versprechen, dass das erste Miniaquarell für ihn ist. Das mache ich gerne.

 

Sonntagmorgen begebe ich mich schon früh Richtung Dusche. Was die sanitären Einrichtungen anbelangt, ist diese Station völlig unterversorgt. Wenn man morgens nicht schnell genug ist, muss man nicht nur warten, man muss dann auch eine verschmutzte Dusche in Kauf nehmen. Das finde ich einfach widerlich, also muss man sehen, dass man zuerst da ist.

Das Duschen schaffe ich gerade noch, aber dann geht nichts mehr. Mitten auf dem Flur überfällt mich ein heftiger Schmerzanfall. Ich bin von einer Sekunde auf die nächste nicht mehr in der Lage zu laufen. Im Zeitlupentempo rutsche ich an der Wand entlang auf den Fußboden. Mir wird übel und ich habe Schweißausbrüche.

Es dauert eine Weile, bis jemand auf mich aufmerksam wird. Es ist Wochenende, man arbeitet nur mit halber Besetzung und die, die Dienst haben, sind mit Waschen und Betten beschäftigt.

Pfleger Olaf will mir aufhelfen, es geht nicht. Als ich einen Schmerzensschrei ausstoße, lässt er vor Schreck los und ich schlage mit dem Kopf auf dem Boden auf.

Inzwischen haben Olafs Kolleginnen mein Bett geholt und zu dritt verfrachten sie mich hinein. Vor Schmerzen und Verzweiflung fange ich an zu heulen; so einen Zusammenbruch hatte ich schon lange nicht mehr.

Dr. B. hat Wochenenddienst. ich bin froh, dass jetzt nicht auch noch ein Arzt kommt, der sich erst auf mich einstellen muss.

Vorsichtig und fürsorglich untersucht mich Dr. B.. So wie er bei der Untersuchung vorgeht, vermutet er eindeutig eine Thrombose, stellt aber schnell fest, dass es wohl keine ist, sondern wieder mein Rücken, der die Probleme verursacht.

Wieder bekomme ich eine Braunüle gelegt, durch die mir Dr. B. erst mal 10 mg Morphin i. v. injiziert. Im gleichen Moment habe ich das merkwürdige Gefühl abzuheben. Es ist ganz eigenartig, so als würde ich nichts mehr wiegen und einfach davon schweben. Die Schmerzen lassen nach und mich umfängt Müdigkeit, dennoch schluchze ich weiter vor mich hin. Ich kann einfach nicht aufhören. Beruhigend und tröstend spricht Dr. B. mit mir. Ich spüre, wie ich langsam ruhiger werde, obwohl ich kaum ein Wort von dem verstehe, was er mir erzählt.

Meine Augenlider wiegen plötzlich Tonnen, ich bin nicht mehr in der Lage, sie offenzuhalten.

Ob ich geschlafen habe, weiß ich nicht. Irgendwann öffne ich die Augen, um sie sofort wieder zu schließen: alles dreht sich um mich. Mir wird übel. Ein ständiges Piepsen fängt an mich zu nerven. Irgendetwas klemmt an einem meiner Finger und stört mich so, dass ich versuche, es wegzuschieben.

Sachte werden meine Hände festgehalten und irgendjemand erklärt mit leiser Stimme, dass das Piepsen von einem Oxidimeter herrührt und das ich die Messdiode auf dem Finger lassen soll.

Oxidimeter? Messdiode?

Irgendwie kann ich die Wörter nicht umsetzen, ich weiß nicht, um was es sich handelt. Ich fürchte, jetzt verliere ich auch noch den Verstand.

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich so benebelt in meinem Bett gelegen habe. Zwischen durch hat jemand die Bettwäsche gewechselt und mir ein frisches Nachthemd angezogen. Habe ich etwa unter mich gemacht? Ich weiß es nicht, aber alleine der Gedanke ist mir schon unangenehm. Immer wieder leuchtet mir jemand in die Augen, jedes Mal versuche ich mich dagegen zu wehren und jedes Mal werden mit sanftem Druck meine Hände festgehalten.

Es werden Fragen gestellt, ich verstehe ihren Sinn nicht, wie soll ich da antworten?

Wie lange es gedauert hat, bis ich wieder halbwegs klar bin, weiß ich nicht. Jedenfalls sitzt Dr. B. an meinem Bett und ist sichtlich erleichtert, dass er sich wieder mit mir verständigen kann.

"Himmel, Sie haben uns ja wirklich einen mächtigen Schrecken eingejagt. Ich habe wirklich gedacht, ich muss Sie doch noch auf die Intensivstation verfrachten. Was bin ich froh, dass Sie wieder durch sind."

"Was ist denn passiert?"

"Sie haben das Morphin nicht vertragen, vielleicht, weil Sie sich heute morgen ja schon das Tramal gespritzt hatten. Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Wie auch immer, Sie sind total abgerutscht. Lange hätte ich nicht mehr warten können. Wie fühlen Sie sich denn?"

"Das sollten Sie mal lieber nicht fragen. Mir ist total schlecht, das Zimmer dreht sich. Ein ganz schön blödes Gefühl."

"Das ist der Kreislauf. Der Blutdruck ist so rasant in den Keller gesaust, so schnell kann man gar nicht gucken. Außerdem hatten Sie zwischendurch immer mal wieder leichte Atemaussetzer, aber nicht so schlimm, dass man jetzt wirklich zu drastischen Maßnahmen hätte greifen müssen. Das hat sich jedenfalls wieder normalisiert. Den Blutdruck kriegen wir auch wieder in Griff. Ich muss jetzt erst mal die Visite nachholen, haben wir Ihretwegen alles auf Eis gelegt heute morgen. Wenn irgendetwas ist, klingeln Sie bitte sofort. Das Oxidimeter lassen wir noch eine Weile, bis sich wirklich alles normalisiert hat. Fühlen Sie sich auch wirklich besser?"

"Ja, ich denke schon. Ich bin nur so müde."

"Müde ist okay. Sie dürfen auch ruhig schlafen, jetzt ist es kein Problem mehr, vorher haben wir lieber zugesehen, Sie ein bisschen wachzuhalten. Ruhen Sie sich aus.“

Den ganzen Tag hält die Müdigkeit an. Wenn ich die Augen aufmache, dreht sich auch weiterhin das ganze Zimmer um mich. Am Nachmittag kommt Besuch, aber ich bin so müde, dass ich kaum wahrnehme, wer eigentlich da ist und auch kaum in der Lage bin, mich zu unterhalten. Ich fühle mich schlimmer, als nach einer Vollnarkose.

Später kommt der nette Pfleger Olaf und hilft mir beim Waschen.

Ich wundere mich, weil er doch schon morgens da war, aber er erzählt mir, dass er Teildienst hat. Heute Vormittag bis um elf und jetzt noch bis einundzwanzig Uhr.

"Habe ich heute Vormittag ins Bett gemacht?“

"Ja, was glaubst du wohl, wie froh der Doktor war, der hat schon Panik geschoben, das gar nichts mehr funktioniert. Das war wie ein Freudenfest für ihn."

"Oh mein Gott, ist das peinlich.“

"Ach Quatsch! Sei froh, dass dir das passiert ist. Der Doc war kurz davor, dir auch noch 'nen Katheter zu verpassen, aber nachdem du es dann vorgezogen hast, ins Bett zu pinkeln, hat er von dem Katheter wieder Abstand genommen."

"Ich versteh das immer noch nicht.“

"Musst du ja auch nicht. Hauptsache, es geht dir jetzt wieder besser, alles andere ist doch nicht so wichtig."

"Wenn du meinst."

"Schlaf dich jetzt aus. Ach so, wenn du wieder Schmerzen bekommst: Der Doc hat dir Dipidolor nach Bedarf verordnet. Kannst Dir selbst spritzen oder gespritzt bekommen, musst dich nur melden, wenn du was brauchst, okay?“

"Ja, danke. Aber was ist denn mit dem Tramal?“

“Nach dem Schmerzanfall glaubt er nicht, dass das anschlägt. Nimm ruhig das Dipi, wenn es nötig ist. Gute Nacht.“

"Mach ich, gute Nacht Olaf.“

 

Am Montagmorgen geht es mir wieder besser. Ich schaffe es, ohne Hilfe aufzustehen und mich zu waschen, also ist das Morphin abgebaut.

Wie Dr. B. am Tag vorher angeordnet hat, erhalte ich das Dipi, als ich darum bitte. Wie beim Tramal ziehe ich es auch hier vor, mir das Medikament selbst zu spritzen.

Zur Visite erscheint nicht Dr. B., sondern eine blonde, etwas hochnäsige, junge Ärztin. Während der Visite an meinem Bett redet sie über meinen Kopf hinweg, als sei ich gar nicht anwesend.

Als am Nachmittag die Schmerzen wieder heftiger werden, klingele ich nach der Schwester und bitte um meine Spritze.

Nicht die Schwester erscheint, sondern die junge Ärztin, die sich jetzt auch endlich vorstellt: Frau Dr. H.

Ohne mich weiter zu beachten, erklärt sie mir, dass ich in Zukunft zwar weiterhin das Dipidolor erhalten werde, aber nur noch zweimal am Tag und nur in geringer Dosis. Und zwar jeweils morgens und abends um acht eine halbe Ampulle.

Erst einmal stört mich das nicht sonderlich, vielleicht komme ich ja damit hin, wenn nicht, kann ich immer noch diskutieren.

Sehr schnell zeigt sich, dass ich auf keinen Fall mit den Dipidolor in der Dosis auskomme. Für heute lässt sich nichts mehr ändern, erfahre ich, Frau Dr. H. ist bereits nach Hause gefahren.

Bitte, nicht schon wieder Theater wegen der Schmerzmittel!

 

Am Dienstag erscheint Frau Dr. H. zur Visite. Wieder tut sie so, als sei ich nicht anwesend und spricht über mich hinweg. Aufgrund der unzureichenden Analgesie bin ich nicht gerade gut gelaunt.

Als erstes erkläre ich der jungen Dame, dass ich es gerne hätte, wenn sie mich angucken würde, während sie mit mir redet. Dann erläutere ich ihr ziemlich säuerlich, dass ich keinesfalls schwachsinnig oder so etwas sei, sie könne sich also ganz normal mit mir unterhalten.

Daraufhin werde ich von ihr dahingehend aufgeklärt, das das wohl nicht gut möglich sei, denn ich würde die medizinischen Dinge ja doch nicht verstehen und so würde sie also mit mir reden, wie sie es für angebracht halte.

Jetzt reißt mir aber doch die Hutschnur. Höchst unwirsch erkläre ich ihr, dass ich

a) das Abitur hätte,

b) das große Latinum,

c) selbst studiert und promoviert hätte und

d) bedingt durch meine weitere berufliche Qualifikation über ausreichend medizinisches Wissen verfüge, um mit ihr diskutieren zu können.

Das Gesicht, das sie nun aufgesetzt hat, entschädigt mich für vieles. Mühsam versucht sie, die Fassung zu wahren, aber man sieht ihr deutlich an, dass es sie große Mühe kostet. Tja, da ist sie wohl voll ins Fettnäpfchen getrampelt.

So was kommt eben von so was!

Über die Schmerzmittel will sie aber trotzdem nicht diskutieren. Sie diskutiere grundsätzlich nicht mit den Patienten, erklärt sie mir. Und bei mir läge der Fall ja auch noch ganz anders, da würde sie sich ohnehin auf nichts einlassen. Da ich Medikamentenabhängig sei, und das habe sie von Dr. B. aus dem Krankenhaus, in dem ich im November vergangenen Jahres gelegen habe, schriftlich, würde sie von der einmal gesetzten Dosis nicht abweichen.

Auf der einen Seite bin ich Stock sauer und fühle mich wieder mal verletzt, aber auf der anderen Seite bin ich es einfach leid, mich zu streiten.

Ich werde eben Bernd anrufen, damit er mir mein Tramal besorgt und dann hat sich das.

Schwester Cornelia kommt kurz nach der Visite ins Zimmer und stellt mir eine Flasche Novalgin auf den Nachttisch. "Ein Geschenk unserer Stationsschwester. Dr. B. hatte dir doch Novalgin als Bedarfsmedikament verordnet, ganz am Anfang, weißt du noch? Das ist jetzt ein Bedarf, dann brauchst du nicht immer zu klingeln und die olle Zimtziege muss ja auch nicht alles mitkriegen."

"Was macht die hier überhaupt? Wo ist denn Dr. B.?"

"Der ist wieder auf seiner eigenen Station. Eigentlich sollte Dr. S. ja gestern wiederkommen, aber der ist dummerweise krank geworden und nun müssen wir uns mit Dr. H. begnügen."

"Ist die schon fertig mit ihrer Ausbildung?"

"Ja, das schon. Aber von Neurologie oder so hat die Frau keine Ahnung. Die ist nämlich gut ausgebildete HNO-Ärztin."

Damit verschwindet Schwester Cornelia wieder.

HNO-Ärztin! Du lieber Himmel, bleibe ich denn von gar nichts verschont? Ich habe wirklich die Nase voll von Krankenhäusern!

Mit ein bisschen Nachdenken erinnere ich mich tatsächlich, dass Dr. B. mir das Novalgin noch zusätzlich zu dem Tramal verordnet hatte, für den Fall, dass das Tramal nicht ausreichen sollte. Ich habe es nur nie gebraucht.

Na schön, mit der Flasche Novalgin kann ich schon einiges überbrücken. Jedenfalls bin ich Dr. B. sehr dankbar und heilfroh, dass diese dämliche Ärztin offenbar die Krankenblätter nicht gerade sorgfältig liest, wenn überhaupt. Ansonsten wäre ihr die Bedarfsmedikation jawohl aufgefallen.

Schlimm wird es dann aber nicht mehr, denn am nächsten Tag darf ich nach Hause gehen - ohne Myelografie.

Die Schilddrüsenwerte sind immer noch nicht so, wie sie sein sollen und so schickt mich Frau Dr. H. nach Hause, mit einem Medikamentenplan für die Schilddrüse.

Wer weiß, wie lange das jetzt wieder dauert!

Aber im Augenblick ist nur wichtig, dass ich erst mal wieder nach Hause darf.

Ich freue mich schrecklich auf meine Familie, vor allen Dingen auf meine drei Rabauken!

Nur Dr. L. wird wahrscheinlich nicht gerade erfreut sein, dass wieder nichts passiert ist...

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 


 

 

Kapitel 26

 

 

 

Wie ich es vermutet hatte, ist Dr. L. wenig begeistert, als er mich in seiner Sprechstunde begrüßen darf, ohne das irgendetwas Produktives im Krankenhaus gelaufen ist.
Ein bisschen unwillig und mit hochgezogenen Augenbrauen studiert er den Kurzbrief: und fragt schließlich: "Ist das der alte Brief? Das habe ich doch alles schon einmal gelesen."
Ich schüttele den Kopf und weise auf das aktuelle Datum hin. Auch wenn dieser Kurzbrief sich wie der vom Februar liest, es ist ein Neuer.
"Ich kann das einfach nicht glauben, das wir kein Stück weiter sind. Wie lange sind Sie jetzt im Krankenhaus gewesen?"
"Siebzehn Tage, zweieinhalb Wochen!"
"Siebzehn Tage für überhaupt nichts? Das ist doch nicht Ihr Ernst? Was haben die denn in den zwei Wochen gemacht? Gar nichts?"
"Oh, verschiedene Sachen: Zwei Lumbalpunktionen, ein Schädel- CT, eine EMG und diverse andere Sachen, die zum Teil höchst unangenehm waren. Ich weiß jetzt zumindest, was ich nicht habe."
"Ja, aber weitergebracht hat uns das kein Stück. Wie soll das denn jetzt weitergehen, haben die wenigstens dazu etwas gesagt?"
"Ja, ich soll die Schilddrüsenmedikamente weiter nehmen und die Werte in zwei Wochen noch mal kontrollieren lassen. Wenn sie dann in Ordnung sind, nehmen sie mich zur Myelografie wieder auf."
"Na gut, soll ich Ihnen die Medikamente aufschreiben?"

"Nicht notwendig, das hat meine Hausärztin bereits getan und den Termin zur Blutkontrolle habe ich auch schon mit ihr abgesprochen."
"Schön. Wollen wir mit der Akupunktur erst einmal weitermachen? Wenn sie möchten, legen wir gleich los."
Dr. L. sieht mich erwartungsvoll an.
"Wenn es Ihnen passt," antworte ich.
"Kriegen wir schon hin."
Es klappt mit der Akupunktur wirklich, nur wenige Minuten später liege ich bereits mit Nadeln gespickt auf der Liege und fühle mich rundum wohl.
Jetzt weiß ich auch, was ich in den letzten drei Wochen vermisst habe.

 

 

Kapitel 27

 

 

 

Der April zeigt sich von seiner ungezogensten Seite: Es regnet und ist kalt.
Meine Laune ist nicht besonders gut an diesem tristen Nachmittag, als ich mich mal wieder auf den Weg zur Akupunktur mache. Das Wetter ist genauso schlimm, wie an dem Freitag im Oktober, als ich mich mit den Kindern in die Stadt quälte.
Der Gedanke, dass sich seitdem noch nichts gravierend geändert hat, nicht einmal das Wetter, macht mich noch deprimierter als ich ohnehin schon bin.

Das Wartezimmer bei meinem Orthopäden ist gut gefüllt.
Aber auch hier sitzen die Patienten missmutig herum und man merkt deutlich, das sich alle nach ein bisschen Sonne sehnen, der Winter dauert einfach schon zu lange.
Als ich das Sprechzimmer betrete, begrüßt mich Frau A., die, ebenfalls schlecht gelaunt, die Tastatur des Computers malträtiert.
"Ihnen bekommt das Wetter anscheinend auch nicht." Mit einem Lächeln versuche ich Frau A. ein bisschen aufzuheitern. Diese schüttelt genervt den Kopf: "Das ist Suizid Wetter und genauso fühle ich mich heute, " murmelt sie Zähneknirschend.
Ich kann nicht anders. Ich muss laut loslachen. Ein bisschen verblüfft sieht mich Frau A. an, aber dann muss sie selbst lachen: "Also wenn es Ihnen irgendwann einmal besser geht und Sie sollten einen Job suchen, bewerben Sie sich bei uns. Sie schaffen es mit ihrer guten Laune sicherlich, in diesen Laden ein besonderes Flair zu bringen. Einen Hauch von Sonne. Ich weiß beim besten Willen nicht, wie Sie das machen, das Sie immer so gut gelaunt sind; trotz Schmerzen und der Stagnation. Dass hier irgendetwas vorwärts geht, kann man bei Ihnen ja wohl kaum behaupten, oder?"
"Ich lerne langsam mit meiner Situation klarzukommen. Ich muss allerdings zugeben, dass es mir sehr schwer fällt. Ich bin längst nicht immer so gut gelaunt, wie es hier scheint. Fragen Sie mal meine Familie, die kann ein Lied davon singen. Außerdem fehlt mir meine Arbeit. Am Anfang habe ich unheimlich viel gelesen, wissen Sie, aber jetzt gehen mir die Bücher auf die Nerven."
"Keiner erwartet von Ihnen, dass Sie hier ständig mit guter Laune auftauchen. Wenn Ihnen danach ist, dürfen Sie auch mit schlechter Laune zu uns kommen."
"Vielen Dank, aber selbst wenn ich hier mit schlechter Laune herkomme, schaffen Sie es ja doch alle, dass ich mit guter oder sagen wir mal, besserer Laune wieder gehe. Es ist einfach die Atmosphäre hier. Sie sind eben alle so bemüht. Das hat man in dieser Form in den meisten Arztpraxen leider nicht."
“Nun, wir versuchen unser Bestes. Aber glauben Sie mir, es liegt auch an Ihnen. Sie sind eine besonders freundliche und pflegeleichte Patientin, die Gottlob auch für vieles Verständnis aufbringt. Da fällt es nicht weiter schwer, nett und höflich zu sein."
"Ich und pflegeleicht? Sie haben mich noch nie kennengelernt, wenn ich richtig loslege. Aber wie gesagt, hier ist das nun mal nicht notwendig. Und damit reiche ich das Kompliment dann wieder zurück."
"Na, dann vielen Dank! Wir hören das natürlich auch mal gerne. Oh, ehe ich es vergesse! Da ist mir übrigens eine Idee gekommen, was Ihre Rezepte anbelangt. Ich finde es sinnvoller, wenn Sie sich die Rezepte, die Sie benötigen, an der Anmeldung ausdrucken lassen. Dann brauchen Sie sie nur noch vom Doktor unterschreiben zu lassen, wie finden Sie das? Wir müssen dann nicht mehr ständig hinter ihm hinterherlaufen."
"Die Idee wäre nicht schlecht, wenn es sich nicht ausgerechnet um Dr. L. handeln würde."
"Wieso?"
"Wenn wir es so machen, dann hat er unter Garantie keinen Kugelschreiber bei sich oder er haut trotzdem so ab."

"Ich glaube, Sie kennen unseren Doktor bereits besser als wir. Aber wenn er so abhauen will, klammern Sie sich an seinem Bein fest und lassen ihn nicht eher weg, als bis er unterschrieben hat."
Bei der Vorstellung, ich könnte mich an Dr. L.'s Bein festklammern, müssen wir beide laut lachen. Das wäre sicherlich filmreif.
"Was meinen Sie, wollen wir einen Versuch starten? Ich drucke Ihnen das Rezept aus und Sie lassen es von ihm unterschreiben."
"Na gut, probieren wir es aus."
Merkwürdig - meine triste Stimmung ist verflogen. Die Sonne hat Einzug gehalten. Fragt sich jetzt nur, wer hier die Sonne verteilt.
Nur während der Akupunktur wird mir etwas sehr kühl. Ein Blick auf den Temperaturregler der Heizung macht die Sache klar: Die Heizung steht auf Eins. Kein Problem sie etwas höher zu stellen. Von meiner Liege kann ich den Regler mühelos erreichen. Hier kann die Technik nachhelfen.

Nach der Akupunktur lege ich Frau A. das, natürlich nicht unterschriebene Rezept, unter die Nase.
"Wieso hat er es denn nicht unterschrieben?", fragt sie mich erstaunt.
"Weil er keinen Kugelschreiber hatte."
"Ach nein, ich hasse es wenn andere Leute immer recht behalten. Jetzt kann ich wieder hinter ihm her laufen.“
"Dann machen Sie ihn am besten gleich zur Schnecke. Denn eigentlich wollte er wiederkommen und das Rezept unterschreiben, wenn er einen Kugelschreiber aufgetrieben hat.“
"Manchmal hasse ich meinen Job!“

Ein paar Tage später hat sich dann schließlich die Frühlingssonne durchgekämpft und sofort merkt man die Veränderung auch im Wartezimmer. Die Patienten wirken fröhlicher und aufgeschlossener und es wird auch mal gescherzt.
Was so ein bisschen Sonne doch ausmacht!
Als ich schließlich genadelt auf dem Bauch liege, fällt mein Blick auf das Thermostat an der Heizung: Heute steht es auf Fünf.
Kurz darauf kommt Frau K. herein und will die Heizung herunter drehen.
"Lassen Sie bloß die Heizung auf Fünf stehen,” sage ich gespielt entsetzt.
"Ist Ihnen denn kalt?", fragt sie mich staunend, denn kalt ist es nun wirklich nicht im Sprechzimmer.
"Nein, das nicht, aber aus diesem Raum wird das Wetter draußen gesteuert. Wenn Sie jetzt die Heizung runter drehen, dann wird das Wetter draußen wieder schlecht. Als die Heizung vor ein paar Tagen auf Eins stand, hat es geregnet und es war kalt draußen.“
Frau K. betrachtet mich besorgt. Offensichtlich zweifelt sie ein bisschen an meinem geistigen Zustand. Schließlich dreht sie aber doch die Heizung herunter, allerdings nicht, ohne mir merkwürdige Blicke zuzuwerfen.
Ob Sie es glauben oder nicht, am Nachmittag hat es wieder geregnet...

Ein paar Tage später, es regnet natürlich wieder, habe ich bereits um zwanzig vor zwölf einen Akupunkturtermin. Gegen halb zwölf treffe ich, gut erzogen wie ich bin, pünktlich ein und nehme nach erfolgter Anmeldung im Wartezimmer Platz. Ein bisschen lustlos krame ich in den Zeitschriften
herum. 'Stern' und 'Focus' kenne ich mittlerweile und die anderen entsprechen nicht so ganz meinem Niveau.
"Ist wohl so recht nichts dabei, hm?“
Erstaunt blicke ich hoch. Ein etwa fünfzigjähriger Herr betrachtet mich mit einem leichten Schmunzeln.
"Sie haben recht, ich kann die Regenbogenpresse nicht sonderlich ausstehen. Das meiste, was die schreiben, ist doch aus den Fingern gesogen. Und außerdem interessiert mich nicht die Bohne, was irgendwelche Stars und Sternchen so treiben. Und Sie?"
"Mir geht es auch so, aber haben Sie in einer Arztpraxis schon mal anspruchsvolle Literatur gefunden?"
"Ja, bei meiner Hausärztin. Da gibt es keine Regenbogenpresse, sondern medizinische Fachliteratur, Reisemagazine, kulturell hochwertige Zeitschriften und so etwas."
"Was Sie nicht sagen, dass ist natürlich erstaunlich. Zu welchem Arzt gehen Sie denn hier?"
"Zu Dr. L. und Sie?"
"Auch. Das heißt, heute zum ersten Mal. Ich war vorher noch nie hier. Wie ist der denn so?"
Bevor ich antworten kann, antwortet eine ältere Dame, die offenbar unser Gespräch verfolgt hat:
“Der ist sehr nett und höflich, aber noch ein halbes Kind, das können Sie mir glauben. Allerdings kann er, glaube ich, aber trotzdem eine ganze Menge. Eigentlich ist das erstaunlich, so wie der aussieht. Ich meine so jung...”, fügt sie noch schnell hinzu.
Ich muss mich sehr beherrschen, um nicht laut loszulachen.
"Na ja, ich werde es ja sehen. Wie lange kommen Sie denn schon?“
„Seit Oktober."
"Oh, das sind ja - das ist ja mehr als ein halbes Jahr. Du liebe Zeit."
Mittlerweile habe ich ein erstaunlich anspruchsvolles Magazin in dem Zeitschriften Stapel gefunden: 'Bild der Wissenschaft'! Ich staune und vertiefe mich in die Lektüre.
Es geht in dem Magazin unter anderem um die Frage, ob unsere Meteorologen zu dumm sind, das Wetter vernünftig vorauszusagen oder ob sie eine unzureichende Ausbildung genossen haben, die eine genaue Wetterprognose unmöglich macht. Und es geht um die wirtschaftlichen Auswirkungen, die eine falsche oder unzureichende Wetterprognose nach sich zieht. Es folgen weitere interessante Themen und ich lese mich fest, bis ich schließlich am Ende des Magazins angelangt bin und die Zeitschrift aus den Händen lege. Im selben Moment spüre ich auf höchst unangenehme Weise meinen schmerzenden Rücken, den ich bisher erfolgreich verdrängt hatte und werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Meine Uhr zeigt halb drei an!
Neben mir sitzt immer noch der Herr, der mich angesprochen hatte und betrachtet mein entsetztes Gesicht mit großem Interesse.
"Das gibt es doch gar nicht! Die lassen mich hier drei Stunden sitzen und ich dumme Gans merke das noch nicht einmal! Du meine Güte, wie kann ein Mensch alleine so blöd sein!", empöre ich mich in halblauter Tonstärke vorrangig über mich selbst.
"Ich dachte, diese Wartezeit ist hier normal."
"Wie, sind Sie auch noch nicht dran gewesen?"
"Nein!"
"Klasse, die haben uns vergessen!"
Ich stehe mühsam auf und schlage den Weg zur Anmeldung ein, während der Herr mir etwas irritiert hinterher sieht.
Frau A, sitzt völlig verlassen an der Anmeldung und erledigt irgendwelche Schreibarbeiten.
"Schönen Guten Tag, Frau A.", sage ich betont freundlich. Frau A. sieht von ihrer Arbeit hoch und begrüßt mich sehr freundlich. .
"Zur Akupunktur?", fragt sie mich. Ich nicke.
"Wann hatten Sie denn Termin?"
"Um zwanzig vor zwölf!"
"Aber dann sind Sie ja viel zu spät!" Erstaunt sieht sie mich an.
“Ich bin nicht zu spät, ich warte bereits seit halb zwölf,"
„Wie bitte?"
"Sie haben richtig verstanden und da sitzt ein Herr, der ebenfalls zu Dr. L. möchte und der sitzt da auch schon so lange.“
"Au weia! Warum um alles in der Welt haben Sie sich denn nicht schon früher gemeldet, also spätestens nach einer halben Stunde hätten Sie doch nachfragen können. Das tun Sie doch sonst auch immer."
“Ich habe nicht gemerkt, wie spät es schon ist."
Ein bisschen erstaunt, aber auch ungläubig betrachtet mich Frau A. nun aber doch.
“Wissen Sie, es klingt vielleicht ein bisschen blöde, aber ich hatte da so eine interessante Lektüre und als ich die eben gerade zu Ende gelesen hatte, habe ich festgestellt, dass es bereits halb drei ist."
"Na - und der Herr?"
"Hat gedacht, die Wartezeit sei normal."
"Ach du meine Güte! Gehen Sie schon mal in Zimmer Drei und um den Herrn im Wartezimmer kümmere ich mich sofort.“
Ich nicke und setze mich in Bewegung.
Kurz darauf erscheint schließlich Dr. L. und entschuldigt sich mehrfach für diese Panne.
"Ich war ja genauso schuld. Anstatt völlig hingerissen in diesem dusseligen Magazin zu lesen, hätte ich ja auch mal auf die Uhr sehen können."
"Na trotzdem. Sie hätten doch erfasst werden müssen, genau wie der Herr im Wartezimmer. Aber sie waren ja beide nicht mal im Computer und das darf nun wirklich nicht sein. Und ich sitze hier und wundere mich, dass meine Patienten nicht erscheinen."
"Kein Wunder, die saßen wartend im Wartezimmer, wobei das wartend auf mich eigentlich nicht so richtig zutrifft. Ich habe nämlich wirklich nicht gewartet, ich habe gelesen."

Am Ende müssen wir aber doch beide über diese Panne lachen, derweil man Dr. L. deutlich ansieht, dass er froh darüber ist, das ich nicht nachtragend bin.

 

 

 


 

 

Kapitel 28

 

 

 

Langsam komme ich mir doch vor, wie ein Hypochonder: Bereits im März hatte ich Probleme mit dem rechten Knie, bedingt durch den Schongang, den man bei ständigen Rückenschmerzen, vor allem natürlich auch durch die Schmerzen in meinem rechten Bein, unwillkürlich und nur schwer beeinflussbar, einlegt. Dummerweise schmerzen jetzt beide Knie. Obwohl mein Arzt und ich die stille Hoffnung hegten, die Schmerzen würden wieder nachlassen, werden sie immer stärker. Schließlich kann ich kaum noch auftreten. Die Knie zu beugen, ist fast nicht mehr möglich und das hinknien selbst, habe ich mir längst abgewöhnt. Also wieder mal außer der Reihe zu meinem Orthopäden.
Wenn ich ihn mit meinen ständigen neuen Wehwehchen nerven sollte, dann lässt er sich das wenigstens nicht anmerken. Alleine dafür bin ich ihm schon sehr dankbar und dass die Sprechstundenhilfen auch bei völlig überfüllter Praxis immer wieder geduldig und freundlich mit mir umgehen, ist geradezu unbezahlbar.
Da die Knie heftig schmerzen, bekomme ich in beide Knie Cortison und ein Lokalanästhetikum injiziert, eine unangenehme Prozedur. Außerdem bekomme ich ein Rezept für Einlagen in die Hand gedrückt, um den Gang ein bisschen zu normalisieren.
Einige Stunden nach der Injektion geht es mir dann deutlich besser, wenigstens das funktioniert.
Der nächste Schreck folgt nahezu sofort: Am nächsten Tag habe ich einen regulären Akupunkturtermin und auch meine Schwiegermutter hat einen Termin bei Dr. L., so dass wir uns beide am Vormittag auf den Weg machen.
Das Wetter ist ausgesprochen gut. Die Frühlingssonne scheint sich tatsächlich kräftig durchgesetzt zu haben und scheint ohne Pause und mit immenser Stärke von einem wolkenlosen blauen Himmel.
Meine Laune ist seit langem mal wieder hervorragend, bei diesem Wetter kann ich sogar meine ständigen Schmerzen ein wenig verdrängen. Allerdings verspüre ich während der Busfahrt ein unangenehmes Schwindelgefühl, das mal kommt und mal geht. Hoffentlich hält dieses Schwindelgefühl nicht an, aber wahrscheinlich kann ich heute das Busfahren nicht so gut ab. Auch das soll hin und wieder ja vorkommen.
Am Schlossplatz angekommen, verlasse ich zum Erstaunen meiner Schwiegermutter fast schon fluchtartig den Bus und lasse mich völlig erschöpft auf eine der dortigen Parkbänke nieder.
Himmel, ist mir schwindelig, hoffentlich lässt das wieder nach!
Meine Schwiegermutter betrachtet mich besorgt und setzt sich für einen Augenblick neben mich.
"Bist du sicher, das du den Weg zu Dr. L. auch schaffst? Ich könnte doch ein Taxi rufen. Du siehst einfach schrecklich aus."
"Ach was, das geht gleich wieder vorüber. Lass mich nur einen Moment hier sitzen. Das war sicherlich nur die Busfahrt.“
Nach einigen Minuten wage ich es weiterzugehen.
Es funktioniert nicht. Höchst mühsam schaffe ich es zwei Parkbänke weiter, um mich dann erneut wieder hinzusetzen. Der Schwindel lässt nicht nach, er wird statt dessen immer heftiger.
Kurzerhand besorgt meine Schwiegermutter ein Taxi. Der Taxifahrer mustert uns ein bisschen merkwürdig, als sie ihm das Fahrziel nennt. In die orthopädisches Praxis ist es nicht sehr weit, man kann sie von hier aus bestimmt genauso schnell zu Fuß erreichen, wie mit dem Taxi. Wahrscheinlich nur in Anbetracht meiner Gehhilfen, verkneift er sich eine Bemerkung.
Natürlich ist die Praxis meines Orthopäden wieder mal völlig überfüllt. Die Patienten stehen an der Anmeldung Schlange.
Meine Schwiegermutter verschafft mir mit rigorosem Durchsetzungsvermögen einen Sitzplatz, denn die Stühle sind logischerweise auch alle besetzt. Eine Weile steht sie wartend an der Anmeldung, um dann wieder besorgt zu mir zurückzukommen.
“Du siehst wirklich schlimm aus. Ist dir immer noch so schwindelig?“
Ich kann nur nicken. In meinem Kopf herrscht gähnende Leere, ungefähr so, wie es einem kurz vor dem kompletten Eintritt einer Narkose geht. Nicht mehr richtig wach, aber auch noch nicht schlafend. Irgendwie spüre ich, wie mich zwei Leute schnappen und mich auf eine Liege bugsieren. Erst als ich liege, erkenne ich die beiden Sprechstundenhilfen.
Ein Fenster wird geöffnet, Frau A. misst mir den Blutdruck, tastet nach meinem Puls und flößt mir schließlich ein bisschen Wasser ein.
Irgendwie erlebe ich das alles weit weg, als würde ich gar nicht dazu gehören, ein eigenartiges Gefühl. Selbst den prüfenden Griff meines Arztes, um den Karotispuls zu tasten, nehme ich nur durch einen weißlichen Schleier wahr.
Dr. L. stellt mir Fragen. Ich versuche, irgendwie den Wirrwarr in meinem Kopf zu bekämpfen, um seine Fragen zu entschlüsseln und ihm zu antworten. Es fällt mir schwer. Nach kurzem, prüfendem Blick entscheidet Dr. L., dass eine Einweisung ins Krankenhaus doch wohl das Vernünftigste wäre. Ich fühle mich so elend, das ich ihm ohne Diskussion zustimme.
Etwas ganz Neues bei mir, unter normalen Umständen hätte ich dieses Ansinnen erst mal mit meinem Arzt ausdiskutiert.
Also schreibt er eine Einweisung und lässt einen Krankenwagen rufen. Es dauert eine ganze Weile, bis der Wagen da ist. In dieser Zeit sieht Dr. L. einige Male nach mir, ist aber deutlich froh, als endlich der KTW eintrifft.
Irgendwie schaffe ich es mit Unterstützung der KTW- Mannschaft auf meinen eigenen Füßen bis zur Trage zu marschieren. Dennoch bin ich heilfroh, als ich wieder liegen darf. In Anbetracht meiner nicht ganz intakten Wirbelsäule werde ich besonders fürsorglich gelagert, dafür bin ich den beiden jungen Männern dankbar. So ist das Liegen auf der Trage einigermaßen möglich. Auch die Fahrt ins Krankenhaus wird vorsichtig und einfühlsam vorgenommen. Der Fahrer gibt sich viel Mühe, möglichst vorsichtig über Unebenheiten hinweg zu fahren.


Es ist interessant, als Notfall in ein Krankenhaus eingeliefert zu werden, in dem man selbst Jahrelang gearbeitet hat. Da das Personal in diesem Haus, bedingt durch das gute Arbeitsklima, nur selten oder gar nicht wechselt, kenne ich so ziemlich jede Schwester und auch so manchen Arzt, der hier einen Dauerposten inne hat.
Der erste, der mir über den Weg läuft, ist Bruder Georg. Georg ist OP-Pfleger und hat heute offenbar Dienst in der Notaufnahme. Der hat mir gerade noch gefehlt.
Georg hat sich seinen Spitznamen 'Bruder Georg' selbst eingehandelt. Wenn er aus dem OP anrief um einen Patienten anzumelden, meldete ich mich am Telefon wie folgt: "Intensivstation, Schwester Tina!" Georg antwortete dann regelmäßig: "OP, Bruder Georg!" Das 'Bruder Georg' blieb schließlich hängen und hat sich bis heute gehalten.
Während die KTW- Besatzung eine vorbildliche Übergabe absolviert, betrachtet mich Georg mit einem spöttischen Grinsen.
Als die KTW- Mannschaft ab rückt, nicht, ohne mir alles Gute zu wünschen, wendet er sich schließlich mir zu.
"Na Schwester Tina, was machst du denn schon wieder für Sachen? Wie fühlst du dich denn momentan?"
"Wie durchgekaut und ausgespuckt," murmele ich ein bisschen grantig über Georgs platte Art.
Aber Georg zeigt sich schließlich doch von seiner netten und fürsorglichen Seite.
Als erstes holt er per Telefon einen Arzt heran, um dann schon mal vorsichtig und geradezu zärtlich die Vital Werte bei mir zu messen.
"Meine Güte, du hast einen Blutdruck, der liegt irgendwo in höheren Sphären. Das wird den Doc sicher interessieren und von deinem Puls wollen wir mal lieber gar nicht reden, sonst wird dir erst recht schlecht. Was hast du denn bloß gemacht? Hast du versucht für einen Marathonlauf zu trainieren?“
"Sehr witzig!“
"Was hast du denn,: dass du die Unterarmgehstützen brauchst?“
"Einen Bandscheibenvorfall.
"Ach du liebes bisschen, was du dir auch immer einfängst. Da kannst du ja gar nicht arbeiten. Was machst du denn überhaupt? Kannst du ohne Arbeit denn überhaupt existieren?“
Ich mag jetzt einfach nicht reden und so antworte ich Georg nicht mehr, sonst bekomme ich nie Ruhe.
Der Doktor lässt auf sich warten, aber das ist am Vormittag normal und so ein gravierender Notfall, dass er im Laufschritt her gesaust kommen müsste, bin ich ja nun auch nicht gerade, finde ich jedenfalls.
Aber schließlich erscheint er doch.
Ein fremdes Gesicht, das sich als Dr. R. vorstellt.
Mir sind keineswegs die Grimassen von Georg entgangen. Also ist dieser Doktor einschlägig bekannt, für was auch immer, aber das finde ich auch noch raus.
Irgendwie ziehe ich es vor, doch noch in eine komplette Bewusstlosigkeit abzutauchen. Als ich wieder zu mir komme, liegt eine Braunüle - na wo schon? Selbstverständlich in der Ellen Beuge.
Ich könnte eine Krise kriegen, auf jeden Fall spüre ich schon wieder einen leisen Hauch von Wut aufsteigen. Wieso schaffen die Ärzte es eigentlich nie, die Braunüle so zu legen, dass sie nicht störend wirkt? Wenn der glaubt, dass ich jetzt den Rest des Tages den Arm gestreckt halte, damit die Kanüle durchgängig bleibt, hat er sich aber heftig geirrt.
Der Doktor leuchtet unerträglich lange mit seiner Lampe in meinen Augen herum. Was sieht er denn da bloß so Interessantes? Oder sieht er etwa gar nichts und versucht jetzt, krampfhaft fündig zu werden?
Georg betritt den Raum und wird von Dr. R. gefragt, ob er die Blutproben dringend gemacht hat. Georg bejaht und schnappt sich meine rechte Hand, um Händchen zu halten. Blutprobe? Ich kann mich weder an das Legen der Braunüle erinnern, noch an das Abzapfen meines edlen Saftes. Wie
lange bin ich denn weg gewesen? Irgendwie fehlt mir ein Stück. Offenbar hatte ich einen totalen Filmriss.
Wieder wird die Tür aufgerissen. Dr. H. sieht herein und mault Dr. R. an, warum dieser so lange braucht. Schließlich stände im Flur ein Patient, bei dem er eine Fraktur reponieren müsse und er brauche daher diesen Raum. Dr. R. reagiert ungehalten, er bräuchte so lange wie es eben dauere und außerdem sei er mit mir ja zuerst hier gewesen. Als ob es in diesem Krankenhaus nur einen Raum gäbe. Die anderen seien auch belegt, wird ihm erklärt.
Dr. H. kommt einen Schritt näher und wirft einen interessierten Blick auf mich, um dann erstaunt meine Hand zu ergreifen.
"Mensch Tina, was machst du denn hier? Sag bloß, du bist krank?"

"Keineswegs, ich liege hier nur probeweise herum und dass mir schlecht und schwindelig ist, liegt auch nur daran, das ich eine exzellente Schauspielerin bin, Hardi.”
"Was fehlt ihr denn?", Hardi dreht sich zu Dr. R. um, der staunend und ein bisschen widerstrebend einen EKG-Streifen und den Bogen, auf dem Georg meine Vital Werte notiert hat, herausrückt.
Wann haben die bloß das EKG geschrieben? Und was ist während meiner mentalen Abwesenheit denn noch so alles gelaufen?
Erst jetzt fällt mir auf, das meine Bluse geöffnet ist und immer noch Elektroden auf meinem Brustkorb kleben.
Dr. H. schüttelt den Kopf und fragt schließlich Dr. R., warum er nicht Dr. V. von der Intensivstation angepiepst habe. Schließlich seien meine Werte doch alles andere als beruhigend. Dr. R. zuckt mit den Schultern und bittet Georg, Dr. V. an zu piepen. Das fehlt mir jetzt; Dr. V. war mal mein Chef- auch das noch!
Dr. V. ist erstaunlich schnell da, ein sicheres Zeichen dafür, das auf der Intensiv nichts los ist.
Dr. V. verzieht ein bisschen das Gesicht, als er mich sieht: "Also Tina, das darf doch' wohl nicht wahr sein! Was zum Teufel machst du denn schon wieder hier?“

"Wieso schon wieder? Ich war das letzte Mal letztes Jahr hier, bitte schön," versuche ich mich zu verteidigen.
"Ja, da sind wir in deinem Blut fast weggeschwommen. Ich habe noch nie zuvor einen so hoffnungslos verkorksten Magen gesehen. Wir haben Stunden gebraucht, um diesen Raum hier wieder sauber zu bekommen. Wenigstens das bleibt uns heute erspart. Und was ist es diesmal?"
Dr. R. reicht ihm die Unterlagen rüber und Dr. V. schüttelt immer wieder den Kopf. Ich würde gerne einmal einen Blick auf die Unterlagen werfen, aber ich muss mich wohl gedulden.
"Na schön, ich nehme sie mit rauf auf die Intensiv zur Überwachung. Organisiert ein Bett und bringt sie mir hoch. Und wir unterhalten uns oben, okay?"
Ich nicke artig, was soll ich auch groß darauf sagen? Jeder Widerspruch wäre vermutlich zwecklos.

Auf der Intensivstation werde ich von meinen ehemaligen Kollegen und Kolleginnen mit so viel 'Hallo' begrüßt, als sei ich der Hauptgast auf einer Party. Das kann ja noch heiter werden.
Dr. V. versucht krampfhaft mit dem elektrischen Schalter meines Bettes eine Stufenlagerung einzustellen. Zum Amüsement meiner ehemaligen Kollegen gelingt es ihm nicht. Er schaltet hin und her und ich fahre mit dem Bett rauf und runter, Das Kopfteil lässt sich ohne Probleme einstellen, das Fußteil allerdings lehnt jede Mitarbeit strikt ab.
Nachdem meine ehemalige Kollegin Andrea es ebenfalls umsonst probiert hat, entscheidet Dr. V. kurzerhand, dass ein neues Bett her muss.
"Wie? Jetzt?", fragt Andrea.
"Ja wann denn sonst, bitte schön?" Dr. V. ist ein bisschen genervt.
"Da muss ich aber in den Keller!", empört sich Andrea.
"Na, dann gehst du eben in den Keller oder soll ich das selbst machen? Oder hast du vielleicht Angst vor Gespenstern?" Andrea zieht beleidigt ab, um mir ein neues Bett zu organisieren.
Als ein bisschen Ruhe eingekehrt ist und ich endlich wohlbehalten und hervorragend gebettet in meinem Intensivmedizinisch-orthopädisch einwandfreiem Bett liege, um mich herum das vertraute Gepiepse des Monitorings, setzt sich Dr. V. zu mir und schnappt sich meine rechte Hand.
"Sag mal, was geht eigentlich in deinem Körper so vor sich? Letztes Jahr bist du haargenau am selben Tag eingeliefert worden, damals mit einer heftigen Magenblutung, die wir kaum zum Stehen bekommen haben. Ich erinnere mich noch mit Grausen daran. Heute kommst du mit Herz Klabastern. Ich freue mich ja wirklich dich zu sehen, Tina, aber dann doch bitte lieber als gesunde und intakte Mitarbeiterin oder aber als netter, gesunder Besuch, der mal auf eine Tasse Kaffee oder Tee hereinschaut. Ich nehme an, du weißt was los ist?"
"Mein Blutdruck ist zu hoch und ich habe wohl eine Tachykardie, hm?"
„Ja, so harmlos drückt man das aus, wenn man Tina heißt. Leider sieht das Ganze gar nicht so gut aus, Tatsächlich hast du eine massive Störung des Reizleitungssystems und ich habe keine Ahnung, wie ich das hinkriegen soll. Die Medikamente, die wir dir infundieren, schlagen nicht an, jedenfalls nicht so, wie sie sollten. Mit anderen Worten: wir kriegen dich überhaupt nicht in den Griff. Dummerweise habe ich keine Ahnung, was konkret dahintersteckt. Na ja, die Kollegen in der Inneren werden dich schon durch die Mangel drehen und ich kann wirklich nur hoffen, dass sie die Ursache finden. Aber wenn du hier nicht noch irgendwelche Sperenzchen machst, kannst du morgen Vormittag auf die Normalstation. So lange werden wir dich Kontrolle halber hierbehalten. Sicher ist sicher, und du bist dem Kollegen R. ja schon aufs heftigste weggerutscht. Allerdings wäre es mir fast lieb, dir würde das hier noch mal passieren. Hier haben wir dich schon am Monitor und müssen nicht erst Elektroden kleben. Da wären wir schneller mit dem EKG und könnten vielleicht bessere Rückschlüsse ziehen. Na ja, warten wir es ab. Und dieser Bandscheibenvorfall? Wie lange läufst du damit schon herum?"
"Seit Oktober."
"Seit wann?"
"Oktober!"
"Und will das keiner operieren? Es gibt doch da irgendwie so eine Regel: Wenn sich nach spätestens sechs bis acht Wochen konservativer Behandlung nichts gebessert hat, sollte man den Chirurgen ran lassen, oder irre ich? Wenn ich richtig rechne, läufst du damit jetzt sieben Monate herum, ja?".
"Es will keiner operieren, weil es unmöglich der Bandscheibenschaden sein kann, der die Schmerzen verursacht."
"Das klingt nun wieder ganz typisch nach Tina. Kannst du nicht mal irgendetwas auch ganz normal ablaufen lassen? Ist es denn wirklich zu viel verlangt, dass dein Bandscheibenschaden sich konservativ beheben lässt? Bist du bei einem Orthopäden in Behandlung?"
"Natürlich!"
"Natürlich? Ich finde das keineswegs natürlich. Wenn ich mich richtig erinnere, hast du doch eine ausgesprochene Antipathie gegen Orthopäden. Was war denn, als du dir hier einen Perfusor auf die Zehen geworfen hast. Du konntest drei Wochen nicht richtig laufen. Der Zeh war knallig blau und ich möchte heute noch beschwören, dass er gebrochen war, aber Tina hat ja nichts weiter. Mit solchen Lappalien muss man nicht zum Arzt gehen und erst recht nicht zu einem Orthopäden. Es gibt ja auch in der ganzen Stadt keinen vernünftigen. Zu wem gehst du jetzt?"
"zu Dr. L.."
"Den kenne ich ja gar nicht. Wo ist der denn?"
Ich erkläre es Dr. V. und er nickt bedächtig: "Eine gute Praxis, wie ich gehört habe. Ich weiß das Dr. A. und Dr. R. in der Praxis tätig sind und dieser Dr. L., seit wann gibt es den da?"
"Seit Oktober."
Rolf bricht in schallendes Gelächter aus und schüttelt belustigt den Kopf: "Es geschehen halt doch noch Zeichen und Wunder - ein Orthopäde für Tina, unglaublich und das auch noch genau zum richtigen Zeitpunkt!"
"Ja, mach dich ruhig lustig über mich."
"Nimm's nicht so tragisch, Tina. Wir kriegen dich schon wieder auf die Beine. wie fühlst du dich denn jetzt?"
"Ziemlich mies."
"Ist dir übel?"
"Ja, das auch."
"Hast du Rückenschmerzen?"
"Ich weiß gar nicht mehr, wie es ohne Rückenschmerzen ist. Wenn sie irgendwann einmal aufhören, bekomme ich wahrscheinlich Entzugserscheinungen."
"Was nimmst du denn an Schmerzmitteln?"
Ich bete meine Medikamente herunter. Bei dem Phytodolor stutzt Dr. V. ein bisschen.
"Das haben wir hundertprozentig nicht da."
"Ja, das hat mir Dr. R. schon gesagt. Ich kann mir das Medikament von zu Hause mitbringen lassen. Das ist wirklich kein Problem, Rolf."
"Ich habe gesagt, wir haben es nicht. Das heißt nicht, dass wir es nicht besorgen könnten. Ich werde mich gleich darum kümmern, dass du deine gewohnten Schmerzmittel bekommst. Das Tramal spritzt du dir selbst?"
"Ja, seit Februar."
"Da hat dein Magen wohl gestreikt, was?"
"Allerdings, und das nicht zu knapp."
"Dann lieber injizieren, als gar kein Schmerzmittel. Das Phytodolor ist kein Problem für deinen Magen?"
"Nein, überhaupt nicht. Jedenfalls momentan nicht."
"Na schön, dann werde ich es dir als Express Bestellung besorgen. Kann ich noch irgendetwas für dich tun, brauchst du noch irgendetwas?"
"Ja, leg mir die Braunüle bitte auf den Handrücken, ich werde wahnsinnig, wenn die weiter in der Ellenbeuge steckt. Und wie lange bin ich eigentlich weg gewesen?"

"Ist das dein Ernst? Ich meine die Braunüle neu zu legen? Die brauchst du morgen vielleicht schon nicht mehr."

"Und ob das mein Ernst ist, bitte Rolf.“
"Na schön, das lässt sich wohl einrichten, mir tut es ja nicht weh. Was deine Bewusstlosigkeit angeht, ich habe hier elf Minuten stehen. Nicht schlecht für den Anfang, oder? Brauchst du sonst noch etwas?"
"Meine Medikamente haben wir ja schon geklärt, aber ich hätte gerne Brennnessel Tee."
"Brennnessel Tee! - ist das dein Ernst? Brennnessel Tee?"
"Klar"

"Kein Wunder, dass du abtauchst. Brennnessel Tee ist ja grässlich! Na schön. Ich schau dann mal,wie ich dir Brennnessel Tee heranschaffe."
Rolf schafft es wirklich, mir Brennnessel Tee zu besorgen und auch mein etwas abstraktes Medikament Phytodolor ist kein Problem für ihn, wenngleich er mich auch immer noch ganz misstrauisch ansieht. Auch die neue Braunüle erhalte ich kommentarlos. Gott sei Dank!
Derweil denke ich darüber nach, was ich jetzt schon wieder gemacht habe, dass ich in eine elfminütige Bewusstlosigkeit versinke. Ich habe die Nase wirklich gestrichen voll.

Immer wieder sieht Rolf nach mir und immer wieder zieht er die Stirn kraus. Diesen Ausdruck kenne ich genau, den hat er immer, wenn er sich um einen Patienten sorgt. Im letzten Jahr habe ich zwei Wochen hier gelegen und er kam jeden Tag mit gekrauster Stirn an mein Bett, er hat mich noch mit gekrauster Stirn auf die Normalstation verlegt. Und das höchst widerwillig.
Offenbar hat er Probleme damit, meinen Blutdruck auf einen normalen Wert zu bekommen, ebenso wie meinen Puls, der nach wie vor viel zu schnell ist. Zwischendurch injiziert er mir Medikamente in meinen Zugang und stöpselt persönlich die Infusionen um, nicht ohne mich immer wieder zu fragen, wie es mir geht und ein besorgtes Gesicht zu ziehen.

Am Abend taucht Michael auf. Nichts Böses ahnend hatte er an der Pforte nach mir gefragt und mitgeteilt bekommen, ich befände mich auf der Intensivstation. Das war natürlich erst mal ein riesiger Schreck. Michael ist erst beruhigt, als er mich ansprechbar in meinem Bett vorfindet. Michael wird mit ebenso viel Hallo begrüßt wie ich, auch er hat auf dieser Station gearbeitet.
Schließlich gelingt es ihm aber doch zu mir vorzudringen: "Tinchen, um Gottes Willen, was machst du denn immer für Sachen? Bei dir gerät man von einem Schreck in den nächsten."
„Mach dir keine Sorgen, das ist doch alles gar nicht so schlimm."
"Ich kann mich gut erinnern, dass sie das letztes Jahr auch behauptet hat. Allerdings lag sie da dreiviertel tot in ihrem Bett. So schlimm ist es ja heute zum Glück nicht.“ Rolf ist zu uns ans Bett getreten und begrüßt Michael mit einem Lächeln.
"Was hat sie denn diesmal?", erkundigt sich meine bessere Hälfte mit Sorgen umwölkter Stirn.
"Eine massive Störung des Reizleitungssystems. Wir können bloß die Ursache nicht herausfinden. Ich hoffe aber, die Kollegen aus der Inneren sind da erfolgreicher. "
"Wie äußert sich das?“
„Tachykardien und Herzrhythmusstörungen. Sie hat immer wieder Aussetzer. Außerdem ist der Blutdruck entschieden zu hoch. Das ist umso bedenklicher, da ich weiß, das sie normalerweise eher einen zu niedrigen Blutdruck hat." Michael sieht mich nachdenklich und auch ein bisschen zweifelnd an: "Was soll man denn bloß mit dir anfangen?"
“Macht doch nicht so ein Theater. Morgen geht es mir wieder gut.“
"Na und was kommt dann übermorgen?“
"Ich kann doch auch nichts dafür.“
Michael sieht Rolf fragend an: "Kann das von den Medikamenten kommen?"
“Das ist natürlich eine gute Frage. Ich wünschte, ich könnte sie so einfach beantworten. Sagen wir mal so: Unmöglich ist gar nichts. Eigentlich glaube ich es aber nicht so recht. Ich denke, wir werden die Untersuchungsergebnisse abwarten müssen. Die Blutwerte sind übrigens einsame Spitze. So normal und korrekt wie aus einem Lehrbuch. Cholesterin ist vielleicht ein bisschen hoch, aber das ist unwesentlich. Da muss man sich keine Gedanken drüber machen. Ansonsten gibt es nichts zu beanstanden.“
"Und wie geht es dir jetzt?“, fragt mein Gatte zutiefst besorgt.
“Eigentlich ganz gut," antworte ich.
“Die Frau lügt, ohne rot zu werden, das soll man doch wirklich nicht glauben." Rolf schüttelt lächelnd den Kopf.

Aber am nächsten Morgen werde ich tatsächlich auf die Normalstation verlegt und auch hier arbeiten natürlich Kolleginnen, die ich noch von meiner Arbeitszeit hier im Haus kenne. Es ist fast so,als ob ich nach Hause komme. Meine Bettnachbarin ist, wie erstaunlich auf der Inneren, in meinem Alter und sehr nett. Bettina und ich Freunden uns schnell an.
Gegen Mittag erscheint Dr. R. zur Visite. Eine Weile bleibt er, ohne etwas zu sagen, an meinem Bett stehen und blickt auf mich herunter. Etwas, dass ich nach wie vor nicht leiden kann. Das ist wirklich eine Unart.
„Sie haben exquisite Blutwerte. Nur ihr Herz will nicht so, wie es soll, obwohl das EKG an sich gar nicht so schlecht aussieht. Ich würde daher vorschlagen, wir machen ein Langzeit-EKG und sie sollten das Ganze unterstützen, indem sie munter die Treppen rauf und runter flitzen, das wäre mir am liebsten.“
"Mir auch. Aber leider habe ich einen Bandscheibenschaden, der sich auf die Wurzel S1 ausdehnt, und daher kann ich nur sehr schwer und langsam Treppensteigen, wenn überhaupt. Den Gefallen kann ich Ihnen also nicht tun, tut mir leid."

„Ach so, da habe ich nicht dran gedacht. Dann bringt das natürlich überhaupt nichts. Aber dann bewegen Sie sich bitte so weit, wie es ihnen möglich ist, auf der Ebene. Wir werden dann ja sehen, was dabei herauskommt. Wahrscheinlich nicht viel! Ansonsten kann ich erst mal nichts für Sie tun. Ach ja! Wieso sind Sie eigentlich mit ihrem Schwindelanfall zum Orthopäden gegangen, das ist doch wohl nicht der richtige Mediziner für so was und wenn Ihnen das Laufen schwerfällt, warum fahren Sie dann in die Stadt zum Einkaufen?“

„Ich war nicht zum Einkaufen in der Stadt. Und dass der Orthopäde nicht der richtige Arzt für derartige Attacken ist, habe ich nicht gewusst. Aber man kann ja dazulernen. Ich merke es mir für die Zukunft. Nächstes Mal gehe ich gleich zum Zahnarzt. Tatsache ist, dass ich mich auf dem Weg zu meinem Orthopäden befunden habe, um eine Akupunktursitzung wahrzunehmen. Alles klar?“
Dr. R. wirft mir einen grimmigen Blick zu und klappt hörbar meine Akte zu, um sich meiner Bettnachbarin zuzuwenden.
Wie ich aus dem Gespräch heraushöre, ist Bettina wegen eines Verdachtes auf eine Salmonelleninfektion hier.
Na fabelhaft, dass wir beide hier zusammengelegt werden! Irgendwie habe ich in der Ausbildung mal gelernt, dass man solche Patienten möglichst isolieren sollte.

Am Nachmittag stellt sich zu allem Überfluss auch noch heraus, dass eine ältere Dame eingeliefert wurde, die aus dem Altenpflegeheim kommt, in dem Bettina als Pflegerin tätig ist. Die ältere Dame kommt mit den gleichen Symptomen wie Bettina: Erbrechen, Durchfall, ständige Übelkeit und leichtes Fieber. Und auch jetzt denkt niemand darüber nach, uns wieder auseinander zu legen. Warum auch, ich habe ich es vermutlich ja sowieso schon, immerhin benutzen wir ja auch die gleiche Toilette.

 

Gegend Abend kommt mich Rolf besuchen. Er will wissen, was Kollege R. denn jetzt an diagnostischen Maßnahmen eingeleitet hat. Bettina erzählt ihm mit wahrer Begeisterung, das ich ihm Contra geboten habe, weil er sich aufgeführt hat, als ob er Kleinkinder vor sich hätte. Rolf grinst über das ganze Gesicht und meint schließlich, Kollege R. bräuchte es durchaus mal, von seinem hohen Ross herunter geholt zu werden, er sei nämlich so ungefähr das Arroganteste, was hier herumlaufe. Leider habe er aber tatsächlich wenig Ahnung von den Dingen, die er hier treibt. Ich solle mir von ihm nichts gefallen lassen.
Das sowieso nicht. Aber nun bin ich über Dr. R. ja im Bilde.

 

Am nächsten Tag glänzt Kollege R, durch Abwesenheit. Dafür hat er einen anderen Arzt geschickt, der mit den Dingen, mit denen er beauftragt wurde, gänzlich überfordert ist, Offenbar ist er auch in keinster Weise über die Patienten informiert worden, denn jedes bisschen muss er erst erfragen.
Vergeblich versucht er, bei Bettina Blut abzunehmen. Mit zusammengebissenen Zähnen sitzt sie da und starrt auf seine dilettantischen Versuche. Selbst ihr Bademantel trägt schon deutliche Spuren seiner gescheiterten Unternehmung.
“sind Sie AiP'ler?"“, rutscht es mir heraus.
“Du meine Güte, merkt man das?!"
Das Eis ist gebrochen: Während ich nicke, müssen wir alle drei laut loslachen.
“ Ich kann das einfach noch nicht. Wissen Sie, ich habe mir gedacht, ich sollte vielleicht in
die Rettungsmedizin gehen. Ich habe gehört, da kann man solche Sachen wunderbar lernen."
„Wenn Sie einen guten Assistenten haben, dann ja. Ansonsten sollten Sie 'diese Sachen! schon beherrschen, wenn sie in den Rettungsdienst gehen.“
"Kennen Sie sich damit aus?“
"Ich bin Rettungsassistentin."
"Ich dachte, Sie seien Krankenschwester?"
"Bin ich auch. Aber das eine schließt das andere doch nicht aus, oder?"

„Jetzt begreife ich, Sie sind ein Multitalent. Dann können sie mir doch bestimmt einen Tipp geben, wie ich Ihrer Zimmerkollegin ein bisschen Blut entlocke, oder?"
"Könnte ich schon, ich weiß nur nicht, ob meine Zimmergenossin noch lange mitzumachen gedenkt."“
Bettina schüttelt energisch den Kopf: „Ganz sicher nicht! Wenn Sie das eindeutig nicht können, dann sollten sie jetzt vielleicht jemanden holen, der das schon beherrscht, mir langt es nämlich! Wer reinigt eigentlich meinen Bademantel? Der hat ein Vermögen gekostet!"
Der nette junge Doktor sieht uns beide ein bisschen unsicher an: "Das mit dem Bademantel tut mir ehrlich leid. Vielleicht können Sie ihn reinigen lassen und mir die Rechnung ...?“

Bettina fängt an zu lachen. “Ach du lieber Himmel! Ich wollte Sie doch nur ein bisschen aufziehen. Den Bademantel wasche ich gleich mit kaltem Wasser aus und dann gehen die Flecken schon raus. Aber nichts desto trotz hätte ich jetzt gerne jemanden, der schon Blut abnehmen kann, ohne mich dabei halb umzubringen."
"Können Sie vielleicht...?" Der nette Doktor sieht mich ein bisschen verlegen an.
"Wenn Bettina einverstanden ist."
„Na komm, mach was! Ich habe nämlich die Nase gestrichen voll." Also zapfe ich meiner Zimmerkollegin das gewünschte Blut ab, während der junge Mann staunend neben mir steht, um festzustellen, so schwer kann es ja nun wohl doch nicht sein. "Eigentlich ist es ja peinlich, aber trotzdem: tausend Dank für Ihre Hilfe."

Als er draußen ist, müssen Bettina und ich laut loslachen. Bettina kugelt sich derart in ihrem Bett, das ich Angst habe, sie könnte herausfallen. Wenige Tage später werde ich wieder entlassen. Dr. R. erklärt mir, er habe nichts Bedenkliches gefunden. im Langzeit-EKG zeigten sich zwar einige Arrhythmien, aber im Großen und Ganzen hielte er die Sache für wenig bedenklich. Möglicherweise läge es ja auch an den Medikamenten. Da bin ich ja mal wieder rundum informiert, wie fast immer!

 

 

 

 

 


 

 

Kapitel 29

 

 

 

Erneut in der Praxis meines Orthopäden stehen wir wieder da, wo wir in der letzten Zeit so oft gestanden haben. Wir überlegen wieder einmal, was wir noch machen könnten. Schließlich bittet mich Dr. L.‚ doch einmal über einen einen ambulanten Termin in einem weiteren Krankenhaus nachzudenken.
Eigentlich mag ich nicht mehr, Bisher ist in keinem Krankenhaus etwas Sinnvolles rausgekommen. Wieso sollte es dort anders sein?
Zunächst machen wir mit der Akupunktur weiter, die bekommt mir immer noch am Besten und erscheint mir seit Monaten am effektivsten. Sicher nicht, wenn es um die Heilung meiner dubiosen Erkrankung geht, aber es geht mir doch unter der Akupunktur auf jeden Fall psychisch besser und die Schmerzen sind durch die Akupunktur auch etwas weniger heftig.
Aber schließlich lasse ich mich von Dr. L. doch überreden, mich in einem weiteren Krankenhaus ambulant vorzustellen. Natürlich muss ich wieder Ewigkeiten auf einen Termin warten. Wieso dauert es eigentlich immer Wochen, bis man in einer Krankenhausambulanz einen Termin bekommt? Das ist einfach unfassbar!
Inzwischen nehmen meine Schmerzen wieder zu und meine Laune sinkt mehr als nur in den Keller. Wegen jedem bisschen bin ich am herum maulen. Die Kinder machen wieder mal einen großen Bogen um mich, eigentlich schrecklich.
Am Wochenende erscheint Filius mit Melissa am Gängelband und das, natürlich ohne zu fragen. Irgendwie scheint es selbstverständlich, dass Melissa schon dreiviertel bei uns wohnt. Mir jedenfalls langt es und ich maule meinen Sohn kräftig an, was er mir natürlich verübelt.
Zum x-ten Mal bekomme ich zu hören, ich sei unausstehlich und ewig nörgelig. Filius hat ja irgendwie recht, dennoch möchte ich selbst über meine Gästezimmer verfügen dürfen. Auf der anderen Seite muss ich allerdings aber auch zugeben, dass mir Melissa ausgesprochen sympathisch ist und sie hält meinen Sohn zum Lernen an. Diese junge Dame ist nämlich sehr dominant und ehrgeizig.
In der Nacht höre ich meinen Sohn auf leisen Sohlen durchs Haus schleichen. Offenbar stattet er Melissa einen Besuch ab. Ich frage mich nur, warum die beiden das so umständlich machen, schließlich hätten sie sich ja auch Filius' s Zimmer teilen können, aber so macht es wahrscheinlich mehr Spaß. 


Am nächsten Morgen erscheint zuerst Melissa, dann Filius zum Frühstück. Galant fragt mein Sohn Melissa, ob sie eine angenehme Nacht gehabt hat. Ich kann wieder mal nicht anders, ich muss mich zu einer Bemerkung herablassen: “Warum fragst du denn, wenn du doch genau weißt, dass sie eine angenehme Nacht hatte oder sehe ich das falsch? Also, ich finde solche Nächte zu zweit jedenfalls immer sehr angenehm. “ Während Filius rot anläuft, bricht Melissa in dieses unwiderstehliche Lachen aus, das mir Weihnachten schon so gefallen hatte. "Tja mein Lieber, deine Mutter ist entschieden eine Nummer zu clever für dich,“ rutscht es Melissa heraus.
Meine Schwiegermutter schüttelt den Kopf, während mein Mann in das Gelächter einstimmt.
"Woher weißt du das denn schon wieder?", fragt mich Filius staunend.
“Ich bin deine Mutter und du kannst mir glauben, ich weiß genau, was in diesem Haus vor sich geht. Aber wenn ihr euch sowieso die ganze Nacht ein Bett teilt, warum beansprucht ihr dann eigentlich zwei Zimmer?“
"Also nehmen wir mein Zimmer oder deins?", fragt denn auch prompt René.
"Deins!“ antworten Melissa und ich gleichzeitig. Damit wäre das also auch geklärt, obgleich ich Melissa durchaus auch ein eigenes Domizil zugestehen würde. 


Als ich mich nach dem Frühstück in mein Arbeitszimmer verkrümel, kommt Filius mir nach.
"Mum, darf ich dich stören?“
"Du tust es doch schon. Was gibt es?"
"Stört es dich, wenn ich mit Melissa schlafe?"
"Wie bitte?"
"Na ja, es könnte doch sein." 

"Wie kommst du denn auf die Idee?"
“Weiß nicht. " 

"Es stört mich nicht im Mindesten ob du mit deiner Freundin schläfst oder nicht. Genau genommen geht es mich nicht einmal etwas an, verstanden?“
"Na ja, ich dachte nur, weil..."
"Ach, jetzt verstehe ich! Du meinst, weil ich mal wieder meinen Mund nicht halten konnte, ja? Ach Filius! Das tut mir leid. Ich habe es doch nicht so gemeint. Du kennst mich doch und meine vorlaute Klappe. Ich hätte mich vielleicht mal ein bisschen beherrschen sollen. Aber ihr habt mich mit eurem Getue geradezu verleitet."
Filius grinst mich an und bricht schließlich in lautes Lachen aus: "Mum, du bist wirklich unmöglich! Eigentlich hätte ich ja wissen müssen, dass sowas kommt. Allerdings glaube ich, dass Oma ein bisschen schockiert war. "
"Oma ist einfach anders erzogen worden. Früher ist man mit diesen Dingen lange nicht so locker umgegangen und manche können es heute noch nicht."
"Ich glaube, Oma stört es, dass ich mit Melissa schlafe."
"Oma wird sich daran gewöhnen. Schließlich bist du ein fast erwachsener, junger Mann“
„Fast?“ 

“Du willst doch nicht behaupten, du bist bereits erwachsen?“
"Mum?!“
"Ja, was denn?“
"Ich könnte hundert Jahre alt werden und du würdest nicht aufhören, in mir den kleinen Jungen zu sehen.”
"Das ist das Privileg, das man als Mutter besitzt, mein Sohn. Schaff dir Kinder an und du weißt, was ich meine.” 

Filius schüttelt lächelnd den Kopf: “Das hat wirklich noch Zeit, Mum oder willst du wirklich mit sechsunddreißig Großmutter werden?"
"Wenn man mit fünfzehn schwanger ist, muss man damit leben. Es würde mich nicht stören, aber es muss nicht sein. Warte lieber noch ein bisschen ab.“
"Das werde ich sicher tun, Mum. Eine Frage noch: Wie hast du gewusst, dass ich die Nacht über bei Melissa war?“
"Du bist’ zu laut geschlichen. Ich habe dich gehört." 

"Verstehe ich nicht! In diesem Haus gibt es nicht einmal knarrende Fußbodenbretter, aber du hörst mich. Das ist nicht normal."
"Ist der Reiz jetzt weg?"
"Irgendwie war es ganz lustig, durch die Gegend zu schleichen. Es hat so ein Prickeln verursacht, weißt du?“ 

"Warum schleicht ihr jetzt nicht beide ins Gästezimmer? Dann habt ihr wenigstens beide was von dem Prickeln! Immerhin müsst ihr an Omas Zimmer vorbei.“
Zärtlich legt Filius mir seine Arme um die Schulter: "Mum! Du hast wirklich urige Ideen. Obwohl die Idee an sich ist eigentlich gar nicht so dumm. Wir könnten uns natürlich auch in den Garten schleichen, warm genug ist es ja“.
"Oder in Hermans Scheune. Im Heu ist es auch ganz schön." 

"Hast du das schon ausprobiert?“
"Klar! Wir haben uns auch schon in Hermans Scheune geschlichen."
"Mum. Da tun sich ja Abgründe auf! Was habt ihr eigentlich gemacht, als ihr euch kennengelernt habt? Seid ihr immer in eure Wohnungen gefahren?“
"Jetzt wirst du aber ein bisschen zu neugierig, mein Sohn!“ 

"Ach bitte, erzähl es mir doch!“
"Nein!"
"Seid ihr manchmal an meinem Zimmer vorbei geschlichen?“ 

“Das allerdings."
„Ach Mum, du bist einfach toll, Ich liebe dich!“
„Ich dich auch. Und nun geh, Melissa wartet auf dich.“ Filius drückt mir einen kräftigen Kuss mitten auf den Mund und ist im gleichen Augenblick verschwunden, während ich noch Kopfschüttelnd an meinem Schreibtisch sitze.

 
Am Dienstag habe ich ein neues Problem, als ich zur Akupunktur fahre. Nicht nur, dass mir schwindelig und ständig übel ist, ich habe auch so heftige Schmerzen, dass es mir unmöglich erscheint, mich in die Bauchlage zu begeben.
Während ich Dr. L. mein neuerliches Leid klage, betrachtet er mich prüfend.
“Sie sehen heute gar nicht gut aus. Sie sind furchtbar blass. Darf ich mal den Puls kontrollieren?"
Bereitwillig halte ich ihm meine Hand hin.
“Der ist ja wieder viel zu schnell. Die Akupunktur können wir natürlich auch mal im Sitzen vornehmen, das soll nicht das Problem sein, aber wenn ich Sie mir so ansehe, dann überlege ich, ob wir die Akupunktur heute nicht doch lieber ausfallen lassen. Auf der anderen Seite haben Sie sich allerdings auch in die Praxis bemüht. Was meinen Sie denn?"
"Lassen Sie uns die Akupunktur ruhig machen. Dann machen wir sie eben im Sitzen, vielleicht geht es mir hinterher ja auch besser."
"Na gut, wenn Sie meinen."
Dr. L. macht sich an die Arbeit und betrachtet mich dabei immer wieder besorgt. Schließlich ist er fertig und ich sitze perfekt genadelt auf der Liege.
„Kippen Sie bloß nicht um, mit all den Nadeln im Rücken. Nicht, dass die am Ende vorne aus dem Bauch wieder heraus gucken." Verschmitzt lächelt er mich an.
"Wenn das passiert, ist aber endgültig etwas schief gelaufen," erwidere ich ebenfalls lächelnd.
"So, was denn?", erkundigt sich Dr. L. bei mir.
"Dann waren die Nadeln zu lang."
Jetzt muss er doch lachen und schüttelt ein bisschen den Kopf.
“Ich schwöre Ihnen, wenn das passiert, nehme ich nächstes Mal kürzere Nadeln. Aber mal ganz im Ernst: Bitte klingeln Sie, wenn Ihnen schlecht wird und legen sich nicht einfach so auf den Rücken. Denken Sie bitte daran, dass in Ihrem Rücken eine ganze Menge Nadeln stecken. Auf jeden Fall schicke ich Ihnen jetzt noch eine der Damen zum Blutdruckmessen. Ich wünsche Ihnen trotzdem angenehme zwanzig Minuten.“ Dr. L. streichelt kurz meine Schulter und ist verschwunden.
Kurze Zeit später taucht eine Sprechstundenhilfe auf, um den Blutdruck zu messen. Dieser stellt sich aber als normal heraus. So sitze ich meine Zeit ab und fühle mich anschließend tatsächlich ein bisschen wohler.

 

 

Kapitel 30

Da meine Schwiegermutter gesundheitlich momentan auch nicht so gut drauf ist, benötigen wir eine Haushaltshilfe. Nichts leichter als das: Die Haushaltshilfe erscheint am Morgen, fragt an, was zu tun ist und macht sich an die Arbeit, die Treppe in den ersten Stock hinauf zu putzen. Eine Dreiviertelstunde braucht sie für die Treppe. Ziemlich genau die Zeit, die ich momentan auch brauche.
Anschließend fällt sie völlig erschöpft auf einen der Stühle in unserem Esszimmer und packt ihr Frühstück aus. Um es sich richtig gemütlich zu machen, muss man natürlich die Schuhe ausziehen und die Beine hochlegen.
Während meine Schwiegermutter immer säuerlicher guckt, habe ich Mühe, mich zu beherrschen. Ich ziehe es schließlich vor, mein Arbeitszimmer aufzusuchen, ehe ich vor unterdrücktem Lachen los platze.
Am Mittag muss ich dann tatsächlich noch die Wäsche richtig aufhängen, offenbar schafft sie auch das nicht Problemlos.
Am Nachmittag fragt mich Dr. L., ob es denn mit der Haushaltshilfe klappt. Ich erzähle ihm, dass sie große Probleme mit dem Wäscheaufhängen hat. Dr. L. fängt an zu lachen und meint schließlich mit einem breiten Grinsen: "Sie erwarten aber auch wirklich ein bisschen viel. Schließlich ist Wäscheaufhängen ja eine höchst anspruchsvolle Tätigkeit. Dieser Sache ist nun mal nicht jeder gewachsen."
Als eine der Sprechstundenhilfen das Zimmer betritt, staunt sie nicht schlecht über unsere ausgelassene Heiterkeit.
Ein paar Tage später reicht es mir dann aber doch mit der Dame. Ohne mit der Wimper zu zucken, plaudert sie in unserer Nachbarschaft über meine Erkrankung und bestellt mir anschließend auch noch Grüße besagter Herrschaften. Ich halte ihr einen längeren Vortrag über das Thema Schweigepflicht. Irgendwie will aber nicht in ihren Kopf, dass sie über ihre Tätigkeit in unserem Haushalt und vor allem über meine Erkrankung Stillschweigen zu bewahren hat. Erst ein Anruf bei ihrem Chef erlöst uns von dieser Frau.
Gottlob ist die Nachfolgerin versierter auf dem Gebiet der Haushaltsversorgung - Schließlich kann ich ja auch nicht immer daneben stehen.

Einige Tage später nehmen meine Schmerzen in unerträglichem Maß zu. Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Was zum Teufel soll ich tun, um diesen Prozess endlich zum Stehen zu bringen. Ich mag einfach nicht mehr. Nachts heule ich heimlich in meine Kissen und tagsüber maule ich die Familie an. Schließlich reicht es mir. Ich habe keine Lust, noch zwei Wochen auf den Termin in der Krankenhausambulanz zu warten. Kurzer Hand schnappe ich mir, während wir am Frühstückstisch sitzen, das Telefon und rufe im Krankenhaus an. Die Sekretärin hört sich meine Beschwerde an und erklärt mir dann, sie könne die Termine halt nur nach Kalender vergeben und der sei voll. Sie könne mich aber mit einem der Ärzte verbinden und dann könne ich direkt dort mein Glück versuchen. Also lasse ich mich verbinden.
Ein der Stimme nach, junger Mann am anderen Ende, lässt sich umständlich erklären, um was es geht und warum mir der Termin in vierzehn Tagen zu spät ist. Ich versuche ihm meine Beschwerden zu beschreiben und ihm zu verdeutlichen, dass es mir ganz einfach reicht.
"Em, tja, also ich weiß nicht. Ich meine, ich kann Sie natürlich nicht einfach dazwischen schieben, dass verstehen Sie doch, nicht wahr?".
"Nein, das verstehe ich ganz und gar nicht."
"So - also - ja - hm, mal sehen. Inwieweit sind Sie denn eingeschränkt?"
Inwieweit ich eingeschränkt bin? Ich höre ja wohl nicht recht.
"Wie meinen Sie das?"
"Nun ja, inwieweit Sie eingeschränkt sind. Sie haben also permanente Schmerzen und ansonsten? Sehen Sie, ich brauche natürlich eine ausführliche Begründung, warum ich Sie dazwischen nehmen soll. Mir platzt jetzt der Kragen, so ein arroganter Spinner. "Hören Sie genau zu: Ich kann nicht richtig laufen; das Stehen und Liegen fällt mir schwer, vom Sitzen will ich mal gar nicht reden; ich kann meinen Haushalt nicht mehr versorgen; ich kann nicht mehr mit meinen Kindern herumtoben, ich kann meinen Freizeitinteressen nicht mehr nachkommen und ich habe seit Oktober nicht mehr mit meinem Mann geschlafen! Reicht das als Begründung?!"
Während am anderen Ende erst mal pikierte Funkstille herrscht, hat mein Mann sich vor Schreck an seinem Kaffee verschluckt und kämpft mit einem Hustenanfall; wobei meine Schwiegermutter, geradezu gelähmt vor Entsetzen ob meines Ausbruches, ihr Brötchen hat fallenlassen und jetzt krampfhaft bemüht ist, sich den Honig wieder von der Hose zu entfernen.
„Also schön, dann kommen Sie bitte übermorgen gegen zwölf Uhr. Es kann allerdings sein, dass sie ein paar Minuten warten müssen."
Na also, es geht doch!
Hochzufrieden lege ich auf, während mein Mann mich immer
noch schockiert anstarrt und sich schließlich zu folgender Bemerkung herablässt:
"Also ich habe da mal eine sehr nette, charmante junge Frau kennengelernt, die mich mit ihrem Charme so umgarnt hat, dass ich sie schließlich geheiratet habe. Irgendwie hat sich diese Dame aber in den letzten Monaten zu einer ausgemachten Xanthippe entwickelt. Was muss ich tun, um die charmante Mutter meiner Kinder zurückzubekommen?”
"Ganz einfach: Entweder du ignorierst die Xanthippe oder du besorgst mir einen neuen Rücken, wobei der Bereich der Lendenwirbelgegend schon reichen würde, mein Schatz.”
Die Antwort meines Mannes ist ein frustriertes Kopfschütteln und ein tiefes Seufzen, dem ich mich gedanklich anschließe.

Am Nachmittag erzähle ich Dr. L., dass ich den Termin im Krankenhaus habe vorverlegen können. Staunend fragt er, wie ich das fertiggebracht habe.
"Na ja, ich war wohl mal wieder ein bisschen vorlaut.” 

"Wieso, was ist passiert?"
Ich erzähle Dr. L. von dem blöden Frage und Antwortspiel. Als er von meinem Ausbruch und der Reaktion meiner Familie hört, fängt er schallend an zu lachen.
"Sie sind einfach unglaublich. Wenn man Sie so sieht, denkt man, was für eine nette, junge Frau. Aber sie sind zu Sachen fähig, das ist einfach nicht zu fassen. Herrlich finde ich das."
Dr. L. lacht immer noch vor Vergnügen und im Nachhinein muss ich, vor allen Dingen natürlich, wenn ich an die Reaktion meiner Familie denke, auch herzlich lachen.

Zwei Tage später fahre ich wieder mit Lars von den Maltesern ins Krankenhaus. Lars ist froh, dass ich den Weg kenne, denn er kennt sich überhaupt nicht aus.
Die Klinik besteht aus vielen einzelnen Gebäuden und man muss sich schon auskennen, um das richtige Gebäude zu finden, denn die Ausschilderung ist eher dürftig.
Die neurochirurgische Ambulanz ist wegen größerer Baumaßnahmen in den ehemaligen Personalverwaltung Trakt verlegt. Dorthin führt ein schmaler Weg, der für das große Auto, mit dem wir unterwegs sind, nicht konzipiert wurde.
Obwohl ich Lars vorwarne, fährt er mit dem großen Mercedes in diesen schmalen Weg, von dem ich genau weiß, dass man am anderen Ende nicht drehen kann. Aber bitte - er sitzt am Steuer, also ist er der Chef. Allerdings ist mir sein Gesichtsausdruck Entschädigung genug, als er feststellt, dass ich Recht hatte und er hier nicht drehen kann. Viel schlimmer ist für ihn, dass er vor diesem Gebäude noch nicht einmal parken kann. Also steige ich aus und Lars kämpft sich mit seinem Wagen rückwärts wieder raus. Obwohl er mir ein bisschen leid tut, kann ich ein Grinsen nicht unterdrücken. Er hätte ja nur auf mich hören brauchen, dann hätte er jetzt dieses Problem nicht.
Aber das ist wieder typisch Mann, bloß nicht auf eine Frau hören!
Kurze Zeit später taucht Lars mit meinen Röntgenbildern auf, allerdings doch recht abgekämpft.
Wir machen uns auf den Weg zur Anmeldung, die natürlich nicht besetzt ist. Haben Sie jemals eine besetzte Anmeldung in einem Krankenhaus vorgefunden? Ich noch nie. So stehen wir also vor der Anmeldung und warten. Ein Zettel am Fensterchen verkündet uns, dass die Person, die hier normalerweise ihre Brötchen verdient, sofort wieder zurück ist. Aber 'sofort' ist relativ und so stehen wir und stehen und stehen...
Schließlich wird es mir zu langweilig und ich studiere die Namensschildchen an den umliegenden Türen. Da dieses Gebäude momentan offenbar nur Notbehelf ist, sind die Namen lediglich auf kleine Pappschildchen gemalt und mit Stecknadeln an den Wänden angebracht, ebenso wie die Zimmernummern.
Während Lars darüber lästert, das an der Anmeldung ein Schild hängt, auf dem steht, die Anmeldung sei durchgehend von 8.00 - 16.00 Uhr besetzt und nun sei jawohl offenbar keiner da und da könne man dann doch wohl nicht mehr von durchgehend besetzt reden, kommt mir eine Idee...
Mit Wonne tausche ich die kleinen Kärtchen mit den Zimmernummern aus und bringe sie dafür an anderen Zimmertüren an, immer darauf bedacht, dass mich niemand erwischt.
Schließlich wird Lars auf meine Bastelei aufmerksam und verfolgt mit offenem Mund mein frevelhaftes Tun.
"Und sowas nennt sich nun erwachsen, ist doch wohl nicht wahr.”
„Hast du einen Kuli?"
„Was willst du denn damit?", fragt mich Lars, während er mir etwas zögernd seinen Kugelschreiber reicht. Ich nehme ihn und male kleine Gesichter auf die Namenskärtchen. „Sag' mal, wie alt bist du?" Lars sieht mich fragend an. "Sechsunddreißig, wieso?"
"Benimmt man sich mit sechsunddreißig so?“
„Wie denn?"
"Na - so wie du hier? Du malst einfach die Namenskärtchen voll."
"Ja, die sehen doch so viel lustiger aus, findest du nicht?"
Lars schüttelt mit einem Grinsen den Kopf.
„Bist du wirklich Ausbilderin für den Rettungsdienst? Ich meine -ich frag' ja nur mal so. Vielleicht arbeitest du ja auch im Kindergarten und verwechselst da etwas!"
Ich muss lachen, so verzweifelt komisch mustert mich Lars. Wahrscheinlich hofft er, dass uns nur niemand erwischt, denkt aber schon darüber nach, was für eine Erklärung er über meinen Geisteszustand abgeben könnte, wenn wir doch erwischt werden.
Ich habe recht, wie ich gleich bemerke.
"Du, Tina, hör mal, wir sind hier in der Neurologie und wenn du die Kärtchen hier - ich meine ja bloß, weil ich weiß nicht, wie die das hier aufnehmen - wenn die rauskriegen, also, was ich sagen will, ist ... eh, vielleicht - hm, also ..."
"Brich dir bloß nichts ab. Wir sind hier in der Neurochirurgie und nicht in der Psychiatrie und im Übrigen kann ich mich auch alleine rausreden. Außerdem - hast du vielleicht gesehen, dass ich hier irgendwelche Kärtchen bemalt oder gar ausgetauscht habe?” 

„Ich? Nö! Nicht, dass ich wüsste."
"Siehst du!"
Schließlich erscheint doch die Dame, die eigentlich an der Anmeldung die Stellung halten sollte. Mit hochgezogenen Augenbrauen studiert sie meine Überweisung, um dann anzumerken, ich hätte doch erst in vierzehn Tagen einen Termin.
“Ich habe vorgestern mit einem Ihrer Ärzte hier telefoniert und habe daraufhin einen Termin für heute erhalten. Sehen Sie bitte noch einmal genau nach."
Noch einmal studiert sie ihre Unterlagen, um dann zu entdecken: „Ja, ich habe es gefunden. Na schön, es kann noch einen Moment dauern. Nehmen sie inzwischen vorne im Wartezimmer Platz, ja?"
„Vielen Dank."
Lars folgt mir auf dem Fuß und schüttelt immer noch über mich den Kopf. Manchmal macht es einfach Spaß, ein bisschen kindisch zu sein.

Auf dem Weg ins Wartezimmer läuft uns ein junger Arzt über den Weg. Hoppla, den kenne ich doch?!
„Hallo Frank!", begrüße ich ihn, während er mich im ersten Moment etwas irritiert mustert.
"Tina, dass gibt es doch nicht. Was machst du hier?" Ich berichte kurz und plötzlich schlägt er sich mit der Hard vor die Stirn.
„Dann hast du vorgestern mit mir telefoniert? Himmel, ich wusste genau, dass ich diese vorlaute Klappe irgendwoher kerne,"
Wir unterhalten uns eine Weile vor dem Wartezimmer, dann geht Franks Pieper an und er muss sich verabschieden.
„Woher kanntest du den denn?", erkundigt sich Lars neugierig.
Ich erzähle, dass ich Frank aus dem Rettungsdienst kenne. Als angehender Rettungsmediziner kam er für eine sechswöchige Ausbildungsphase in unsere Rettungswache. Als erstes störte es ihn, mit einer Frau als Fahrerin losziehen zu müssen, und dann fragte er unseren Dienststellenleiter, "Wann denn der Doktor käme. Unser Dienststellenleiter erklärte ihm lapidar, der Doktor sei er und er solle sich lieber mit mir gut stellen, denn alles, was er noch nicht wisse, könne er von mir lernen. Frank war der arroganteste Doktor, der je mit mir gefahren ist und ich musste ihn zweimal bei Patienten auflaufen lassen, ehe er es kapiert hatte. Nachdem er endlich begriffen hatte, dass er ohne mich kein Stück weiter kam, einigten wir uns auf das 'Du’ und wurden doch noch recht gute Kollegen.

Es dauert nicht lange und ich werde aufgerufen. Über Lautsprecher werde ich in Zimmer vier gebeten. Lars zeigt mir die Tür, ich schüttele den Kopf.
„Das da ist Zimmer vier, ich habe doch die Karten vertauscht"
„Oh Gott, Tina, du bist unmöglich! Bis gleich.” 
Lars bleibt kopfschüttelnd draußen stehen.
In Zimmer vier begrüßt mich ein junger südländisch aussehender Arzt. Dem Aussehen nach könnte er Italiener sein. Ich habe mich nicht geirrt, er ist Italiener, wie ich sofort an seinem Namen und seinem Akzent feststellen kann. Höflich bietet mir Dr. B. einen Platz an und hält mir dann eine Schachtel mit kleinen, weißen Pillen unter die Nase.
„Mögen Sie ein Pfefferminz?"
„Gerne,” antworte ich und greife überrascht zu. Für Pfefferminz bin ich immer zu haben.
„Gut, dann berichten Sie mir mal, wie ich Ihnen helfen kann“

Wie gewohnt bete ich meine Krankengeschichte herunter und die Augen meines Gegenübers weiten sich zunehmend vor Entsetzen.
„Sie meinen, seit Oktober haben Sie ständig Schmerzen und können sich nicht richtig bewegen?“
„Das wollte ich mit dem Gesagten zum Ausdruck bringen, ja“
"Um Gottes Willen, das geht doch nicht. Sie sind doch noch viel zu jung dafür. Also, ich schaue mir Ihre Bilder jetzt mal an und dann sehen wir weiter."
Hoch interessiert studiert er die Bilder und schüttelt immer wieder den Kopf. 

„Ist schon einmal einer auf die Idee gekommen, dass die Bilder spiegelverkehrt sein könnten?“ 

"Wie bitte?" Ich höre doch wohl nicht recht?! 

„Also ich bin mir sicher, dass die Bilder spiegelverkehrt sind“

„ Das ist unmöglich!“
„Nichts ist unmöglich und wir haben das schon gehabt." Während er zum Telefon greift, bittet er mich, mich auszuziehen und mich auf die Liege zu legen.
Er telefoniert nach einem Kollegen, der herkommen und sich meine Bilder ansehen soll.
Während der Kollege noch auf dem Weg ist, werde ich zum, ich weiß nicht wievielten Male, untersucht. Mittlerweile kenne ich die Prozedur und weiß eigentlich schon vorher, wann es richtig wehtut, was natürlich unweigerlich dazu führt, dass ich schon vorher blockiere.
"Sie sollten versuchen, ganz entspannt zu liegen, ich kann Sie sonst nicht richtig untersuchen."
Das weiß ich selber, aber leichter gesagt, als getan.
Schließlich kommt der per Telefon her zitierte Kollege und studiert mit Hingabe meine Bilder. Die beiden diskutieren mit steigender Intensität über die Frage, ob die Bilder spiegelverkehrt sein können oder nicht.
Ich liege immer noch ausgestreckt auf der Liege und verfolge gespannt die Diskussion. Ich möchte wirklich wissen, wie das ausgeht.
Ehe ich mich versehe, hat Dr. B. mein rechtes Bein geschnappt und angehoben. Vor Schmerz schreie ich auf und komme mit dem Oberkörper hoch.
„Na also! Laségue bei dreißig Grad positiv. Ich wusste doch, ein bisschen Unachtsamkeit ihrerseits und ich kriege ein exaktes Ergebnis!"
Der Kerl hat mich reingelegt. Das ist einfach unglaublich.
Die Bilder lassen den beiden keine Ruhe, schließlich wird auch noch ein Radiologe herbeigerufen und dieser schließt sich ebenfalls der Meinung an, die Bilder könnten spiegelverkehrt sein.
Na toll, öfter mal was Neues!
Für jeden Fall bekomme ich gesagt, dass man keine Probleme sieht, eine Myelografie durchzuführen und das man sicher auch operieren wird, denn so kann es mit mir ja nicht weitergehen. Wie wahr!
Dr. B. bittet mich um die Erlaubnis, mit Dr. Y. telefonieren zu dürfen, nachdem er ihm die Entbindung von der Schweigepflicht gefaxt hat. Von diesem Arzt wurde ich im Juli des vergangenen Jahres operiert. Dr. B, möchte wissen, welche Schmerzmittel ich während des Krankenhausaufenthaltes genommen habe. Es wäre wichtig für Dr.B, herauszufinden, wo meine Schmerzgrenze angesiedelt ist. So könne er sich ein besseres Bild über die derzeitige Schmerzintensität machen.
Kein Problem, soll er ruhig mit Dr. Y. telefonieren. hoffentlich ist er nicht zu enttäuscht, wenn er erfährt,das ich während des damaligen Krankenhausaufenthaltes so gut wie keine Schmerzmittel genommen habe.
Ich bekomme gesagt, dass mir der Aufnahmetermin in den nächsten Tagen telefonisch mitgeteilt wird. Mit sechs Wochen Wartezeit müsste ich aber rechnen.
Ich kann immer noch nicht glauben, dass die Bilder der Kernspinaufnahme spiegelverkehrt sein sollen.

 
Als ich Dr. L,. davon berichte, schüttelt dieser energisch den Kopf:
"Ich glaube ja vieles, aber das nicht! Das halte ich für völlig ausgeschlossen!"
"Die nicht, die sind geradezu davon überzeugt, dass das ganze Problem daher rührt, dass die Bilder falsch rum sind."
"Das wäre natürlich auch eine ganz üble Geschichte. Dann müssen wir jetzt neue Aufnahmen machen, da bin ich mal gespannt."
Ich auch!
Ich bekomme mal wieder eine Überweisung für die MRT in die Hand gedrückt und bin genauso gespannt wie mein Arzt.
Im Stillen überlege ich, ob ich Dr. S. vielleicht über den Verdacht informieren soll, aber eigentlich möchte ich doch lieber abwarten, was dabei herauskommt. 


Als ich von meinem Orthopäden nach Hause komme, habe ich Post von Hsan. Ein Päckchen liegt auf meinem Schreibtisch und als ich danach greife, überflutet mich eine Welle von Glück. Ich bin froh, in Hsan einen so guten und treuen Freund gefunden zu haben.
Im Päckchen finde ich einen langen Brief von Hsan mit Fragen, guten Wünschen, Ratschlägen, aber auch präzisen Anweisungen und ein Päckchen Pu Erh-Tee aus der Provinz Yunnan, der Provinz des ewigen Frühlings. Es ist kurz nach vierzehn Uhr. Dann ist es in Peking neun Uhr abends, da kann ich Hsan noch anrufen und das setze ich auch gleich in die Tat um. Natürlich ist Mishu wieder am Telefon und aufgeregt fragt sie mich, wie es mir geht und ob ihre Kochrezepte mir eine Freude waren. Was für eine Frage! Selbstverständlich! Schließlich holt sie dann aber doch noch Hsan ans Telefon und mit seiner ruhigen, höflichen Art, die allen Asiaten zu eigen ist, fragt er mich, wie es mir geht.
"Ach du, ich schaffe das schon irgendwie, vielen Dank für den Tee”
„Was soll das heißen, du schaffst das schon irgendwie? Dann geht es dir also noch nicht besser." Meine Güte, ist dieser Mann hellhörig. Manchmal kann das auch lästig sein.
''Wie ist es mit der Akupunktur, wirst du noch genadelt?" 

„Ja sicher und es bekommt mir sehr gut. Wirklich Hsan, ich fühle mich hinterher um einiges wohler."
„Das ist gut, so soll es ja auch sein. Kannst du dich auch ausreichend entspannen? Du weißt ja, ohne ausreichende Entspannung ist die ganze Therapie nur die Hälfte wert.” 

"Ich weiß das, Hsan und glaube mir, ich entspanne mich wirklich. Schließlich habe ich alles Wichtige bei dir gelernt." 

"Gut. Der Tee ist etwas Besonderes. Ich denke, er könnte dir helfen. Wenn du ihn regelmäßig trinkst, kann er schmerzlindernd wirken.” 

"Bei uns in Deutschland trinkt man ihn als Appetitzügler.” Ein leises Lachen von Hsan ist die Antwort. 

„Was gibt es da zu lachen?" 

"Ich lache über die typische Einseitigkeit der Europäer. Der Tee wirkt tatsächlich leicht Appetit dämpfend, aber nur unter bestimmten Umständen. Er hat aber noch viele andere Eigenschaften, man kann ihn bei einer Vielzahl von Erkrankungen anwenden. Er enthält viele Mineralien und Wirkstoffe, die Endorphine freisetzen. Außerdem wirkt er blutreinigend und folglich auch entschlackend. Wichtig ist, dass du ihn richtig zubereitest, und da ist es gut, dass du mich gleich angerufen hast. Ich habe das in meinem Brief nicht weiter erläutert, das ist mir leider erst später eingefallen. Also pass gut auf: Einen Aufguss kannst du viermal wiederverwenden, brühe ihn niemals mit kochendem Wasser auf und lass ihn nicht länger als eineinhalb Minuten ziehen. Dass du keinen Zucker hineintun darfst, muss ich dir ja nicht erzählen. Du trinkst ja ohnehin Tee immer ohne Zucker. Falls er dir aber so nicht schmecken sollte, kannst du Süßstoff hineintun." 

„Ich werde darauf achten." 

„Wenn er zu Ende geht, schick mir eine E-Mail. Ich sende dir dann neuen Tee zu". 

„Ich kann den Tee auch hier kaufen, das ist gar nicht nötig, das du mir neuen Tee schickst." 

"Ich schicke dir neuen Tee! Was ihr in Deutschland habt, ist zum größten Teil Ausschussware, die hier niemand trinkt. Denn der Tee hat noch nicht die nötige Reife. Guter Pu - Erh - Tee braucht eine gewisse Zeit der Reife, genau wie guter Wein, du verstehst? Außerdem wird nach Europa häufig Tee verschifft, der mit Pestiziden verseucht ist. Der hilft dir dann kein Stück weiter, der kann sogar alles noch verschlimmern. Trinkst du noch grünen Tee, bevor du zur Akupunktur gehst" 

„Ja, sicherlich.” 

„Braves Mädchen, und wenn du Hilfe brauchst oder einen Rat, rufe mich an, ja?" 

"Ja, das werde ich tun Hsan. Vielen Dank und noch einmal Grüße an Mishu.” 

Gleich nach dem Telefonat brühe ich mir den ersten Tee auf, für meine Schwiegermutter gleich mit. Er hat einen etwas fischigen Geruch, man muss sich schon überwinden, ihn zu trinken. Auch der Geschmack ist am Anfang etwas eigenartig, ein bisschen holzig und gleichzeitig rauchig. Aber nach den ersten paar Schlückchen fängt er an, mir zu schmecken, während meine Schwiegermutter ein bisschen angewidert den Kopf schüttelt. Also diesen Tee habe ich wohl für mich alleine.

 








 


 

 

 

Kapitel 31

 

 

 

Gut eine Woche später habe ich den Termin zur MRT. Nach erfolgter Kernspintomografie sitze ich gespannt wie ein Flitzebogen im Wartezimmer. Was wird bei diesen Aufnahmen herauskommen?
Meine Verblüffung ist schließlich riesig, aber keineswegs, weil die Aufnahmen spiegelverkehrt gewesen wären. Dieser Verdacht bestätigt sich nämlich nicht.
Ich werde in das Sprechzimmer von Frau Dr. R. gebeten. Diese sitzt an ihrem Schreibtisch, meine Bilder hängen am Leuchtschirm hinter ihr. Sie reicht mir die Hand, entschuldigt sich, dass ich mit ihr vorlieb nehmen muss, denn Dr. S. ist zur Zeit krank. Dann lehnt sie sich gemütlich zurück, sieht mich einen Augenblick musternd an und fragt schließlich: "Wie haben Sie das eigentlich geschafft?"
"Wie habe ich was geschafft?", frage ich verständnislos zurück. Der Bandscheibenvorfall ist ja schließlich nichts Neues mehr.
“Wie haben Sie es geschafft, sich den 5. Lendenwirbel zu brechen?"
"Wie bitte?!"
„Ja, nach den Aufnahmen hier, muss man eine Fraktur des Wirbelbogens beim fünften Lendenwirbel vermuten. Es deutet alles daraufhin. Sehen Sie, ich zeige es Ihnen."
Es folgt eine ausführliche Erklärung. Ich kann nur staunend den Kopf schütteln.
„Um die Diagnose zu erhärten, schicke ich Sie von hier aus direkt zum CT. Ich habe bereits mit Dr. R. telefoniert. Er erwartet Sie. Möglicherweise stammen Ihre Beschwerden von einer nicht behandelten Fraktur und haben mit dem Bandscheibenvorfall nicht das Allergeringste zu tun."
Jetzt bin ich aber doch ganz schön geplättet. Eine Wirbelfraktur? Ich kann es nicht fassen.

In der anderen Praxis werde ich bereits erwartet und sofort an die Reihe genommen. Dr. R. erklärt mir kurz den Ablauf des CT's und dann darf ich auf der Liege Platz nehmen. Für mich bedeutet das weitere zwanzig Minuten auf der Rücken zu liegen, etwas, dass ich immer noch nicht kann. Selbst die Knierolle kann nicht verhindern, dass sich die Schmerzen in der Lendenwirbelgegend verstärken. Ich bin heilfroh, als die Aufnahmen fertig sind und ich im Wartezimmer Platz nehmen darf. Dr. R. verspricht mir, die Bilder sofort auszuwerten.
Es dauert nicht lange und er kommt mit den Aufnahmen und einem Brief in der Hand zu mir ins Wartezimmer. Ich bin mittlerweile die Einzige, die hier noch herum sitzt.
"Tut mir leid, aber das CT hat leider auch nicht mehr Aufschluss gebracht. Dennoch möchte ich mich der Meinung meiner Kollegin anschließen und ebenfalls behaupten, dass es sich um eine Wirbelfraktur handelt. Um das genau zu klären, könnte man noch eine Szintigraphie machen, aber der Kollege K. ist nicht mehr im Haus, sonst hätte ich ihn gleich mal darauf angesprochen. In jedem Fall sollten Sie die Sache aber mit Ihrem Orthopäden besprechen, Ich habe die wichtigsten Bilder mit einem Klebepunkt markiert, dann kann Ihr Orthopäde die Stellen schneller finden. Ich wünsche Ihnen alles Gute."
Damit bin ich entlassen.
Ich bitte die junge Dame an der Anmeldung, telefonieren zu dürfen, was mir auch gestattet wird. Ich frage in der Praxis meines Orthopäden nach, ob er noch im Dienst ist und bekomme gesagt, die nächste Stunde sei er noch da. Na also, dann mache ich mich doch gleich auf den Weg. Irgendwie lässt mir das jetzt keine Ruhe.

Dr. L. begrüßt mich freundlich wie immer, obwohl ich mal wieder ohne jede Anmeldung in seine Sprechstunde schneie und wahrscheinlich seinen Terminplan durcheinander bringe. Wieso nimmt er das eigentlich immer so geduldig hin?
Ich erkläre ihm, warum ich da bin und drücke ihm die Bilder in die Hand, die er auch sofort studiert, um dann schließlich nachdenklich mit dem Kopf zu schütteln: "Ich weiß nicht. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass der Wirbelbogen weggesprengt wurde. Wie sind Sie denn damals gestürzt?"
Darüber muss ich jetzt erst mal nachdenken. Es war damals alles so schnell gegangen, dass ich die Frage gar nicht eindeutig beantworten kann.
"Also, um das genau zu beurteilen, müsste man vielleicht eine Szintigraphie machen."
"Ja, das hat Dr. R. auch gemeint."
"Aber da Sie ja nun bald ins Krankenhaus gehen und die dort hoffentlich die Myelografie machen werden, würde ich doch gerne abwarten, was dabei herauskommt. Was meinen Sie?“
"Ich denke, wir sollten das so machen. Und Sie glauben nicht, dass der Wirbel gebrochen sein könnte?“
“Ich bin mir nicht sicher, ich kann es auch nicht komplett ausschließen. Sagen wir mal so, eigentlich glaube ich nicht so recht daran."
"Und was kann man tun, wenn er doch gebrochen ist?“
"Dazu muss man erst eine genaue Diagnose haben und sicher sein können, dass die Fraktur die Beschwerden verursacht. Im Moment kann ich dazu nichts sagen.“
Ich nicke nachdenklich. Also schön, dann warten wir es ab, Jetzt hat das alles schon so lange gedauert, da kommt es auf eine Woche mehr oder weniger auch nicht mehr an.

 Als ich am Abend meinem Mann über die neue Möglichkeit Bericht erstatte, schüttelt er ein bisschen genervt den Kopf.
"Weißt du, jetzt meinen die, sie haben noch was Neues gefunden, aber hat denn einer von denen bisher mal etwas Produktives vorgeschlagen? Wie soll das jetzt wieder wieder weitergehen? Du gehst ins Krankenhaus, schön! Und dann? Stell dir mal vor, die finden auch wieder nichts, was dann?"
Ich sehe Michael nachdenklich an. Dieser Gedanke ist mir schon des öfteren gekommen, ich habe mich nur nie getraut, ihn zu Ende zu denken. Ich will mich, verdammt noch mal, an diese Myelografie klammern! Sie ist meine letzte Hoffnung, dass doch etwas unternommen werden kann. Der Gedanke, dass die Myelografie auch nichts erbringt, macht mich erst richtig krank. Jedenfalls will ich heute Abend nicht darüber nachdenken. "Können wir vielleicht über etwas anderes reden?"
"Über was denn, Tina?"
"Ich möchte gerne mit dir irgendwo hin fahren." 

„Wohin denn?"
"Ich weiß nicht, irgendwohin eben. Keine Arztbesuche, keine Kinder, keine Sorgen - nur wir beide."
"Du musst dich schon entscheiden, wohin du fahren möchtest, mein Liebes."
"An die See!"
"Aha, an die See. Und was willst du da machen?"
“Am Strand spazieren gehen, am liebsten in den Sonnenuntergang hinein; den Möwen und dem Meeresrauschen zuhören und irgendwo ganz weit hinten am Horizont große Schiffe fahren sehen und überlegen, wohin sie wohl wollen. Ich möchte mich in den warmen Sand legen und mich an dich kuscheln..."
„An mich kuscheln kannst du dich jetzt schon, nur den warmen Sand, den kann ich dir nicht bieten, dafür aber ein warmes Bett und ich finde eigentlich, dass das eine ganz gute Alternative ist, oder?"
Michael rutscht rüber in meine Betthälfte und fährt im gleichen Moment mit einem Aufschrei wieder zurück.
"Was ist denn?" Ich bin ehrlich erschrocken.
Michael sucht mit der Hand unter meiner Bettdecke und hält schließlich eine Akupunkturnadel in die Höhe: "Ich brauche keine Akupunktur!"
"Das weiß man nie so genau." Ich muss laut loslachen,. Wieder mal eine Nadel, die vergessen worden ist. Diese hat mich aber keineswegs gestört, sonst wäre sie nie und nimmer in unserem Bett gelandet und sie ist auch nicht von heute.
"Wenn ich in Amerika leben würde, würde ich deinem Doktor jetzt eine Millionenklage anhängen, aber leider leben wir in Deutschland und da werden die Gerichte es wahrscheinlich normal finden, dass man Akupunkturnadeln einfach vergisst und ich dadurch hochgradig gefährdet werde."
Ich kugele mich mittlerweile vor Lachen in meinem Bett, obgleich mir beim Lachen wirklich alles weh tut.
An dem Funkeln in den Augen meines Mannes sehe ich, dass er kurz davor ist, laut loszulachen und der Ausbruch lässt auch nicht allzu lange auf sich warten.
Schließlich lachen wir beide so, dass uns die Tränen vor Vergnügen laufen.
Mein Mann sieht mir zu, während ich in meiner Nachttischschublade nach meinem Bambus Kästchen suche. Neben der schönen, goldenen Nadel von Hsan liegen mittlerweile sechs unscheinbare Akupunkturnadeln von Dr. L. darin und die siebte folgt unmittelbar.
"Du sammelst die?", Michael staunt nun aber wirklich. 

"Na klar, vielleicht kriege ich so viel zusammen, dass ich mich irgendwann selbst akupunktieren kann."
"Wäre es nicht einfacher, du würdest Dr. L. um eine Schachtel Nadeln bitten."
"Sicher wäre es einfacher, aber es macht nicht so viel Spaß. Mal sehen, wie viele es am Ende sind."
"Du bist unmöglich!"
Er hat recht, aber es macht nun einmal wirklich Spaß, die Nadeln zu sammeln.

 




 

 

Kapitel 32

 

 

 

Endlich erhalte ich den Aufnahmetermin fürs Krankenhaus. Dr. B. ruft mich persönlich an. Mittlerweile hat er mit Dr. Y. telefoniert und der hat ihm berichtet, dass ich nach der Operation lediglich eine Ampulle Novalgin erhalten habe und die noch im OP.
Dr. B. macht sich jetzt Gedanken über meine derzeitige Schmerzstärke, denn eine Gebärmutterentfernung, ohne Schmerzmittel zu überstehen, hält er für schlichtweg unmöglich. Daher auch der schnelle Termin für die Aufnahme. Statt der Wartezeit von sechs Wochen, werden es nur zwei Wochen.
Ich besuche noch einmal Dr. L. um mir die Einweisung und den Transportschein abzuholen und bitte um Funktionsaufnahmen der Wirbelsäule. Die aktuellen Bilder soll ich ins Krankenhaus mitnehmen. Dr. L. schüttelt etwas unwillig den Kopf:
"Gerade dieser Tage habe ich ein Rundschreiben der Krankenkassen erhalten. Diese Aufnahmen müssen die eigentlich im Krankenhaus selbst machen. Aber für Sie machen wir sie ausnahmsweise. Trotzdem können Sie denen dort ruhig erzählen, dass wir nicht dazu verpflichtet sind."
“Mache ich glatt."
"Gut, dann machen wir jetzt die Aufnahmen und dann schauen wir sie uns noch mal gemeinsam an. Bis gleich."
Das Herstellen der Funktionsaufnahmen ist mal wieder wie ein Albtraum. Ich kann die gewünschten Körperhaltungen nur sehr schwer einnehmen. Sowohl das Vorbeugen, wie auch die Beugung nach hinten verursachen starke Schmerzen. Um so stehen zu bleiben und nicht loszuheulen, muss ich die Zähne ganz schön aufeinanderbeißen. Ich bin froh, dass die Bilder in der Praxis meines Orthopäden gemacht werden. Die Röntgenassistentin hier kennt mich und geht sehr behutsam und geduldig mit mir um. Dennoch bin ich froh, als wir fertig sind.
Kurze Zeit später kommt die junge Dame zu mir und sieht mich ein bisschen zerknirscht an: "Es tut mir sehr leid, aber wir müssen die Aufnahmen noch einmal machen.”
"Warum denn?"
"War mein Fehler, die Platte ist zu klein; ich habe nicht alles drauf gekriegt.”"
"Na gut, dann los!"
Na prächtig, also die ganze Tortur noch einmal. Aber böse sein kann ich ihr nicht, das sind eben Dinge, die passieren einfach.

 
Schließlich sitze ich wieder bei Dr. L. im Sprechzimmer.
Geduldig erklärt er mir, wozu die Funktionsaufnahmen benötigt werden. Er erklärt mir aber auch sofort, dass man bei meinen Wirbeln eigentlich nicht auf eine Überbeweglichkeit schließen kann, die bei einer eventuellen OP mit behoben werden müssten.
"Die Bilder sind ja noch gar nicht ausreichend gekennzeichnet. Das lasse ich gleich noch machen. Nehmen sie draußen noch einen Augenblick Platz. Die junge Dame wird Ihnen die Bilder richtig beschriften und dann gleich eintüten, damit Sie sie mitnehmen können. Ihnen wünsche ich ansonsten alles Gute und wir werden uns ja wiedersehen, wenn Sie das Krankenhaus verlassen haben. Ich hoffe für Sie und für mich, dass die Ihnen da jetzt wirklich helfen.“
"Na ja, mal sehen."
"Ach, brauchen Sie noch Schmerzmittel? Ich kann Ihnen vorsichtshalber noch welche verschreiben, damit Sie nicht wieder solche Probleme kriegen."
"Nein danke, das ist nicht nötig. Ich bin noch ganz gut eingedeckt und Sie können sicher sein, dass ich die Medikamente auch mitnehmen werde."
"Das habe ich von Ihnen auch nicht anders erwartet. Alles Gute."
Jetzt sitze ich erst mal vorne an der Anmeldung und warte auf die Röntgenbilder. Ich fühle mich mal wieder von meinem Orthopäden gut betreut und behütet. Es ist wirklich toll, an was Dr. L. mittlerweile alles denkt.
Die junge Dame lässt sich mit meinen Bildern aber reichlich Zeit. Nach und nach werden eine Reihe Leute zum Röntgen aufgerufen und ich sitze hier immer noch.
Stutzig werde ich erst, als die junge Dame im Röntgen offenbar nichts mehr zu tun hat und sich vorne an die Anmeldung setzt, um dort ihre Kollegin beim Abfertigen der Patienten zu unterstützen.
Jetzt muss ich wohl doch mal fragen.
"Ihre Röntgenbilder? Ja, die habe ich beschriftet und dann weggeräumt. Dr. L. hat mir nicht gesagt, dass die eingetütet werden sollten."
"Das ist doch wohl nicht wahr?“
"Wie lange kommen Sie jetzt eigentlich schon zu uns?“

"Seit Oktober,”
„Und dann wissen Sie immer noch nicht, dass unser Doktor manchmal gewisse Dinge nicht geregelt bekommt?“

"Nur manchmal?!”
"Jetzt werden Sie aber gehässig.“
"Jetzt hat er es sich aber langsam auch mal verdient, oder?"
Nun müssen wir beide lachen und sind uns, was Dr. L. anbelangt, schnell einig: Wir mögen ihn und können ihm nicht böse sein!

Am nächsten Tag mache ich mich mal wieder auf den Weg ins Krankenhaus. Ich bin sehr gespannt, was diesmal dabei herauskommt. Das rechte Vertrauen habe ich nicht mehr. Der Start jedenfalls ist nicht schlecht. Eine überaus nette Schwester führt mich in ein ansehnliches Zwei-Bett-Zimmer, ausgestattet mit Fernsehen, Telefon, Bad und WC. Das hätte ich in diesem alten Kasten nicht erwartet.
Ich solle mir ein Bett aussuchen, wird mir erklärt, die Schwester käme gleich wieder.
Beide Betten sind offenbar benutzt worden, aber nur auf einem Nachtschrank liegen diverse Utensilien herum. Also nehme ich das Bett, das demnach frei sein muss und das ist das am Fenster. Ich liebe Fensterplätze.
Gleich darauf erscheint eine andere Schwester. Überaus rundlich rollt sie ins Zimmer und begrüßt mich freundlich und schwungvoll. "Hallo, ich bin Martina!"
"Freut mich."
"Sieht so aus, als müsste ich hier noch ein neues Bett besorgen, was? Wissen Sie, Sie haben hier eine Bettnachbarin, die hat ihren Ehemann im Schlepptau und der hat, ohne zu fragen, versteht sich, in Ihrem Bett genächtigt. Da war es natürlich noch nicht Ihr Bett, aber aus diesem Grund muss ich jetzt ein neues organisieren. Na ja, das kriegen wir auch hin. Wollen wir vielleicht erst mal diesen Fragebogen durchgehen?"
"Können wir machen, dann mal los."
Martina erhebt die übliche Pflegeanamnese und bricht sich bei meinen Medikamenten fast eins ab.
Schließlich versucht sie mir umständlich zu erklären, was Kontraktionen sind, denn sie will wissen, ob ich möglicherweise, bedingt durch die andauernde Bewegungseinschränkung, schon welche habe. Habe ich nicht. "Was machen Sie beruflich, wenn Sie gerade mal nicht krank sind?" Erwartungsvoll sieht sie mich an.
"Dann bin ich Krankenschwester und Rettungsassistentin."

"Krankenschwester! - und dann lassen Sie mich hier umständlich erklären, was Kontrakturen sind, ja? Danke schön, sehr freundlich!"
"Ich wollte Sie nicht unterbrechen."
"Sie wollte mich nicht unterbrechen! Geben Sie es doch zu, in Wirklichkeit haben Sie sich königlich über mich amüsiert.”
Wir müssen beide lachen, der Start ist wirklich nicht schlecht.
Schließlich bekomme ich ein neues Bett hingestellt und Martina hilft mir, meine Tasche auszupacken.
"Machen Sie es sich gemütlich, es wird noch ein Weilchen dauern, bis ein Doktor kommt, die sind alle noch im OP, aber dafür werden Sie ein abgerundetes Nachmittagsprogramm haben. Beschäftigen wir uns noch eben mit ihren Essenskarten und dann können Sie erst mal relaxen.

Während wir noch über mein Essen diskutieren, bringt eine weitere Schwester bereits mein Mittagessen. Es, gibt Schnitzel mit einer Tomatencremesoße, na gut, damit kann man leben. Es dauert tatsächlich bis zum frühen Nachmittag, ehe sich ein junger Arzt blicken lässt. Nach der üblichen Untersuchung soll ich auf einen Stuhl steigen. Tolle Idee, das schaffe ich schon seit Monaten nicht mehr. Gottlob begreift er schnell, dass ich dazu offenbar wirklich nicht in der Lage bin.

"Ich schicke Sie dann gleich zum Thorax-Röntgen, zum EKG und’ anschließend zum Anästhesisten. Damit das alles schneller geht, werden wir Sie in einen Rollstuhl verfrachten und der Patientenservice wird Sie begleiten.”

"Alles klar, dann mal los.“

Eine Viertelstunde später steht ein junger Mann mit Rollstuhl im Zimmer und erklärt mir, er führe mich jetzt zum EKG. Starten wir also. Wir müssen einmal quer über das Klinikgelände. Hier ist wirklich alles sehr weitläufig. Vor dem EKG muss ich eine ganze Weile warten. Währenddessen kann ich eine Gruppe junger Leute beobachten, die vor der Intensivstation stehen und ungeduldig auf die Dinge warten, die da noch kommen sollen. Unschwer erkennt man, dass es sich um Studenten handelt, denn in so gestärkten und blütenweißen Kitteln erscheinen nur Studenten. Kurze Zeit später kommt ein älterer Herr, unschwer als Mediziner zu entlarven, und nimmt die jungen Leute in Empfang. Ich muss ein bisschen lächeln und denke unwillkürlich an meinen Großen.

Das EKG ist wie immer eine Sache von wenigen Augenblicken und dann stehe ich wieder im Flur auf Warteposition und studiere mit Hingabe mein EKG. Mir fallen keine Abweichungen auf und so konzentriere ich mich wieder auf meine Umgebung. Mittlerweile hat jemand neben mir ein Bett abgestellt, in dem ein älterer Herr liegt, der nur sehr schwer Luft bekommt. Armer Kerl, ich weiß aus dem Rettungsdienst, wie beängstigend so ein Zustand für den Patienten sein kann, und daher stört mich, dass er hier ganz alleine steht. Ich rolle ein bisschen näher an ihn heran und greife ganz automatisch nach seiner Hand. Ein kleines, dankbares Lächeln ist Antwort genug, sprechen kann der alte Herr nicht, das wäre viel zu anstrengend.
Es dauert eine ganze Weile, bis "mein Zivi" wieder auftaucht. "Ich fahre Sie jetzt erst mal zum Anästhesisten. Eigentlich sollten sie ja zum Röntgen, aber es ist schon gleich halb vier und der Doktor macht um vier Feierabend. Er wird hoffentlich damit leben können, dass das Röntgenbild noch nicht fertig ist."

Es geht wieder quer über das Gelände. So lohnt sich die Fahrt im Rollstuhl wenigstens. Aber es war schon eine weise Entscheidung des Doktors, mich fahren zu lassen, denn zu Fuß hätte ich Ewigkeiten gebraucht. In Anästhesiebereich muss ich noch einen Augenblick warten, weil noch ein Gespräch läuft. Es dauert aber nicht lange und Dr. R. begrüßt mich. Na, den kenne ich doch auch! Mit Dr. R. bin ich ebenfalls im Rettungsdienst gefahren. Auch er erkennt mich sofort wieder.

“Hallo, ich habe doch gewusst, dass ich diesen Namen kenne. Was führt Sie denn zu uns?" Kurz erkläre ich ihm meine Anamnese und einige Male nickt er verständnisvoll mit dem Kopf.

"Und hier soll es jetzt endlich klappen? Na schön, schauen wir mal, was wir machen können. Waren Sie schon beim EKG?“

"Ja sicher." Ich reiche ihm den EKG-Streifen, den er sehr ausführlich studiert. So kenne ich Dr. R. auch im Rettungsdienst. Niemals oberflächlich, sondern immer pingelig genau. "Eine Frage hätte ich da?" Er sieht mich prüfend an und ich nicke bereitwillig. Soll er ruhig fragen. „Leiden Sie öfter mal an Tachykardien?" Erstaunt sehe ich ihn an. "Ja, schon, wie kommen Sie denn darauf?“ "Ihr EKG ist nicht in Ordnung." "Mein EKG ist nicht in Ordnung? Aber ich habe es mir doch eben angesehen. Ich habe nichts Abnormales sehen können.“ "Das ist auch schwierig, man muss schon genau hinsehen. Vielleicht finden Sie es, wenn ich Ihnen sage, wo Sie suchen müssen, hm? Schauen Sie sich mal die PQ-Zeit an, fällt Ihnen da etwas auf?“ Jetzt studiere ich mein EKG genauer und bei längerer Betrachtung fällt mir auch tatsächlich etwas auf. “Sie scheint verkürzt." "Sie ist verkürzt." "Was hat das zu bedeuten?" "Sie haben vermutlich ein LGL-Syndrom." "Gehört habe ich das schon, aber ich kann jetzt konkret nichts damit anfangen.” "Sagt Ihnen das WPW-Syndrom etwas?“ „Ja, Wolff -Parkinson-White-Syndrom. Eine Störung des Reizleitungssystem.” "Genau. Wissen Sie auch, was dabei passiert?“ „Ja. Eine bestimmte Partie der Kammermuskulatur wird über das Kent' sche Bündel vorzeitig erregt. Das kann im schlimmsten Fall zu einem Kammerflimmern führen."
"Richtig, aber das ist beim LGL-Syndrom auch nicht viel anders. Nur hier findet eine vorzeitige Erregung über das James-Bündel statt. Deshalb gibt es hier keine Delta Welle wie beim WPW-Syndrom und deshalb wird es sehr häufig übersehen! Was für den Patienten, wenn es auf Dauer nicht behandelt wird, fatale Folgen haben kann. Wann hatten Sie die letzte Tachykardie?'"
"Im April. So heftig, dass ich eine Nacht auf der Intensivstation verbringen musste. Die Ärzte im Krankenhaus haben aber nichts feststellen können. Obgleich ich zugeben muss, dass ich zwischendurch immer mal die Probleme mit einer Tachykardie habe, nur im April war es wirklich besonders heftig. "
"Na ja, wenn Patienten mit solchen Symptomen kommen, sollte man sich das EKG schon sehr genau ansehen, aber wie gesagt, man übersieht es leicht. Ich werde Ihr EKG noch einem Kardiologen hier im Haus zeigen und ihn fragen, was er meint. Ich melde mich dann nochmal bei Ihnen. Aber wenn er meine Diagnose bestätigt, sollten Sie unbedingt einen Kardiologen aufsuchen, das muss wirklich behandelt werden. Unter Umständen kann das lebensbedrohlich werden."

"Hat das Auswirkungen auf eine eventuelle Narkose?“
"Nein, normalerweise nicht. Wie heißt es so schön: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Wenn man weiß, dass der Patient an solch einer Erkrankung leidet, kann man Vorsichtsmaßnahmen treffen, das ist wirklich überhaupt kein Problem. Und wenn Sie erst mal intubiert und verkabelt sind, habe ich genug Schräubchen, um ihr Herz in die richtige Richtung zu bringen, das Spiel kennen Sie ja selbst.
Wenn Sie auf Medikamente eingestellt sind, ist das Ganze überhaupt kein Problem mehr. Das Risiko ist dann wirklich minimal. Es liegt nicht höher, als bei gesunden Patienten.”
"Na, wenn das so ist."
„Eigentlich bin ich unmöglich! Sie machen sich hier Gedanken um ihre Gesundheit und ich examinierte Sie. Das ist wirklich nicht schicklich.“
“Mir hat das Frage und Antwortspiel Spaß gemacht. Jetzt weiß ich wenigstens, wo die Tachykardien möglicherweise herkommen. "Wir unterhalten uns noch eine ganze Weile, bis sich Dr. R. schließlich erhebt und feststellt, dass er schon seit einer Dreiviertelstunde Feierabend hat.
"Ich rufe den Patientenbegleitdienst, damit Sie auf Ihre Station zurückgebracht werden.“

"Ich muss noch zum Thorax-Röntgen. "
"Ach so! Ja, wenn das so ist, dann fahre ich Sie doch einfach mal rüber. Die kriegen nämlich Tobsuchtsanfälle, wenn Sie bis fünf Uhr nicht drüben sind. Da haben die Feierabend und dann ist nur noch eine Notbesetzung da, dann wollen wir mal."
Mit Schwung dreht er meinen Rollstuhl um und saust in einem Affentempo mit mir los. Auch mal was Neues.

In der Röntgenabteilung werden wir mit Staunen empfangen. "Nanu, Dr. R., seit wann spielen Sie den Begleitdienst?"

"Habt ihr denn noch nie was vom akademischen Hol und Bringdienst gehört? Ich fahre eine Kollegin spazieren."
Nun staunen die Damen noch mehr. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.
"Also, meine Liebe. Ich melde mich morgen nochmal bei Ihnen, wenn ich mit dem Kardiologen gesprochen habe. Ansonsten erstmal alles Gute." Spricht es und verschwindet!
“Sie sind Ärztin?" Die Röntgenassistentin starrt mich entgeistert an.
"Nein, ich bin Rettungsassistentin. Ich habe mit Dr. R., schon im Rettungsdienst zusammengearbeitet. Ich war sozusagen der Chauffeur."
"Das ist ja ein Ding. Was es alles gibt."

Um halb sechs bin ich endlich wieder in meinem Zimmer. Ich bin müde und habe wegen der Sitzerei Schmerzen. Am liebsten würde ich mich in mein Bett kuscheln und schlafen, aber gleich kommt das Abendessen und somit lohnt sich das Schlafen nicht sonderlich. Also greife ich nach meinem Buch.
Nach dem Essen möchte ich endlich schlafen, obwohl es dafür eigentlich noch viel zu früh ist. Da ich aber keine Nacht durchschlafe, ist es eigentlich egal, wenn ich schlafen gehe.
Meine Bettnachbarin ist immer noch nicht in unser Zimmer zurückgekehrt. Wahrscheinlich hatte sie heute ihren OP-Termin und ist auf der Intensivstation gelandet. Irgendwann werde ich sie schon kennenlernen.
Gerade habe ich mich gemütlich zurecht gekuschelt, als es an der Tür klopft und Bernd seinen Kopf hineinsteckt. "Hallo Engelchen, wie geht es dir?"
„Bernd, was machst du denn hier? Woher weißt du denn, dass ich hier bin?"
"Ich habe überall Informanten. Lukas hat vorhin einen Patienten hier irgendwo abgeliefert und dich gesehen. Das hat er mir sofort erzählt und da bin ich."
"Warum hat sich Lukas denn nicht bemerkbar gemacht, den hätte ich doch gerne mal wieder gesehen. Eigentlich alle Jungs, schade."
"Passte wohl nicht ganz, aber ich werde es an die Jungs mal weitergeben, die trauen sich vielleicht bloß nicht. Und du wagst es hier noch einmal?"
"Ja, mein Orthopäde hat mir gut zugeredet und nun bin ich hier. Morgen soll die Myelografie gemacht werden, aber endgültig weiß ich es noch nicht."
"Hast du Angst?"

"Nein, mir wird nur mulmig, wenn es so weit ist. Aber nicht, weil es wehtun könnte, sondern weil ich dem Doktor nicht auf die Finger gucken kann."
"Da hat er aber Glück! Das kann einen ganz schön nervös machen, wenn der Patient einem permanent mit prüfendem Blick auf die Finger sieht. Das ist aber eine ganz schlechte Angewohnheit von dir."
"Ach, machst du das nicht, wenn du zum Arzt gehst?”
"Ich gehe nie zum Arzt. Ich habe Angst vor Ärzten und Spritzen. Wäre ich jetzt an deiner Stelle, würde ich vor Angst sterben. Wahrscheinlich würde ich die Nacht nicht überstehen. "
Wir müssen beide lachen. Ich freue mich, dass Bernd so unerwartet aufgetaucht ist.
Es klopft wieder und der nette Doktor von heute Nachmittag steckt den Kopf zur Tür herein.
"Hallo, ich wollte sie gar nicht lange stören. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass das Animationsprogramm für morgen steht. Wir machen die Myelografie gleich nach dem Frühstück, wenn es Ihnen recht ist. Gute Nacht.“
Schon ist er wieder verschwunden.
„Ein interessantes Animationsprogramm haben die hier. Er hat überhaupt nicht gewartet, ob dir gleich nach dem Frühstück recht ist."
„Es ist alles recht, wenn es nur endlich passiert. Ich habe die Nase so voll, das kannst du dir nicht vorstellen."
„Was passiert, wenn die Myelografie nichts Brauchbares ergibt?"
„Vielen Dank, ihr seid alle so aufbauend. Daran will ich noch nicht denken. Ich glaube, dann werde ich endgültig verzweifeln, mir einen Strick nehmen und mich erschießen.“

"Das ist nicht dein Stil, mein Engelchen. Weißt du was, ich schaue morgen Abend nochmal rein, ich muss jetzt wieder los. Ich habe ein Date."
„Oh, eine neue Freundin?"
„Freundin - weiß ich noch nicht. Ich muss erst das Terrain sondieren, du verstehst? Und ich brauche eine intelligente Partnerin, mit der man auch mal diskutieren kann, da bin ich mir bei Silke noch nicht so sicher. Schade eigentlich, ein paar Jahre früher und wir beide ... Na ja, lassen wir das lieber. Gute Nacht mein Engelchen. Schlaf gut und morgen Abend habe ich mehr Zeit für dich.“

"Danke dass du da warst und viel Spaß.“
Ich sehe Bernd hinterher und muss ein bisschen lächeln. Bernd könnte tatsächlich ein Partner für mich sein, aber ich bin bereits verheiratet und das sehr glücklich. Ein bisschen freut mich diese kleine Liebeserklärung aber auch.

Am Morgen bin ich doch sehr nervös. Ich habe während der Ausbildung zwei oder dreimal einer Myelografie zugesehen und weiß daher, dass der Ablauf nicht gerade angenehm ist. Schwester Martina stellt mir mein Frühstück auf den Tisch. "Ich bringe die Henkersmahlzeit," lacht sie mich an.
Wie aufbauend!
"Ich dachte vor einer Myelografie sollte der Patient möglichst nüchtern sein, das habe ich zumindest mal so gelernt."
„Ja, das ist auch im Normalfall so, aber Dr. B. hat entschieden, ihr Frühstück ist keines und bei ihrem lädierten Magen können Sie diese unbedeutende Kleinigkeit vorher ruhig zu sich nehmen. Also guten Appetit."
Sie hat recht mit der unbedeutenden Kleinigkeit: Auf meinen Teller findet sich neben einer Scheibe Vollkornbrot nur ein Stückchen Butter. Seit Monaten leide ich unter chronischem Appetitmangel, aber eigentlich kann ich ganz gut damit zurechtkommen und es hat den Vorteil, dass ich langsam und kontinuierlich mein Gewicht reduziere, was meiner geschädigten Wirbelsäule sicher zuträglich ist.

Nach dem Frühstück muss ich tatsächlich keine Wartezeit in Kauf nehmen. Kaum ist mein Tablett verschwunden, taucht ein netter älterer Arzt auf, der sich als Dr. P. vorstellt - ein Radiologe. Dr. P. wird die Untersuchung durchführen und holt mich, in Begleitung von Dr. B. persönlich ab. "Wir müssen rüber ins andere Gebäude," erklärt mir Dr. P. während die beiden Ärzte mit viel Schwung und sehr gekonnt mein Bett durch die Gänge rollen. Der akademische Hol und Bringdienst scheint sich hier eingebürgert zu haben.

As wir im Röntgenraum ankommen, hat sich Dr. B. bereits von uns verabschiedet und mir alles Gute gewünscht.
Mit Dr. P. habe ich mich auf dem Weg hierher so weit angefreundet, das wir kleine Scherze tauschen. Das entspannt ungemein und nimmt mir ein bisschen von meiner Nervosität,.
"Hatten Sie schon einmal eine Lumbalpunktion?"
„Eine?"
„Ach ja, richtig! Ich habe in Ihren Unterlagen gelesen, dass Sie bereits zweimal Meningitis hatten, das ist ja eine stolze Leistung. Und im April waren Sie schon mal auf der neurochirurgischen Station, hat man dort auch eine vorgenommen?"
„Zwei.“
„Zwei? Na die Kollegen schöpfen ja aus dem Vollen, das muss ich schon sagen. Wir werden uns mit einer zufriedengeben. Bevor ich das Kontrastmittel injiziere, muss ich Ihnen ein bisschen Ihres kostbaren Liquors entnehmen. Den schicken wir dann ebenfalls ins Labor."
"Können Sie mir einen Gefallen tun?"
„Na klar, was darf es denn sein?"
„Würde Sie bitte nicht aspirieren?"
Ein Lachen ist die Antwort: „Sieh mal einer an, die Fachfrau kennt die feinen Unterschiede. Na gut, wenn Sie kräftig husten und ich damit ausreichend Liquor gewinne, werden wir es so machen. Ich weiß auch, dass das wesentlich angenehmer ist."

„Schon versprochen."

„Hat denn der Aufenthalt im April was gebracht?"

"Mir auf jeden Fall."

"Aha und was?"

„Die Erkenntnis, dass Neurologen ausgemachte Sadisten sind."

Offenbar habe ich mit diesem Satz zur allgemeinen Heiterkeit beigetragen, denn auch die beiden Röntgenassistentinnen, die abwartend neben uns stehen, fangen an zu lachen.

"Na schön, da bin ich ja froh, dass ich kein Neurologe bin. Aber wenn ich Pech habe, kommen Sie heute zu der Erkenntnis, dass auch Radiologen Sadisten sein können. Ich fange jetzt nämlich an. Zuerst mache ich eine Lokalanästhesie, damit die Sache nicht zu unangenehm wird. Ich warte dann einen kleinen Moment ab und wenn ich wieder zur Tat schreite, werde ich Ihnen Bescheid sagen, in Ordnung?"

"Ja, danke."

Ich spüre einen kleinen Einstich und ein Druckgefühl, dann wird die Kanüle auch schon wieder entfernt.

„Fünf Minuten geben wir uns jetzt, da können wir noch ein bisschen plaudern," erklärt mir Dr. P. und setzt sich neben mich auf den Röntgentisch. In seiner Art erinnert er mich sehr stark an meinen Vater.

„Wie viele Kinder haben Sie eigentlich?"

Ich erzähle ihm von meinen Kindern und wie die meisten staunt er über die Tatsache, dass mein Ältester bereits im fünften Semester Medizin studiert. '

„Mit zwanzig schon im fünften Semester, Hochachtung. Da machen viele erst ihr Abitur. Aber bei der Bundeswehr war er dann ja wohl nicht, nehme ich an?"

„Nein, er ist ausgemustert worden. René hat eine Skoliose. Er kann ganz gut damit leben, sie verursacht auch keine übermäßigen Beschwerden, aber es reichte, um bei der Bundeswehr ausgemustert zu werden."

„Na ja, war ja in diesem Fall wohl nicht schlecht. Na schön, dann werden wir jetzt richtig anfangen. Ich hoffe Ihre Nervosität hat sich jetzt ein bisschen gegeben."

„Ich werde es wohl überleben."

Ich spüre keinerlei Schmerz, nur ein leichtes Druckgefühl zeugt von der Manipulation an meiner Wirbelsäule. Dieses Mal fühle ich mich auch wesentlich wohler, es ist keine Schwester da, die mich im Schraubzwingen Griff hält. Die minimale Vorbeugung, die mir möglich ist, scheint Dr. P. aus zureichen.

"Na, dann husten Sie mal!"

Ich staune, das ging aber schnell.

Zwei mal Husten reicht aus und Dr. P. ist zufrieden.

„Das haben Sie prima gemacht. Ich werde jetzt das Kontrastmittel injizieren, bleiben Sie einfach so sitzen."

Wieder verspüre ich nur einen leichten Druck, bis sich plötzlich ein heftiger Schmerz in meinem rechten Bein ausweitet.

Unwillkürlich zuckte ich heftig zusammen, "Tut es weh?", fragt mich Dr. P, erstaunt.
"Mein rechtes Bein tut höllisch weh." Mir schießen Tränen in die Augen.
"Wahrscheinlich wird der Ischiasnerv durch das Kontrastmittel zusätzlich gereizt. Da Sie ja ohnehin schon Probleme in diesem Bereich haben, wirkt sich das jetzt leider so heftig aus. Tut mir sehr leid, aber das war nicht vorhersehbar. Ich hoffe, dass es gleich wieder nachlässt."

Ich nicke, er kann ja nichts dazu, das hoffe ich zumindest.
Dr. P. erteilt mittlerweile neue Anweisungen:
„Mit der Injektion bin ich fertig, Sie müssten sich jetzt bitte hinlegen. Lassen Sie die Beine angezogen und legen Sie sich einfach auf die Seite, aber denken Sie bitte daran, dass sie immer noch eine Kanüle im Rücken stecken haben. Die entferne ich nachher erst. Ich muss nämlich anhand der ersten Bilder kontrollieren, ob das Kontrastmittel ausreicht, ansonsten muss ich nachspritzen und falls das Kontrastmittel plötzlich eine allergische Reaktion auslöst, kann ich es absaugen. Also nicht auf den Rücken legen."

Gleich darauf werden die ersten Bilder gemacht. Nach einer Reihe von Aufnahmen lässt mich die Röntgenassistentin auf dem Tisch ein Stück nach unten rutschen. Unter den Füßen spüre ich plötzlich eine Metallplatte.
„Pressen Sie die Fußsohlen bitte auf die Metallplatte. Über Ihnen befindet sich am Tisch ein Haltegriff, halten Sie sich bitte mit der rechten Hand dort fest. Unter der Tischkante ist in Ihrer Höhe eine kleine Mulde, dort können Sie sich mit der linken Hand festhalten."
Ich tue wie angeordnet, allerdings ist mir noch nicht ganz klar, was gleich passiert. Kaum habe ich die Position eingenommen, wird mir gesagt, ich solle keinen Schreck bekommen und im gleichen Moment bewegt sich der Tisch und kippt so, dass ich in eine stehende Position komme. Jetzt stehe ich mit beiden Füßen auf der Metallplatte, dennoch habe ich das Gefühl zu fallen.
„Halten Sie sich gut fest. Das ist jetzt ein blödes Gefühl, aber es dauert nicht lange," sagt mir Dr. P. während er einmal kurz meine Schulter streichelt.
Ich soll das Becken etwas vorschieben und den Oberkörper ein bisschen nach hinten verlagern. Es funktioniert nicht, ich kann mich noch so anstrengen. Mehrere Male nehmen wir einen neuen Anlauf, bis mir vor Wut und Schmerzen wirklich die Tränen kommen.
„Wir machen das anders," meint Dr. P. und ergreift mit beiden Händen meine Hüfte: „Also Plan B!“
Sofort halten mich die beiden jungen Damen oben und unten fest, während Dr. P. mich mit wenigen Handgriffen in die gewünschte Position bringt. Mittlerweile bin ich schweißgebadet. So anstrengend und schmerzhaft hatte ich mir das nicht vorgestellt.
"Tut es sehr weh," fragt mich Dr. P. mitleidig. Ich kann nur nicken, im Moment habe ich nicht mal mehr die Kraft zu sprechen. Das Ganze ist wie ein Albtraum.
„Ich verspreche Ihnen, dass wir gleich fertig sind. Beißen Sie die Zähne noch einen Moment zusammen und bewegen Sie sich möglichst nicht. Wir machen zwei Aufnahmen in dieser Position und dann sind Sie auch wirklich erlöst."

Ich hoffe sehr, er hat recht. Kurze Zeit später spüre ich, wie sich der Tisch wieder herunter senkt.
„Sie können jetzt wieder loslassen und sich bequemer hinlegen." Nichts lieber als das.
"Ich werde jetzt die Kanüle entfernen, bleiben Sie ganz ruhig liegen," erklärt Dr. P. und im gleichen Augenblick spüre ich einen kurzen Ruck, das war's. Es folgen noch ein paar Aufnahmen in Rücken und Bauchlage und ich darf wieder in mein Bett rüberrutschen. Langsam schleichen sich auch meine obligatorischen Kopfschmerzen wieder ein. Wie ich das hasse!

Ich werde mit dem Bett von Dr. P. und einer der Röntgenassistentinnen wieder über den Hof geschoben und in ein weiteres Gebäude gefahren. In einem hellen Vorbau stellt Dr. P. mein Bett ab und greift nach meiner Hand. Die machen hier in ungefähr zwanzig Minuten das CT, so lange bleiben Sie hier stehen. Da oben ist eine Videokamera angebracht, damit werden sie während der Wartezeit überwacht. Ich gebe zu, dass das vielleicht ein bisschen viel Technik ist und auch wenig mit normaler Patientenbetreuung zu tun hat, aber es lässt sich hier nicht anders einrichten. Ich hoffe, ich habe sie nicht zu sehr gequält. Auf jeden Fall wünsche ich Ihnen alles Gute.“

Ich sehe ihm mit einem Lächeln hinterher, ein sehr sympathischer Mensch.

 

Es dauert nicht lange und die bekannte Übelkeit setzt wieder ein. Auch der Würgereiz lässt nicht lange auf sich warten, aber die Überwachung funktioniert bestens. Während ich mit meinem Würgereiz kämpfe, kommt bereits eine Schwester mit einer Nierenschale angesaust und das keine Sekunde zu früh. Eines ist jedenfalls klar: Das Frühstück hätte ich mir sparen können!

Nachdem das CT gelaufen ist, darf ich endlich wieder zurück in mein Zimmer. Hier hat sich inzwischen meine Bettnachbarin eingefunden. Mit einem dicken Verband Turban um den Kopf, sitzt sie in ihrem Bett und strahlt mich an, als würden wir uns schon seit Ewigkeiten kennen.
„Do you speak english?", fragt sie mich.
Ich bejahe. Sie erklärt mir, kein Wort Deutsch zu können, da sie aus Italien komme, präzise gesagt aus Mailand. Ich staune. Da kommt diese Frau extra aus Italien angereist, um sich hier bei Prof, S. operieren zu lassen? Nicht zu fassen! Natürlich bin ich neugierig und will wissen, was ihr fehlt und was gemacht worden ist.

"Das weiß ich nicht."

„Das wissen Sie nicht?!" Jetzt bin ich endgültig geplättet.

"Ich wollte das gar nicht so genau wissen, das hätte mich noch kränker gemacht. Ich hatte nur ständig Kopfschmerzen und mein Arzt in Mailand sagte, es sei etwas am Gehirn und ich müsse es operieren lassen. Ich wollte den besten Arzt und darum bin ich hier."

Ich kann nur mit dem Kopf schütteln. Diese Einstellung kann ich nicht nachvollziehen; ich weiß gerne, gegen welchen Feind ich kämpfe, insbesondere dann, wenn er in meinem Körper steckt.

 

Wir freunden uns sehr schnell an. Die Dame trägt den blumigen Namen Fiorina. Noch vor dem Mittagessen lerne ich Fiorina’s Ehemann kennen, Romano: Ein sehr gutaussehender Mailänder Geschäftsmann, der sich hier in einem Hotel der Fünf Sterne-Klasse eingemietet hat, um in der Nähe seiner Frau zu sein.

Ich bin ein bisschen neidisch, mein Gatte ist mal wieder in England, aber ich habe ja noch Bernd. Es geht doch nichts über gute Freunde.

 

Ich mag mich nicht weiter mit Fiorina und ihrem Mann unterhalten. Meine Kopfschmerzen nehmen immer noch zu und der Schmerz im rechten Bein lässt nicht nach. Auch mit Übelkeit und Erbrechen quäle ich mich weiter herum. Ich fühle mich mal wieder ganz unten. Schwester Katja bringt mir Novalgin und Psyquil und ich kann nur hoffen, dass es anschlägt.

 

Kurze Zeit später kommt das Mittagessen, es gibt Schnitzel, wie gestern. Wahrscheinlich hatte der Chefkoch zu viel eingekauft. Schwester Katja stellt den Betttisch auf die niedrigste Stufe, zerschneidet mir das Fleisch und verschwindet wieder. Ganz toll, ich darf mich die nächsten Stunden noch nicht aufrichten und soll jetzt in fast liegender Position mein Mittagessen einnehmen! Bin ich ein alter Römer? Aber eigentlich macht das nicht viel, denn ich habe ohnehin keinen Appetit.

Den ganzen Nachmittag warte ich darauf, dass mir endlich einer sagt, was bei der Untersuchung herausgekommen ist.

 

Die Warterei macht mich wahnsinnig und ich habe immer noch die stille Furcht, es könnte gar nichts gefunden werden. Ich wage aber nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken.

Ich muss mich bis um sechs Uhr abends gedulden, ehe Dr. B. auftaucht. Mit betrübten Blick erklärt er mir, das die Untersuchung nichts ergeben hat. Eine winzige Verengung im Spinalkanal, aber die kann nicht schuld sein an meinen ständigen Schmerzen.
Ich bin wie vor den Kopf geschlagen, meine schlimmste Befürchtung ist Realität geworden. Wieder steigen mir Tränen in die Augen, aber diesmal schlucke ich sie wütend herunter.

„Schön, Sie haben nichts gefunden. Wo kommen meine Schmerzen nun her?" Herausfordernd sehe ich ihn an, er hält meinem Blick stand. "Sehen Sie, ich weiß es nicht. Sie sind auf keinen Fall
eine Patientin für die Neurochirurgie, verstehen Sie. Wir konnten nicht aufmachen und nachsehen. Wir betreiben hier keine Bauchchirurgie, wo man zu so einem Entschluss kommen könnte. Ich bin davon überzeugt, dass Ihre Schmerzen vorhanden sind und auch, dass sie eine Ursache haben, leider weiß ich nicht welche Ursache dahinter steckt. Ich würde Ihnen sehr gerne helfen, aber ich kann es nicht. Ich bin absolut machtlos. Auf jeden Fall werde ich morgen noch mit unserem zweiten Stationsarzt sprechen, vielleicht hat er noch eine Idee, aber versprechen kann ich Ihnen nichts. Es tut mir wirklich leid, sehr leid sogar."
Dr. B. drückt mir noch kurz die Hände und geht. Ich liege wie betäubt in meinem Bett. Ich kann es nicht fassen.
Diese Schmerzen sind da, sie sind nun einmal wirklich vorhanden und sie müssen doch eine Ursache haben, aber welche? Warum findet denn niemand etwas?

Ich lasse das Abendessen zurückgehen, ich hätte sowieso keinen Appetit gehabt, da mir immernoch übel ist.

 Pfleger Ingo versucht, mir gut zuzureden, aber es gelingt ihm nicht, mich zum Essen zu bewegen. „Ich werde Ihr Essen nicht in den Wagen stellen, ich stelle es in die Teeküche. Wenn Sie es doch noch möchten, lassen Sie es mich wissen, ja? Ich habe noch bis vierundzwanzig Uhr Dienst."

Ich nicke brav und Ingo zieht mit meinem Tablett ab.

Kurz darauf klingelt mein Telefon, Ralf ist dran. Ich sehe auf die Uhr. In Kalifornien ist es jetzt gleich halb elf vormittags, also ruft er mich aus der Praxis an.

„Wieso rufst du während deiner Sprechstunde an?"

„Weil ich wissen wollte, was bei der Myelographie herausgekommen ist, also?"

„Nichts“

„Nichts?“

„Nein, absolut nichts,"

„Das ist doch unmöglich!"
"Anscheinend ja wohl nicht."
"Was willst du denn jetzt machen?"
„Was soll ich denn machen?"
"Ich weiß es wirklich nicht, Tinchen. Wie fühlst du dich denn?“
"Ich könnte heulen und gleichzeitig bin ich schrecklich wütend. Es muss doch eine Ursache geben, Ralf, warum findet die denn niemand? Du bist doch Orthopäde, sag mir was ich tun soll!"
Ein tiefes Seufzen ist die Antwort und dann: “Ich weiß es doch genauso wenig wie du. Ich wünschte wirklich, ich wäre nicht so schrecklich weit weg. Ich weiß auch nicht, wie ich dich jetzt trösten soll; ich würde dich gerne in den Arm nehmen, Nesthäkchen."
„Tu es doch, mach die Augen zu und nimm mich in den Arm."
„Gut, mach ich."
Es entsteht eine Schweigeminute und dann erfolgt ein leises Lachen von Ralf und die Frage: „Hat es dir geholfen, Tina?"
„Ja, ich danke dir und jetzt mach dich wieder an deine Arbeit, bevor deine Patienten im Wartezimmer den Aufstand proben."
"Ich brauchte ganz dringend eine Pause und frische Luft.”

„Wieso?“
„Ich hatte gerade eine Patientin, das kannst du dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorstellen."
„Was war mit ihr?"
„Sie hat vor Dreck gestanden!”

„Was hat sie?"
“Ja, wirklich. Ich habe noch nie in meinem Leben so einen dreckigen Patienten gesehen, abgesehen vielleicht von einigen Stadtstreichern während meiner AiPler-Zeit. Aber selbst die kommen noch nicht an diese Frau ran. Als ob das Duschen vor einem Arztbesuch nicht das Selbstverständlichste der Welt wäre. Außerdem hat sie penetrant gestunken. Normalerweise ziehe ich für eine orthopädische Untersuchung keine Handschuhe an, das finde ich einfach blöde. Wer macht das schon? Aber dieses Mal habe ich es getan, ich schwöre es dir. Und dann habe ich Kay, eine meiner Sprechstundenhilfen, gebeten, das Untersuchungszimmer zu desinfizieren. Und weißt du, was das Allerschönste war?"

„Sie hatte nichts."
„Woher weißt du das denn? Aber es stimmt, sie hatte wirklich nichts. Ich habe jedenfalls nichts gefunden. Auch das Röntgenbild hat nichts ergeben. Und als ich ihr das gesagt habe, weißt du, was sie da geantwortet hat?"
„Nein, woher denn?"
„Sie sei noch nie bei einem Orthopäden gewesen und habe das einfach mal ausprobieren wollen. Ich bin fast explodiert. Dafür stiehlt mir dieses Weibsbild die Zeit und verseucht mir die ganze Praxis."
„Hört sich an wie in House of God. Bist du an einen Gomer geraten?

Du hättest ihr eine Dusche verschreiben sollen, Brüderchen."
„Du bist einfach unglaublich, kleine Schwester. Tolle Ideen hast du! Ich liebe dich."
„Ich dich auch, großer Bruder."

 

Bald darauf erscheint Bernd und legt mir ein Buch auf die Bettdecke: Ein neues Fachbuch für den Rettungsdienst. „Damit du nichts verlernst. Wie geht es dir, Engelchen?"

"Na ja nicht so gut. Ich habe Kopfschmerzen, mein Bein schmerzt seit der Kontrastmittelinjektion, mir ist übel und ich bin frustriert bis obenhin."
„Was ist bei der Myelographie rausgekommen?"

Ich kann diese Frage nicht mehr ertragen, aber die Antwort noch viel weniger.

„Gar nichts, sie haben nichts gefunden."
Bernd sieht mich bestürzt an und schüttelt ungläubig den Kopf. Und nun ist es mit meiner Beherrschung doch vorbei. Endgültig rollen die Tränen.
Bernd setzt sich auf die Bettkante und zieht mich in seine Arme.
„Wein dich ruhig aus, wenn dir danach ist. Ich habe heute jede Menge Zeit mitgebracht."
Bernd trägt noch seine Arbeitskleidung und riecht nach Desinfektionsmittel, aber das stört mich nicht im Mindesten. Ich kralle mich in seine rote Jacke und weine ihm das Hemd nass, während er mich festhält und in seinen Armen wiegt.

Im Zimmer ist es still geworden, Romano und Fiorina haben ihre Unterhaltung unterbrochen. Ich spüre plötzlich, wie eine Hand meinen Kopf streichelt. Es ist Romano, ich rieche sein Rasierwasser. Ich kann einfach nicht aufhören zu schluchzen und die Tränen rollen unentwegt. Der ganze Frust der letzten Zeit, bahnt sich seinen Weg.
Ich höre, wie jemand das Zimmer betritt und dann mit schnellem Schritt zu meinem Bett kommt. Gleich darauf höre die Stimme von Dr. B.: „Das hatte ich aber nicht bezweckt. Lieber Gott, ich hatte keine Ahnung, dass sie so reagieren könnte. Das tut mir wirklich leid."
Er spricht mich an, aber ich will nicht antworten. Ich spüre wie Bernd den Kopf schüttelt und mich noch ein bisschen fester in den Arm nimmt, so als müsste er mich vor Dr. B. beschützen.
„Soll ich ihr ein Beruhigungsmittel spritzen?", fragt Dr. B.
Anscheinend ist die Frage an Bernd gerichtet, denn er antwortet: "Lassen Sie nur, das ist bald wieder vorbei. Ich glaube, das brauchte sie jetzt einfach mal, kein Grund, in Panik auszubrechen. Ich bleibe bei ihr, machen Sie sich keine Gedanken"

 Dr. B. entfernt sich wieder, spricht kurz mit Fiorina und verlässt das Zimmer. Irgendwie bin ich froh, dass er gegangen ist. Ich fühle mich momentan nicht in der Lage, mich mit ihm auseinanderzusetzen.

Nach einer Weile beruhigte ich mich langsam. Bernd putzt mir die Nase und wischt mir die Tränen ab, wie bei einem kleinen Kind.
"Geht es dir jetzt besser?" Ich nicke.
“Ich glaube, ich bin völlig hysterisch,” schniefe ich.

"Kannst du ja gar nicht, die Hysterie haben sie dir ja längst entfernt," lacht Bernd. Jetzt muss ich auch lachen.

Damit spielt er auf meine Gebärmutterentfernung an. Früher glaubten gestandene Mediziner, dass die Hysterie, die ja bekanntlich angeblich nur bei Frauen auftritt, ihren Ursprung in der Gebärmutter hatte. Also entfernte man vermeintlich hysterischen Weibsbildern kurzerhand dieses Organ, daher auch die heute noch übliche Bezeichnung Hysterektomie.

 

"Wie kommt das bloß, dass die nichts finden können?" Bernd schüttelt wieder verständnislos den Kopf.

"Vielleicht bilde ich mir das doch alles nur ein,“ antworte ich ihm leise.

“Bist du verrückt? Lass dir doch sowas nicht einreden! Hör mal, ich habe dich im Oktober gesehen, als das Ganze anfing. Du konntest doch kaum einen Schritt laufen und seitdem hat sich nichts, aber auch wirklich nichts geändert. Du kannst keine Minute ohne Schmerzmittel auskommen, das kann doch so nicht weitergehen. Tina, ich bitte dich, setz dich zur Wehr, verdammt noch mal. Und dein Orthopäde glaubt doch wohl auch nicht, dass das alles nur Einbildung ist, sonst würde er dich doch längst nicht mehr betreuen, das macht kein normaler Arzt. Also lass dir nicht einreden, du bildest dir das alles nur ein. Du hast doch nach wie vor ständig Schmerzen oder nicht?"

Ich nicke. Bernd hat ja recht, aber ich fühle mich langsam zermürbt.

„Ich weiß gar nicht, was ich ohne Dr. L. machen würde. Ich habe schon dauernd ein schlechtes Gewissen, weil ich denke, dass ich ihn doch nerve, wenigstens manchmal und das dazu im Termin."
"Über was du dir Gedanken machst! Hör mal, dieser Mann ist dein Arzt, das ist sein Job. Wenn du nicht alleine klarkommst, dann hat er für dich da zu sein, sonst hat er seinen Beruf verfehlt. Und wenn du ihm wirklich mal zu viel werden solltest, wird er doch wohl Manns genug sein, dir das auf eine nette Art zu sagen, was bei dir ja wohl kein Problem sein dürfte. Solange er das nicht tut, musst du kein schlechtes Gewissen haben. Und was die Terminabsprache anbelangt, die ist sicher sehr zweckmäßig, aber deshalb muss der Patient doch auch mal ohne Termin in die Praxis kommen dürfen. Dann muss er natürlich auch mit Wartezeit rechnen, das tust du doch schließlich dann auch, hm oder nicht?"

 „Ich warte ja nie, jedenfalls nicht lange."

"Dann wirst du auch ernst genommen und musst dir erst recht keine Gedanken machen. Du bist vielleicht ein Herzchen!"

Wieder schüttelt Bernd den Kopf.

„Komm, lass uns von was anderem reden, sonst werde ich auch noch trübsinnig und ich habe heute schon genug ausgehalten," seufzt Bernd.

„Was ist denn passiert?“

„Ich habe einen Assistenten aufs Auto gekriegt, der ist die Unfähigkeit in Person. Der Kerl kennt sich mit nichts aus, ich weiß gar nicht, wie der seinen Abschluss geschafft hat. So kann ich nicht arbeiten, sage ich dir. Ich habe so gründlich die Nase voll von dem Typen, hoffentlich kriege ich morgen jemanden anderes, sonst fahre ich keinen Zentimeter. Und dann ist er auch noch der Typ "akutes Blaulicht Syndrom" und der Rettungs Crack schlechthin, so benimmt er sich zumindest. Ich sage dir, es hat nicht viel gefehlt und ich hätte ihm eine geknallt.“

'' Wo kommt er her?“
„Keine Ahnung. Frisch von irgendeiner Rettungsdienstschule oder aber vom platten Lande, ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, wer den Typen eingestellt hat, aber die Probezeit überlebt der nicht. Jedenfalls nicht so."
„Da bist du ja wirklich gestraft. Hattet ihr denn viel zu tun?“

„Eigentlich ging es; mittags hatten wir auf der Ortsumgehung einen Unfall - Lkw gegen Pkw, das geht nie gut. Den Typen im Pkw hat es vollständig zerlegt. Verletzungen im Gesicht, Milzruptur, Sprunggelenksluxationsfraktur, Unterschenkeltrümmerfraktur und weil das alles ja noch nicht reicht, hat er auch noch Erbrochenes aspiriert. Also ein Polytrauma wie aus dem Lehrbuch. Und dieser Kerl, dieser Möchtegern Retter kriegt nicht die kleinste Kleinigkeit hin. Also schnappe ich mir zur Arztassistenz, einen von den Jungs vom RTW und sage meinem Fahrer, er soll die seelische Betreuung übernehmen, der Patient war nämlich zu allem Überfluss auch noch vollständig wach, bis wir ihn narkotisiert haben. Nicht mal das er geschafft. Ich sage dir ich habe eine Krise hoch drei gekriegt.“

"Vielleicht ist er ja wirklich noch ganz frisch.“

„Ja, da hab ich ja nichts dagegen, aber dann soll er nicht so angeben. Und vor allen Dingen sollte er nicht auf einen NEF steigen, sondern irgendwo als Hospitant mitfahren, wenn er das nicht kennt. Aber wenn er noch nicht mal Blutdruck messen kann, Tina, ich bitte dich.“

Bernd hatte sich in Rage geredet. Er hat natürlich recht. Das Wichtigste für den Notarzt ist ein Assistent, auf den er sich verlassen kann. Auch der Arzt kann nicht alles sehen. Was er nicht sieht, muss der Assistent sehen, nur so ist es möglich Menschenleben zu retten und dazu gehört großes fachliches Wissen. Nur mit dem bloßen Assistieren ist es nicht getan.

 

"Und wie war dein Date gestern Abend?", versuche ich Bernd abzulenken. Außerdem bin ich neugierig auf die Neue an seiner Seite. Aber auch das war wohl ein Negativerlebnis.

„Die Frau hat kein Fünkchen Intelligenz, sage ich dir. Dass es solche Frauen überhaupt gibt, geht mir nicht in den Kopf."
Ich muss lachen. Bernd scheint es ja bald schlechter zu gehen als mir, armer Kerl, so gebeutelt vom Schicksal.

 

Wir werden von Fiorina unterbrochen, die mich um ein Taschentuch bittet. Ich reiche ihr mein Päckchen rüber, während sie sich darüber beschwert, dass die Nase nicht aufhört zu laufen. Bernd und ich sehen sie an und staunen: Aus ihrem linken Nasenloch tropft in gleichbleibendem Tempo stetig eine helle Flüssigkeit.
Ich gucke Bernd erschrocken an:
„Mensch, das ist Liquor!"

Im gleichen Augenblick ist Bernd schon aufgesprungen und aus dem Zimmer, um jemanden zu holen, während ich klingele. Schließlich stieg ich aus dem Bett und setze mich zu Fiorina auf die Bettkante. Es sieht tatsächlich so aus, als ob sie Hirnflüssigkeit verliert. Wahrscheinlich hat sich durch die Operation irgendwo ein Spalt gebildet, der das Ablaufen dieser wichtigen Flüssigkeit möglich macht, unter Umständen ist auch der Hirndruck viel zu hoch.

Mit Bernd zusammen stürzt Ingo zur Tür herein, ein Röhrchen mit Styx in der Hand. Einen der Styx hält er Fiorina unter die Nase und fängt einen Tropfen auf. Gespannt starren wir den Teststreifen an. Er verfärbt sich, es ist tatsächlich Liquor.

Ingo greift zum Telefon und ruft Dr. B. an, der auch in Nullkommanichts her gestürzt kommt. In einem atemberaubenden Wortschwall erklärt er seiner Landsmännin in italienisch, was geschehen ist und was er jetzt unternehmen muss. Ich brauche kein italienisch zu können, um zu wissen, was passieren wird. Er wird den Hirndruck messen und gegebenenfalls eine Lumbaldrainage legen. Alleine bei dem Gedanken bekomme ich eine Gänsehaut.

Inzwischen ist auch Romano wieder aufgetaucht und verfolgt ein bisschen irritiert die Diskussion zwischen seiner Frau und Dr. B., der immer noch auf Fiorina einredet. Offenbar kann er sie nicht überzeugen.

Also wendet sich Dr. B. jetzt an den Ehemann und der gleiche Wortschwall bricht wieder los. Ich kann mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.

Schließlich spricht Romano mit seiner Frau und schlägt dabei einen ruhigen, sachlichen Ton an. Fiorina ist immer noch nicht ganz überzeugt, ob sie sich das Vorhaben gefallen lassen soll, aber schließlich willigt sie ein.

Ingo erhält exakte Anweisungen und verschwindet. Dr. B. wirft mir ein Lächeln zu und hält jetzt bei Fiorina Händchen.
Ingo bereitet alles vor. Romano wird von Dr. B. vor die Tür geschickt. Da Bernd unschwer als Kollege zu erkennen ist., schließlich steht auf seinem Rücken ja groß genug "Notarzt", wird er nicht des Zimmers verwiesen und gespannt verfolgen wir beide den Eingriff.
Die Punktion des Rückenmarks lässt sich Fiorina problemlos gefallen.
Der Hirndruck ist tatsächlich zu hoch. Also erteilt Dr. B. Ingo die Anweisung, eine Lumbaldrainage vorzubereiten. Ein bisschen kleinlaut muss dieser zugeben, das er sich damit überhaupt nicht auskennt. Dr. B. schickt ihn los, einer Schwester Bescheid zu sagen, die Ahnung hat. Derweil liegt Fiorina immer noch mit der Kanüle im Rücken auf der Seites und schnieft ein bisschen vor sich hin.

Schwester Sonja taucht mit dem notwendigen Material auf und reicht sofort ohne Zögern alles an. Dr. B. versucht den hauchdünnen Katheter durch die Kanüle zu schieben, was ihm erst nicht so recht gelingen will, schließlich schafft er es aber doch. Vorsichtig schiebt er den Katheter vorwärts, aber nun fängt Florina vor Schmerz an zu schreien. Dr. B. erschrickt sich so, dass er den Katheter wieder ein Stück herauszieht. Er fängt an mit Fiorina zu reden, die aber nicht auf ihn reagiert. Schließlich ignoriert er das Schreien und schiebt den Katheter Millimeter für Millimeter vor.

Plötzlich wird die Tür aufgerissen. Sonja versucht, die Tür wieder zu schließen, aber Romano schiebt sie einfach beiseite und faucht im selben Moment Dr. B. an. Dieser brüllt zurück und schließlich brüllen sich die beiden über Fiorina’s Bett hinweg an. Wir verstehen kein Wort, können nur vermuten, um was es geht.

Bernd betrachtet das Geschehen mit hochgezogenen Augenbrauen und einem leichten Kopfschütteln.
Offenbar verlangt Romano, das Dr. B, den Katheter wieder entfernt, aber dieser will nicht, aus durchaus verständlichen Gründen. Ein Wort gibt das andere und schließlicher packt Dr. B. endgültig die Wut. Mit einem Ruck entfernt er den Katheter, mit einem weiteren Ruck die Kanüle und wirft sie mit so viel Schwung in eine Nierenschale, dass sie herausspringt und auf dem Fußboden landete.
Ein bisschen ratlos steht Sonja jetzt mit ihrem Drainagematerial da und fragt schließlich, was sie damit machen soll.

"Wegwerfen," rutscht es mir heraus.
Noch einmal fragt sie Dr. B., was sie damit anfangen soll und jetzt brüllt er Sonja an: "Wegwerfen, sind Sie taub?“
Nun wird Sonja böse. Energisch wirft sie das Zeug auf Fiorinas Bett und mault Dr. B. an, er solle seinen Kram doch alleine machen, dann macht sie sich daran, dass Zimmer zu verlassen.
"Kann ich, verdammt noch mal, vielleicht ein Pflaster kriegen?"“, brüllt ihr Doktor B. hinterher.
“Ich habe seit zehn Minuten Feierabend," antwortet ihm Sonja und geht aus dem Zimmer. An ihr vorbei stürzt Ingo mit einem Schnellverband herein, den er Doktor B. in die Hand drückt. Offenbar hat er vor der Tür alles verfolgt.
"Das ist Arbeitsverweigerung!", brüllt Dr. B. hinter Sonja hinterher. Sie kommt zurück und baut sich wie ein Racheengel vor ihm auf, die Hände in die Hüften gestützt: "Wie kommen Sie mir eigentlich vor? Ich lasse mich doch von Ihnen nicht anbrüllen, Sie haben doch wohl einen Sprung in der Schüssel. Wagen Sie das nie wieder!"
Dr. B. starrt sie verblüfft an, aber Sonja schließt bereits deutlich hörbar die Tür hinter sich.

Ich selbst habe mich längst hinter Bernd versteckt, weil ich vor unterdrücktem Lachen fast platze.
Bernd schnappt meine Hand, legt mir meinen Morgenmantel um und zieht mich hinter sich her aus dem Zimmer, in die Sitzecke auf dem Flur. Kaum dort angelangt, wirft er sich in den erstbesten Sessel und fängt schallend an zu lachen. Ich selbst kann mich auch nicht beherrschen.
An und für sich war das Ganze eigentlich gar nicht so lustig, aber eine gewisse Komik war für den Außenstehenden doch vorhanden.

 

Am nächsten Morgen erscheint während des Frühstücks ein junger Mann, Marke Yuppie. Die Arroganz steht ihm förmlich ins Gesicht geschrieben und so ist er mir schon beim Hereinkommen zutiefst zutiefst unsympathisch. Zielstrebig kommt er auf mich zu und baut sich am Fenster vor mir auf, um auch sofort, ohne Begrüßung und ohne sich vorzustellen, wie selbstverständlich, loszulegen. Bevor er richtig in Fahrt kommt, bitte ich ihn, seinen Platz zu verlassen und sich auf die andere Seite meines Bettes zu begeben.

"Wie bitte?“, fragt er mich völlig konsterniert.

„Sie stehen in der Sonne, ich kann Sie nicht sehen.“

Irgendwie habe ich ihn damit jetzt aus dem Konzept gebracht, denn nachdem er den Platz tatsächlich gewechselt hat, muss er erstmal tief Luft holen und sich wieder sammeln. Aber das hält nur einen winzigen Moment an und er legt wieder los. Er redet eine Menge, während ich gemütlich weiter frühstücke. Ich habe einfach keine Lust, mich mit diesem arroganten Hänfling herum zu streiten. So lasse ich ihn einfach reden. Er redet bestimmt fünf Minuten auf mich ein, ohne allerdings viel zu sagen. Nachdem ich nun überhaupt nicht großartig reagierte und auch nicht einmal versuche dazwischen reden, fragt er schließlich ein bisschen unwirsch, ob ich überhaupt verstanden habe, was er mir zu sagen versucht.
"Ja natürlich: Ich bin ein ausgemachter Hypochonder!”
"Das habe ich überhaupt nicht gemeint."
"Warum sagen Sie es dann? Hören Sie, ich bin nicht blöd. Wenn Sie mir einen ellenlangen und völlig überflüssigen Vortrag über meine angeblichen Schmerzen, das sagten Sie doch, nicht wahr?, angeblichen Schmerzen halten und mir erklären, dass diese Schmerzen eben einfach nicht da sind, dann sagen Sie mir damit, dass ich ein Hypochonder bin und Ihnen die Zeit stehle. Sie sagen ja nicht einmal, dass die Schmerzen einen psychosomatischen Ursprung haben, nein, Sie sagen einfach, sie sind nicht da. Ist das der einfachste Weg für Sie?
Wenn das so ist, dann verschonen Sie mich bitte damit. Ich denke es ist besser, wir beenden dieses Gespräch. Es wird ohnehin zu nichts führen.
Schreiben Sie mir einfach den Entlassungsbrief und dann werde ich gehen. Ich nehme an, für Hypochonder haben Sie kein Bett frei."
Einen Moment steht er ein bisschen unschlüssig herum, aber dann zieht er es doch vor zu gehen.
„Einen Augenblick," rufe ich ihm hinterher. Er dreht sich um und sieht mich fragend an.

„Der Hypochonder benötigt einen Transportschein."

Er antwortet nicht, sondern geht.
Eine halbe Stunde später erscheint Dr. B. und legt mir den Entlassungsbrief nebst Transportschein aufs Bett. Ich bin längst dabei, meine Tasche zu packen, während mir Fiorina mit den Augen überall hin folgt. Seit gestern Abend liegt sie mit erhöhtem Oberkörper flach auf dem Rücken und soll sich möglichst nicht bewegen. Aber vermutlich ist das immer noch angenehmer, als eine Lumbaldrainage.

Dr. B. begutachtet einen Moment mein Packen und reicht mir dann die Hand.
„Es tut mir wirklich leid, dass ich nichts für Sie tun kann. Sie sollten weiter diagnostizieren lassen, ich bin sicher, die Schmerzen haben einen Grund. Nur leider keinen, der in unseren Bereich fällt."
„Ihr Kollege ist da ganz anderer Ansicht."
„Das meint er sicher nicht so."
„Hat er den Brief geschrieben?" Ich weise mit einer kleinen Geste auf den Entlassungsbrief, der auf meiner Bettdecke liegt.
“Ja, wieso?“

„Na dann schauen wir doch mal." Ohne zu Zögern öffne ich den Umschlag und ziehe den Brief heraus. Dr. B. wagt den schwachen Einwand, der Brief sei doch an meinen Arzt gerichtet.
„Na und glauben Sie, der weiß nicht, dass ich die Briefe vorher lese?“
Der Text des Briefes ist sehr knapp gehalten. Es steht lediglich darin, das keine Ursache für die Beschwerden gefunden werden konnte und dass man das Ganze auch mit Massage und Krankengymnastik in den Griff bekommen könnte.

Ich reiche Dr. B. den Brief: „Was sagen Sie dazu? Sie wissen doch genau, dass wir das konservative Programm durch haben. Wenn die Massagen, die Krankengymnastik und die Injektionen was gebracht hätten, wäre ich nicht hier. Was soll das also? Und dieser Satz, ich könnte mich wieder vorstellen, wenn die Beschwerden wieder auftauchen, ist jawohl ein Witz, oder? Sie sind überhaupt nicht weg. Soll ich jetzt gleich hierbleiben?“
Seufzend steckt Dr. B. den Brief wieder zurück in den Umschlag.
„Das alles tut mir sehr leid. Bitte glauben Sie mir das. Und bitte, versuchen Sie trotzdem weiter zu diagnostizieren. Ich bin mir sicher, bei ein bisschen Hartnäckigkeit wird man die Ursache finden."
„Gut, nachdem wir jetzt jawohl alle Möglichkeiten mehr oder weniger durch haben, haben Sie noch eine Idee?"

"Vielleicht sollten Sie noch eine Szintigraphie machen lassen. Manchmal kann man darauf mehr erkennen, aber sicher bin ich mir nicht.”
Wir verabschieden uns voneinander. Ich bin mir sicher, Dr. B. bringt ein bisschen Verständnis für mich auf. In der Tür dreht er sich noch einmal um und mustert mich nachdenklich.
„Ich habe da noch eine Frage: Wie sind Sie gestern so schnell darauf gekommen, dass da Liquor tropft?"; fragt er mit einer leichten Kopfbewegung in Richtung Fiorina.
„Es erschien mir nach dem Eingriff logisch.”
„Logisch, aha. Ihr Freund von gestern Abend hat mir erzählt, dass Sie Dr. Phil. sind. Sie hätten lieber Medizin studieren sollen. Alles Gute!“

Nun muss ich doch ein bisschen lächeln.

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 


 



 

 

 

 

 

 


 

 

Kapitel 33

 

 

 

Meine Schwiegermutter starrt mich erschrocken an, als ich nach Hause komme. Ich hatte sie telefonisch nicht erreichen können und so musste ich sie jetzt überrumpeln.
"Wieso bist du wieder zu Hause?" Prüfend sieht sie mich an.

"Weil sie nichts finden können, was man behandeln kann, deshalb."

„Was meinst du damit?"
"Das sie glauben, dass ich mir das Ganze nur einbilde.“

"Na ja, möglich wäre es doch, oder?"
Nun starre ich meine Schwiegermutter an.
"Was?!"
"Na ja, ich mach mir halt so meine Gedanken. Ich meine, es ist doch für dich recht bequem, dass ich dir deinen Haushalt versorge."
"Das meinst du doch nicht wirklich so, oder?"
“Ich denk ja bloß so."
"Pass auf, Mama! Wenn du nach Hause fahren möchtest, dann tu das bitte. Ich habe dafür vollstes Verständnis. Aber bitte nicht auf diese Tour!"
Ich lasse sie stehen und suche mein Schlafzimmer auf. Völlig erschöpft und ausgelaugt lege ich mich aufs Bett und starre an die Decke. Ich weiß nicht weiter. Langsam erreiche ich meine psychische Grenze. Ich bräuchte jetzt jemanden zum Reden, aber Michael ist in England, Filius in Göttingen ...


Meine Mutter! wer sollte mich besser kennen, als meine Mutter. Sie ist die Einzige, die tief in mein Innerstes sehen kann. Ich rappel mich hoch und ziehe mich um. Gleich darauf rufe ich mir ein Taxi.
"Willst du weg?" Meine Schwiegermutter steht in der Küchentür und sieht mich fragend an.
"Ich fahre zu meiner Mutter. Ich muss jetzt einfach mit jemandem reden, der mich kennt und der mir vertraut, verstehst du?"
"Tina, ich habe das nicht so gemeint. Es tut mir leid. Ich hätte mich besser zurückhalten sollen."
"Es reicht, dass du das überhaupt denkst. Ich warte draußen auf das Taxi.”

Meine Mutter staunt nicht schlecht, als ich plötzlich in ihrem Wohnzimmer stehe. Selbstverständlich besitze ich noch den Haustürschlüssel für mein Elternhaus, ebenso wie meine Brüder. Wir müssen nicht wie Fremde klingeln, wenn wir nach Hause kommen.
"Du? Am Vormittag? Ist was passiert? Wie geht es dir?”
Wie ein Häufchen Unglück stehe ich vor ihr. Ein bisschen zögernd und tastend nimmt sie mich in den Arm und bugsiert mich zu einem Sessel. Seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr kann sie nicht mehr sehen. Sie ist blind und hat dennoch sechs Kinder groß gezogen und zu, so hoffe ich, rechtschaffenen und selbstbewussten Menschen gemacht. Meine Kraft und Stärke habe ich sicher von ihr geerbt.
"Na komm, erzähl was dich bedrückt, mein Mädchen. Ich merke dir doch an, das was nicht in Ordnung ist.”
Ich berichte ihr von dem Ausgang der gestrigen Untersuchung.
"Ich weiß."
"Du weißt das, Mutti? Woher?"
"Von Ralf, er hat mich gleich nach dem Telefonat mit dir angerufen. Er sagte, du seiest sehr deprimiert gewesen. Er macht sich Sorgen um dich und er überlegt, wie er es einrichten kann, nach Hause zu kommen.”
"Was?! Ist er verrückt geworden? Ich habe ihn ja gerne hier, aber nicht als Kindermädchen, das kann er sich abschminken!"
Meine Mutter lacht ihr stilles, liebevolles Lachen, das ich schon als Kind so geliebt habe.
„Du bist manchmal wirklich ein Kindskopf, meine Kleine.”

Ich sehe sie lächelnd an. Da bin ich nun mittlerweile sechsunddreißig Jahre alt, eine gestandene Frau mit Beruf und Kindern und meine Mutter sagt immer noch auf die gleiche zärtliche Weise "meine Kleine” zu mir, wie in meiner frühesten Kindheit.
Unwillkürlich schmiege ich mich an sie und leise erzähle ich ihr von dem kleinen Zusammenstoß mit meiner Schwiegermutter.
"Das hat dich getroffen, hm? Ja, das kann ich mir vorstellen. Aber mit den kleinen und großen Ungerechtigkeiten dieser Welt müssen wir alle leben, mein Kind. Du genauso wie ich. Kreide es ihr nicht zu sehr an, sie hat es nicht leicht mit den drei Rabauken.“
"Aber Mutti, wenn meine eigene Familie mir misstraut, wie soll es dann weitergehen? Ich schaffe das alles nicht mehr.”
"Du schaffst das, so wie du alles andere bisher auch geschafft hast. Ich habe dich schon, als du noch Kind warst, für deine Stärke und Gelassenheit bewundert. Es gab nichts, was dich wirklich erschüttern konnte, jedenfalls nicht auf Dauer. Das hat dich zu einer reifen und intelligenten Persönlichkeit gemacht, auf die ich sehr stolz bin. Warum willst du jetzt aufgeben? Damit ist dir auch nicht geholfen. Was willst du denn tun? Dich ins Bett legen, die Decke über beide Ohren ziehen und verstecken spielen? Das passt nicht zu dir. Dazu bist du viel zu energisch und selbstbewusst, und es ist auch nicht der richtige Weg. Denk mal drüber nach. Ich gehe jetzt in die Küche und mache dir einen Tee und dann werde ich uns Mittagessen machen."

Damit verlässt sie das Wohnzimmer. Wieder einmal stelle ich fest, dass ihr in ihrer eigenen Wohnung niemand ansieht, dass sie erblindet ist. Sie bewegt sich mit einer atemberaubenden Sicherheit. Ich überlege, wie lange sie schon in diesem Haus lebt. Mein ältester Bruder ist sechsundfünfzig, also dürfte sie ungefähr seit sechzig Jahren hier leben. Meine Güte, was für eine Zeitspanne! Ich stehe auf und trete an das große Terrassenfenster, das den Blick in den Garten freilässt. Juni - die Rosen blühen und verströmen ihren Duft. Über die Terrasse betrete ich den Garten meiner Kindheit. Hier ist nichts verändert, zur Freude meiner Kinder. Es gibt noch die alte Schaukel, eine Rutschbahn und ein Klettergerüst und jede Menge Grasflächen zum Herumtoben. In der hintersten Ecke des Gartens ist sogar noch ein altes Volleyballnetz gespannt. Wieso ist mir das bisher nie aufgefallen? Hier habe ich mit meinen Brüdern so manche Schlacht ausgetragen - drei gegen drei. Wie lange mag dieses Volleyballnetz hier an den beiden großen Eichen schon befestigt sein? Weit über zwanzig Jahre bestimmt. Ein Wunder, dass es noch nicht auseinandergefallen ist. Ich berühre mit den Fingerspitzen sachte das Netz, das leicht zu schwingen anfängt. Meine Mutter ist mit einem Becher Tee hinter mich getreten und berührt sachte meine Schulter. Ich schrecke ein bisschen zusammen.

"Wie lange mag das Netz hier schon hängen, Mutti. Doch bestimmt über zwanzig Jahre oder?"

"Es hängt dort seit dem 24.01.1975. Dein zwölfter Geburtstag. Du hast das Netz von Ingo zum Geburtstag bekommen und den Ball dazu von Peter. Sie haben am Nachmittag das Netz hier befestigt und dann habt ihr bis in die Dunkelheit Volleyball gespielt. Und das Beste war, es hat so geschneit, dass man den Ball kaum sehen konnte, aber das hat euch nicht gestört."

"Komisch, was man alles so vergisst. Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir wieder ein.

Wir setzen unseren Rundgang durch den Garten fort. In einer stillen Ecke, umsäumt von Rosen in jeder erdenklichen Farbe, liegt ganz versteckt eine Grotte. Dieses kleine Wunderwerk hatte mein Vater lange vor meiner Zeit selbst geschaffen. Erbaut aus Findlingen könnte es wohl noch Jahrhunderte überdauern.

"Hier sind wir immer drauf rum geklettert," sage ich zu meiner Mutter, während meine Finger über die raue Oberkante der Grotte streichen. Der höchste Punkt in der Mitte des Halbrundes reicht mir bis an die Brust.
Meine Mutter schüttelt den Kopf.
"Du bist immer darauf herum geklettert, obwohl dein Vater es dir mehrfach verboten hatte. Eines Tages bist du dann wirklich heruntergefallen.”

"Das weiß ich gar nicht mehr. Erzählst du es mir?"
"Da gibt es nicht viel zu erzählen. Paps hatte an dem Nachmittag irgendwie Dienstfrei und werkelte im Garten. Ich glaube, an die zehnmal hat er dir gesagt, du sollst da runterkommen, weil du doch nur fallen würdest. Du hast nicht gehört und schließlich das Gleichgewicht verloren. Du bist mit dem Kopf aufgeschlagen, aber wir haben es zuerst gar nicht mitbekommen. Wir haben nie herausgefunden, ob du vielleicht bewusstlos gewesen warst. Auf jeden Fall hast du dich irgendwann hoch gerappelt und bist ins Haus. Im Badezimmer hast du versucht dich zu waschen. Du hast geblutet, das kann sich keiner vorstellen. Aber das mit dem Waschen klappte natürlich nicht. Wie auch, bei all dem Blut. Nun hattest du aber etwas Verbotenes getan und wolltest Paps offenbar lieber nicht über den Weg laufen, also hast du dich in Christians Zimmer unter dem Bett versteckt. Paps ist auf das viele Blut aufmerksam geworden; vom Garten bis ins Haus hattest du eine kräftige Spur hinterlassen. Er folgte der Spur nach oben ins Badezimmer und dann von dort bis in Christians Zimmer. Er hat dich unter dem Bett gefunden. Als er drunter gesehen hat, hast du ihm zu geblinzelt und gesagt: 'Es tut überhaupt nicht weh.’ Es hat dir nichts genutzt. Er hat dich unter dem Bett vorgezogen, dich ins Auto getragen und zu unserem Hausarzt gefahren. Der hat die Platzwunde dann zum Entsetzen deines Vaters sechsmal klammern müssen. Die Narbe hast du heute noch."
Mit sicherem Griff fasst sie mir auf der rechten Seite ein bisschen über der Stirn in den Haaransatz.
"Man kann sie fühlen und ich könnte mir vorstellen, wenn man genau hinschaut, kann man sie auch sehen. Aber das stärkste Stück war, dass du gleich am nächsten Tag wieder hier herum geklettert bist."
"Wieso kann ich mich daran nicht erinnern?"
„Du warst erst vier Jahre alt. Aber es liegt wohl auch daran, dass du so ein grässlicher Wildfang warst. Du warst die Kompaktausgabe deiner Brüder. Jeden Tag kamst du mit irgendetwas anderem nach Hause; Verstauchungen, Prellungen, aufgeschlagenen Ellenbogen und Knien. Unser Hausarzt hat irgendwann aufgehört zu fragen, was du schon wieder angestellt hast. Er hat es als gegeben hingenommen, wenn du wieder mal bei ihm aufgetaucht bist und dich einfach verarztet. Aber nicht ein einziges Mal hast du wegen solcher Sachen geweint oder so. Du konntest schon als Kind eine Menge einstecken. Es konnte noch so weh tun, du hast gelächelt und deinen Vater getröstet, der jedes Mal ganz aus dem Häuschen war. Wenn es um dich ging, konnte er hysterisch werden."
Vermutlich hat Mutter recht. Ich weiß selbst, dass ich ständig aufgeschlagene Knie hatte, aber es hat mich nie gestört.
Ein Vorfall ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Ich habe keine Ahnung, wie alt ich damals war, aber ich kann höchstens fünf Jahre alt gewesen sein - mein Bruder Ralf lebte nämlich noch zu Hause.
Ich spielte mit Kindern aus der Nachbarschaft draußen Fangen und rutschte mit viel Schwung auf dem Fußweg aus. Den Weg hatten Straßenarbeiter gerade mit Rollsplitt wieder in Schuss gebracht. Diese kleinen Steinchen hatte ich natürlich alle in den Knien sitzen. Ich sagte zu Hause kein Wort, warum auch? Zwei Tage später hatten sich die Wunden logischerweise kräftig entzündet und ich konnte nicht mehr richtig laufen. Auch jetzt sagte ich kein Wort, obgleich es langsam unangenehm weh tat. Allerdings bemerkte mein Bruder, dass ich plötzlich Schwierigkeiten mit dem Laufen hatte. Es dauerte nicht lange, bis mein Vater dahinter kam, woher das rührte. Natürlich fuhr er mit mir schnurstracks ins Krankenhaus und weil ich so weinte, tat er etwas, was er sonst grundsätzlich ablehnte, nämlich einen Familienangehörigen selbst zu behandeln. Er sortierte persönlich mit einer Pinzette die kleinen Steinchen aus meinen Knien.
Noch heute kann ich mich überdeutlich an das leise 'Ping' erinnern, das die Steinchen machten, als sie in die Nierenschale fielen.
"Ich glaube, ich würde eine Krise bekommen, wenn eines meiner Kinder so wäre," sage ich zu meiner Mutter. Sie schüttelt lachend den Kopf.
"Du hast doch schon so ein Kind und wenn ich mich recht erinnere, nimmst du das ziemlich gelassen hin. Was ist denn mit Sarah, hm?"
Wieder hat sie recht.
Sarah ist ein Wildfang, der sich kaum bändigen lässt.
Mit wahrer Hingabe spielt sie beispielsweise Fußball in einer Kindergruppe unseres Sportvereins. Sie ist die stürmischste von allen und je wilder das Spiel zugeht, um so lieber ist es ihr.
Ständig kommt sie mit aufgeschlagenen Knien und blauen Flecken nach Hause.
Die Krönung war, als sie bei einem Fußballspiel der Kleinen unglücklich fiel, über das Gras rutschte und mit dem Kopf voran an den Torpfosten knallte.
Für kurze Zeit war sie bewusstlos. Als sie wieder die Augen aufschlug, war ihre erste Frage: „Habe ich ein Tor geschossen?“
Sie hat wohl doch eine ganze Menge von mir und meine Mutter hat recht: Ich rege mich nicht auf, wenn Sarah mal wieder angeschlagen nach Hause kommt. Sie regt sich nicht auf, warum sollte ich es dann tun?


Während meine Mutter sich in die Küche begibt, um Mittagessen zuzubereiten, suche ich das Arbeitszimmer meines Vaters auf.
Obgleich er mittlerweile schon einige Jahre tot ist, hat sich hier nicht das geringste verändert.
Der wuchtige Mahagoni Schreibtisch ist penibel aufgeräumt, ein silberner Kugelschreiber mit seinem Monogramm liegt neben der Schreibunterlage. Familienfotos stehen herum und ein medizinisches Fachbuch liegt dazwischen. Es sieht aus, als sei er nur gerade zum Dienst in der Klinik.
An zwei Wandseiten befinden sich Bücherregale, die sich vom Fußboden bis zur Zimmerdecke erstrecken. Sie sind vollgestopft mit Fachliteratur.
Ich ziehe ein paar der Bücher heraus und blättere darin herum. Überall finde ich Anstreichungen und Randbemerkungen.
An der dritten Wand hat mein Vater Kinderfotos seiner sechs Kinder gesammelt.
Auf einem der Fotos liegt ein kleines Mädchen mit langen Zöpfen bäuchlings auf dem ausladenden Ast eines stämmigen Apfelbaumes. Das kleine Mädchen bin ich, nur den Apfelbaum, der im Garten meiner Eltern stand, den gibt es nicht mehr.
Ich setze mich in den Schreibtischstuhl meines Vaters und träume ein bisschen vor mich hin, bis meine Mutter das Zimmer betritt.
"Ich wusste, dass du hier bist."
“Ich glaube, die Hälfte meiner Kindheit habe ich in diesem Arbeitszimmer zugebracht," sage ich lächelnd.
"Ja, das glaube ich auch. Dein Vater hatte die Angewohnheit die Tür zu schließen, wenn er in Ruhe arbeiten wollte. Dann durfte ihn niemand stören, nicht mal ich. Von dem Tag an, an dem du, auf Zehenspitzen stehend, an die Türklinke kamst, hast du dieses Tabu ignoriert. Er hat dich gelassen. Du hattest absolute Narrenfreiheit bei ihm. Du bist nie zu mir gekommen, wenn du Sorgen hattest. Du bist immer zu Paps gegangen."
“Hat dich das verletzt?"
“Nein, denn wenn du mit Paps gesprochen hattest, bist du zu mir gekommen, um das Ergebnis eures Gesprächs mit mir zu erörtern. Und nun - geht es dir nach deinem Ausflug in die Vergangenheit besser?"
“Ich glaube schon. Es ist so, als sei Paps hier gewesen und hätte mir gesagt: 'Kopf hoch mein Kind, das wird schon wieder'. Es ist schön, manchmal nach Hause zu kommen, Mutti."

"Komm, wann immer du möchtest, die Tür steht immer offen für euch."

I

 

 

 

 


 

 

Kapitel 34

 

 

 

Am Wochenanfang besuche ich wie gewohnt meinen Orthopäden. Sicher wird er sich freuen, mich so schnell wiederzusehen. Mit einem Kopfschütteln studiert er den Entlassungsbrief. "Das ist natürlich eine ganz tolle Idee, es mal mit Massage und Krankengymnastik zu versuchen. Sehr interessant. Und was soll das denn heißen, Sie sollen wiederkommen, wenn die Beschwerden wieder auftreten? Soll ich Sie morgen wieder hinschicken? Das ist doch wirklich nicht zu fassen.“
Ich sage lieber mal nichts dazu. Abwartend sehe ich ihn an. Er erwidert meinen Blick nachdenklich:
"Was machen wir denn jetzt?"
"Dr. B. meinte, man könnte vielleicht noch eine Szintigrafie versuchen?"
"Was soll das bringen? Dass eine Entzündung vorliegt, glaube ich eigentlich nicht. Ihre Blutwerte waren doch alle in Ordnung, oder nicht? Was soll man also sehen, was man bei der Myelographie oder im CT nicht auch gesehen hätte?“
Ich seufze ein bisschen. Ratlos sieht mich Dr. L. An "Und wie geht es Ihnen sonst?"
“Nicht besonders. Seit der Myelographie schmerzt mein rechtes Bein heftig. Die haben mir da zwar erzählt, dass würde wieder nachlassen, aber noch merke ich nichts davon.“
“Wir könnten die Medikamente ein bisschen umstellen. Man könnte zum Beispiel eine Medikamentenkombination versuchen. Was meinen Sie, wollen wir das mal ausprobieren?"
Ich nicke.
“Können Sie Ihren Bruder nicht mal fragen, ob er noch eine Idee hat? Er ist doch auch Orthopäde, ich bin nämlich mehr als ratlos."
"Ja, das werde ich tun," verspreche ich.
Ich bekomme ein neues Rezept in die Hand gedrückt. Neben meinem Standardmedikament Tramal erhalte ich jetzt noch Paracetamol plus Codein und Metamizol.
"Jetzt haben Sie nur leider das Problem, dass Sie wieder herumprobieren müssen, bis Sie die richtige Dosierung herausgefunden haben. Aber Sie schaffen das schon, oder?“

"Ja sicher," antworte ich ihm mit einem Lächeln.
Er lächelt zurück.
"Sollen wir noch eine Akupunktur machen?"
"Wenn es sich einrichten lässt, gerne.“
"Na klar, das kriegen wir schon hin. Ach, ehe ich es vergesse, ab nächster Woche habe ich vierzehn Tage Urlaub. Aber sie wissen ja, dass Sie jederzeit auch zu meinen Kollegen gehen können, nicht wahr?“
Natürlich weiß ich das, aber ich hasse es, wenn Dr. L. in Urlaub geht. Dass man sich derart auf einen Arzt fixieren kann, ist auch schon krankhaft. Aber immerhin komme ich schon seit Oktober jede Woche zwei - bis dreimal in seine Sprechstunde und mittlerweile haben wir Juni, da kann man sich schon gewöhnen.

Als ich die Praxis verlasse, fühle ich mich trotzdem wohler. Dr. L. braucht eigentlich gar nicht viel zu tun. Alleine seine ruhige, freundliche und manchmal auch recht humorvolle Art mit mir umzugehen, führt schon dazu, dass ich mich wohler fühle. In dieser Beziehung ist er wie meine Freundin Birgit.

Zu Hause berichte ich meinen Mann, dass Dr. L. in Urlaub geht.
"Prima!”, ist seine Reaktion.
“Prima? Ich finde das ganz und gar nicht prima. Nicht nur, das er nicht da ist, ich muss auch auf die Akupunktur verzichten. Ich hasse es!"
Mein Mann sieht mich Kopfschüttelnd an. "Du wirst es überleben, mein Schatz.“

Zwei Tage später besuche ich Birgit in ihrer Praxis. Die reguläre Blutkontrolle ist mal wieder dran. In Anbetracht der starken Schmerzmittel ist besonders die Überprüfung der Leberwerte wichtig.
Ich berichte Birgit von dem im Krankenhaus erlittenen Misserfolg.
Betrübt sieht sie mich an.
"Wenn ich bloß dahinterkommen könnte, was mit dir los ist. Du bist nie wehleidig gewesen oder so was. Du hast bisher alle deine Krankheiten weggesteckt, als wäre es ein harmloser Schnupfen und nun das hier. Es geht doch seit Oktober kein Stück vorwärts. Ich begreife das einfach nicht. Gehst du immer noch zu Dr. L.?“
Ich nicke und male auf Birgits Schreibtisch imaginäre Figuren mit dem Zeigefinger.
"Und was macht ihr jetzt?“

"Wir probieren eine Medikamentenkombination."
Ich zähle ihr die Medikamente auf, die ich jetzt einnehme. Birgit seufzt etwas. "Und kommst du damit zurecht?”
"Ich bin noch in der Probephase, Mal schauen.“

"Kann ich irgendetwas für dich tun?“
"Ja. Im Krankenhaus hat der Anästhesist festgestellt, dass ich ein LGL-Syndrom habe. Er meint, das sei bisher wohl übersehen worden.“

„Ja, das ist gut möglich. Da muss man schon genau hinsehen. Das würde ich mir gerne mal angucken. Macht es Dir was aus, wenn wir schnell ein EKG schreiben?“

Es macht mir nichts aus und wenige Minuten später studiert Birgit mit gekrauster Stirn bereits den EKG-Streifen.
“ Ich denke, er hat recht. Die PQ-Zeit ist stark verkürzt. Damit schicke ich dich zum Kardiologen. Du musst auf Medikamente eingestellt werden, das kann sich sonst mal verheerend auswirken. Das erklärt jetzt natürlich auch den Anfall, den du im April hattest. Und gerade weil der doch recht heftig ausgefallen ist, müssen wir jetzt vorsichtig sein. Es wird dringend Zeit, dass da was unternommen wird."
"Was wird er mir verschreiben? Einen Kalziumantagonisten?”

Birgit nickt und lächelt mich an. "Du kennst dich aus, hm? Tatsächlich ist Verapamil der gängige Wirkstoff in solchen Fällen."

„Und wenn es nicht anschlägt?"
"Dann bleibt als nächste Alternative der Herzschrittmacher.”
Jetzt muss ich doch lachen. Birgit sieht mich erstaunt an. “Nanu, was ist daran so komisch?"
"Ich dachte gerade daran, dass Werner mir vor einem halben Jahr gesagt hat, ich würde langsam auseinanderfallen. Da wäre ein Herzschrittmacher doch das I-Tüpfelchen, oder?"

Lachend schüttelt Birgit den Kopf:
"Du kommst auf Ideen. Wenigstens deinen Humor hast du noch, obwohl ich mich immer wieder frage, wie du das eigentlich schaffst. Du bist ein unglaublich positiver Mensch, Tina. Irgendwie bewundere ich dich dafür.”

"Ach, du glaubst nicht, wie oft mein Humor in letzter Zeit auf der Strecke bleibt," antworte ich ein bisschen zögerlich. "Weißt du, manchmal frage ich mich, warum eigentlich keiner meiner Brüder Psychiater geworden ist. Langsam glaube ich nämlich, dass ich bald reif bin für die Klapsmühle.”
“Ach was, solange dein Humor immer wieder hochkommt, braucht man sich keine Gedanken um deinen seelischen Zustand zu machen. Dass du zwischendurch zweifelst, ist doch normal. Und das du zwischendurch verzweifelst, doch wohl auch oder? Das muss dir auch zugestanden werden, meine Liebe. Ich erwarte keineswegs, dass du immer mit einem fröhlichen Gesicht hier hereinspaziert kommst und ich denke mal, Dr. L. erwartet das auch nicht. Warum forderst du es dir dann also ab, Tina? Wenn dir zum Heulen zumute ist, dann heul doch. Und es spielt keine Rolle, ob du dich zu Hause aus heulst, hier bei mir oder bei Dr. L. Keiner wird es dir verübeln. Wir wissen alle unter welcher Anspannung du stehst. Du befindest dich in einer überaus belastenden Situation, da muss dir ein seelischer Zusammenbruch auch mal zugestanden werde. Dafür musst du dich weder rechtfertigen, noch die Schuld bei dir suchen, hast du verstanden? Und es bringt dich keineswegs weiter, wenn du mir und Dr. L. gegenüber Schuldgefühle entwickelst, nur weil du Schmerzen hast, die wir dir nicht nehmen können. Wenn du uns auf den Wecker gehen willst, bitte dann tu es. Du kannst jederzeit zu mir kommen und ich bin mir sicher, bei Dr. L. ist das auch so. Du würdest schon lange nicht mehr zu ihm hingehen, wenn es anders wäre, Tina, ich kenne dich doch. Also was soll das Ganze? Du bist krank, verstanden? Lass dir von niemandem etwas anderes einreden, weil alles andere nicht stimmt. Es ist nicht deine Schuld, dass wir die Ursache nicht finden können. Es ändert aber nichts an der Tatsache, das du ständig Schmerzen hast. Nichts desto Trotz freuen wir uns über jedes Lächeln von dir, dass macht nämlich auch uns Mut, nicht nur dir. Dein Lächeln gibt auch uns die Kraft, nicht vollständig zu verzweifeln. Wir Ärzte sind nämlich auch nur Menschen. Also, wie denkst du darüber?"
"Du hast bestimmt recht, Birgit. Aber manchmal ist es verdammt schwer. Und weißt du, wenn ich zum x-ten Mal zu Dr. L. gehe und doch weiß, dass er eigentlich nichts machen kann, dann denke ich eben manchmal, dass ich ihm seine Zeit stehle."
Unwillig schüttelt Birgit den Kopf.
“Wenn du auch nur ein einziges Mal das Gefühl vermittelt bekommen hättest, dass es so ist, Tina, ich weiß genau, du wärest nie wieder in diese Praxis gegangen. In diesen Dingen bist du nämlich empfindlich wie eine Mimose. Also rede dir so ein dummes Zeug bitte gar nicht erst ein. Du bist uns nicht lästig. Ganz im Gegenteil, wir zerbrechen uns den Kopf darüber, wie wir dir helfen können. Also schenk uns ein kleines Lachen, damit wir die Zeit gemeinsam durchstehen können und nicht auf der Strecke bleiben. Tina, glaub mir, wir können das nur in bedingungslosem Vertrauen schaffen. Für dich heißt das, dass du darauf vertrauen darfst, jederzeit zu Dr. L. oder mir kommen zu dürfen und dass du von uns beiden ernst genommen wirst, hast du mich verstanden? Wenn dem nicht so wäre, würden wir etwas falsch machen und nicht du. Ich hoffe dass dir das klar ist."
Birgit hat es mit ihrem energischen Ton mal wieder geschafft, mir den Kopf zurechtzurücken. Ich bin ihr dankbar dafür und vielleicht schaffe ich es das nächste Mal ohne schlechtes Gewissen zu Dr. L. zu gehen.

 

 


 

Kapitel 35

Michael überrascht mich mit einer Woche Urlaub auf Usedom. Deshalb war er so begeistert, dass Dr. L. in Urlaub ging. Für ihn war klar, dass das zwei Wochen nahezu ohne Arzttermine bedeutete und er daher diese Reise buchen konnte.

 

Wir fahren ohne die Kinder. Tim hat noch Schule und bleibt bei meiner Freundin Christina, während die beiden Mädchen zu meiner Mutter fahren. Obwohl sie schon über achtzig ist, macht es ihr immer Freude, ihre Großkinder für sich zu haben.

Nach dem Ausbruch meiner Schwiegermutter, mochte ich sie nicht mit unseren Kindern belasten, nur weil mein Mann mir eine Urlaubsfahrt spendiert.

Ich freue mich natürlich auf den Urlaub, wenngleich ich auch ein bisschen Bedenken wegen der Fahrerei habe. Michael zerstreut meine Bedenken mit dem Argument, wir seien doch zeitlich völlig ungebunden und könnten Pausen einlegen so viel wie nötig sind.

Früh morgens starten wir in einen sonnigen Tag. Ich bestimme das Tempo und die Pausen und so schaffen wir die Fahrerei eigentlich ganz gut. Als wir in Heringsdorf eintreffen, bin ich allerdings so geschafft, dass ich mich hinlegen muss. Es war doch irrsinnig anstrengend.

 

Nach einem hervorragenden Abendessen lädt mein Mann mich zu einem gemächlichen Spaziergang ein. Unser Hotel hat eine Super Lage. Von unserem Zimmer können wir die Ostsee sehen. Es sind nur wenige Schritte bis an den Strand. So komme ich also doch zu dem erträumten Strandspaziergang in die untergehende Sonne.

 

Wir verleben herrliche Tage auf Usedom. Meine Schmerzen lassen zwar keineswegs nach, aber alleine das losgelöst sein von ewigen Arztterminen und der ständigen Quälerei zu Hause, trägt zu meinem Wohlbefinden bei.

 

Am Wochenende machen wir mit der Fähre einen Abstecher nach Swinemünde. Diese, ehemals wohl sehr schöne Stadt, liegt zwar auf Usedom, gehört aber zu Polen.

Wir machen eine Stadtrundfahrt mit einem alten klapprigen Bus, der leider nicht ganz das Richtige für meinen ohnehin schon strapazierten Rücken ist. Aber ich werde für die Schmerzen mehr als genug entschädigt. Unser Stadtführer Andreas ist ein Unikum. Mit sehr viel Humor schildert er uns die Geschichte von Swinemünde. Ich komme aus dem Lachen kaum heraus.
Am Ende der wirklich gelungenen Stadtrundfahrt brauche ich dringend eine Verschnaufpause, außerdem ist es ohnehin Zeit für ein Mittagessen. Unterwegs hatte uns Andreas auf ein Lokal aufmerksam gemacht, in dem man seiner Ansicht nach hervorragend essen kann.

 

 

Das Restaurant ist ohne jeden Stil spartanisch eingerichtet. Lediglich die Wände sind mit Bildern in
diversen Größen geschmückt, alle zeigen alte Stadtansichten von Swinemünde. Die Karte bietet zu unserem Erstaunen sowohl polnische, wie auch österreichische und deutsche Küche. Wir entscheiden uns für ein polnisches Gericht: Piroggen, gefüllte Teigtaschen, die unglaublich gut schmecken. Das Geheimnis der umfangreichen Küche klärt sich auf, als uns die Wirtin begrüßt und uns nach erfolgtem Essen zu einer Wiener Melange einlädt. Sie ist nämlich Österreicherin und hat sich schon vor Jahren hier einen Traum erfüllt.

Am Nachmittag fahren wir mit der Fähre wieder zurück nach Heringsdorf und damit ist unser kleiner Urlaub auch schon fast zu Ende.

 

 

 

Kapitel 36

 

 

 

Das Wochenende nach unserem Urlaub kommt Bernd uns mal wieder besuchen. Wir sitzen beide in meinem Arbeitszimmer und unterhalten uns, als Filius seinen Kopf zur Tür hereinsteckt.
"Darf ich euch stören, Mum?"
"Komm ruhig herein. Was gibt es?"
Filius begrüßt Bernd und lässt sich dann lang ausgestreckt in einen Sessel plumpsen.
"Ich habe da ein kleines Problem," antwortet mein Sohn und sieht uns nachdenklich an.
"Und du glaubst, wir können dir dabei helfen?", frage ich interessiert.

Die Probleme meiner Kinder interessieren mich immer und wenn sie noch so unbedeutend erscheinen mögen.
Filius seufzt ein bisschen.
"Das muss ja ein ungeheures Problem sein, Filius." Bernd lächelt meinen Großen an.
"Soll ich euch lieber allein lassen? Ich könnte ja mal nachsehen, wo die drei Kleinen stecken."
"Nein, bleib ruhig hier. So privat ist es nicht und vielleicht kannst du mir ja helfen. Schließlich bist du ja Arzt."
Bernd und ich sehen uns erstaunt an. Nanu, ist Filius etwa krank?
"Also nun erzähl schon und spann uns nicht so auf die Folter," seufze ich.
"Ja also, wir hatten die Woche eine Studentendiskussion. Es ging um die Frage, wann ist ein Arzt ein guter Arzt und gibt es überhaupt gute Ärzte. Kann es überhaupt gute Ärzte geben, so wie wir ausgebildet werden."
Einen Moment herrscht Schweigen, dass Bernd schließlich unterbricht.
"Und zu welchem Resultat seid ihr gekommen?"
"Wir haben entschieden, dass man diese Frage nicht beantworten kann."
"Eine wirklich weise Entscheidung. Wie siehst du das?" Bernd sieht mich fragend an.
"Nun, ich denke doch, das es gute Ärzte gibt. Daraus resultiert dann wohl, dass es immer Mediziner gibt und hoffentlich geben wird, die, egal wie auch immer die medizinische Ausbildung aussieht, den richtigen Weg einschlagen."
Bernd nickt nachdenklich, während Filius mich mit Blicken durchbohrt.
"Na schön, Mum. Du sagst es gibt gute Ärzte, aber wann ist ein Arzt ein guter Arzt. Sag es mir."
"Filius, ich glaube, das sieht jeder anders. Sieh mal, ein Patient hält seinen Arzt schon für gut, nur weil er im Wartezimmer nicht länger als eine Viertelstunde warten muss. Ein anderer ist von seinem Arzt überzeugt, weil er die Praxis nie ohne Rezept verlässt. Egal, ob er ein Medikament benötigt oder nicht. Manchen Patienten könnte man ein Placebo in die Hand drücken und sie würden schwören, sie hätten einen guten Arzt. Andere Patienten wieder sind begeistert, wenn ihr Arzt nur fürsorglich genug ist, da kann der noch so wenig Ahnung haben von dem, was er treibt. Filius, ganz ehrlich, die Frage, wann ein Arzt ein guter Arzt ist, ist so alt wie die Medizin selbst. Das kannst du mir glauben. Die Literatur beweist es."

„Was sagen deine großen Literaten denn?" Jetzt sieht mich auch Bernd interessiert an.

„Da könnte ich rein theoretisch in der griechischen Mythologie anfangen, aber das muss ja nicht sein. Nehmen wir mal Shakespeare. Shakespeare sagt, ein Arzt ist gut, wenn er alle Krankheiten sofort erkennt und heilen kann“
„Das ist unmöglich!"

"Sagst du, mein Sohn. Shakespeare sah das anders. Der ‚italienische Dichter Goldoni dagegen sagt, ein Arzt ist gut, wenn er in die Seele eines Patienten schauen kann."
„Möglicherweise ist das gar nicht so verkehrt," schaltet sich Bernd ein.

Ich nicke ein bisschen.
„Remarque dagegen war überzeugt, dass es keine guten Ärzte gibt. Er bezeichnet sie als Scharlatane, die ihren Patienten nur das Geld aus der Tasche ziehen. Kein Arzt ist wirklich an seinem Patienten interessiert, behauptet er“.

„Das ist ganz schön kompliziert, Mum. Wenn aber jeder Patient eine andere Ansicht dazu hat, wie ist denn dann deine Ansicht?"

„Das würde mich auch interessieren," wendet sich Bernd mir zu.

„Für mich ist ein Arzt gut, wenn er mich als gleichberechtigten Partner akzeptiert. Außerdem finde ich es wichtig, dass er keine Berührungsängste zeigt. Er muss sich auch trauen und trauen dürfen, einem Patienten auch den vielleicht notwendigen Trost zukommen zulassen. Wisst ihr, wie gut es mir tut, wenn mein Orthopäde mir mal die Schulter tätschelt oder meine Hand streichelt. Das bedeutet für mich 'Kopf hoch, das wird schon wieder'. Das muss man dann nicht auch noch in Worte fassen, das ist gar nicht nötig. Und ich finde es gut und richtig, wenn ein Arzt bereit ist, auch mal seine Hilflosigkeit einzugestehen.”

„ Ich weiß nicht, ob das gut ist, Mum, Meinst du nicht, dass das einen Patienten auch irritieren und verunsichern kann?“
„Das glaube ich einfach nicht. Du bist erst im fünften Semester und denkst schon wie ein Mediziner. Weißt du, wie oft ich diesen Satz von meinen Brüdern zu hören bekommen habe. Warum soll das denn dem Patienten schaden? Ich habe oft von Patienten zu hören bekommen: "Da doktert mein Arzt herum und doktert herum, und es kommt doch nichts dabei heraus.“

Das, mein Sohn, verunsichert den Patienten.

Dr. L. sagt mir, er ist ratlos. Na und, das hat mich überhaupt nicht verunsichert, dann sind wir eben gemeinsam ratlos. Was mich verunsichert, sind Mediziner, die mich nicht ernst nehmen, weil sie der Ansicht sind, mit einem Patienten könne man nicht Klartext reden. Im Grunde genommen sind das Ärzte, die einfach nicht den Mut und den Willen haben, sich mit ihren Patienten auseinanderzusetzen. Was soll das? Aber auf der anderen Seite erwarten sie, dass ihre Patienten die Anweisungen befolgen. Das passt doch nicht.

Patienten sind keine defekten Maschinen, sondern Menschen. Ich setze mich zur Wehr, wenn ich merke, das System funktioniert nicht richtig."

„Ja du Mum, aber viele andere Patienten nicht."

"Ja, und das ist doch traurig. So mancher Arzt könnte von seiner Arroganz und Patientenfeindlichkeit befreit werden, wenn die Patienten sich wehren würden."

"Ja, aber warum tun sie es nicht?" Bernd wirft mir einen forschenden Blick zu.

Ich glaube, dass resultiert auch noch aus aschgrauen Vorzeiten. Seht mal, ich habe Geschichte studiert. Und dabei habe ich eine interessante Entdeckung gemacht. Du kannst zurückgehen vom Mittelalter bis in die Neuzeit von mir aus. Es ist völlig unerheblich, in welche geschichtliche Epoche du hineinschaust. Es gibt in jeder Epoche große Regenten, die sich einen Namen gemacht haben. Aber in jeder Epoche steht auch ein Berufszweig ganz oben und das ist der, der Mediziner. Das ist heute noch so. Das verursacht Ehrfurcht.”

„Aber wie kommt das denn?"

„Mediziner sind Wissenschaftler, die etwas Besonderes können: Sie können heilen!

Plötzlich gab es Ärzte, die mit Hilfe von irgendwelchen Kräutern in der Lage waren, diverse Erkrankungen zu heilen oder doch zu lindern und die die Zusammenhänge im menschlichen Körper begriffen und darauf aufbauen konnten. Sie übten damit eine ganz besondere Form der Macht über die Menschen aus und viele Ärzte probieren das heute noch. Leider!

Im Laufe der Zeit wurde den Menschen durch die Medizin klargemacht, dass nicht Hexen und Dämonen an ihren Krankheiten schuld waren, sondern ganz einfach Dinge, die im Körper nicht mehr richtig funktionierten.

Aus der Macht entwickelte sich jetzt noch dazu Respekt vor den Männern der Heilkunst. Die Menschen empfanden und empfinden das wirklich als große Kunst. Und diese Macht und der über eigentlich Jahrtausende entwickelte Respekt, ist fast schon als Urinstinkt zu bezeichnen.

Der Mediziner ist ein großer Könner und man wird sich hüten, ihn in Frage zu stellen. Und diese Einstellung macht es auch so vielen Ärzten möglich, sich ihre Arroganz zu bewahren.

Die Patienten müssten noch viel mehr informiert werden, über die Vorgänge in ihrem Körper und die Wirkungsweise von Medikamenten oder gar Operationen. Und sie müssten sich auch mal trauen, an ihren Ärzten zu zweifeln, die kochen nämlich auch nur mit Wasser. Gott sei Dank gibt es Ärzte, die ihre Patienten mehr als notwendig informieren und das sind die, die ihren Patienten mit Respekt gegenübertreten."

„Du willst also sagen, wenn ich mit meinen Patienten, die ich ja vielleicht irgendwann mal haben werde, offen und ehrlich umgehe und dabei auch noch, sagen wir mal, menschlich bleibe, dann wäre ich auf dem richtigen Weg?"

"Ja, genau das wollte ich dir damit sagen. Und vor allen Dingen, nimm ihnen die Angst vor dem Arzt. Es gibt immer noch viele Menschen, die eine Heidenangst haben, wenn sie in ein Krankenhaus gehen. Sie fühlen sich den Ärzten dort hilflos ausgeliefert und leider ist es oft auch so. Und gerade im Krankenhaus trauen sich die Menschen noch viel weniger, sich zu wehren, eben weil sie zum einen ihre Mündigkeit in der Aufnahme abgeben und zum anderen wirklich, weil eine gewisse Abhängigkeit da ist. Das ist eigentlich ganz schön traurig."

Bernd starrt nachdenklich auf seine Fußspitzen. "Weißt du Engelchen, ich hätte mir gewünscht, während meines Studiums hätte mal ein Professor das gesagt, was du eben gesagt hast. Das Einzige, was ich vermittelt bekommen habe, war, haltet Distanz, identifiziert euch nicht zu sehr mit dem Patienten und arbeitet niemals emotional. Du weißt, was ich heute von diesem Blödsinn halte. Aber es ist traurig, dass wir in der heutigen Zeit an den Uni' s offenbar immer noch kein Stück weiter sind. Wie kann ich einen Patienten verstehen, wenn ich nicht versuche, mich mit ihm zu identifizieren.

 

Ich muss doch irgendwie wissen, wie er fühlt und denkt, wenn ich ihm wirksam helfen will. Da wird so viel von humaner Medizin geredet und geschrieben, aber beigebracht wird sie einem nicht. Da müsste doch wirklich mal was passieren."
„Na gut, und was soll ich jetzt tun?" Filius sieht Bernd ratlos an.

„So arbeiten, wie du es für richtig hältst. Wenn du glaubst, der Patient braucht vorrangig seelischen Beistand, dann bitte: Halt Händchen, wenn es erforderlich, wo ist da ein Problem?
Wehr dich im Namen deiner Patienten. Versuch immer zu zeigen, wie du dich fühlen würdest, wenn du der Patient wärest, dann kommst du ganz von allein auf den richtigen Nenner, glaub es mir, ich habe es inzwischen ausprobiert."

Filius nickt nachdenklich und erhebt sich schließlich aus seinem Sessel. ”Darüber muss ich jetzt in Ruhe nachdenken.“

Leise schließt er die Tür hinter sich.

„Er fängt ganz schön früh an zu zweifeln," sagt Bernd ein bisschen nachdenklich.

„Lieber zu früh, als gar nicht, Bernd. Ich habe in letzter Zeit eine Menge Ärzte kennengelernt, die vor Arroganz fast umkamen. Ich frage mich immer wieder, was das eigentlich soll. Mit welchem Recht kehren sie diese Arroganz nach außen? Ist das wirklich eine Nachwirkung der Universitätserziehung?"

„Schau mal, wenn sich Studenten zusammensetzen und zu dem Schluss kommen, es kann keine guten Ärzte geben, dann sind an einem erschreckenden Punkt angelangt. Wo bitte bleibt denn da die Humanität dem Patienten gegenüber? Was, um alles in der Welt haben wir nur für Dozenten und Professoren?

Da bekommst du so viel Wissen eingetrichtert, Dinge, die du hinterher nie wieder brauchst; unnötiger Ballast, aber die wirklichen wichtigen Dinge, die vermittelt einem niemand.

Ich muss dir sagen, dass ich das als Mediziner zutiefst beschämend finde.“
„Ja, irgendjemand sollte mal den Anfang machen. Was kann man tun?"

„Spätestens den AiP'lern beibringen, was Menschenwürde wirklich bedeutet. Man kann es nur am Patienten lernen und spätesten da muss man den Hebel ansetzen. Außerdem würde ich als Mediziner wünschen, dass es noch mehr so mutige Patenten gibt wie dich. Du kannst die arroganten Kollegen vielleicht nicht ändern, aber du kannst ihnen wenigstens bei Gelegenheit mal sagen, wie blöd sie sind.

Du glaubst es vielleicht nicht, aber ich freue mich über jeden Kollegen, der sich mit dir anlegt und dabei den Kürzeren zieht.“

„Das klingt, als würde ich es immer darauf anlegen."

„Ich dachte, das tust du!"

„In gewisser Weise schon, da hast du nicht ganz unrecht."
Wir brechen beide in Gelächter aus. Plötzlich steht Filius in der Tür.

„Hast du noch was vergessen?" Erstaunt sehe ich ihn an.

„Ja, danke!“

 

 

Kapitel 37

 

 

 

Mein Orthopäde hat seinen Dienst wieder aufgenommen und sofort beehre ich ihn mit meinem Besuch. Ich fürchte, ich bin anhänglicher als eine Klette.
"Wie geht es Ihnen?", fragt er mich mit einem strahlenden Lächeln, so als freue er sich aufrichtig mich wiederzusehen.
Ich berichte ihm kurz von meinem Zustand, ich vertrage das Paracetamol nicht und natürlich habe ich mittlerweile auch mit Ralf telefoniert.
"Mein Bruder ist der Ansicht, dass eine Untersuchung der Nervenleitgeschwindigkeit uns vielleicht weiterbringt."

"Die Idee ist vielleicht wirklich nicht dumm," murmelt Dr. L. nachdenklich. Schließlich leuchtet sein Gesicht auf. "Doch, ja, ich glaube, dass sollten wir probieren. Ich werde Ihnen eine Überweisung ausstellen. Was die Schmerzmittel anbelangt, tja, da weiß ich auch nicht weiter. Es besteht immer noch die Möglichkeit, dass ihre Schmerzen sich sozusagen selbstständig gemacht haben. Sie wissen sicher, dass es sich dabei um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt. Ich würde es für richtig halten, wenn Sie mal zu einem Schmerztherapeuten gehen würden. Wir können Ihnen die Adresse und Telefonnummer einer hier ansässigen Praxis notieren, was meinen Sie?"

"Möglicherweise ist die Idee nicht verkehrt. Irgendetwas muss schließlich auch mal passieren. Und wenn die das in Griff kriegen können, ist das doch nur von Vorteil."
Wir sind uns also wieder einig. Ich bekomme die beiden Überweisungen in die Hand gedrückt, erhalte meine Akupunktur, die ich schon schmerzlich vermisst hatte und gehe mit neuen Perspektiven nach Hause.

Der Termin in der schmerztherapeutischen Praxis ist schnell gemacht. Mit dem Neurologen, der die NLG durchführen soll, ist es viel problematischer: "Also, den nächstmöglichen Termin kann ich Ihnen am 05. Oktober anbieten," erklärt mir die junge Dame am Telefon. Im ersten Moment glaube ich mich verhört zu haben, hat sie wirklich von Oktober gesprochen? Wir haben Juni!
"Sagen Sie mal, das war jetzt nicht Ihr Ernst, oder?"

"Doch, selbstverständlich. Vor Oktober habe ich keine freien Termine."
"So lange kann ich aber nicht warten. Ich habe seit Oktober letzten Jahres permanent Schmerzen und sie können mir glauben, ich habe die Nase gestrichen voll."

"Ja, das will ich Ihnen ja gerne glauben, aber es ändert nichts an der Tatsache."
"Jetzt hören Sie mir gut zu: Entweder, Sie geben mir jetzt sofort einen akzeptablen Termin oder ich komme als Notfall in die Praxis."

Am anderen Ende herrscht Stille.
Schließlich höre ich ein leises Seufzen und Blätter Geraschel.

"Also gut, dann kommen Sie nächste Woche Freitag um neun Uhr. Aber pünktlich!"

Ich staune: wo hat sie denn jetzt diesen Termin hergezaubert?
Ich beglückwünsche mich dazu, mich wieder einmal erfolgreich durchgesetzt zu haben.

Zunächst erfolgt der Termin bei der Schmerztherapeutin. Frau Dr. D. ist schon ein bisschen älter, aber ausgesprochen freundlich. Nachdem ich einen kilometerlangen Fragebogen ausgefüllt habe, der sich vorrangig mit meiner Psyche beschäftigt, werde ich sehr genau und Zeitaufwändig untersucht.

Am Ende sieht sie mich nachdenklich an und sagt schließlich: "Also, Sie scheinen mir tatsächlich sehr starke Schmerzen zu haben, außer natürlich, Sie wären eine exzellente Schauspielerin. Das glaube ich allerdings nicht, denn wenn dem so wäre, sollten Sie nach Amerika fliegen und sich den Oscar abholen.
Stellt sich uns die Frage, was können wir tun? Leider gehe ich übernächste Woche in Urlaub, daher würde ich vorschlagen, wir probieren es erstmal mit MST. Ich werde anhand der Medikamente, die Sie jetzt in Kombination eingenommen haben, die Morphindosierung errechnen. Wenn ich aus dem Urlaub zurück bin, werden wir Infusionen anwenden: Und zwar einmal mit Morphin und dann mit Xylocain. Je nachdem, auf was Sie stärker ansprechen, werden wir dann vorgehen."
“Wenn das auch nicht richtig anschlägt?", frage ich vorsichtig an.
„Tja, dann..." seufzt sie ein bisschen, "...dann bleibt eigentlich nur, Ihnen beispielsweise eine Morphinpumpe einzupflanzen. Natürlich immer davon abgesehen, dass sich nicht doch noch etwas findet, was man wirkungsvoll behandeln kann.
Das sind tolle Aussichten, na, warten wir es ab.

Mit hochgezogenen Augenbrauen notiert sie die Medikamente, die ich momentan einnehme und die jeweilige Dosis. Anhand einer Tabelle beginnt sie dann zu rechnen und nickt endlich zufrieden.
„Tja, da komme ich auf eine schon recht hohe Morphindosierung. Wir werden es mit MST 30 probieren. Allerdings fürchte ich, das Sie damit nicht auskommen werden. Aber Sie können problemlos das Metamizol dazunehmen. Wenn alle Stricke reißen, dürfen Sie auch das Tramal einsetzen, aber bitte nur, wenn Sie nicht anders klarkommen.
Nehmen Sie diese Woche alle zwölf Stunden eine MST 30 und nächsten Montag sehen wir dann, wie Sie zurecht gekommen sind.“
Sie reicht mir das BTM-Rezept, dass ich mit etwas gemischten Gefühlen in Empfang nehme. Nun bin ich also doch beim Morphin angelangt.

 

Am Freitag erfolgt der Termin beim Neurologen. Die Sprechstundenhilfe an der Anmeldung bringt sich nicht gerade vor Freundlichkeit um. Ein bisschen mürrisch erklärt sie mir, ich solle im Wartezimmer Platz nehmen.

Bereits nach einer Viertelstunde werde ich aufgerufen. Ich nehme im Sprechzimmer von Dr. L. Platz. Der Schreibtisch läuft über, so viel Papierkram stapelt sich darauf.

Noch während ich das Sprechzimmer mustere, erscheint Dr. L., ein schlaksiger junger Mann mit hängenden Schultern. Er begrüßt mich, ohne mir die Hand zu reichen, und lässt sich in den Sessel mir gegenüber fallen. Ohne weiter etwas zu sagen, sucht er in dem Papierhaufen und fördert schließlich einen völlig zerknautschten Bogen Papier zutage, den er mit einer Hand glatt zu streichen versucht. Als nächstes wühlt er in seinen Schreibtischschubladen herum und grinst mich an, als er endlich einen Kugelschreiber findet.

"Na dann schießen Sie mal los." Erwartungsvoll sieht er mich an.

Also beginne ich wieder mal meine Anamnese herunter zu leiern. Hin und wieder notiert er sich etwas.

Nachdem ich geendet habe, kehrt Schweigen ein.

"Tja, das ist natürlich alles nicht so toll. Und Ihr Orthopäde möchte jetzt, dass ich eine NLG durchführe. Das können wir selbstverständlich machen. Dazu müssten Sie aber vorher noch ungefähr fünfzehn Minuten im Wartezimmer Platz nehmen. Eine der jungen Damen wird Sie dann wieder aufrufen." Damit werde ich hinauskomplimentiert.

Die Viertelstunde dehnt sich gewaltig. Nach einer Stunde habe ich die Nase gestrichen voll. Ich marschiere an die Anmeldung und frage die unfreundliche junge Dame dort, was sie wohl glaubt, wie lange ich noch im Wartezimmer sitzen soll. Erstaunt über meine Beschwerde zieht sie die Nase kraus und antwortet schnippisch: "Das dauert eben."

"Das ist keine Antwort auf meine Frage." Beleidigt sieht sie mich an.

"Ich weiß nicht, wie lange es dauert. Ich arbeite nicht in dem Bereich."

"Dann fragen sie nach, dafür sitzen Sie doch hier, oder etwa nicht.?" Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ist sie eindeutig anderer Meinung, aber sie steht auf und verschwindet für kurze Zeit. Als sie zurückkommt, erklärt sie mir mit gleichgültiger Miene, dass es noch gut und gerne anderthalb Stunden dauern kann.
“Darauf werde ich nicht warten."

"Das werden Sie wohl müssen!"
"Gar nichts muss ich. Geben Sie mir einen neuen Termin für die NLG und wehe Ihnen, ich komme dann nicht pünktlich an die Reihe."
Pampig erklärt sie mir, das sei unmöglich.

"Ich möchte Dr. L. sprechen, und zwar sofort," erkläre ich ihr.

Jetzt schaut sie doch ein bisschen unsicher. Aha, da habe ich wohl die empfindliche Stelle getroffen.
Mit säuerlichem Gesicht zieht sie aus einer Schublade ein Buch mit der Aufschrift 'CT/NLG' hervor und schlägt es auf. Nach ein bisschen blättern, erhalte ich einen Termin für die nächste Woche.

"Na also!", rutscht es mir heraus, als sie mir den Zettel mit meinem Termin überreicht.

Am Montag suche ich wieder die Schmerztherapeutin auf. Ich bin keineswegs mit dem MST zurechtgekommen und das macht mir Angst.
Sie versteht meine Sorgen und Ängste und versucht mir einfühlsam zu erklären, dass auch mein Körper ein bisschen Zeit braucht.
Sie erhöht die Dosis auf dreimal täglich MST 30 und stattet mich mit einer Großpackung aus, da sie die nächsten vier Wochen im Urlaub ist.
Ich bekomme noch mit auf den Weg, ich könne ruhig das Metamizol und auch das Tramal dazu einnehmen.
Langsam fühle ich mich wie ein Giftschrank.

Einen Tag später heule ich mich mal wieder bei Birgit aus. Der Besuch beim Kardiologen hatte das LGL-Syndrom eindeutig nachgewiesen und jetzt war er dabei, mich gemeinsam mit meiner Hausärztin auf Verapamil einzustellen.
Birgit versteht, dass ich mich mit dem Morphin höchst unwohl fühle. Auf der anderen Seite solle ich aber auch den Vorteil sehen, wenn die Schmerzen ein wenig nachließen und ich ein bisschen Luftholen könne. Vermutlich hat sie recht, ich muss es einfach ausprobieren.

Tatsächlich lassen die Schmerzen etwas nach. Lediglich um die Einnahmezeiten zu überbrücken, brauche ich zwischendurch Metamizol und für die Nacht Tramal, weil ich sonst vor Schmerzen nicht liegen kann.

 

 


 

Kapitel 38

 

 

 

Einen Nachmittag später klingelt mein Telefon und mein Kollege Markus ist dran.
"Die Johanniter Jugend übt für den Bundeswettkampf in Erster Hilfe. Könntest du mich bei den Übungen vielleicht unterstützen?"
"Ich höre wohl nicht recht! Wie stellst du dir das denn vor?"
"Na ja, ich dachte du könntest vielleicht die Kleinen übernehmen und später dann bei den Großen Schiedsrichter spielen. Tina, ich kann nicht mit beiden Gruppen gleichzeitig trainieren. Bitte, gib deinem Herzen einen Stoß und hilf mir." Ich seufze ein bisschen und werfe schließlich doch einen Blick in meinen Terminkalender.
"Es geht bei mir aber nur morgen, wenn ihr das hinbekommt, dann von mir aus. Aber glaube nicht, dass ich irgendwelche Experimente mache, ich kann mich nach wie vor nicht richtig bewegen, ist das klar?"
"Logisch Tina, deshalb ja auch die Kleinen. Sagen wir, morgen gegen vier?"

Ich stimme zu und lege auf.
Ein bisschen ärgere ich mich. Worauf habe ich mich jetzt wieder eingelassen? Warum kann ich nicht auch mal Nein sagen?

Am nächsten Nachmittag bin ich pünktlich da und werde mit viel Hallo von der Jugend begrüßt.
Die große Jugend besteht zum größten Teil aus Sanitätshelfern. Das ist ein Lehrgang der erweiterten Ersten Hilfe, der sich über drei Wochenenden ausdehnt. Damit sind sie befähigt, bei größeren Veranstaltungen den Sanitätsdienst zu stellen. Natürlich wird von den Großen somit auch einiges an Können erwartet.
Die Kleinen haben lediglich einen Erste Hilfe-Kurs, einige von ihnen auch schon den Kurs Erste Hilfe für Fortgeschrittene.
Während die Großen sich schon mit dem Arztkoffer auskennen müssen, haben die Kleinen lediglich ihre San-Tasche. Sie enthält in größerem Umfang Verbandsmaterialien.

Den ganzen Nachmittag übe ich mit den Kleinen. Vom Auffinden einer verunglückten Person über die Diagnosestellung, bis hin zur seelischen Betreuung.
Sie müssen Druckverbände anlegen, eine HLW durchführen, sachgerecht Lagern und was es sonst noch so zu tun gibt. Zum Schluss, bevor ich bei Markus seinen großen Schiedsrichter spiele, möchte ich den Umgang mit Fremdkörpern in der Wunde sehen.
Meine Gruppe hatte sich für den Abschluss allerdings eher ein internistisches Problem vorgestellt. Da wir nicht mehr die Zeit für zwei Fallbeispiele haben, entscheide ich schließlich, sie sollen sich selbst ein Beispiel ausdenken. Auf alle Fälle aber erwarte ich den Fremdkörper in der Wunde, weil ich sehen will, ob sie diese Wunde mittels Polsterring fachgerecht verbinden können.

Es dauert eine ganze Weile, bis sie sich für einen Fall entschieden haben. Währenddessen hatten Frank und Stefanie draußen bei mir gestanden, denn sie sind für dieses Fallbeispiel das Team.
Der Fall, den sie uns endlich auftischen, ist höchst kurios: Eine ältere Dame versucht mit einem Messer ihre Tapeten von der Wand zu entfernen, dabei erleidet sie einen Apoplex und im Stürzen rammt sie sich das Messer durch die Hand. Ich bin tief beeindruckt.

Tanja spielt gekonnt die ältere Dame. Mit weitauseinander gebreiteten Beinen sitzt sie auf dem Fußboden und jammert ein bisschen vor sich hin. Sie versucht dabei, den Unterkiefer möglichst schief hängen zu lassen, was ihr verblüffend gut gelingt. In der Hand steckt tatsächlich ein Messer. Dank sei unserem Schminkkoffer, mit dem auch solche Dinge dargestellt werden können. Die Wunde blutet nur minimal, auch Blutungen sind mit dem Schminkkoffer in jeder Intensität möglich.


Frank und Stefanie begutachten die Dame. Während Stefanie beruhigend auf sie einspricht, begutachtet Frank erst einmal in aller Ruhe, was passiert ist. Das Messer hat er natürlich schnell entdeckt, lässt es aber erst mal außen vor. Der schiefe Unterkiefer bereitet ihm viel mehr Kopfzerbrechen. Nicht ein einziges Mal kommen die beiden auf die Idee, die Vitalfunktionen zu überprüfen, bis Katja schließlich fragt, wie die Vitalwerte denn seien.
Mittlerweile hat Frank zur allgemeinen Belustigung seine Diagnose gestellt. Er ist überzeugt, der Unterkiefer ist gebrochen. Irgendwie hat er mal gelernt, dass er Frakturen so weit wie möglich stabilisieren soll, aber wie macht man das bei einem Unterkiefer? Vor allen Dingen dann, wenn man nur die San - Tasche zur Verfügung hat?
Er entschließt sich den Kiefer mit einem Dreiecktuch hochzubinden. Erste leise Lacher sind zu vernehmen. Ich lasse ihn machen, geredet wird später.
Das Messer entfernt er mit der Begründung, er hätte sonst nicht verbinden können.
Mit diesem Fallbeispiel hat er wohl einen Bauchklatscher gelandet!

Dass er das Messer hätte stecken lassen müssen, leuchtet ihm nach meinen Ausführungen ein, aber den Apoplex will er auf keinen Fall als solchen erkannt haben.
Wir machen die Probe aufs Exempel.
Zwei von den Großen werden gebeten, den vorliegenden Fall zu begutachten und wenn möglich, zu versorgen. Ohne größere Probleme diagnostizieren sie den Apoplex und versorgen auch die Wunde mit Polsterringen, hergestellt aus Dreieckstüchern, so wie ich es eigentlich hätte sehen wollen. Markus nickt zufrieden. Aber auch die Großen bekleckern sich nicht gerade mit Ruhm. Markus hatte mit zwei Jugendlichen folgenden Fall vorbereitet: Ein Autofahrer fährt einen Radfahrer an, der dadurch verletzt wird. Der Radfahrer stürzt, bleibt aber über seinem Fahrrad liegen. Durch die starke Bremsung seines Wagens, wird der Autofahrer mit dem Kopf an die Windschutzscheibe geschleudert und erleidet eine Kopfplatzwunde. Somit haben Stefan und Thorsten ausreichend zu tun. Zunächst kümmern sie sich um den Autofahrer. Während sie ihm einen Notverband anlegen, lassen sie den Radfahrer für's erste unbeobachtet. Innerlich schüttel ich ein bisschen den Kopf. Aber da ich Schiedsrichter bin, notiere ich mir lediglich die Fehler. Schließlich kümmern sie sich doch noch um den Radfahrer. Anstatt ihn von seinem Fahrrad herunterzuholen und sachkundig zu lagern, so wie sie es eigentlich gelernt haben, lassen sie ihn, wie er ist und versuchen, in dieser für den Radfahrer höchst unglücklichen Position, den Blutdruck zu messen.

Mich graust es inzwischen vor den beiden.

Eine ganze Weile beschäftigen sie sich mit dem Radfahrer, ohne viel Sinnvolles zu leisten. Schließlich setzen sie einen perfekten Notruf ab und fordern damit einen Notarzt an.

Markus lässt die beiden abblitzen. Als fiktive Leitstelle teilt er ihnen mit, dass der Notarzt frühestens in zwanzig Minuten da sein kann.

Mittlerweile ist der Autofahrer hinter seinem Lenkrad zusammengebrochen, die beiden bemerken es nicht einmal. Markus macht sie darauf aufmerksam. Anstatt sich jetzt zu teilen, kümmern sie sich beide um den Autofahrer und lassen den Radfahrer ohne Aufsicht allein.

So reihen sie einen Fehler an den anderen und letztendlich teilt Markus Thorsten und Stefan mit, dass der Radfahrer glücklich verstorben ist. Die Kleinen amüsieren sich prächtig, während ich nun wirklich ganz offiziell den Kopf schüttel. Sechsundzwanzig Fehler habe ich gezählt, mir ist schleierhaft, wie sie damit auf den Bundeswettkampf gehen wollen. Während ich die Fehler herunterbete, werden die beiden immer blasser.

Jörg, der die ganze Zeit über dem gestürzten Fahrrad hing, pflaumt jetzt seinerseits die beiden an. Die Lage war ja auch höchst unbequem für ihn. Zum Schluss spielen wir den Fall noch einmal gemeinsam durch und die beiden lernen, dass man keinen Verletzten aus den Augen lassen darf, dass eine richtige Lagerung lebensrettend sein kann, dass man regelmäßig die Vitalwerte kontrolliert und sich vor allen Dingen erst mal ein Bild über die Verletzungen und den Allgemeinzustand der Opfer macht. Eines ist jedenfalls klar und das bekommen die beiden auch deutlich von mir gesagt, wenn sie im September in den Wettkampf gehen wollen, haben sie noch ein hartes Stück Arbeit vor sich.

Letztendlich mag ich aber nicht so sein. Ich verspreche Markus, mit den Großen die Theorie zu büffeln, allerdings müssen sich die zwölf dann schon zu mir nach Hause bemühen. Markus nickt zufrieden. Wahrscheinlich war das genau das, auf was er letztendlich hinaus wollte und ich bin natürlich wieder voll in die Falle gelaufen.

 


 

Kapitel 39

 

Kapitel 39

 





Am Freitag darauf ist der Termin zur NLG an der Reihe. Offenbar bin ich der Sprechstundenhilfe sehr gut im Gedächtnis geblieben, denn ich muss gar nicht erst ins Wartezimmer. Auf direktem Weg werde ich ins Untersuchungszimmer geleitet.
Die junge Dame, die hier tätig ist, begrüßt mich freundlich und bittet mich, Hose und Strümpfe auszuziehen. Vorsichtshalber weist sie mich daraufhin, dass ich alle Metallgegenstände ablegen soll, insbesondere aber meine Armbanduhr, weil es passieren könnte, dass diese nach erfolgter Untersuchung nicht mehr funktioniert.
Am Abend vorher hatte ich mit Ralf telefoniert. Ich wollte wissen, ob die NLG ähnlich ablaufen würde wie die EMG im April. Ralf hatte mir dieses bestätigt und so nehme ich mit höchst gemischten Gefühlen auf dem für mich sehr unbequemen Sessel Platz.
Tatsächlich klebt die junge Dame erst mal Elektroden auf mein rechtes Bein. Nachdem sie ihren Computer startklar hat, erklärt sie mit einem freundlichen Lächeln, dass sie mir nun Stromstöße verabreichen wird. Irgendwie habe ich ja geahnt, dass das jetzt kommt.
Anfangs ist es gar nicht so unangenehm und auch als die Stromstöße ohne Vorwarnung kommen, ist es noch erträglich. Die EMG im April erschien mir wesentlich schlimmer.
Aber das dicke Ende naht schließlich doch. Natürlich hat auch der Neurologe Spaß daran, mir Nadelelektroden ins Bein zu stechen. Bedingt durch die Stromstöße hebe ich fast ab. Im Stillen frage ich mich mal wieder, warum ich mich auf solche Sachen eigentlich immer wieder einlasse. Aber es liegt natürlich daran, dass ich endlich einmal nicht zu hören bekommen möchte, dass ich ein Hypochonder bin.
Dr. L. ist schnell fertig mit seiner Quälerei. Die linke Seite ist aber noch dran, schließlich muss man ja Vergleiche ziehen können. Auch das schaffe ich noch und bin heilfroh, als er mir die Nadeln aus dem linken Bein wieder entfernt. Das hätten wir, denke ich erleichtert. Aber wenn ich mir eingebildet habe, dass sei es gewesen, werde ich schwer enttäuscht.
"Hatten Sie schon einmal epileptische Anfälle?", fragt mich Dr. L.
Ich nicke.
"Sie hatten? Wann denn?"
"Im Alter von vier bis sechs Jahren, nach meiner ersten Meningitis," erkläre ich ihm.
"Und danach nie wieder?"
Ich schüttele den Kopf.
"Wann sind Sie denn das letzte Mal untersucht worden in der Richtung?"
"Das ist schon mehr als acht Jahre her. Als ich in den Rettungsdienst gehen wollte."
"Und da war alles in Ordnung?"
"Ja sicher, ich hätte sonst den Ausbildungsplatz im Rettungsdienst nicht bekommen."
Dr. L. nickt ein bisschen nachdenklich: "Nun ja, dann können wir es wohl wagen, die Untersuchung
fortzusetzen."
Fortsetzen? Was meint er denn damit? Ich war doch sicher, das wäre es jetzt gewesen. War es aber wohl nicht.
Dr. L. klebt mir eine Elektrode an den rechten Fuß, während seine hübsche Assistentin mit einem Metallteil an meinem Kopf steht. Das merkwürdige Ding, dass sie in der Hand hält, sieht tatsächlich aus, wie eine Elektrode vom Defibrillator. Mir wird ein wenig mulmig.
"Frau S. hat eine weitere Elektrode in der Hand. Wenn ich ihr ein Kommando gebe, wird sie an Ihrem Kopf einen Stromstoß auslösen, der sich vom Scheitelpunkt bis in die Fußspitzen ausdehnen wird."
Frau S. steht parat und Dr. L. gibt ihr ein Zeichen.
Nichts passiert. Dr. L. sieht seine Sprechstundenhilfe fragend an, die daraufhin den Kopf schüttelt:
"Es funktioniert nicht."
"Wieso nicht?"
"Das weiß ich doch nicht!", antwortet sie mürrisch.
Dr. L. steht von seinem Platz auf und nimmt ihr die Elektrode aus der Hand.
"Man sollte auch den Schalter auf 'On' stellen, wenn es funktionieren soll. Ja ja, sind die Frauen schön und ansehnlich, sind sie leider dumm und wenig ehrbar. Sind die Frauen klug und ehrlichen Gemütes, sind sie leider wenig schön."
"Sehr witzig," antwortet Frau S.
Dr. L. lächelt ein bisschen und meint: "Das ist nicht von mir, das ist von Goethe."
"Das ist nicht von Goethe," werfe ich ein.
"Ist es nicht? Na ja, dann ist es eben von Schiller."
"Fast! Es ist von Shakespeare. Und zwar aus dem Stück 'As you like it' oder anders 'Wenn es euch gefällt'. Rosalind bekommt das von Celia gesagt."

„Donnerwetter, haben Sie etwa etwa Shakespeare gelesen?"
"Sicher." Ein höchst erstaunter Blick trifft mich.
"Was es alles gibt. Wie kann man freiwillig Shakespeare lesen? Unvorstellbar! Na schön, aber die Elektrode sollte jetzt funktionieren. Versuchen wir es noch einmal."


Erneut bekommt Frau S. ein Zeichen. Was dann kommt, habe ich in dieser Form noch nie erlebt. Ich fühle mich wie auf dem elektrischen Stuhl. Ein heftiger Stromstoß schießt von den Haar - bis zu den Zehenspitzen durch meinen Körper, eine höchst schmerzhafte Angelegenheit. Wieder mal steigen mir die Tränen in die Augen, da hilft mir auch Shakespeare nicht weiter.

Noch dreimal wiederholt sich das Ganze, dann ist Dr. L. endlich zufrieden und lässt wieder von mir ab. Ich bin aber auch ausreichend bedient.

"Sie können noch einen Moment im Wartezimmer Platz nehmen, ich muss die Messung nur eben auswerten."

"Wie lange werden Sie dafür brauchen?", frage ich zurück.

"Ich schätze, etwa zwanzig Minuten," ist die Antwort.

"Gut, ich werde auf keinen Fall länger warten," erkläre ich ihm. Dr. L. sieht mich ein bisschen verblüfft an, sagt aber nichts.

 

Nach einer Viertelstunde werde ich in Dr. L.s Sprechzimmer gebeten. Der Schreibtisch ist noch genauso unaufgeräumt wie letzte Woche. Unter dem ganzen Wust von Zetteln fördert Dr. L. ohne Probleme das Blatt zutage, auf dem er sich in der vergangenen Woche Notizen zu meinem Fall gemacht hat. Offenbar herrscht hier das geordnete Chaos.

Dr. L. sieht mich ein bisschen nachdenklich an und räuspert sich schließlich: "Also, die Schmerzen scheinen tatsächlich von der Wurzel S1 herzurühren. Ich denke allerdings, das dort nicht der Ursprung Ihrer Erkrankung sitzt. Leider kann ich Ihnen auch nicht sagen, was Ihnen nun konkret fehlt. Wie ich meinen Unterlagen entnehme, nehmen sie seit fast vierzehn Tagen MST 30 ein. Wie hilft es?"

"Mit zwei MST 30 am Tag bin ich nicht hingekommen, deshalb nehme ich jetzt drei. Aber auch bei der Dosierung brauche ich andere Schmerzmittel dazu, weil eine Kapsel eine Höchst- Wirkungsdauer von fünf Stunden hat."

"Also ich denke mal, dass Sie mit dem MST auf Dauer nicht zurechtkommen werden. Ich würde Ihnen stattdessen lieber ein Antidepressivum verordnen."

"Feine Idee! Ich darf nur leider kein Antidepressivum einnehmen, da ich an einem LGL-Syndrom leide."

"Ach was, das kann nicht so schlimm sein. Nehmen sie eben einfach Verapamil dazu, dann wird es schon funktionieren."

"Ich nehme bereits 320 mg Verapamil am Tag. Was soll ich Ihrer Meinung nach tun? Die doppelte Menge einnehmen?"

"Na sehen Sie, wenn Sie schon Verapamil einnehmen, dann ist das doch gar kein Problem."

"Sie sollten vielleicht mal die Beipackzettel der Antidepressiva durchlesen, dann würden Sie wissen, das ein Antidepressivum lebensgefährlich für mich werden kann. Tut mir leid, aber darauf werde ich mich auf gar keinen Fall einlassen."
"Ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Entweder man soll Ihnen helfen oder eben nicht. Das müssen Sie nun wohl alleine entscheiden. Ich jedenfalls denke, eine wirkungsvolle Schmerzlinderung erreichen Sie nur mit den Antidepressiva."
"Auf die Idee ist mein Orthopäde auch schon gekommen. Aber er hat aufgrund des LGL-Syndroms Abstand von dieser Idee genommen. Ich will und werde das nicht ausprobieren!"

“Dann weiß ich leider nicht, wie ich Ihnen helfen kann. Ich bin der Ansicht, das die Antidepressiva nicht das Schlimmste sind."
"Wenn Sie dieser Ansicht sind, werde ich meinen Kardiologen anrufen und ihn um Rat bitten. Wenn er zu dem Schluss kommt, dass ich die Antidepressiva ohne Bedenken nehmen kann, können wir uns gerne noch einmal über diese Möglichkeit unterhalten. Bis dahin werde ich lieber das MST weiternehmen."
"Sie sind aber auch ein stures Frauenzimmer. So etwas habe ich ja während meiner gesamten Laufbahn noch nicht erlebt. Ich kann es nicht leiden, wenn der Patient schlauer sein will, als der Arzt."
"Nun, dann sollten Sie sich aber schnell daran gewöhnen. Wenn ich nämlich meine, im Recht zu sein, dann versuche ich, mich mit allen Mitteln durchzusetzen. Bisher hat das immer prima geklappt. Und wenn ich mir nicht sicher bin, lese ich mir das nötige Wissen eben an."
"Und jetzt meinen Sie, Sie wären im Recht, ja? Wer von uns beiden hat denn nun Medizin studiert?"
"Sie! Daran habe ich auch keine Zweifel. Aber nur deswegen müssen Sie nicht zwangsläufig immer Recht haben."

Dr. L. schüttelt den Kopf und entlässt mich schließlich mit den Worten: "Wenn Sie mit Ihrem Kardiologen telefoniert haben, können Sie mich ja gerne noch einmal anrufen. Wir schicken Ihnen das Rezept natürlich auch zu. Ansonsten sehen wir uns in vier Wochen wieder. Ich bin absolut sicher, dass Sie Ihre Meinung noch ändern."

Als ich die Praxis verlasse, schüttele ich unwillkürlich mit dem Kopf. Mir ist jetzt schon klar, was mein Kardiologe sagen wird und behalte Recht. Seine Reaktion auf meine Frage ist eindeutig:
"Selbstverständlich können Sie Antidepressiva einnehmen; immer unter der Voraussetzung, Sie wollen sich umbringen oder umbringen lassen. In jedem Beipackzettel steht doch ganz deutlich drin, dass diese Medikamente bei bestehenden Herzerkrankungen, insbesondere wenn sie das
Reizleitungssystem betreffen, nicht eingenommen werden dürfen. Das hat doch alles seinen Sinn!
Wieso muss dieser Typ sich über alles hinwegsetzen. Mit ein bisschen Verantwortungsbewusstsein hätte er mich selbst angerufen. Stellen Sie sich nur mal vor, Sie wären nicht so eine selbstbewusste Patientin und hätten dem Drängen nachgegeben. Ich mag nicht daran denken, wie das im schlimmsten Fall hätte ausgehen können. Und jetzt werde ich den Herrn Kollegen selbst anrufen.“

 

Auch mein Orthopäde schüttelt den Kopf, als ich ihm von meinem Besuch beim Neurologen berichte. "Warum liest er denn nicht mal den Beipackzettel? Da steht doch ganz groß drin, dass Herzkranke diese Medikamente nicht einnehmen dürfen! Also, manche Kollegen verstehe ich wirklich nicht."

Ich verstehe manche Ärzte auch nicht. So locker damit umzugehen, ist doch wirklich schon fahrlässig.

 

 


 

 

Kapitel 40

Am nächsten Nachmittag kommt Sarah zu mir, weil ihr kalt ist. Ich sehe meine Tochter ein bisschen erstaunt an. Draußen haben wir 30 Grad im Schatten und Sarah friert? Irgendetwas stimmt da nicht. Ich ziehe Sarah auf meinen Schoss und fühle ihre Stirn. Eigentlich fühlt sie sich ganz normal an. Was ist los mit ihr? Sarah lässt sich von mir überreden, sich ein bisschen hinzulegen. Vielleicht war sie ja doch ein wenig zu lange in der Sonne. Zehn Minuten später steht Sarah wieder vor mir und möchte eine Wolldecke, weil ihr schrecklich kalt ist. Also wickele ich meine kleine Tochter in eine Wolldecke und setze mich ein bisschen zu ihr. Nach einer kleinen Weile ist Sarah eingeschlafen. Das ist alles höchst eigenartig. Als Sarah gegen Abend aufsteht, glüht sie wie ein Backofen. Ihr ist deutlich anzusehen, dass sie hohes Fieber hat, als wenn ich so etwas nicht geahnt hätte.

Während Filius sich um seine kleine Schwester bemüht und ihr Tee einflößt, rufe ich Birgit an. Es ist Wochenende und normalerweise mache ich das nicht, aber ich bin mir sicher, das Birgit mich versteht.

Schon eine Viertelstunde später klingelt Birgit an der Haustür. Sarahs Temperatur ist auf 40,2 Grad angestiegen und sie fühlt sich natürlich entsprechend schlecht. Birgit untersucht sie gründlich und entscheidet dann, dass Sarah ein Antibiotikum benötigt. "Sie hat einen schlimmen Infekt. Ich habe keine Ahnung, um welchen Erreger es sich handeln könnte, deshalb probieren wir es mit einem Breitbandantibiotikum. Du rufst mich sofort an, wenn sich Sarahs Zustand verschlechtert oder du sonst irgendwie beunruhigt bist, hörst du?"

"Aber du hast Wochenende, Birgit."

"Für euch nicht. Ich bin da, wenn du meine Hilfe brauchst. Ruf mich aber auch wirklich an, ja?" "Ich werde schon aufpassen, dass sie es tut." Filius ist hereingekommen, wir haben ihn beide nicht gehört.

"Gut das du zu Hause bist, Filius. Pass vor allen Dingen auf deine Mutter auf. Wenn es darauf ankommt, ist ihr Rücken nämlich plötzlich unwichtig. Pass auf, dass sie Sarah nicht durch die Wohnung trägt oder sonst irgendetwas Verrücktes macht." Filius nickt und wirft mir einen Blick zu, der jede Widerrede im Keim erstickt. Eigentlich dachte ich, Sarah sei krank. In der Nacht geht es Sarah immer schlechter, Letztendlich greifen wir doch zum Telefon und rufen Birgit wieder an.
Als hätte sie mit diesem Anruf gerechnet, ist sie fast sofort am Telefon und wenige Minuten später steht sie schon vor der Haustür. Sie kann unmöglich im Bett gewesen sein.
Sarah sitzt aufrecht im Bett und versucht krampfhaft Luft zu holen. Tränen der Verzweiflung laufen über ihre Wangen. Mit dem Oberkörper lehnt sie sich an Filius, der sie zärtlich streichelt.
Birgit horcht Sarah kurz ab und entscheidet dann, das Kind muss ins Krankenhaus. Es kommt keineswegs überraschend, irgendwie hatte ich damit gerechnet.
Allerdings bin ich ein bisschen ratlos, was wir derweil mit Amrei und Tim anfangen sollen. Michael ist mal wieder nicht zu Hause.
Birgit erklärt sich sofort bereit, bei uns zu hüten. Ihr ist völlig klar, dass ich Sarah nicht in die heimische Kinderklinik bringen werde, sondern in eine Kinderklinik, für die wir eine Anfahrt von sechzig Kilometern in Kauf nehmen müssen. Unsere heimische Kinderklinik hat einen denkbar schlechten Ruf und in der letzten Zeit hat sie auch einige Kunstfehlerprozesse verloren. Ich möchte auf keinen Fall ein Risiko eingehen.
So mache ich mich dann also mit Filius, der uns fahren muss, und Sarah auf den Weg. Ich sitze hinten, mit Sarah neben mir und versuche, sie ein bisschen zu stützen, was dazu führt, dass sich der Schmerz in meinem Rücken verstärkt.

Als wir in der Kinderklinik eintreffen, sind wir alle drei völlig erledigt. Aber wir werden überaus freundlich in Empfang genommen.

Sarah wird sofort fachmännisch betreut und versorgt, während Filius und ich daneben stehen dürfen. Immer noch hält Filius die Hand seiner kleinen Schwester.
"Sind Sie auch ein Verwandter?", fragt Dr. D. Filius. Filius lächelt Dr. D. an und nickt:
"Ich bin der Bruder."
"Der Bruder?!" Dr. D. schaut einigermaßen erstaunt. "Wie viel Jahre sind sie denn mit Ihrer kleinen Schwester auseinander?"
"Sechzehn Jahre," erklärt mein Großer selbstbewusst.
"Du meine Güte, das ist natürlich eine ganze Menge. Funktioniert das denn?"
"Klar, meine kleinen Geschwister hängen mit einer wahren Hingabe an mir. Aber ich gebe mir ja auch alle Mühe, der nette, große Bruder zu sein."
"Was es alles gibt. Aber die Rolle des großen Bruders scheint Ihnen gut zu gefallen."
"Worauf Sie sich verlassen können."
Ich muss ein bisschen lächeln, aber Filius ist wirklich mit Leib und Seele großer Bruder.

Inzwischen ist Sarah so weit versorgt, dass sie ins Bett verfrachtet werden kann. Da das Fieber sehr hoch ist und sie so schwer Luft bekommt, ist sie ans Monitoring angeschlossen. Außerdem baumeln zwei Infusionen über ihrem Bettchen. Sarah belastet das im Moment nicht, sie ist eingeschlafen.
Natürlich will ich bei meiner Tochter bleiben, aber Filius hatte Birgit versprochen, auf mich aufzupassen und genau das tut er jetzt.
"Mum, du kannst jetzt nicht hier bleiben. Es ist gleich fünf Uhr früh und um sechs sind deine Medikamente an der Reihe. Du hast sie nicht hier und wenn du sie nicht einnimmst, dann kommst du nicht zurecht. Sei also bitte vernünftig. "
Dr. D. sieht mich erstaunt an.
"Sie sind auf Medikamente angewiesen?"
Ehe ich antworten kann, schaltet sich Filius ein.
"Meine Mutter hat eine ganz üble Wirbelsäule Geschichte. Sie nimmt aufgrund dieser Erkrankung sehr starke Schmerzmittel, unter anderem MST 30 und das dreimal täglich. Sie ist auf eine genaue Einnahmezeit angewiesen. Aber natürlich hat sie keines der Medikamente mitgenommen."

Dr. D. sieht mich mitleidig an und nickt dann bedächtig mit dem Kopf.
"Ihr Sohn hat recht. Wenn Sie bereits auf eine so hohe Dosis MST angewiesen sind, werden die Schmerzspitzen eine Quälerei, wenn sie jetzt hier bleiben. Ihre Tochter ist doch gut aufgehoben bei uns. Sie sollten wirklich nach Hause fahren und außerdem denke ich mir, dass sie vermutlich die ganze Nacht hoch gewesen sind, hm? Sie sollten nicht nur Ihre Schmerzmittel einnehmen, Sie sollten auch ein bisschen schlafen. Fahren Sie nach Hause, ruhen Sie sich aus und kommen dann wieder. Ich verspreche Ihnen, wenn sich irgendetwas mit Sarah ergibt, werden wir Sie sofort verständigen. Es bringt wirklich nichts wenn Sie sich hier am Ende auch noch herumquälen müssen. Nun, was meinen Sie?"
Ich nicke nach einigem Zögern. Sicher haben Filius und Dr. D. recht. Also mache ich mich mit Filius erst mal auf den Heimweg, allerdings mit sehr gemischten Gefühlen.

Zu Hause eingetroffen, lässt Filius nicht locker. Er kocht mir einen Tee und scheucht mich schließlich mit Birgits Unterstützung ins Bett. Ich gebe nach und bin dann doch froh, in meinem Bett zu liegen. Irgendwann schlafe ich wohl auch ein.

Als ich wieder wach werde, ist das Haus auffällig ruhig. Ich muss erst einmal überlegen, was überhaupt los war. Sarah! Ich bekomme einen riesigen Schreck. Wie mag es ihr
gehen?
So schnell wie ich möchte, komme ich nicht aus dem Bett. Das ist aber absolut normal, wenn ich längere Zeit gelegen habe. Nicht nur das der Rücken heftig schmerzt, ich bin dann auch noch so steif wie ein Stück Holz. Mühsam drehe ich mich aus meinem Bett heraus. Endlich kann ich nachsehen, warum es im Haus so ruhig ist.

In der Küche liegt ein Zettel auf dem Tisch;
Liebste Mum!
Tim und Amrei sind bei Christina. Ich bin zu Sarah gefahren, bin aber gegen sechs spätestens zurück. Gruß und Kuss, dein Filius!

Na so was! Da ist mein Sohn tatsächlich ohne mich zu seiner kleinen Schwester gefahren.
Wie spät ist es denn überhaupt? Als ich einen Blick auf die Küchenuhr werfe, bekomme ich den nächsten Schreck: Es ist kurz nach halb fünf! Das bedeutet, dass ich den ganzen Tag verschlafen habe. So war das eigentlich nicht geplant.

Nach dem Duschen und Anziehen mache ich mich auf den Weg zu Christina. Meine Freundin wohnt schräg gegenüber und hütet öfter meine Kinder. Sie selbst hat einen vierjährigen Sohn, der genau wie mein Großer Renè heißt.
Christina liegt auf ihrer Terrasse im Liegestuhl und begrüßt mich mit einem Lächeln. "Na, du Schlafmütze. Hast du endlich ausgeschlafen?"
"Hallo Christinchen. Wann ist Filius denn zu Sarah gefahren?"
"So gegen zwölf, schätze ich. Er wollte dich nicht wecken. Wie geht es dir denn?"

"Ich habe Rückenschmerzen, wie immer. Aber diesmal liegt es wohl eher daran, dass ich meine Mittagsration an Medikamenten nicht eingenommen habe."
"Nimm sie doch jetzt."
"Das geht nicht. Ich würde meinen ganzen Einnahmeplan durcheinanderbringen, wenn ich jetzt die Medikamente nehmen würde."
„Wie lange willst du denn warten?"
"Gegen sieben Uhr kann ich das Novamin und das Tramal nehmen. So lange werde ich mich gedulden müssen."

„Deine Disziplin in allen Ehren, aber übertreibst du es nicht ein bisschen? Nun, wie auch immer: Ich werde dir jetzt etwas zu essen machen und dir einen Tee aufbrühen und dann warten wir gemeinsam auf Filius, was meinst du? Du bist ihm doch nicht böse, dass er ohne dich gefahren ist?”
"Im ersten Moment war ich schon ein bisschen böse, aber der Zorn ist schnell verraucht. Wenn er auf mich gewartet hätte, wären wir jetzt noch nicht bei Sarah. Obwohl er mich ja auch hätte wecken können."
"Na ja, du wirst es überleben."
"Ich dachte, die Kinder sind bei dir. Wo stecken sie denn?"
"Drüben bei Herman und spielen mit dem Hund. Ich wundere mich immer wieder, dass dieses Riesenvieh im Umgang mit Kindern so zärtlich ist. Man sollte meinen, ein Haps und die Kinder wären weg."
Wir müssen beide lachen. Aber Christina hat schon recht. Hermans Neufundländer ist ein wahres Ungetüm, aber Kinder liebt er über alles, ganz besonders unsere.

Kurz nach sechs Uhr hält Filius mit quietschenden Reifen vor Christinas Gartentür.
"Wie geht es Sarah?" Ich kann es nicht abwarten und rufe ihm diese Frage schon von Weitem zu.
"Es geht ihr wieder einigermaßen gut. Das Fieber ist ein bisschen runter, aber sie hat Hals - und Bauchschmerzen. Dr. D. meint aber, dass sie das bald in den Griff kriegen. Wir können morgen wieder hinfahren."
"Morgen?! Du hast morgen Vorlesung, mein Sohn!"
"Ja, weiß ich doch, aber ich habe schon in Göttingen bei Melissa angerufen und ihr gesagt, dass ich heute nicht zurückkomme, sondern zuhause bleibe."
"Du brauchst nicht hierzubleiben, kümmer dich lieber um dein Studium,"
"Mum, jetzt kümmere ich mich um dich und Sarah. Michael glänzt ja leider mal wieder durch Abwesenheit. Hast du ihn eigentlich erreicht?"
"Ich habe es noch gar nicht versucht. Ich habe ja auch bis halb fünf geschlafen."
"Bis halb fünf? Klasse! Du solltest vielleicht tagsüber schlafen statt nachts. Offenbar schläfst du tagsüber besser."
"Sehr witzig! Erzähl mir lieber, ob sie jetzt inzwischen wissen, was Sarah eigentlich hat."

"So ganz noch nicht. Sie haben Kulturen angesetzt. Dr. D. meint aber, sie hat vermutlich einen Streptokokkeninfekt. Aber wir müssen jetzt abwarten, was dabei herauskommt."
Ich verabschiede mich von Christina und mache mich mit Filius auf den Heimweg. Mühsam setze ich einen Schritt vor den anderen. Ich merke nun doch ganz empfindlich, dass ich am Nachmittag das Morphin nicht eingenommen habe.
"Du hast Schmerzen, ja?" Filius bleibt stehen und betrachtet mich nachdenklich.
"Merkt man mir das an?"
"Allerdings, du kannst ja kaum einen Schritt vor den anderen setzen. Ich hätte dich wohl doch besser wecken sollen."
„Ach lass nur. Dafür habe ich ja wunderbar geschlafen."

"Kannst du die Medikamente nicht jetzt gleich nehmen?"
"Nein, das bringt mich dann ja vollends durcheinander. Ich habe nun einmal feste Einnahmezeiten und das ist auch gut und richtig so."

Endlich in unserem Garten angelangt, habe ich das Gefühl, keinen Schritt mehr weiter zu können. Völlig erschöpft lasse ich mich auf eine unserer Liegen im Garten nieder.
"Mum, du siehst gar nicht gut aus."
"Es geht gleich wieder, Filius. Lass mich einfach einen Moment in Ruhe, okay?"

"Soll ich dir eine Decke holen?"
"Bei den Temperaturen? Bist du wahnsinnig? Ich brauche einfach nur einen Moment Ruhe."

Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist, aber nach einer Weile komme ich wieder auf die Beine. Ich habe nur den Wunsch, mich auf mein Bett zu legen und mich so weit wie irgend möglich zu entspannen. Es fällt mir schwer, die Treppe hinauf zu kommen, aber schließlich habe ich es geschafft. Völlig erledigt schließe ich die Augen. Kurze Zeit später entscheide ich mich, zumindest das Metamizol zu nehmen.

Ich bin noch beim Abzählen der Tropfen, als es leise an die Tür klopft.
"Darf ich dich stören, Mum?" Filius steckt den Kopf zur Tür herein.
"Komm ruhig rein, es geht wieder etwas besser. Was gibts denn?"
"Paps ist am Telefon," Filius hält mir das Telefon her.

"Hast du ihn angerufen?"
Filius nickt und verzieht sich.
"Hallo Michael," murmel ich ins Telefon.
“Tinchen, hallo mein Schatz. Filius sagt, es geht dir nicht gut?"
“Ich habe heute Nachmittag meine Medikamente nicht genommen, dass merke ich jetzt ganz empfindlich. Hat er dich wegen Sarah angerufen?"
"Ja, aber er sagt, es geht ihr schon wieder besser. Das stimmt doch hoffentlich?"
"Wenn Filius es sagt, wird es sicherlich so sein. Auf jeden Fall war es ein ganz schöner Schreck."
“Das will ich gerne glauben. Bist du sicher, dass du ohne mich auskommen kannst. Ich könnte den Chef anrufen. Er kann sicherlich eine Ablösung schicken, was meinst du?“

"Ach komm, hör auf mit dem Quatsch. In drei Tagen bist du doch sowieso wieder zu Hause. Sarah geht es bestimmt bald besser."
"Ja, Sarah und was ist mit dir?"
"Ich schaffe das schon."
"Ich mache mir Gedanken, Liebes. Eigentlich sollte ich doch wohl bei dir sein. Stattdessen musst du immer alles alleine schaffen. Ich habe ein schrecklich schlechtes Gewissen. Immer sagst du, du schaffst das schon, aber schaffst du es wirklich?"
"Michael, bitte! Ich werde das schon hinkriegen. Es hat doch immer funktioniert, warum sollte es denn diesmal nicht funktionieren. Und wir haben doch genug Freunde, die ich notfalls anrufen kann. Mache dir bitte keine Sorgen um mich. Und wenn alle Stricke reißen, ich schwöre, ich rufe dich an. Aber dann musst du auch wirklich herkommen."
"Das verspreche ich dir. Kann ich momentan irgendetwas für dich tun?"
"Ja, fahr vorsichtig und grübel nicht so viel. Wir haben doch schon ganz andere Sachen geschafft, oder?"

Kurz nachdem ich das Gespräch mit Michael beendet habe, klopft es wieder an meine Tür. Filius bringt mir einen Tee.
"Mum, geht es dir etwas besser?"
"Ich werde meditieren. Ich denke, dann bekomme ich es in den Griff. Kannst du vielleicht dafür sorgen, dass mich die Kinder nicht stören?"
"Klar doch! Wie lange soll ich sie dir vom Leib halten?"

"Sagen wir mal eine Stunde. Und dann können wir zu Abend essen."
"Viel Vergnügen!"

Für meine Kinder ist es nichts Ungewöhnliches, dass ich in besonderen Situationen meditiere. Wenn es mir angebracht erscheint, beziehe ich die Kinder in meine Meditationen mit ein. Wir meditieren häufig abends vor dem Schlafengehen, wenn die Kinder vom Tag noch zu aufgekratzt sind. Es funktioniert wunderbar und im Haus herrscht schnell Ruhe. Jetzt im Sommer ist das aber meistens unnötig, denn von der Toberei an der frischen Luft, sind die drei regelmäßig so geschafft, dass sie schon am Schlafen sind, wenn sie sich noch ausziehen.
Ich lege mir eine CD mit chinesischer Musik in den CD-Player und nehme meine derzeitige Lieblingsposition ein: Stufenlagerung, die Arme liegen leicht angewinkelt neben dem Körper.
Es dauert gar nicht lange und die Musik trägt mich fort. Ich habe das Gefühl, im Rhythmus meiner Atmung zu schweben.
Es ist keineswegs so, dass die Schmerzen verschwinden, aber sie stören mich nicht mehr. Wenn die Meditation funktioniert, aktiviere ich meine gesunden Energien und schalte die krankmachenden aus. Trotz der Schmerzen setzt eine Art von Wohlbefinden ein und die nächsten Stunden sind leichter zu ertragen. Entscheidend ist aber, dass ich während der Meditation von niemandem gestört werde. Die kleinste Störung kann ausreichen und die aufgebaute Entspannung bricht zusammen, das wäre sehr ärgerlich. Dieses Problem habe ich häufiger während der Akupunktur. Gerade hier ist die totale Entspannung wichtig und wünschenswert. Sie kann problemlos mit der richtigen Meditationstechnik erreicht werden. Leider kommt es immer wieder vor, dass irgendjemand in den Behandlungsraum gestürmt kommt, und dann ist die Meditation dahin.
Aber nirgendwo ist das Meditieren leichter als zu Hause, wenn meine Familie informiert ist und mir dann die notwendige Ruhe gönnt. So wie heute.

Als die CD zu Ende ist, muss ich mich innerlich erst wieder sortieren. Nach einer erfolgreichen Meditation kann man nicht einfach die Augen aufmachen und das wars. Man braucht erstmal einen Moment, um zu sich selbst zu finden. Ich genieße gerade auch die Phase des Aufwachens ganz
besonders, so auch jetzt, bis ich plötzlich den Eindruck habe, ich werde beobachtet.
Tatsächlich, mein Eindruck hat nicht getrogen. Bernd sitzt gemütlich in meinem Schaukelstuhl und beobachtet mich. "Oh nein, wo kommst du denn her?"
"Filius hat mich reingelassen."

"Filius?! Aber er hat doch gewusst, dass ich meditiere."

"Ich fand das ausgesprochen interessant. Du hast ausgesehen, als wärest du in Trance. Der Atem wurde immer langsamer und tiefer.“
„Ich habe nicht gehört, dass du hereingekommen bist.”
"Kein Wunder, ich bin auf Zehenspitzen geschlichen; vor allen Dingen weil Filius gesagt hat, du reißt mir und ihm den Kopf ab, wenn du gestört wirst. Aber du warst so weit weg, du hast gar nichts mehr mitgekriegt. Ehrlich, Tina, so was habe ich noch nie gesehen. Wie machst du das?"
"Wie mache ich was?"
"Na, diese totale Entspannung. Ich staune immer noch. Ich habe so etwas in dieser Form noch nie gesehen."

"Das ist reine Übungssache. Du musst bereit sein, dich loszulösen, dann ist es gar kein Problem mehr."

"Und von was löst du dich los?"
"Von den negativen Energien."
"Du klingst ein bisschen wie ein Guru. Negative Energien! wirst du deine Schmerzen damit los?"
"Nein, aber sie belasten mich nicht mehr so wie vorher."

"Wieso schaffst du es nicht, dich von den Schmerzen zu lösen? Ist das überhaupt möglich?"
"Ja, ist es. Ich habe das in Afrika oft beobachtet. Wir haben dort operiert, nachdem sich die Patienten vorher durch Meditation in Trance versetzt hatten. Das war oft nötig, weil unsere Narkosemittel meistens nicht aus reichten. Allerdings glaube ich, dass nur echte Naturvölker dazu in der Lage sind. Ich denke, wir Zivilisation Menschen schaffen das nicht mehr. Wir sind gedanklich zu sehr auf Hilfsmittel eingestellt, wie zum Beispiel Medikamente. Dieses Denken können wir aus unserem Hinterstübchen nicht entfernen."
"Wenn ich dich hier so beobachte, habe ich das Gefühl, dass man das durchaus wieder erlernen kann."
"Nein, kann man nicht. Ich bin schon auf einem sehr hohen Level, was das Meditieren anbelangt, aber ich glaube, viel mehr kann ich aus mir nicht herausholen, so schade wie es ist.“
"Wie oft in der Woche machst du das?"
"Ich habe keinen Stundenplan. Ich meditiere, wenn mir danach ist. Das heißt, zwei bis dreimal die Woche mache ich es allerdings doch gezielt."
"Wann?“
"Wenn ich Akupunktur habe. Aber das ist wieder eine ganz andere Meditationstechnik."
"Bewirken sie denn nicht alle dasselbe?“
"Nein, was ich eben gemacht habe, war eine Tiefenmeditation zur Schmerzbekämpfung. Bei der Akupunktur verwende ich eine Form der oberflächlichen Kurzmeditation zur Verstärkung der Akupunktur Wirkung. Die Form, die ich während der Akupunktur durchführe, wäre ohne Akupunktur zwecklos. Da greifen Meditation und Nadelung wie Zahnrädchen ineinander, verstehst du? Das eine wäre ohne das andere nur die Hälfte wert, oder gar nichts."
"Wo hast du das bloß alles gelernt? Ich bin immer wieder fasziniert.“
"Bei meinem Freund Hsan und ich bin froh darüber. Es handelt sich um chinesische Formen der Meditation. Man muss sich sehr konzentrieren und darf sich nicht ablenken lassen. Deshalb ist es ja auch so wichtig, dass man nicht gestört wird. Als ich die Meditationstechniken vor Jahren erlernte, dachte ich nicht, wie wichtig sie für mich mal werden könnten. Heute bin ich froh, dass ich sie beherrsche. "
“Ich bin trotzdem tief beeindruckt. Kannst du mir das nicht beibringen?"
"Doch, wenn ich wieder gesund bin. Um diese Formen der Meditation weiterzugeben, muss man im Einklang mit Geist und Körper sein. Solange ich durch die Erkrankung gestört bin, musst du dich leider gedulden.“
Bernd sieht mich ein bisschen kopfschüttelnd an. Es ist für Europäer schwer, sich mit der traditionellen chinesischen Medizin auseinanderzusetzen und sie zu verstehen. Allerdings, je mehr man sich damit beschäftigt, um so mehr wird man begreifen, dass die chinesische Medizin mit unserer Medizin durchaus konform geht. Aber im Bereich der chinesischen Medizin wird der Patient als Ganzes gesehen und so ist es völlig klar, dass die Seele gestört ist, wenn es irgendwo schmerzt. Ich spüre es an mir selber. An manchen Tagen bin ich unausstehlich und nörgelig wie ein kleines Kind. Nicht nur mein Rücken ist stark geschädigt, auch meine Seele hat einen Knacks abbekommen dabei: Das innere Gleichgewicht stimmt nicht mehr.
"Aber wenn wir sagen, die Seele ist geschädigt, sind wir dann nicht bei der psychosomatischen Schiene angelangt, die du doch so weit von dir weist?"
"Du begreifst es nicht, wie so viele Mediziner. Du musst erstmal die Ursache sehen: Bei mir ist die Wirbelsäule geschädigt, dadurch erleidet auch mein Innerstes einen Knacks. Ich bin in meiner Bewegung eingeschränkt und somit auch in meiner persönlichen Freiheit. Das greift im Körper um sich und erreicht eben auch den Geist. Die andere Seite der Medaille ist folgende: Der Patient hat einen seelischen Schaden und äußert diesen durch Rückenschmerzen, möglicherweise, weil er sich nicht ausreichend artikulieren kann oder will. Irgendwie muss er sich aber Luft verschaffen, also flüchtet er in eine Krankheit. Dann sind wir bei der Psychosomatik."
"Aber wie um alles in der Welt, soll ich denn als Mediziner herausfinden, wo der Ursprung liegt?" "Vielleicht, in dem du dich mit deinem Patienten auseinandersetzt. Du musst ihm zuhören, ihn reden lassen. Aber das ist ja euer großes Problem, ihr Halbgötter in Weiß. Ihr wollt ja keinen Patienten, der über sich redet. Ihr wollt klar geschilderte Symptome und am liebsten ein klares Krankheitsbild, wo man schon bei den Symptomen erkennen kann, was dem Patienten fehlt. Wenn ihr zuhören würdet, könntet ihr lernen zu differenzieren, ob es sich um somatische oder psychosomatische Beschwerden handelt."
"Glaubst du wirklich, dass es so einfach ist?"
"Nein, natürlich nicht! Aber es wäre der erste Weg - der Anfang."
"Und wann glaubst du, könnte man von einer psychosomatischen Erkrankung ausgehen?"
"Wenn sich organisch nichts feststellen lässt und der Patient zudem noch größere Probleme im privaten oder beruflichen Umfeld hat, die er möglicherweise nicht alleine lösen kann oder von denen er sich einbildet, sie nicht lösen zu können. Oder wenn er einer neuen Situation ausgesetzt ist, mit der er vielleicht nicht klarkommt. Nur, wie gesagt, ihr Ärzte findet so etwas nicht heraus, weil ihr euch nicht die Zeit nehmt, euch mit euren Patienten richtig auseinanderzusetzen. Es darf ja alles nicht zu lange dauern, denn schließlich sitzt das Wartezimmer voll. Aber in drei Minuten kann man seinen Patienten nicht durchschauen und kennenlernen. Weißt du, wie lange eine Erstuntersuchung bei einem chinesischen Arzt dauert? Zwischen einer und zwei Stunden. Die braucht er aber auch und die Zeit nimmt er sich. Da tippt sich jeder europäische Arzt an die Stirn. Die meiste Zeit davon verwendet der chinesische Arzt übrigens für das persönliche Gespräch. Du ahnst nicht, was man über seinen Patienten alles herausfinden kann und wie viel davon für die Diagnosestellung wichtig ist. Nur aus dem Gespräch heraus, kannst du die tatsächlichen Belastungen des Patienten erfahren."
"Bist du dann nicht auch ein Kandidat für eine psychosomatische Erkrankung?“
"Nein, wie kommst du denn darauf?"
"Nun, zum Ersten findet sich nichts Organisches, behaupten zumindest die Krankenhausärzte.“
"Ich hatte aber keine Belastungen."
"Hattest du nicht? Was ist mit der Hysterektomie? Sag nicht, die hätte dich nicht belastet. Und schließlich fing im gleichen Jahr das Rückenproblem an."
"Sie hat mich aber nun mal nicht belastet."
"Hat sie nicht?"
"Nein! Ich hatte einen sehr guten Gynäkologen, der alles mit mir besprochen hat. Er hat mich mit Fachliteratur ausgestattet und mich nach Hause geschickt, damit ich mir Gedanken zu diesem Eingriff machen konnte. Das habe ich getan. Ich habe ganz in Ruhe entschieden, dass der Eingriff sinnvoll ist. Mich hat niemand überredet oder gar bedrängt, was ja auch nicht gerade selten ist. Dazu hatte ich einen fürsorglichen und liebevollen Ehemann, der mich während der ganzen Zeit begleitet hat, der die Entscheidung, den Eingriff machen zu lassen‚voll mitgetragen hat."

"Wobei es da wohl kaum etwas zu entscheiden gab!"

"Richtig. Aber es gab einen Feind, den man beim Namen nennen konnte und gegen den ich anzukämpfen bereit war. Ich denke mal, ich habe den Kampf gewonnen."
“Und nach dem Eingriff? Keine Depressionen, keine Ängste?“

"Nein, keine Depressionen, keine Ängste. Ich kann sehr gut ohne Uterus leben. Weißt du, was ich gemacht habe, als ich nach Hause kam?"
„Nein.“
"Ich habe meine Großpackung OB's genommen und habe sie meiner Freundin Steffi geschenkt."
Bernd grinst mich an.
"Echt wahr?"
"Echt wahr!"
"Was hast du an Medikamenten nach dem Eingriff gebraucht?“

"Keine. Das heißt, eine Ampulle Metamizol noch im OP, aber danach nichts mehr, abgesehen natürlich von der Chemo zwei Wochen später."
"Wann warst du in der Lage, wieder aufzustehen?“
"Am nächsten Morgen."
"Jetzt hör aber auf zu spinnen!"
"Nein, ich meine das ganz im Ernst. Ich bin Dienstagnachmittag operiert worden und Mittwoch Morgen um sieben Uhr bin ich aufgestanden und von dem Moment an hielt mich nichts mehr im Bett und als am Nachmittag Michael mit den Kindern kam, sind wir in dem kleinen Klinik Park spazieren gegangen."
"Na schön, die Hysterektomie hat dich also nicht psychisch geschädigt."
"Nein, ganz und gar nicht.“
"Mit Michael hast du nie Streit, du hast vier wohlgeratene Kinder. Beruflich ... Hast du beruflich Stress?"
"Bernd, hattest du jemals das Gefühl, ich sei im Stress?"

“Nee, eigentlich nicht. Ganz im Gegenteil, ich habe mich immer gefragt, wieso du so die Ruhe bewahren kannst und wenn die Situation noch so verfahren wirkte, dich hat nichts erschüttert. Aber kommen wir doch ruhig noch mal auf Eschede zurück. Bist du wirklich sicher, dass du alles verkraftet hast?”

"Ja, bin ich."
"Wie kannst du da so sicher sein?"
"Weil ich im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen darüber reden kann. Eschede war ein einziger Albtraum, dass will ich gar nicht bestreiten. Ich werde auch niemals bestreiten, dass mich dieses entsetzliche Unglück nicht auch mitgenommen hat. Aber entscheidend ist doch, was ich für mich persönlich mit nach Hause genommen habe. Natürlich kann ich auch die ganzen schrecklichen Bilder von verstümmelten Körpern und den Klang der schreienden Menschen in meinem Gehirn speichern und zwar so, dass sie mich nicht mehr loslassen.

Ich habe aber im Rettungsdienst in München einen echten Lehrmeister gehabt. Mein damaliger Ausbilder hat gesagt: ‘Wann immer du etwas von den Eindrücken mitnimmst, nimm nur die schönen Bilder mit, dann kannst du im Rettungsdienst steinalt werden. ' Die Eindrücke, die ich aus Eschede mitgenommen habe, sind zum Beispiel die kleinen zaghaften Versuche der Patienten zu lächeln, trotz des Entsetzens und der Schmerzen; den dankbaren Händedruck der Patienten und die aufmunternden Worte der Kollegen, wenn die Erschöpfung so groß war, dass man am liebsten auf der Stelle umgefallen wäre und nur noch schlafen wollte. Mit den Eindrücken, die ich mir bewahrt habe, kann ich sehr gut leben."
"Aber belastet dich denn die Tatsache, dass es so viele Tote gegeben hat, nicht?"
"Nein! Ich habe so viele Tote im Rettungsdienst und in der Pflege gesehen, damit kann ich leben. Manchmal ist es der Umstand, wie jemand zu Tode gekommen ist, oder die Unsinnigkeit, die mich nachdenklich und durchaus auch mal traurig stimmt. Aber wenn die Lebensuhr abgelaufen ist, dann ist sie abgelaufen. Das müssen wir akzeptieren. „

"Du liebst deinen Beruf sehr, oder?"

"Oh ja, das tue ich. Manchmal denke ich, für mich ist das kein Beruf, sondern Berufung, Ich fürchte, ich bin von der Medizin Seuche in unserer Familie doch mehr infiziert worden, als ich mir selbst eingestehen will, Bernd. Und wenn ich nicht gar so ein Sturkopf wäre, dann hätte ich wahrscheinlich doch Medizin studiert. Aber so habe ich Ahnung von Literatur und Geschichte und kann trotzdem in medizinischen Dingen mitreden, das verschafft mir gegenüber meinen Brüdern eine gewisse Genugtuung, die ich nicht missen möchte. Aber was willst du mit diesem Frage - und Antwortspiel eigentlich erreichen?"
"Ich dachte, ich bringe dich vielleicht darauf, dass deine Erkrankung doch psychosomatischer Natur ist. Aber ich finde keinen Grund dafür. Und es müsste doch eigentlich einen geben, oder?“
"Normalerweise schon, ja. Was sollte man denn therapieren, wenn es keinen Grund gibt?"
"Ja eben. Also ist deine Erkrankung doch somatischer Natur. Nur, warum findet denn niemand etwas? Irgendwann hat doch irgendwer etwas übersehen, oder? Es muss doch so sein. Aber du entsprichst auch keinem eindeutigen Lehrbuch: Als chronische Schmerzpatientin müsstest du inzwischen alle sozialen Kontakte abgebrochen haben, das kann ich bei dir nicht feststellen.
Du müsstest frustriert und zutiefst depressiv am Boden liegen, aber du lachst immer noch.
Tina, wirklich, wie machst du das? Wie schaffst du es, den Kopf immer noch oben zu halten? Bei dir entspricht nichts, aber auch wirklich nichts den gängigen medizinischen Lehrbüchern, das macht dich so kompliziert. Das war schon immer so, was nicht in den Büchern steht, kann auch nicht sein. Und trotzdem, irgendeiner deiner Ärzte hat gewaltig herum geschlampt und ich würde gerne wissen wer. Du nicht?"
"Ich würde gerne die Ursache für die ständigen Rückenschmerzen kennen. Ich versuche seit Längerem, gegen einen Feind anzukämpfen, dessen Name ich nicht kenne. Alles andere ist nicht so wichtig. Und ob wirklich irgendeiner der vielen Ärzte irgendwo geschlampt hat, oder ob sie es sich zu leicht machen, sei dahingestellt. Ich will nur, dass endlich irgendetwas passiert, das mir diese ständigen Schmerzen nimmt. Ich kann doch nicht für den Rest meines Lebens MST schlucken und ich habe auch keinesfalls vor, schon in Rente zu gehen."
"Da hast du ohne Zweifel recht, wenn ich nur die leiseste Idee hätte, wie man dir helfen kann. Aber leider fällt mir auch nichts ein."

 Über unser Gespräch haben wir ganz und gar die Zeit vergessen. Filius steckt wieder mal den Kopf zur Tür herein und erinnert uns ans Abendessen.

 
“Worüber habt ihr euch eigentlich so lange unterhalten?", fragt Filius ziemlich neugierig beim Essen.
“Wir haben darüber nachgedacht, ob die Erkrankung deiner Mutter psychosomatisch sein könnte," erläutert Bernd.

"Das hat sie zugelassen?" Filius starrt mich entgeistert an.
"Darüber reden kann man ja, man darf ihr nur nicht sagen, dass es so ist, Filius. Dann wird sie nämlich renitent."

"Was werde ich? Da hört sich doch wohl alles auf. Renitent!" Mit euch habe ich einen Fang gemacht. Ihr seid wirklich unmöglich."
"Zu was für einem Schluss bist du denn gekommen, Bernd? Ist die Erkrankung psychosomatisch?"
"Nie und nimmer. Deine Mutter ist absolut nicht der Typ für solche Sachen. Nein, mal ganz im Ernst. Deine Mutter ist der fröhlichste und humorvollste Mensch den ich kenne. Selbst nach so langer Zeit kann sie immer noch lachen. Begreifst du, wie sie das macht? Es mag ja einen Haufen Leute geben, die psychisch angeknackst sein mögen, deine Mutter gehört mit Sicherheit nicht dazu, dazu ist sie viel zu ausgeglichen und gelassen. Ich weiß zwar nicht, wie sie es schafft, ihren Humor zu bewahren, aber sie schafft es. Dieses Geheimrezept würde ich gerne kennen."
"Sie ist einfach von Natur aus so, Bernd. Ich kenne sie gar nicht anders. Mir würde auch etwas fehlen, wenn sie nicht mehr so fröhlich wäre. Aber vielleicht wird sie deshalb auch nicht ernst genug genommen. Vielleicht sollte sie hin und wieder ihren Ärzten mal ein bisschen was vorheulen, anstatt mit einem Lächeln im Gesicht zu erzählen, dass sie seit Oktober unter wahnsinnigen Schmerzen leidet. Was meinst du?"
Bernd betrachtet mich nachdenklich: "Also, irgendwie hat Filius ja recht. Wenn man Schmerzen hat, lächelt man nicht. Das ist doch nicht normal. Du solltest deinen Ärzten wirklich öfter etwas vorheulen. Dann tust du ihnen leid und siehe da, sie werden auch etwas finden."
"Sie sollen nicht 'etwas' finden, sie sollen die Ursache herausfinden und was unternehmen."
Bernd schiebt sich genüsslich eine Gabel voll Krabben in den Mund: "Wieso finden die nichts? Mir ist das unbegreiflich. Irgendetwas muss doch sein. Was sagt eigentlich dein Orthopäde?"
"Er vermutet, dass sich der Schmerz sozusagen selbstständig gemacht hat.”
"Aber er hat dir doch von Anfang an starke Schmerzmittel verschrieben. Das war doch so, oder nicht?“
"Doch natürlich!"
"Und du hast sie auch eingenommen?"
"Was denkst du denn? Selbstverständlich!"“
"Dann kann das eigentlich nicht passieren."
"Was kann dann nicht passieren?"
"Das sich der Schmerz verselbstständigt."
"Wieso nicht?"
"Weil der Schmerz sich dann selbstständig macht, wenn an Schmerzmitteln unnötigerweise gespart wird. Das ist wissenschaftlich nachgewiesen. Studien haben belegt, dass Patienten, die keine oder nur eine unzureichende Analgesie erhalten haben, obwohl sie unter stärksten Schmerzen litten, in eben genau diesen Teufelskreis hineingeraten. Du hast aber doch von Anfang an Tramal und solche Sachen verschrieben bekommen und damit ist es, laut Statistik natürlich, nahezu unmöglich, chronische Schmerzen zu entwickeln."
"Bernd hat recht, Mum. Warte mal!"
Filius stürmt aus dem Zimmer und erscheint nach kürzester Zeit mit einer Fachzeitschrift. Er blättert ein bisschen und reicht mir dann die Zeitschrift über den Tisch.
In der Tat handelt der Artikel von chronischen Schmerzpatienten und ihrer Entstehungsgeschichte. In nahezu allen Fällen sparten die behandelnden Ärzte an Schmerzmitteln.
Mehrere Studien, durchgeführt in Deutschland und den USA, kamen zu dem gleichen Resultat.
"Wahrscheinlich gehöre ich nur wieder zu der Ausnahme, die in keine Studie oder Statistik passt," murmele ich ein bisschen ratlos.
"Ja, entweder das oder man hat die tatsächliche Erkrankung bisher nicht gefunden. Du solltest wirklich mal darüber nachdenken."
"Schön und wenn man sie tatsächlich nicht gefunden hat, was glaubst du, soll ich jetzt tun? Mich selbst diagnostizieren?"
Am Tisch setzt Schweigen ein. Natürlich, dazu fällt den Männern mal wieder nichts ein.
Bernd hält mir seine Gabel mit Krabben unter die Nase. "Probier mal, die schmecken wirklich toll."
"Nein, danke."
"Nein, danke?! Wieso willst du keine Krabben?"
"Ich finde Krabben widerlich."
"Widerlich?! Hör mal, das ist unglaublich gesund. Da sind viele Proteine und so'n Zeugs drin."
"Ja, in Regenwürmern auch."
"In Regenwürmern!?"
"Ja und in Heuschrecken und Käfern und Ameisen."
"Hast du jemals Ameisen gegessen?"
"Ich ess schon keine Krabben, da werde ich erst recht keine Ameisen essen, mein Lieber. Du kommst vielleicht auf Ideen. Aber sie enthalten wirklich eine Menge Proteine: 100 g Ameisen enthalten 610 Kalorien, 38 g Proteine und 46 g Fett. Das ist das Doppelte von dem, was ein durchschnittlicher Hamburger enthält."
Bernd und Filius tauschen Blicke aus und schütteln schließlich einträchtig die Köpfe.
"Woher weißt du das denn nun schon wieder?", staunt Bernd mich an.
"Ich bilde mich eben."
"Gehört das zur Allgemeinbildung oder in den Geschichtsunterricht?"
"Ach was! Die Westafrikaner essen mit Begeisterung Ameisen und ich habe immerhin zwei Jahre dort gelebt. Da bleibt schon was hängen."
Tim unterbricht uns, weil er mit viel Getöse die Küche stürmt.
"Sag mal, was ist denn hier los ?", rutscht es mir heraus.

"Wir spielen kriegen, Amrei und ich, aber sie kriegt mich nicht."
"Tim ist verliebt, Mama!", schreit Amrei lautstark, was ihr auch prompt einen Fußtritt von Tim einbringt.
"Wenn du mich noch einmal trittst, haue ich dir die Nase platt!"
"Versuch's doch mal, wenn du rankommst. Schaffst du aber nicht!"
"Schaffe ich doch, du Angeber!"
"Könnt ihr jetzt mal bitte aufhören! Was ist denn in euch gefahren?" Ich kenne meine Kinder bald nicht wieder.
„Tim ist in Kim verliebt. Tim und Kim; Tim und Kim; Tim und Kim..."
"Halt die Klappe, du bist eine blöde Kuh. Ich bin überhaupt nicht verliebt, du dumme Nuss!"
"Wer ist denn überhaupt Kim?", erkundigt sich Filius jetzt, dem das ganze Theater offenbar Spaß macht.
"Kim geht in seine Klasse und holt ihn jeden Morgen zur Schule ab,“ erkläre ich Filius.
"Wow, du hast eine Freundin und erzählst mir nichts davon? wie sieht sie denn aus?"
"Ich habe keine Freundin!"
"Aber wenn sie dich jeden Morgen abholt, muss sie doch deine Freundin sein."
"Aber nicht so!"
"Wie nicht so? Was meinst du denn mit nicht so?"
"Ich küsse sie nicht, das ist eklig."
"Will sie denn geküsst werden?"
"Klar, sie ist doch ein Mädchen. Mädchen wollen das immer. Musst du Melissa auch küssen?"
"Na ja, also von müssen kann da eigentlich nicht die Rede sein, sagen wir mal, ich möchte sie küssen."
"Und sie will nicht?"
"Doch, klar will sie. Küssen ist nämlich was Schönes.“

"Und wenn sie mal Schnupfen hat?"
Inzwischen sind Bernd und ich bei dem Punkt angelangt, wo man sich dezent hinter der Serviette versteckt.
"Dann werde ich ihr ein Nasenspray besorgen, Tim."

"Findest du Küssen wirklich schön?"
"Ja, na klar. Irgendwann kommst du in das Alter, wo du Küssen auch schön findest. Das passiert den meisten Leuten."
"Schläfst du auch mit Melissa?"
Langsam reicht uns die Serviette nicht mehr. Allerdings hat jetzt auch Filius etwas die Farbe gewechselt.
"Hör mal Tim, so etwas fragt man nicht."
"Warum denn nicht?"
"Weil das in die Intimsphäre eines Menschen gehört. Das geht nur mich und Melissa etwas an, verstehst du?"
"Nein!"
"Ja, das habe ich jetzt befürchtet. Mum, hast du ihn etwa noch nicht aufgeklärt?"
"Das Wichtigste weiß er schon, aber du kannst gerne darauf aufbauen."
"Ich weiß leider nicht so genau, wie ich dir das erklären soll. Es gibt einfach Dinge, die gehen andere Menschen nichts an. Die möchte man einfach für sich behalten, verstehst du?"
"Nein, das verstehe ich nicht. Weil nämlich, wenn Melissa jetzt ein Kind kriegt, ja? Also dann kriegt sie doch einen dicken Bauch und dann kann jeder sehen, dass du mit ihr geschlafen hast. Sonst würde sie nämlich keinen so dicken Bauch kriegen, aber das Baby braucht ja Platz, weil es wächst. Und wenn ich es dann sowieso sehe, kannst du es mir auch gleich erzählen, ich finde es ja doch raus. Außerdem bin ich dein Bruder und seinem Bruder kann man alles erzählen, hast du gesagt!"
"Mum, meinst du wirklich, dass es richtig ist, ihn in dem Alter schon aufzuklären?"
"Was ist denn aufzuklären?"
"Das ist, wenn du über Dinge Bescheid weißt, die dich nichts angehen!"
Bernd und ich haben große Mühe, nicht laut zu lachen. Aber wenn Filius gehofft hat, dass ich ihm jetzt helfend unter die Arme greife, dann hat er sich geschnitten.
"Hast du nun mit Melissa geschlafen, ja oder nein?"
"Ich finde immer noch, dass dich das nicht die Bohne angeht. Mum, hilf mir doch mal!"
Ich fühle mich in keinster Weise angesprochen.
"Du hast gesagt, du erzählst mir alles. In einer Familie braucht man keine Geheimnisse haben, hast du gesagt!"
"Ja ja, als ob ich das immer alles so wörtlich meine."

"Hast du oder hast du nicht?"
"Was?"
"Mit ihr geschlafen!"
"Das geht dich nichts an, basta!"
"Mama, hat er oder hat er nicht?"
"Haltet mich da bitte raus, ihr beiden!"
"Also schön, ja, ich habe mit meiner Freundin geschlafen, bist du nun zufrieden?"
"Ja!“
Tim zieht zufrieden mit Amrei im Schlepptau ab, während die nun von Tim wissen will, warum Filius bei Melissa schläft, wo er doch ein eigenes Bett hat. Eine durchaus berechtigte Frage, wie ich finde. Von Tim kommt als Antwort ein Satz, der wieder mal geradezu typisch ist für Männer und wenn sie noch so jung sind: "Geh zu Mama und lass dich aufklären!"
Bernd und ich können uns nicht mehr beherrschen. Vor Lachen liegen wir fast unter dem Küchentisch.
"Ihr findet das natürlich total lustig, das ist ja wieder völlig klar."
"Meine Güte, Filius, wie kann man sich mit so einer Frage derart schwer tun. Du bist doch nicht etwa total verklemmt?"
"Sehr witzig. Als ob es irgendwen etwas angeht, ob ich mit Melissa schlafe oder nicht."
"Tim ist doch nur dein kleiner Bruder, er will eben alles genau wissen."
"Und ich muss dafür herhalten, findet ihr das etwas richtig?"
"Ich kann mich da an einen Zehnjährigen erinnern, der unbedingt wissen wollte, warum ich mich ausziehe, wenn Michael mich küsst.“
"Das habe ich nie und nimmer wissen wollen!"
"Oh doch, mein Schatz. Du warst im übrigen noch viel direkter als dein kleiner Bruder."
"Na ja, lass den man erst mal zehn Jahre alt werden."
Am Ende stimmt Filius aber doch in unser Gelächter mit ein.

Nach dem Essen sitzen Bernd und ich noch eine Weile auf der Terrasse und verfolgen ein Gespräch zwischen Tim und Filius: "Filius, darf ich dich noch was fragen?"
"Du gibst ja doch keine Ruhe, also, was willst du wissen?"

“Ist es schön, wenn du mit Melissa schläfst?"
"Du bist aber wirklich neugierig, kleiner Bruder. Aber na ja, von irgendwem musst du es ja mal lernen. Doch, es ist sogar sehr schön, aber das lernst du noch alles, wenn du erst mal alt genug bist."
"Wo kann man das denn lernen? In der Schule?"
"Das nun gerade nicht. Aber weißt du, da braucht man niemanden, der einem das beibringt. So was kann man ganz alleine, wenn es so weit ist."
"Bleibst du heute Abend zu Hause?"
"Ja, ich muss Mum doch morgen zu Sarah fahren."
"Wird Sarah wieder ganz gesund?"
"Natürlich, du Rübe, was denkst du denn!"
"Aber Mami wird doch auch nicht gesund."
"Weißt du, bei Mum ist das alles ein bisschen sehr kompliziert, aber ich schwöre dir, Mum kommt auch wieder in Ordnung.”
"Mami weint manchmal - warum?"
"Wenn dir etwas weh tut, weinst du doch auch, oder nicht? Weißt du, Tim, manchmal muss man eben auch mal weinen. Und wenn Mum sich ausgeweint hat, kann sie auch wieder lachen."
"Ich habe sie lieber, wenn sie lacht."
"Ich auch, kleiner Bruder, aber deswegen muss sie doch auch mal weinen dürfen. Deswegen haben wir sie doch nicht weniger lieb, oder?"
"Weinst du auch manchmal?"
"Wenn ich einen Grund habe, dann ja - natürlich. Das tut wohl jeder Mensch, Tim."

"Wann hast du das letzte Mal geweint.“

"Als unser Großvater gestorben ist. Den hast du leider nicht mehr kennengelernt, aber das war ein ganz toller Mensch, glaub mir. Mum ist ihm sehr ähnlich."
"Du bist auch ein ganz toller, großer Bruder. Ich hab dich schrecklich lieb, Filius"

"Ich dich auch, mein kleiner Bruder. Aber jetzt wird geschlafen!“

"Filius, bekommt Melissa jetzt ein Baby von dir?"

"Nein, Melissa nimmt die Pille. Wir wollen lieber noch kein Baby. Weißt du, wir studieren doch beide noch und da verdienen wir leider kein Geld. Aber wenn man ein Baby haben will, dann braucht man nunmal auch Geld dazu und viel Zeit. Melissa und ich haben leider von beidem nicht genug."

"Schade! Aber wenn ihr mal genug habt, bekommt ihr dann ein Baby?“
"Vielleicht, wenn wir uns dann noch mögen.“

"Könnt ihr denn aufhören, euch zu mögen?“

 „Ja, das passiert auch mal, dass man sich irgendwann nicht mehr mag.“
"Aber Mami und Papi mögen sich noch, oder?“
"Oh ja, die sind verliebt wie am ersten Tag, da brauchst du dir keine Gedanken machen.“
"Woher weißt du das?“
"Was? Dass sie verliebt sind?“


"Tja, sie sie dir gut an, Tim. So wie sie sich ansehen und anfassen, sich küssen und in den Arm nehmen, daran sieht man das. Und sie streiten nie miteinander, das ist Liebe, weißt du."
"Aber ich streite mich mit Amrei und Sarah doch auch manchmal und habe sie trotzdem lieb. "
"Das ist kein richtiges Streiten, das ist geschwisterliche Kabbelei. Das gehört zum Großwerden dazu. Aber Mum und Paps sind schon groß, die brauchen das nicht mehr.“

"Und wenn man sich richtig streitet, hat man sich nicht mehr lieb?"

"Meistens nicht, Tim, leider!"

"Ich gehe jetzt schlafen. Filius?“

„Ja?"

"Aber es stimmt doch, dass man seinen großen Bruder alles fragen darf?"

“Alles! Aber nicht unbedingt, wenn andere Leute dabei sind, okay?“

"Okay!"
Ich lächele ein bisschen in mich hinein. Bernd sieht mich mit einem Schmunzeln an und sagt schließlich: "Weißt du eigentlich, dass du tolle Kinder hast?“
"Oh ja, Bernd und ich würde sie um nichts in der Welt hergeben."
“Du kannst schon stolz auf die Vier sein. Manchmal beneide ich dich bisschen um dieses Glück." "Schaff dir endlich eine Frau und eigene Kinder an.“

"Wenn das man so einfach wäre, wie es klingt. Aber die richtige Frau zu finden, ist schon ein Problem für sich."

„Ich dachte, euch Ärzten laufen die Damen scharenweise nach."

"Tun sie ja auch. Aber es sind immer die Falschen. Eine intelligente Frau hat es nämlich nicht nötig, hinter einem Arzt hinterherzulaufen, weißt du."

"Dann solltest du dich vielleicht mal in die freie Wildbahn begeben oder sieh dich doch mal unter deinen Kolleginnen um."

"Die Kollegin, die ich gerne hätte, ist leider schon vergeben und ich fürchte, ihre Familie wird sie nicht herausrücken."

Ich schüttel lachend den Kopf. Bernd ist einfach unmöglich, aber liebenswert.

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 


 

 

Kapitel 41

 

 

 

Am nächsten Morgen herrscht Hektik im Haus, etwas, dass ich ganz und gar nicht leiden kann.
Gut ein Dutzend mal muss ich Tim ermahnen, endlich aufzustehen, weil er zur Schule muss. Es scheint ihn überhaupt nicht zu interessieren. Filius nimmt sich der Sache an und zerrt seinen kleinen Bruder aus dem Hochbett. Mir wäre das unmöglich gewesen, aber für Filius mit seinen gut zwei Metern Körpergröße ist das natürlich kein Problem. Als nächstes streiten sich die drei um das Badezimmer. Ein bisschen entnervt brühe ich Tee auf und rühre Kakao an. Filius erteilt Kommandos, seine Geschwister sollen beim Tischdecken helfen.
"Man, ich habe aber keine Lust, den Tisch zu decken," jammert Tim.
"Mum und ich auch nicht, deshalb machst du es ja," bekommt er von Filius zu hören.
"Na, du bist ja wirklich ein pädagogisches Genie," werfe ich ein, was mir aber nur einen Kuss von Filius einbringt. Zu einer Antwort lässt er sich nicht herab.
Amrei spaziert immer noch im Nachthemd durch das Haus und wird und wird nicht fertig. Ich bin kurz davor zu explodieren.
In das Wirrwarr hinein ertönt die Haustürklingel.
"Ich gehe schon!", ruft Filius und gleich darauf höre ich ihn mit irgendeinem Kind sprechen, Tims Freund Frederik, wie sich gleich darauf herausstellt.
"Frühstückst du etwa noch?" Frederik betrachtet Tim, als hätte dieser eine Todsünde begangen.
"Na hör mal, Frederik, ihr habt doch noch Zeit. Die Schule fängt erst in einer halben Stunde an und ihr müsst nur über die Straße. Möchtest du vielleicht einen Kakao?"
"Na ja, wenn wir noch so viel Zeit haben, dann trinke ich einen."
Während ich im Schrank nach einem Becher für Frederik angele, zwängt sich Amrei an den beiden Jungs vorbei an den Tisch.
"Warum bist du denn noch gar nicht angezogen?", fragt Frederik lautstark. Ich drehe mich zu Amrei um: Tatsächlich sitzt sie gemütlich im Nachthemd am Tisch.
"Amrei, du gehst dich jetzt augenblicklich anziehen."
"Ich habe aber Hunger!"
"Aber nicht im Nachthemd. Und wenn du dich jetzt nicht bald ein bisschen beeilst, bekommst du heute überhaupt kein Frühstück mehr." Langsam werde ich ungemütlich.
Es klingelt schon wieder und Filius lässt Tims Freundin Kim herein. Gerade als er sich wieder hingesetzt hat, klingelt es erneut.
"Du lieber Himmel, ist hier heute Tag der offenen Tür oder was soll das?" Ein bisschen ungehalten schlägt er wieder die Richtung zur Haustür ein. Drei weitere Freunde von Tim stehen vor der Tür und gleich darauf in der Küche.
"Also ich finde, ihr solltet die Schule zu uns verlegen. Hier in der Küche ist doch noch jede Menge Platz und ihr könnt gemütlich nebenbei frühstücken.”
"Klasse Idee, gehst du rüber und holst unsere Lehrerin?" Markus strahlt Filius an.
"Nee, das müsst ihr schon selbst machen."
Ich atme auf, als Tim mitsamt seinen zahlreichen Freunden zur Schule marschiert und Filius mit Amrei zum Kindergarten unterwegs ist. Endlich Ruhe im Haus. Gemütlich gehe ich unter die Dusche und lasse mir Zeit beim Anziehen. Ich genieße die Stille.

Als Filius zurückkommt, sitze ich in der Küche am Tisch und bin gerade dabei, mir mein Müsli zu rühren.
"Hast du noch nicht gefrühstückt?" Filius sieht mir erstaunt zu.
"Bei dem Trubel? Ich hasse diese Hektik, ganz besonders, wenn sie so überflüssig ist, wie die von heute Morgen."

"Wie schaffst du das eigentlich mit den drei Kleinen, Mum? Ich finde die drei furchtbar anstrengend."
"Sarah ist doch gar nicht da."
"Wenn die beiden schon so sind, kann ich mir gut vorstellen, wie das dann mit drei Kindern abläuft und wenn dann Tims ganzes Rudel auch noch aufschlägt, mein Gott. Verlierst du nicht manchmal die gute Laune dabei?"
"Nein, Filius. Aber ich garantiere dir, hier herrscht morgens auch nur so eine Hektik, wenn du da bist. Ich weiß gar nicht, warum du überhaupt so hektisch bist."
"Tim wäre beinahe zu spät in die Schule gekommen, ist das nicht Grund genug?"
"Er wäre nicht zu spät gekommen. Tim kommt nie zu spät zur Schule. Das wäre das erste Mal gewesen."
"Wie kannst du ruhig dabei bleiben, wenn der Knilch nicht aus seinem Bett kommt?"
"Weil es sein Problem ist. Wenn er deswegen wirklich mal zu spät kommt, muss er seiner Lehrerin eine Erklärung abliefern, nicht ich. Und das wird schwierig, insbesondere da er der Schule genau gegenüber wohnt. Außerdem holt ihn morgens ja immer Kim ab. Was glaubst du, wie schnell der dann angezogen ist. Ich schicke sie nämlich immer in sein Zimmer rauf und Tim ist im Augenblick in einer Phase, wo es ihm unangenehm ist, wenn Kim ihn im Schlafanzug sieht."
"Himmel, kannst du gehässig sein. Und wenn er nicht aufgestanden wäre, hättest du das ignoriert und ihn zu spät kommen lassen?"
"Ja.“
“Ist das moderne Erziehung?"
“Das habe ich bei dir auch so gemacht, erinnerst du dich? Zweimal bist du zu spät gekommen und musstest Erklärungen abgeben. Leider hat man in der ersten Klasse noch nicht so den Erfindungs Sinn wie in höheren Klassen. Die meisten Erstklässler erzählen ganz ehrlich, warum sie zu spät sind. Das führt meistens auch dazu, dass sich die halbe Klasse über die Schlafmütze lustig macht. Das schafft Abhilfe.“
"Mum, ich wusste gar nicht, dass du so grausam sein kannst. Du setzt ihn wirklich dem Spott seiner Mitschüler aus?“

"Das hat bei dir auch geholfen.

"Daran kann ich mich nicht erinnern."
"Du leidest immer an Amnesie, wenn es um deine Schandtaten geht. Woran liegt das bloß?“
"Ich habe nie etwas angestellt."
"Das weiß ich besser, mein Lieber! Du bist heute noch mit Vorsicht zu genießen."

"Und so was von der eigenen Mutter!"

Nachdem wir mittags Tim und Amrei bei Christina abgeliefert haben, machen Filius und ich uns auf den Weg in die Kinderklinik.
Sarah liegt mit roten Fieber Bäckchen in ihrem Bett und wirkt ganz apathisch. Dennoch zaubert unser Erscheinen ein kleines Lächeln in ihr Gesicht. Sofort schnappt sie sich Filius's Hand und lässt sie nicht mehr los. Immer wieder streichelt er ihr übers Haar.
Nach einer Weile kann ich endlich mit Dr. D. sprechen. Es handelt sich um einen schweren Streptokokkeninfekt, erklärt er mir. Der Infekt hat sich auf die Atem - und Harnwege ausgedehnt. Mit dem richtigen Antibiotikum sei das aber gut in den Griff zu kriegen, beruhigt er mich. Allerdings müsse Sarah sicherlich vierzehn Tage in der Klinik bleiben.
Ich mache mir deswegen Sorgen, denn es ist für mich unmöglich, sie jeden Tag zu besuchen. Filius tröstet mich, er wird jeden Tag nach Vorlesungsschluss herfahren und mich abends telefonisch auf dem Laufenden halten, verspricht er. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich zu fügen.

Die Tatsache, nicht ständig bei Sarah sein zu können, belastet mich. In diesen Tagen fällt es mir schwer, mich auf die Meditation während der Akupunktur zu konzentrieren. Immer wieder wandern meine Gedanken zu Sarah. Ich muss mich sehr zusammenreißen.
Die Sprechstundenhilfe von Dr. L. merkt mir meine innere Anspannung an. Behutsam fragt mich Frau A., was mich belastet. Ein bisschen erstaunt sehe ich sie an.
"Na ja, Sie reagieren sonst viel heftiger auf die Akupunktur. Ehrlich gesagt, habe ich das in der Form noch bei keinem Patienten hier so deutlich erlebt. Aber die letzten Tage ist irgendetwas anders. Die Akupunktur wirkt irgendwie nicht richtig. Da dachte ich mir, vielleicht haben Sie Sorgen und möchten darüber reden."

Dankbar nicke ich und erzähle von Sarah und meinen Kümmernissen. Frau A. nickt verständnisvoll, setzt sich zu mir auf die Liege, legt ihren Arm um mich und tröstet mich schließlich:
"Machen Sie sich doch nicht verrückt. Natürlich ist das ein Problem, dass Sie nicht ständig bei ihr sein können, aber sie ist doch in guten Händen. Und wenn Ihr Sohn jeden Tag hinfährt, dann wissen Sie doch wenigstens, was läuft und es ist jemand da, den Sarah kennt und dem sie vertraut. Ich finde, Sie haben einen tollen Sohn. Ich glaube nicht, dass das alle großen Brüder machen."
"Meine würden das auch tun," antworte ich mit einem Lächeln.
"Na sehen Sie, jetzt können Sie ja doch ein bisschen lächeln und wenn Sie nächstes Mal kommen, wollen wir wieder eine erfolgreiche Akupunktur sehen. Versprochen?"

"Versprochen," nicke ich.
Und wieder einmal verlasse ich die Praxis meines Orthopäden seelisch ein bisschen aufgebaut.

 


 


 

 

Kapitel 42

 

 

 

Tatsächlich vergehen vierzehn Tage, ehe wir Sarah wieder mit nach Hause nehmen können. Immer noch nicht gesund, muss Birgit jetzt die weitere Betreuung übernehmen. Mir ist es ganz recht so, Hauptsache meine Maus ist wieder zu Hause.

Einige Tage später habe ich für Sarah einen Kontrolltermin bei Dr. L.. Bevor wir uns auf den Weg machen können, muss noch die Bekleidung Frage geklärt werden. Sarah besteht darauf, ein Kleid anzuziehen und in Anbetracht des schönen Wetters und der Bequemlichkeit, wenn sie nicht erst eine Hose ausziehen muss, habe ich nichts dagegen. Leider hat Sarah mehr als nur ein Kleid im Schrank hängen und das macht ihr jetzt Probleme. Welches Kleid soll man denn nun anziehen, damit man für Dr. L. auch hübsch genug ist. Ich staune mal wieder, wie eitel meine kleine Tochter ist. In dem Alter war es mir völlig einerlei, wie ich herumlief. Hauptsache ich musste kein Kleid anziehen.

Nachdem Sarah sage und schreibe sieben Kleider durchprobiert hat, entscheidet sie sich endlich für ein weißes Matrosenkleid mit roter Schleife. Wenn ich geglaubt habe, damit wäre das Problem des Outfits jetzt geklärt, habe ich mich getäuscht. Sarah grübelt über ihre Haare nach. Es ist ja auch schwierig zu entscheiden, ob man die Haare nun offen oder geflochten trägt. Man könnte sie ja auch hochstecken oder einfach zu einem Pferdeschwanz zusammenbinden. Sarah fragt ihre große Schwester um Rat und die ist der Ansicht, zu dem Kleid passen nur Zöpfe. Also flechte ich meiner Tochter Zöpfe und atme auf, als auch dieses Problem zur Zufriedenheit erledigt ist.
Als wir uns auf den Weg zum Bus machen wollen, ist Sarah verschwunden. Nach mehrmaligem Rufen meldet sie sich schließlich aus dem oberen Stockwerk. Als ich nachsehe, finde ich sie in unserem Schlafzimmer, wo sie sich den Kopf darüber zerbricht, welches meiner kostbaren und teuren Parfüms ihr jetzt noch zur Abrundung des Gesamtbildes fehlt.

Im Wartezimmer schnappt sich Sarah ein Bilderbuch und möchte, dass ich ihr vorlese. Ich lehne ab. Mir ist nicht nach vorlesen.
"Mama, soll ich dir was vorlesen?“, erkundigt sich Sarah.

"Na schön, dann lies mir etwas vor,“ gebe ich nach. Sarah, die natürlich noch nicht lesen kann, erzählt mir ohne zu stocken und möglichst laut, damit auch alle anderen im Wartezimmer etwas davon haben, eine höchst wunderliche Geschichte vom Weihnachtsmann.
"Wie alt ist denn Ihre kleine Tochter?“, fragt mich eine ältere Dame, die neben mir sitzt.
"Vier Jahre," antworte ich.
"Vier Jahre? Und da kann sie schon so schön lesen?“
"Sie kann nicht lesen," schüttele ich den Kopf.

“Ja, aber was macht sie denn da?", fragt die Dame verdutzt.
"Sie dichtet," erkläre ich ihr zur allgemeinen Belustigung der anderen Patienten, die inzwischen auf uns aufmerksam geworden sind. Völlig verwundert schüttelt sie den Kopf und starrt Sarah an, als sei sie das achte Weltwunder.

Das große Mundwerk, das Sarah gerade im Wartezimmer noch hatte, geht auf dem Weg von dort bis ins Sprechzimmer verloren. Dr. L. wird wieder einmal höchst misstrauisch von Sarah gemustert.
Obgleich er sie aufs Freundlichste anspricht, verzieht sie keine Miene.
"Sie war gerade erst mit einem Streptokokkeninfekt im Krankenhaus. Im Moment hat sie die Nase voll von Ärzten,” erkläre ich Dr. L., der sich abmüht, Sarah zum Auftauen zu bringen.
"Du warst im Krankenhaus?", fragt Dr. L. Sarah, die ihn daraufhin noch kritischer mustert.
"Ich war in der Kinderklinik!",erklärt sie mit Nachdruck.

Na klar, wir Großen sollten den feinen Unterschied zwischen einem Krankenhaus und einer Kinderklinik eigentlich kennen.
"Du warst in der Kinderklinik - ja klar, natürlich, war es schön da?“
Sarah betrachtet Dr. L. etwas zweifelnd. War diese Frage jetzt etwa ernst gemeint?
Dr. L. bemerkt den Fehler sofort und korrigiert sich: "Ich meine, waren die denn da nett zu dir?"
Sarah lässt sich zu einem Nicken herab.
"Hast du etwa auch eine Spritze bekommen?" wieder ein Nicken.
"Das war wohl nicht so schön, oder?" Sarah schüttelt den Kopf.
"Ja, das glaube ich dir."
"Ich habe geweint!" Sarah taut tatsächlich auf.

"Das ist nicht so schön, aber du brauchst keine Angst haben. Von mir bekommst du bestimmt keine Spritze. Ich möchte nur deine Beine sehen, darf ich?“ Sarah nickt zustimmend.
"Dann müsstest du vielleicht mal deine Schuhe und Strümpfe ausziehen. Machst du das?" Sarah nickt wieder und fängt zu meinem Erstaunen bereitwillig an, die Schuhe auszuziehen.
Dr. L. untersucht Sarah, was diese sich, ohne zu mucksen, gefallen lässt.
Dr. L. sieht mich an, um schließlich zu fragen, ob Sarah in der letzten Zeit gewachsen sei. Ich bejahe. "Das habe ich mir gedacht. Es ist alles in Ordnung. Keine Fehlstellung mehr vorhanden. Das hat die Natur alleine reguliert. Das Wachsen reichte dafür. "

"Na, das ist doch prima. Eine Sorge weniger."
"Du kannst dich wieder anziehen, Sarah. Das war es schon."

Während Sarah sich auf einen Stuhl setzt, damit ich ihr helfe, die Strümpfe wieder anzuziehen, tippt Dr. L. das Ergebnis der Untersuchung in den Computer ein.
"Sie haben jetzt noch Akupunktur, ja?", fragend sieht mich Dr. L. an. Ich nicke.
"Wollen wir das gleich hier machen?"
"Von mir aus gerne."
"Gut, dann können Sie sich ja schon mal freimachen und ich sehe mal eben nach meinen anderen Patienten. Wenn ich wiederkomme, machen wir die Mama fertig, ja Sarah?" Sarah nickt zustimmend.
"Ja, macht ihr mich man ruhig fertig, das bin ich schon gewöhnt." Dr. L. wirft mir im Hinausgehen ein Lächeln zu.
"Mama, kommt er wieder?"
"Ja, mein Schatz."
"Und was macht er dann?"
"Dann sticht Dr. L. mir die Nadeln in die Haut für die Akupunktur. Das kennst du doch schon."
"Au ja, toll!" Sarah sieht mich begeistert an. Ich glaube, dieses Kind hat eine sadistische Ader.

Als Dr. L. mich nadelt, sieht Sarah hoch interessiert zu. "Gefällt dir das, Sarah?", fragt Dr. L..
"Ja, das finde ich gut." Ich merke Sarahs Stimme an, dass sie Feuer und Flamme ist.
"So, dann wünsche ich Ihnen angenehme zwanzig Minuten."

"Danke, und vergessen Sie mich hier nicht."
"Ganz sicher nicht." Weg ist er und ich bezweifle sehr, dass er wiederkommt.

Nachdem die Zeit mehr als um ist und sich keiner blicken lässt, um mich zu befreien, versuche ich Sarah darum zu bitten, mir jemanden zu holen.
"Sarah, du weißt doch wo die Anmeldung ist, ja?"
"Da wo die Frau sitzt und immer telefoniert."
"Ja genau! Kannst du da bitte mal hingehen und Bescheid sagen, dass die Zeit um ist?"
“ Nö. “
"Was soll das denn heißen?"

"Nein!"
"Warum denn nicht?"
„Weil ich nicht will!"
"Warum nicht?"
“Ich will nicht, weil ich nicht will!"
"Du kannst auch anrufen, mein Schatz. Du musst nur den Hörer hochnehmen und zweimal die eins wählen. Dann ist die Frau von der Anmeldung dran und dann kannst du ihr auch sagen, dass die Zeit um ist."
"Nein, ich will nicht!"
"Sarah, ich komme doch an das Telefon nicht ran und mit den Nadeln im Rücken kann ich auch nicht aufstehen. Sei ein bisschen nett!"
"Nö!“
Langsam werde ich ungemütlich: "Na gut Sarah, wenn du heute noch nach Hause willst, hast du exakt zwei Möglichkeiten: Entweder du gehst Bescheid sagen oder du ziehst mir die Nadeln raus!"
"Na gut, dann ziehe ich die Nadeln raus."
Im ersten Augenblick bin ich sprachlos über soviel Frechheit. Aber irgendwie bleibt mir auch nichts anderes übrig, als sie machen zu lassen. Wer weiß, wie lange ich hier sonst noch herumliege und Dr. L. ist ja, wie ich es schon vermutet hatte, nicht wieder aufgetaucht.
Ich seufze ein bisschen. "Na gut Sarah, dann schau mal, ob du ran kommst. Du brauchst die Nadeln nur einfach rausziehen."
"Und wo soll ich sie dann hinlegen?"
"Sieh mal, da steht so eine große gelbe Dose. Da gehören die Nadeln rein, siehst du sie?"
"Ja, ist gut." Sarah fängt ohne Hemmungen an, mir die Nadeln herauszuziehen. Jede einzelne hält sie mir unter die Nase, damit ich sie begutachten kann, so als wollte sie sagen: 'Guck mal, ist noch alles dran!'
Fein säuberlich wirft sie eine Nadel nach der anderen in die Kanülenbox.
"Mama?“
"Ja, was denn? Kommst du nicht an alle ran?"
"Doch schon, aber du blutest. Was soll ich jetzt machen?"

"Lass es einfach bluten, mein Schatz. So schlimm wird es schon nicht werden."
"Tut es weh?"
"Nein, überhaupt nicht."
"Aber du blutest!"
"Ja, aber doch nur, weil du jetzt die Nadeln herausgezogen hast. Das ist nicht schlimm und tut auch nicht weh, verstanden?"
"Na gut, aber dein Hemd wird schmutzig."
"Das tun wir zu Hause gleich in die Wäsche, mein Schatz."

"Na gut, ich bin fertig. Kannst du jetzt aufstehen?"

"Ja Das hast du toll gemacht!"
Sarah bekommt ein Belohnungs Küsschen und ich kann mich endlich anziehen. Und im Gegensatz zu den Sprechstundenhilfen hat Sarah keine einzige Nadel vergessen!

Zwei Tage später gehe ich wieder zur Akupunktur. Frau A. begrüßt mich mit einem strahlenden Lächeln und fragt an, wo ich denn beim letzten Mal abgeblieben sei. Als ihr einfiel, dass ich gespickt im Zimmer acht herumliege und sie nachsehen gegangen sei, wäre ich weg gewesen.
"Hat der Doktor Ihnen die Nadeln gezogen?"
"Der Doktor hat versprochen, wiederzukommen und erschien dann nicht mehr.”
"Na, das ist ja wieder mal typisch. Und wer hat Ihnen geholfen?"
"Meine Tochter!"
"Die kleine Sarah? Ist sie denn da ran gekommen?"
"Das war kein Problem und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte ich sie heute wieder mitbringen müssen." Wir müssen beide über meine emsige Tochter lachen.
"Sie brauchen heute gar nicht erst ins Wartezimmer zu gehen. Sie können gleich in Zimmer sechs gehen."
"Prima danke schön."
Ohne zu zögern öffne ich die Tür von Nummer sechs und bleibe erschrocken in der Tür stehen. In Zimmer sechs sitzt ein Herr auf der Liege und badet seine Füße.

"Entschuldigung, da ist wohl etwas schief gelaufen," murmele ich und verziehe mich schleunigst wieder.
"Zimmer sechs ist belegt," erkläre ich einer völlig verblüfften Frau A.
"Das kann doch nicht sein. Also ich habe den Raum hier als frei. Bekommt denn dort jemand Akupunktur?"
"Nein, da badet ein Herr seine Füße."
Völlig ungläubig starrt mich Frau A. an: "Das gibt es doch nicht. Dann müssen Sie leider doch ins Wartezimmer gehen. Das tut mir leid."
"Macht doch nichts."

Nach gut zehn Minuten werde ich per Lautsprecher erneut in Zimmer sechs gebeten. Schnurstracks öffne ich dort die Tür und immer noch sitzt der Herr dort und badet seine Füße: "Sie sind ja immer noch da!", rutscht es mir heraus.

"Wollen Sie auch Ihre Füße baden?"
"Nein, ich habe eigentlich Akupunktur."
"Ach, wenn das so ist: Sie können gerne die Liege haben, ich kann mich auch in den Stuhl setzen."
"Vielen Dank, aber ich warte lieber, bis Sie fertig sind."

"Das dauert aber noch eine ganze Weile."
Frau A. sieht mich entsetzt an, als ich ihr mitteile, dass der Herr mit seinem Fußbad noch nicht fertig ist.
"Setzen Sie sich mal hier draußen hin, dass muss ich jetzt irgendwie mal klären. Das ist doch völlig unmöglich."

Nach einer Weile bittet Dr. L. mich, mitzukommen. Wir betreten eine Kabine und ich schaue ein bisschen erstaunt. Ein obskures Gebilde steht in der Kabine, offenbar handelt es sich um eine Liege, die man zigfach verstellen kann. Dr. L. fängt meinen etwas verblüfften Gesichtsausdruck auf und lächelt ein bisschen hilflos.
"Das sieht vielleicht ein bisschen merkwürdig aus, aber ich schwöre Ihnen, die Liege ist bequemer, als man denkt. Leider müssen Sie heute mit dieser Kabine vorlieb nehmen, weil in Zimmer sechs immer noch der Herr seine Füße badet. Ich weiß überhaupt nicht, wer den da reingelassen hat. Das ist noch nicht mal mein Patient. Ich hoffe, Sie sind mir jetzt nicht zu böse."
"Na ja, ich werde es überleben."
"Übrigens habe ich Sie letztes Mal vergessen, dass tut mir leid."
"Macht nichts, ich hatte ja Sarah dabei, die hat die Nadeln entfernt."
"Sarah? Toll! Sie sind mir ja irgendwann noch eingefallen, aber als ich dann nachgesehen habe, waren Sie schon weg. Das tut mir wirklich leid."
"Nicht so schlimm."
Nachdem Dr. L. mit dem Nadeln fertig ist, wünscht er mir wie gewohnt angenehme zwanzig Minuten.
"Wehe, Sie vergessen mich heute. Hier gibt es weder Telefon noch Klingel."
"Das tue ich bestimmt nicht. Ganz im Gegenteil, ich denke pausenlos an Sie."
"Na das war ja wohl nichts!"
"Ich verspreche, ich komme wieder."
Mir ist völlig klar, dass er auch diesmal nicht mehr an mich denkt und genauso ist es. Frau A. muss mich nach geraumer Zeit erlösen.
"Irgendwann werde ich mich bitter rächen. Er wird schon sehen, was er davon hat."
Frau A. fängt an zu lachen.
"Glauben Sie wirklich, dass Sie das schaffen?"
"Das ist ja das Problem, man kann ihm einfach nicht böse sein."
"Ja genau! Uns geht es hier genauso so. Manchmal könnte man ihm den Kopf abreißen, aber dann lächelt er einen so charmant an und die Wut schmilzt dahin."
Wie recht sie hat!

Anfang der Woche soll Tim mit mir in die Stadt kommen, weil er dringend neue Turnschuhe für den Sportunterricht in der Schule braucht. Natürlich sträubt er sich mit Händen und Füßen dagegen.
"Mama, ich finde das total doof. Ich habe Frederik gesagt, dass ich nach dem Mittagessen zu ihm komme. Wir wollen eine Burg im Garten bauen und dazu müssen wir Bretter sammeln."

"Die könnt ihr auch morgen sammeln."
"Nein! Und außerdem wartet Frederik auf mich."
"Dann ruf ihn an und sage ihm, dass du heute mit mir in die Stadt fährst und nicht kommen kannst."
"Was soll ich denn in der Stadt?"
"Du brauchst dringend neue Turnschuhe. In deinen kannst du nicht mehr herumlaufen. Du machst die Zehen ja ganz krumm."
"Das geht aber noch, Mama, ehrlich."
"Nein!"
"Dann hast du krumme Zehen und die muss man dann wieder gerade operieren!" Sarah ist mal wieder absolute Fachfrau.

"Du spinnst schon wieder, Sarah. Wenn die Zehen krumm sind, kann man sie nicht wieder gerade biegen."
"Nicht gerade biegen! Gerade operieren - mit 'nem Messer!"
"Mit einem Messer? Du hast wirklich einen Knall!”
"Ja mit einem Messer. Mama, man kann die Zehen doch gerade kriegen oder? Wenn man die operiert?"
"Ja ich könnte mir schon vorstellen, dass das funktioniert. Ich glaube aber nicht, dass das sehr angenehm ist. Ich denke, es ist wesentlich einfacher und angenehmer, neue Turnschuhe zu kaufen."
"Gehst du etwa vorher auch noch zu Dr. L.?"
"Ja sicher, hast du vielleicht gedacht, ich fahre mit dir noch einmal extra in die Stadt?"
"Dann muss ich da die ganze Zeit rumsitzen?“
"Nein, musst du nicht. Du kannst von mir aus in den Park gehen und so lange spielen."

"Alleine?!“
"Da sind sicher genug Kinder, Tim."
"Das ist total doof."

"Du wiederholst dich. Ich habe aber keine Lust, jetzt wieder von vorne anzufangen. Du gehst mit und Ende!"

Auf dem gesamten Hinweg ist Tim am Nörgeln. Der Bus passt ihm nicht, die Sonne ist zu heiß und im Wartezimmer ist es zu langweilig. Höchst widerwillig begleitet er mich ins Behandlungszimmer. Dr. L. lässt auf sich warten und so findet Tim wieder neuen Stoff zum Meckern.
"Braucht der immer solange?“


Dr. L. begrüßt Tim freundlich und fragt nach seinem Namen. Mein Sohn, der in der gesamten Nachbarschaft und unter den Eltern seiner Freunde als ein ungewöhnlich höfliches und freundliches Kind bekannt ist, gibt sich Dr. L. gegenüber nicht gerade freundlich. Mürrisch beantwortet er die Frage nach seinem Namen und hüllt sich dann in eisiges Schweigen.
Das Fass läuft für Tim über, als sich Dr. L. wie gewohnt mit dem Wunsch für die angenehmen zwanzig Minuten verabschiedet und die Tür hinter sich schließt.
Tim rutscht auf seinem Stuhl an die äußerste Kante und wirft einen ungläubigen Blick auf die geschlossene Tür.

"Was ist denn jetzt los?", fragt er mich völlig verblüfft.

"Wieso, was ist denn, Tim?"
"Wo ist der denn hin? Das geht doch nicht, dass kann der doch nicht machen. Ist der denn total verrückt?“
"Was ist denn los, Tim?" Ich begreife nicht, worüber sich mein Sohn so aufregt.
"Der kann dich doch nicht einfach so gespickt hier rumliegen lassen!"
Ich breche in schallendes Gelächter aus, Tim ist wirklich herrlich.
"Was gibt es da zu lachen? Findest du das etwa komisch? Ich nicht!”
"Aber Tim, das ist bei der Akupunktur doch so. Die Nadeln bleiben jetzt zwanzig Minuten drin und dann kommt jemand und nimmt sie wieder weg,"
"Aber das tut doch weh."
"Filius hat euch das doch vor einiger Zeit mal gezeigt und erklärt. Erinnerst du dich noch? Es tut nicht weh. Manchmal beim Einstechen, aber wenn sie erst mal drin sind, tut es nicht mehr weh, mein Hase. Ganz im Gegenteil, es ist sogar sehr angenehm, weil es anfängt zu kribbeln, dass Gefühl habe ich gerne. Du siehst also, es ist alles in Ordnung."
"Bist du auch ganz sicher, Mama?"
"Absolut, Tim. Also beruhige dich wieder."
Tim gibt tatsächlich Ruhe und ich kann mich auf die Akupunktur konzentrieren.
Im Gegensatz zu Sarah hat er keine Hemmungen das Telefon zu bedienen, um jemanden herzubitten, der die Nadeln wieder entfernt. Für mich ist es sehr angenehm, dass Tim das Telefon bedient, denn das Hochkommen aus der Bauchlage ist ausgesprochen schmerzhaft.
Tim regt sich dann noch einmal auf, weil einige der Stichkanäle etwas bluten, ist aber beruhigt, als ihm Frau K. versichert, dass das ganz normal ist und mir auch bestimmt nicht weh tut.
Tim betrachtet mich nachdenklich und lässt sich dann doch beruhigen.
Und ich staune mal wieder darüber, wie unterschiedliche meine Kinder doch sind.

 

 

 

 

 


 

 

Kapitel 43

 

 

 

Mein linkes Knie fängt wieder einmal an zu schmerzen. Langsam reicht es mir, Ich weiß bald nicht mehr, was ich noch anstellen soll. Mein Orthopäde schüttelt ein bisschen den Kopf, als ich ihm von meinem Knie berichte. Aber freundlich wie er ist, sieht er sich das neuerliche Malheur an. Das Durchbewegen des Kniegelenkes schmerzt und ein paar mal verziehe ich dementsprechend das Gesicht,
“Ich weiß wirklich nicht, was dahintersteckt. Ich denke mal, die falsche Körperhaltung verursacht nach wie vor das Problem. Sie hatten doch Einlagen, wie läuft es denn damit?"
“Das hat eigentlich ganz gut funktioniert, aber jetzt habe ich das Problem, dass es mit Einlagen noch schlimmer ist, allerdings nur auf der linken Seite."
“Tja, es könnte natürlich auch der Meniskus sein, hundertprozentig ausschließen kann man das nicht. Ich bin wirklich überfragt. Erst mal möchte ich aber nichts weiter unternehmen, lassen Sie uns noch ein bisschen abwarten. Vielleicht normalisiert sich das Ganze ja wieder. Das hoffe ich zumindest. Gibt es sonst noch etwas Neues?"
"Im Augenblick nicht."
Dr. L. nickt mir aufmunternd zu und setzt schließlich die Nadeln für die Akupunktur.
"So, dann wünsche ich Ihnen angenehme zwanzig Minuten.“
"Die werde ich haben", antworte ich lächelnd.

 

 

 

Kapitel 44

 

 

 

Mein Kontrollbesuch bei Werner ist überfällig. Eigentlich hätte die Gastroskopie im Juni stattfinden sollen, aber durch die ständigen Arzttermine konnte ich mich nicht aufraffen, auch noch zu Werner zu gehen. Entsprechend streng betrachtet er mich, als ich das Untersuchungszimmer betrete:
"Sieh da, sieh da, wer gibt sich denn heute die Ehre? Du bist überfällig, Tina!"
"Was du nicht sagst!" Ich reagiere ein bisschen knatschig auf Werners Art.
"Hast du irgendetwas? Bist du heute vielleicht nicht so gut drauf oder liegt es an mir, dass du so säuerlich bist?"

"Ich bin nicht säuerlich, aber es kann jawohl kein Drama sein, wenn ich im Juli statt im Juni zu dir komme, oder?"
"Himmel, du bist doch sonst nicht so empfindlich, was ist denn los mit dir?"
"Nichts!"
"Das glaube ich allerdings auch. Was macht dein Rücken?”

"Bist du neuerdings mein Orthopäde?"
"Willst du dich heute mit mir streiten, Tina?"
"Nein, natürlich nicht. Aber ich kann diese Fragerei nach meinem Rücken nicht mehr ertragen. Es geht mir ganz einfach auf die Nerven, verstehst du?"
"Es geht dir also mit dem Rücken immer noch nicht besser. Hm, das ist natürlich nicht besonders toll. Woran liegt's?"
"Was?"

"Dass es nicht besser wird!"
"Ach Werner, woher soll ich das denn wissen? Ich weiß doch selbst nicht, was mit mir los ist."
Werner betrachtet mich prüfend und nickt schließlich bedächtig: "Na komm, erzähl mir, was dich bedrückt."
"Werner, ich - ich weiß einfach nicht mehr weiter. Ich habe nicht gedacht, dass es solange dauern wird. Das Schlimmste ist doch, dass kein Ende abzusehen ist."
"Ist denn die Myelographie inzwischen gelaufen?"

"Erinnere mich bloß nicht daran.“
"Warum denn, war es so schlimm?"

"Sie haben nichts gefunden."
"Die Myelographie hat nichts ergeben? Absolut nichts?"
Ich nicke und sehe Werner an, der mich fassungslos betrachtet.
"Mensch Tina, was ist denn bloß los mit dir? Das hätte ich nicht erwartet, dass die nichts finden können. Für mich war eigentlich völlig klar, dass dieser Bandscheibenvorfall operiert gehört und nun das, Wie geht es denn jetzt weiter?"
"Ich weiß es nicht Werner. Schmerztherapie, Akupunktur - ach, ich habe keine Ahnung. Ich will, dass das endlich ein Ende hat."
"Ja, das kann ich sehr gut verstehen, Tina. Wie geht es dir sonst, ich meine dein Seelenleben?"
"Ich weiß es nicht so genau, Werner, Ich muss mich so enorm einschränken. Es gibt so viele Sachen, die ich einfach nicht mehr machen kann und die mir fehlen; Meine Arbeit, das Reiten - einfach alles. Selbst das Singen im Chor fällt mir schwer. Ich kann nicht längere Zeit stehen und du glaubst nicht, wie Singen weh tun kann im Rücken, Ist das nicht einfach albern?"
"Was sagt dein Orthopäde?"
"Was soll er denn dazu sagen? Er weiß nicht weiter. Ich war jetzt in vier Krankenhäusern, aber niemand fühlt sich zuständig oder hat auch nur die geringste Idee, was man unternehmen könnte. Das ist wie bei Sisyphus, weißt du? Ich bekomme immer wieder das Gefühl vermittelt, ich sei ein Hypochonder und irgendwann wird mich dieser Felsbrocken erschlagen.”

Werner lächelt mich an und schüttelt den Kopf: "Du lieber Himmel, du bist heute ja geradezu theatralisch. Du willst doch nicht etwa aufgeben?"
Nun muss ich doch lächeln: "Natürlich nicht, Werner, was denkst du denn. Habe ich jemals aufgegeben?"
"Nein und ich weiß genau, wenn der Felsbrocken erneut herunter kommt, dann wirst du ihn auffangen, um das mal mit deinen Worten auszudrücken."
„Wenn ich dann noch die Kraft dazu habe."

Nachdem ich die Gastro über mich ergehen lasse habe, ohne Doronicum, wegen des Tramals und des MSTs, und wieder beim Anziehen bin, betrachtet Werner mich ernst und nachdenklich.
“Was ist denn?", frage ich nun meinerseits Werner.
"Kann ich dich mal etwas fragen, Tina?" Werners Ton klingt ernst und konzentriert. Hellhörig geworden hebe ich den Kopf. Werner ist ein ausgesprochen fröhlicher Mensch, diesen ernsten Ton kenne ich bei ihm ganz und gar nicht, was dazu führt, dass ich ihn ein bisschen erstaunt betrachte;
„Natürlich! Du kannst mich alles fragen, was du möchtest. was ist los?"
„Du bist doch Mutter?"
Ich nicke. „Vierfach, aber das weißt du doch!"
"Ja ja, natürlich! Aber gerade deswegen möchte ich ja auch dich fragen - und weil ich weiß, wie du mit deinen Kindern umgehst,,
"Aha, wie gehe ich denn mit meinen Kindern um?“
"Anders jedenfalls als andere Mütter. Deine Kinder sind kleine Persönlichkeiten, keine kleinen Erwachsenen wohlgemerkt, aber doch kleine Persönlichkeiten, und du behandelst du sie auch. Du lässt sie bei allem mitreden und hörst dir ihre Sorgen, Probleme und Wünsche an und versuchst ihnen so weit wie möglich zu helfen. Du gehst mit ihnen so offen und ehrlich um, wie ich es sonst nie bei anderen Eltern erlebe. Selbst Susanne und ich schaffen es nicht, mit unseren Kindern so umzugehen, wie du es tust. Deshalb möchte ich dir eine ernste Frage stellen und ich hoffe, dass du mir ehrlich antwortest. Es wäre sehr wichtig für mich, Tina. Außerdem - als Krankenschwester und Rettungsassistentin hast du tagtäglich damit zu tun und ich dachte, dass du vielleicht ..."

 

Werner unterbricht sich selbst und betrachtet mich ein bisschen zögernd. Etwas beunruhigt sehe ich Werner an. So ernsthaft habe ich ihn wirklich noch nie erlebt. Auf was will er hinaus?

"Na schön, dann frag mich doch endlich; mach es nicht so spannend, Werner."

"Besprichst du mit deinen Kindern auch unangenehme Dinge?"

"Sicher, wenn sie meine Kinder mit betreffen. Was willst du konkret?"

"Ich meine, wenn eines deiner Kinder todkrank wäre, würdest du es ihm sagen - ihm erklären, was los ist?"

"Ja, selbstverständlich würde ich das tun," antworte ich, ohne zu zögern. "Außerdem, sie merken es ganz von alleine, wenn sie so krank sind. Warum fragst du mich das?"

"Sie merken es von alleine?"

"Ja, ich habe auf einer onkologischen Kinderstation gearbeitet, als ich in der Ausbildung war. Die meisten Kinder dort sind nie über ihre Erkrankung informiert worden, aber selbst die Kleinsten haben gewusst, was los ist. Kinder sind nicht dumm, Werner, die spüren solche Sachen, genau wie wir Großen. Was bezweckst du mit deiner Frage?"

"Wie sind die Kinder auf dieser Station damit umgegangen? Hatten sie Angst?"

"Ja, aber nicht weil sie sterben mussten. Sie hatten Angst vor den Schmerzen und den medizinischen Maßnahmen, aber die meiste Angst hatten sie davor, alleingelassen zu werden."

"Wieso alleingelassen?"

"Das passiert immer dann, wenn Eltern, Angehörige und Freunde mit der Situation nicht klarkommen. Sie wissen nicht, wie sie mit dem betroffenen Kind umgehen sollen. Dann passiert es, dass sie irgendwann nicht mehr erscheinen, das Kind alleine lassen, so bitter das auch klingt."

"Das ist grausam, Tina."

"Ja, das ist es. Aber wohl für beide Seiten, nicht wahr?"

"Die Kinder hatten keine Angst vor dem Tod?"

"Nein, eigentlich nicht. Im Gegenteil: Sie haben uns Mut gemacht. Sie haben uns den Mut gegeben, an eine Heilung zu glauben, aber wenn es nicht mehr ging, dann haben sie Mut gemacht zum Loslassen."

"Können Eltern denn loslassen?"
"Eltern müssen loslassen, wenn es nicht mehr anders geht. Genauso wie die Kinder loslassen müssen, verstehst du? Sie müssen eben Abschied nehmen, Werner."
"Wenn man Zeit hat, das Loslassen zu lernen, sich darauf einzustellen, dann mag das ja funktionieren. Was tut man, wenn einem die Zeit wegläuft?"
Bestürzt sehe ich Werner an: "Warum fragst du mich das alles, Werner? Du hast doch einen Grund dafür!""
"Timo! Er hat einen Hirntumor," antwortet mir Werner leise.
Ich bin geschockt. In Gedanken sehe ich Werners kleinen Sohn Timo vor mir. Dieser freche Lausbube mit den roten Haaren, den Sommersprossen und diesem herrlichen Lachen, dem niemand widerstehen kann.
Werners Frau Susanne nennt ihren achtjährigen Sohn zärtlich 'Pumuckl' und auch unsere Kinder rufen ihn so. Ich greife nach Werners Händen: "Wie lange wisst ihr es schon?"
"Erst seit gestern. Sie haben einen Hirntumor gefunden, inoperabel. Timo ist am Sonntag zusammengebrochen. Wir haben ihn erst in die Kinderklinik gebracht, aber sie haben ihn in die Hochschule verlegen lassen. Die Zeit läuft uns weg, Tina und ich - ich kann..." Werner schüttelt verzweifelt den Kopf.
"Wie geht es Timo?"
"Eigentlich ziemlich gut. Er hat sich von dem Zusammenbruch schnell erholt, er hat auch keine Schmerzen, aber die Ärzte dort machen uns keinerlei Hoffnung. Eigentlich sollte ich jetzt nicht hier in meiner Praxis sitzen, sondern bei meinem Sohn. Was mache ich eigentlich hier? Ich halte meine Sprechstunde ab, als sei nicht das Geringste passiert. Sag nichts. Ich kenne die Antwort ja selbst:

 
Ich habe Angst, Tina. Ich gehe meiner Familie aus dem Weg. Aber das Schlimmste ist, dass ich nicht weiß, was ich Timo sagen soll. Letztendlich fühle ich mich auch verantwortlich. Da ist das eigene Kind schwer krank und ich merke es nicht einmal. Ich bin nicht nur der Vater, ich bin auch Arzt und merke nicht, dass mein eigenes Kind todkrank ist, kannst du das verstehen? Ich nicht!“ "Haben sie eine Prognose abgegeben?"
"Keiner weiß, wie lange er noch hat - wie lange wir noch haben! Vielleicht ein paar Tage, ein paar Wochen? Aber sicher keine Monate mehr."
"Willst du meine ehrliche Meinung hören?“
„Ja, sonst hätte ich dich nicht gefragt."
"Sprich mit Timo, Werner. Wenn du es jetzt nicht tust, wirst du es dein ganzes Leben lang bereuen. Wenn Timo nicht mehr da ist, ist es zu spät. Du musst es jetzt tun."

„Ich habe in meiner Praxis einige Krebspatienten. Es ist nie ein Problem für mich gewesen, mit meinen Patienten über ihre Erkrankung und ein mögliches Ende zu sprechen, aber - Timo ist mein Sohn!"
"Du sagst es! Timo ist dein Sohn und er braucht dich jetzt und du ihn. Wenn ihr Abschied nehmen müsst, dann tut es. Tu es, solange Timo noch dazu in der Lage ist, Werner. Ich bitte dich: Verpass diese Chance nicht. Lass ihn nicht alleine!"
"Soll ich etwa hingehen und ihm sagen: Timo, du wirst an dieser Krankheit, die du hast, sterben?"
"Ja! - Nein! Vielleicht nicht so platt, aber sinngemäß schon.”
"Das kann nicht dein Ernst sein, Tina!”
"Du wolltest meine Meinung hören, Werner. Ich bin der Ansicht, nur mit Offenheit und Ehrlichkeit kannst du Timo gegenübertreten."
"Und was glaubst du, wie er dann wohl reagiert?"
"Das kann dir niemand sagen. Werner, du bist Timos Vater und er hat es verdient, dass du ehrlich zu ihm bist. Lass ihn nicht so gehen, ich bitte dich. Wenn ihr es ihm nicht sagt, wird es ihm niemand sagen. Ich habe kaum einen Arzt gesehen, der einem Kind ganz offen und ehrlich sagt, dass es sterben wird. Sie tun sich ja selbst mit ihren erwachsenen Patienten schwer, geschweige denn mit Kindern. Timo wird es von alleine merken und sich möglicherweise von euch hintergangen fühlen. Das kannst du nicht wirklich wollen."
"Woher soll ich den Mut dazu nehmen, Tina? Sag es mir."

"Wenn du den Anfang nicht machen willst oder meinst, er verkraftet das nicht, dann warte doch, bis er dich fragt."

"Glaubst du wirklich, dass er fragen wird, was mit ihm ist?"
"Ja, er wird! Verlass dich drauf. Er wird es spüren, weil ihr euch verändert im Umgang mit ihm, weil sich in seinem Inneren etwas ändern wird. Er wird sehen lernen."
"Was wird er?"
"Sehen lernen, Werner. Die Chinesen nennen das so. Du musst einen Patienten nicht über seine tödliche Krankheit informieren, er weiß es wirklich alleine. Er lernt sehen. Aber er wird Fragen stellen und die musst du ihm beantworten."
"Das klingt alles so einfach, Tina. Weißt du eigentlich, wie schwer das ist?"
Ich nicke leicht. Natürlich weiß ich, dass das nicht einfach ist und ich möchte gewiss nicht in Werners Haut stecken.
"Hast du jemals irgendeinem Menschen gesagt, dass er sterben muss?"
"Ja, das habe ich," antworte ich leise.
"Wirklich?" Werner sieht mich verblüfft an.
"Ja, weißt du, wenn die Ärzte es nicht machen, dann fragen die Patienten eben die Pflegekräfte. Wenn jemand von meinen Patienten mir diese Frage gestellt hat, dann habe ich sie ehrlich beantwortet."
"Dazu bist du gar nicht befugt, Tina!"
"Das weiß ich selbst, Werner. Aber wir haben unseren Patienten gegenüber Verantwortung. Dazu gehört, dass wir ehrlich mit ihnen umgehen. Also werde ich den Teufel tun und meine Patienten belügen!"
"Das musst du doch gar nicht, Tina. Sag ihnen doch, sie sollen den Arzt fragen."
"Ja, tolle Antwort auf eine existenzielle Frage! Was meinst du denn, wie der Patient das interpretiert? Kann ich da nicht gleich ja sagen? Außerdem bin ich ohnehin der Ansicht, dass der Patient zu den Pflegekräften den intensiven Kontakt hat und dadurch das Vertrauensverhältnis am größten ist. Also muss ich auch ehrlich sein!"
"Wieso setzt du dich immer über alle Regeln hinweg, Tina?"

"Weil ich nicht einsehe, warum ich eine so blödsinnige Regel einhalten soll. Ich weiß als Pflegekraft doch ganz genau, was dem Patienten fehlt, vor allen Dingen aber wie es seelisch in ihm aussieht. Jedenfalls dann, wenn ich bereit bin, mich mit ihm auseinanderzusetzen und ich tue das, da kannst du sicher sein. Ich habe am meisten mit dem Patienten zu tun, jedenfalls im Pflegedienst. Was soll das also?“
"Es hat alles seinen Sinn, Tina!"
"Na, dann erkläre ihn mir mal, Werner! Bisher hat mir nämlich niemand den Sinn dieser Regel erklären können. Es kann doch wohl nicht alleine daran liegen, dass ein Arzt ein viel umfassenderes medizinisches Wissen mitbringt als ich. Mal ganz abgesehen davon, dass es auch Ärzte gibt, die darauf bauen, dass die Schwestern diese Hiobsbotschaften unter die Patienten bringen, weil sie nämlich auf ihrer Uni nie gelernt haben, wie man damit umgeht."
"Musst du uns eigentlich immer kritisieren? Kannst du nicht einmal auch etwas widerspruchslos hinnehmen? Hast du in deiner Ausbildung vielleicht gelernt, wie man mit todkranken Patienten umgeht?"
"Ja, allerdings. Ich habe Seminare im Bereich Sterbebegleitung besucht und längere Zeit in diesem Bereich gearbeitet."
"Du erstaunst mich immer wieder, Tina. Gibt es eigentlich auch irgendetwas, was du noch nie gemacht hast?"
"Ja, natürlich! Ich habe noch nie operiert!"
"Du bist unmöglich! Aber wenn das dein Wunsch ist, dann musst du eben doch noch Medizin studieren, Tina!"
"Ganz sicher nicht, Werner. Der Zug ist schon lange abgefahren! Aber wenn schon Pflege und Rettungsdienst, dann bitte mit möglichst umfangreichem Wissen und Erfahrung, okay?"
"Na schön, deshalb weiß ich jetzt aber immer noch nicht, wie ich mit Timo umgehen soll. Susanne und ich haben beschlossen, Timo nach Hause zu holen. Glaubst du, dass das richtig ist?"
"Wenn es für euch richtig ist und wenn ihr bereit dazu seid - warum nicht."
"Ich weiß nicht, ob es richtig ist, aber wenn ich mit Timo sprechen muss, dann ist doch zu Hause der richtige Platz, oder? In der Hochschule haben sie gesagt, wir könnten ihn wiederbringen, wenn ... du weißt schon."

"Sprich es aus, Werner. Das musst du als Erstes lernen. Du musst dich der Tatsache stellen, dass Timo sterben wird."

"Verdammt noch mal, ich will Timo nicht hergeben! Er hat ja noch nicht einmal richtig gelebt. Tina, er ist doch erst acht Jahre alt!“ Werner steht die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Längst habe ich meinen Arm um ihn gelegt und halte ihn fest.

Frau K., Werners langjährige Sprechstundenhilfe öffnet die Tür und sieht herein. Ich sehe sie an und sie nickt mir zu, um dann die Tür leise wieder zu schließen.

"Was hast du vorhin mit der Chance gemeint?“

"Du kannst mit Timo sprechen und du kannst dich von ihm verabschieden, wenn du nur willst. Diese Möglichkeit haben nicht viele Menschen. Werner, nutze sie. Bitte!"

"Hast du das auch schon erlebt, Tina? Ich meine, jemanden gehen zu lassen, ohne dass du dich verabschieden konntest?“ Ich denke sofort an meinen Vater und nicke: "Ja, mein Vater hatte Krebs und hat sich das Leben genommen, weil er nicht unnötig leiden wollte. Wir hatten keinerlei Möglichkeit, uns von ihm zu verabschieden und das tut mir heute noch weh, auch wenn ich ihn mittlerweile verstehen kann."

"Wenn er dir vorher gesagt hätte, was er vor hat, hättest du dich von ihm verabschiedet und ihn gehen lassen?“

Ich denke einen Augenblick darüber nach und schüttele dann langsam den Kopf: “Nein, höchstwahrscheinlich hätte ich alles getan, um ihn davon abzubringen. Nicht, weil ich ihn nicht hätte verstehen können, sondern weil für mich die Zeit noch nicht da war. Ich hatte noch so viele Fragen und hätte ihm gerne zum Abschied gesagt, wie sehr ich ihn geliebt habe. Er war etwas Besonderes für mich, so wie Timo für dich und deswegen ..." Ich schweige ein bisschen hilflos.

 

Werner lächelt mich zaghaft an und nickt leicht: “Na ja, du bist wenigstens ehrlich. Wenn ich so darüber nachdenke, hast du wahrscheinlich recht. Es liegt wohl wirklich an mir und Susanne, wie wir damit umgehen und fertig werden. Ich möchte meinem kleinen Sohn gerne sagen, dass ich ihn liebe und mich von ihm verabschieden. Vielleicht muss ich mich wirklich nur öffnen und alles auf mich zukommen lassen. Und vielleicht hast du recht und Kinder sind wirklich stärker, als wir glauben. Trotzdem habe ich Angst."

"Diese Angst kann dir nur Timo nehmen, Werner, sonst niemand!"

Mit gemischten Gefühlen verlasse ich Werners Praxis. Die Hilflosigkeit und Verzweiflung, die ich bisher nicht an ihm kannte, hat mir wehgetan.

Erst viel später, längst zu Hause, fällt mir ein, dass wir kein Wort über das Resultat der Gastro gewechselt haben. Aber ist das jetzt wichtig? Wohl kaum!

 

Vierzehn Tage später erhalten wir die Nachricht von Timos Tod. Es ist eine stille Beisetzung, die nur im Familien - und Freundeskreis stattfindet. Ich bin sehr traurig, als ich den kleinen, weißen Sarg vorne in der Kapelle stehen sehe und muss unweigerlich an meine vier Kinder denken, die gottlob gesund neben mir sitzen - keine Selbstverständlichkeit, auch wenn wir das immer so hinnehmen.

Als wir unsere Sommerblumensträuße auf Timos Sarg werfen, tritt Werner zu mir und legt mir einen Arm um die Schulter. Leise flüstert er mir ein Danke ins Ohr und geht wieder zurück zu Susanne.

 

 

 

 


 


 

 

Kapitel 45

 

 

 

Ein neuer Akupunkturtermin bei Dr. L. ist an der Reihe und mittlerweile bin ich auch zum Kontrolltermin beim Neurologen gewesen. So kann ich auf die Frage von Dr. L., ob es etwas Neues gibt, mit ja antworten. "Ich war mal wieder beim Neurologen, aber der ist immer noch sauer wegen des Antidepressivums. "

"Weil Sie es nicht einnehmen wollen?"
„Ja, das nimmt er mir persönlich übel.“

"Unglaublich! Hat er sonst noch etwas gesagt?“

"Ja, er hat eine Szintigrafie vorgeschlagen. Er meint, damit kommen wir vielleicht weiter.“

„Versuchen können wir das natürlich. Versprechen tue ich mir davon aber nicht allzu viel. Das soll uns aber nicht abschrecken, hm? Ich gebe Ihnen eine Überweisung und dann sehen wir mal, was dabei herauskommt. Bei der Gelegenheit können wir eigentlich Ihr Knie auch gleich mit untersuchen lassen, vielleicht findet ja der Kollege K. etwas."
Dr. L. stellt mir die notwendige Überweisung aus. Ich habe allerdings, ebenso wie mein Orthopäde, keine Hoffnung mehr mehr, dass uns das weiterbringt. Aber bitte, versuchen können wir es ja.

Als ich nach Hause komme, empfängt mich lautes Kindergeschrei, das ich schon von Weitem höre. Unverkennbar ist Sarahs Stimme dazwischen und beim Näherkommen erkenne ich auch die Stimmen von Tim, Frederik und Joel, die sich offenbar heftig mit Sarah streiten.

"Was ist denn hier eigentlich los?", frage ich, als ich unser Grundstück betrete.

"Die wollen mich nicht mitspielen lassen!", beschwert sich meine kleine Tochter heftig.

"Warum nicht?", frage ich in die Runde junger Männer, zu der außer den oben genannten auch noch Sebastian, Markus und Norman gehören.

Ein bisschen drucksen die sechs herum, bis schließlich Norman erklärt, dass sie Fußball spielen und Sarah deswegen nicht mitspielen kann.
"Warum denn nicht? Sarah spielt doch sehr gut Fußball.“

"Das ist es ja," erklärt Sebastian nach einigem Zögern. "Sarah ist zu gut. Sie schießt ein Tor nach dem anderen und wir verlieren."
"Aber ihr müsst doch zwei Mannschaften bilden,“ wende ich ein. Das ist auch so ungefähr das Einzige, was ich über Fußball weiß.
"Das haben wir doch gemacht, aber eine Mannschaft verliert immer." Frederik betrachtet mich empört.

"Ich dachte, das sei Sinn des Spieles, dass einer gewinnt, und der andere verliert."

Ja, aber es gewinnt immer die Mannschaft, wo Sarah drin ist und weil jeder sie in die Mannschaft haben will und wir uns deshalb streiten, haben wir entschieden, dass Sarah nicht mehr mitspielt." Markus sieht mich nach dieser Erklärung stolz an. Das ist natürliche eine geniale Lösung dieses Problems. Ich kann sehr gut nachempfinden, dass meiner kleinen Tochter das nicht gefällt.
"Ja, das ist eine Möglichkeit. Aber könntet ihr stattdessen nicht einfach auslosen, in welche Mannschaft Sarah geht?"

"Klar, aber deshalb verliert ja immer noch die andere Mannschaft." Sebastian betrachtet mich triumphierend.
"Ja, das ist ein Problem, das gebe ich zu. Was kann man da jetzt machen?" Ich seufze ein bisschen.
"Ihr könnt alle gegen mich spielen!" Meine selbstbewusste Tochter baut sich vor den Jungs auf, die alle zwei bis drei Jahre älter sind als sie selbst.
"Du kannst doch nicht alleine eine Mannschaft machen!" Florian ist empört.
"Warum nicht, wenn ich doch besser Fußball spiele als ihr?“
"Weil du nicht gleichzeitig Linksaußen und Libero und Torwart sein kannst, deshalb. "
"Kann ich wohl!"
"Kannst du gar nicht! Du bist eine selten blöde Kuh, Sarah!“
"Na, jetzt langt es aber!" Energisch schalte ich mich ein. "Geht mal ein bisschen freundlicher mit euch um, bitte. Im Übrigen würde ich vorschlagen, ihr diskutiert das Problem bei einem Eis aus. Möglicherweise kommt euch dann ja eine gute Idee."

Der Rest meines Satzes geht in einem ohrenbetäubenden Jubel Schrei unter.
Während die Kinder noch in meiner geräumigen Küche bei einem Eis sitzen und heftig darüber diskutieren, wie man das Fußballproblem in den Griff bekommt, klingelt es an der Haustür. Meine Freundin Christina steht vor der Tür und sieht mich ein bisschen hilflos an.
"Komm doch rein," erkläre ich ihr und halte die Tür auf.

"Ja, aber ich will dich nicht lange stören. Sag mal, hast du auf deinem Dachboden noch leere Umzugskartons?“
"Was willst du denn damit?"
"Hans zieht aus."
Erschrocken drehe ich mich zu Christina um und sehe sie entsetzt an. "Wieso zieht Hans aus?"
"Weil wir uns nur noch streiten. Wenn er mal zu Hause ist, gehen wir aufeinander los, als wären wir nicht normal. Mich nerven seine Arbeitszeiten, er ist doch kaum Zuhause. In zwei Wochen hatten wir einen Urlaub geplant, den hat er abgesagt, weil er für einen Kollegen einspringen muss. Hat er mal frei, klingelt unter Garantie das Telefon und Hans ist weg. Ich habe die Nase voll, Tina. Egal wie es ist, aber eines ist klar: Ich tauge nicht zur Arzt Ehefrau! Ich komme mit seinen Dienstzeiten und seinem Beruf nicht klar!"
Ich seufze ein bisschen. Ich habe keine Ahnung, die wievielte Arztehe das ist, deren Untergang ich hautnah mitbekomme, einschließlich der meines eigenen Bruders. Auch bei Ingo war die Ehe letztendlich an seinen unregelmäßigen Arbeitszeiten gescheitert.
Von den Ärzten, mit denen ich zusammengearbeitet habe, war die Hälfte geschieden und jetzt also auch Christina und Hans.
"Wo zieht Hans denn jetzt hin?“
"Zu Freunden, sagt er."
"Und was wirst du machen? Du bleibst doch hoffentlich hier wohnen mit Rene?“
"Ja natürlich, was denkst du denn? Dieses Haus war unser großer Traum, ich kann mich nicht davon trennen, weißt du? Außerdem geht Rene hier in den Kindergarten, wir haben hier Freunde gefunden und ich kann jetzt jeden Freund gebrauchen. Und für Rene ist es vielleicht leichter, wenn er in seiner gewohnten Umgebung bleibt. "
Ein bisschen betrübt schüttele ich den Kopf. Hans und Christina sind die besten Freunde, die man sich wünschen kann. Es tut mir in der Seele weh, dass diese Ehe gescheitert sein soll, vor allen Dingen aber tut es mir für Rene leid, der sehr an seinen Eltern hängt. Wie wird dieser kleine Kerl mit seinen vier Jahren die Trennung verkraften?
Ich helfe Christina die Umzugskartons in ihr Heim tragen. Während Christina sich in die Küche verzieht, schaue ich ins Wohnzimmer, wo Hans dabei ist, seine Bücher in Kartons zu verpacken. Liebevoll werde ich zur Begrüßung von ihm umarmt.
"Hallo Tina, wie geht es dir heute?"
"Bis vor einigen Minuten ging es mir noch gut. Was ist denn bloß in euch gefahren?"
"Wir haben uns einfach auseinandergelebt. Es funktioniert nicht mehr, Tina. Ich bin es leid, diesen ständigen Stress zu Hause zu ertragen, nur weil Christina der Dienstplan nicht passt oder ich plötzlich ins Krankenhaus muss, weil ein Patient Probleme hat und meine Frau davon ein Drama macht. Du weißt doch am besten, wie das läuft. Ich bin nun einmal Arzt, das hat sie gewusst, als sie mich geheiratet hat.”
"Meinst du nicht, dass du ein bisschen unfair bist, Hans?“

"Unfair?! Na hör mal Tina! Machst du Michael vielleicht laufend eine Szene, nur weil er permanent unterwegs und so gut wie nie zu Hause ist?"
"Das ist doch ganz etwas anderes."
"Nein, wieso denn? Ob ich nun im Reisedienst das Wochenende unterwegs bin oder ob ich im Krankenhaus eine Sechsunddreißig-Stunden-Schicht schiebe, wo ist denn da der Unterschied, bitte? Man ist so oder so nicht zu Hause! Also? Ich bin es einfach leid, darüber ständig zu diskutieren!"
Irgendwie erinnert mich das an Bernd seine Worte im vergangenen Oktober, als er sich von seiner Freundin Beate getrennt hatte. Ganz ähnliches kam von ihm.
"Du hast trotzdem nicht recht. Bei Michael weiß ich, wann er Dienst hat und kann mich darauf einstellen. Bei dir ist das so eine Sache."
"Glaubst du etwa auch, ich sollte weniger Dienst schieben?"
"Ich weiß das ihr Personalprobleme habt und du mehr Schichten schiebst, als gut für dich ist. Aber musst du wirklich permanent für irgendwelche Kollegen einspringen, vor allen Dingen dann, wenn Christina am wenigstens damit rechnet? Was ist mit eurem Urlaub?"
"Ich hätte ohnehin keinen Nerv, mit Christina in den Urlaub zu fliegen. Da läuft wirklich nichts mehr zwischen uns. Muss ich dann wirklich so tun, als sei alles in Ordnung?"
"Sag mal, hast du vielleicht absichtlich den Job von deinem Kollegen übernommen? Vielleicht, weil du dich um diesen Urlaub drücken wolltest?"
Hans starrt mich einen Moment sprachlos an, um sich schließlich auf die Couch fallen zu lassen.
"Woher weißt du das denn?"
"Ich bin ein sehr hellhöriger Mensch, Hans. Ich kann nicht nur zwischen den Zeilen lesen, ich kann auch zwischen den Zeilen hören."
"Du wirst mir unheimlich, aber du hast nicht ganz unrecht. Ich habe mich nicht getraut, Christina zu sagen, dass ich unsere Ehe als gescheitert betrachte, da kam mir der Kollege schon ganz recht. Es ist aus, Tina, ich habe einen Schlussstrich gezogen. Ich hoffe, dass Christina und ich als Freunde auseinander gehen, alleine schon wegen Rene und weil mir Christina einmal sehr viel bedeutet hat. Aber mit ihr zusammenleben kann ich nicht mehr!"
"Dann ist dein Entschluss also endgültig?"
"Absolut, Tina! Für mich ist das Thema Ehe gegessen."

Traurig nicke ich. Hans seine Worte klingen entschlossen und unumstößlich. Schade!
Zärtlich umarmt Hans mich und gibt mir einen Kuss auf die Nasenspitze: "Tina, nimm es nicht so schwer. Millionen Ehen gehen kaputt, deshalb geht die Welt aber nicht unter. Ich schätze dich sehr als Freundin und mag deine Offenheit. Hoffentlich bleiben wir Freunde, es liegt mir sehr viel daran. Das ist nicht nur so dahin gesagt, ich meine das wirklich ernst. Und natürlich möchte ich auch nicht auf Michaels Freundschaft verzichten."
"Ich möchte nicht gern zwischen euch stehen, Hans. Mir bedeutet die Freundschaft zu euch beiden auch sehr viel, aber ich werde nicht Partei ergreifen - für keinen von euch beiden. Nehmt mich, wie ich bin, oder lasst es bleiben."

"Ich mag dich, wie du bist, Tina. Auch wenn du manchmal ein bisschen vorlaut bist und ich deine Meinungen nicht unbedingt immer teile. Ich erwarte keineswegs, dass du Partei ergreifst, und ich akzeptiere deine Einstellung. Werden wir also Freunde bleiben?“

"Ja, sicherlich.“

 

In den nächsten Tagen versuche ich Christina und Hans zu helfen, so gut es eben geht. Da ich mich nach wie vor nicht sehr gut bewegen kann, beschränke ich mich auf Tätigkeiten, wie Geschirr in Papier zu wickeln und noch mehr so anspruchsvolle Dinge.
Hans hat inzwischen durch einen Kollegen eine kleine Wohnung angemietet und nimmt den halben Hausstand mit.
Wie sehr unsere Kinder das Thema Trennung beschäftigt, merken wir, als Sarah Christina und mich fragt, ob sie schuld seien, dass Hans ausgezogen ist.
"Wie um alles in der Welt kommt ihr denn auf diese Idee?" Christina starrt Sarah entsetzt an. Sarah malt mit dem Fuß ein bisschen verlegen unsichtbare Kringel auf den Teppich, während sich inzwischen auch Tim, Amrei und der kleine Rene zu uns gesellt haben, die uns ebenfalls fragend betrachten.
"Wir dachten, vielleicht waren wir immer zu laut, wenn wir gespielt haben." Tim sieht uns beide prüfend an.
"Zu laut? Wie kommt ihr denn auf die Idee?"
"Na ja, Hans hat mal gesagt, wenn wir ihn nicht ausschlafen lassen, zieht er aus dem Tollhaus aus. "
"Ach du meine Güte!" Christina hat sich geschockt auf einen Küchenstuhl fallen lassen.
"Hört mal her, ihr Mäuse. Hans ist ausgezogen, weil wir uns nur noch gestritten haben. Mit euch hat das nichts zu tun, habt ihr verstanden? Na ja und das Hans gesagt hat, er zieht aus, wenn ihr ihn nicht schlafen lässt, hat er nicht wirklich so gemeint. An dem Tag hatte er Nachtdienst und in der Nacht hatte er operieren müssen und da war er eben sehr müde. Er war ein bisschen schlecht gelaunt und da sagt man manchmal Dinge, die man gar nicht so meint, versteht ihr das?"
Die vier Kinder nicken einträchtig, aber wenig überzeugt.

"Habt ihr euch denn jetzt gar nicht mehr lieb?“ Tim betrachtet Christina forschend, als könnte er die Antwort in ihren Augen lesen.
"Ach Tim, das ist eine schwierige Frage, die kann ich nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten.
Ich habe Hans immer noch sehr lieb, schließlich ist er ja auch Renes Papa, aber irgendwie können wir im Augenblick nicht zusammenleben.
Wir streiten uns, wenn wir uns nur sehen, dass macht Menschen krank. Man kann so nicht leben, also werden wir erst mal nicht mehr zusammen wohnen. Wir müssen jetzt versuchen, unser Leben zu sortieren. Ach du meine Güte, wie soll ich euch das nur erklären?“

"Ist das so, als wenn Mama und ich mal Krach haben? Mama geht dann in ihr Arbeitszimmer und ich gehe in mein Zimmer und dann denken wir über das nach, was wir uns gesagt haben und was vielleicht nicht sehr nett war. Wenn wir dann genug überlegt haben, dann reden wir miteinander und vertragen uns wieder. Ist das so, Christina?"
"Ja, so ist das wohl. Jedenfalls so ähnlich."
"Vertragt ihr euch dann wieder?"
"Ja, das werden wir ganz sicher tun, Tim."
"Dann ist ja gut. Lasst uns rausgehen!", kommandiert mein Sohn und die vier Kinder ziehen ab.

Zum Abendessen taucht unerwartet Filius auf und das mitten in der Woche. Aber irgendwie freue ich mich heute Abend, ihn zu sehen und begrüße ihn überaus zärtlich. Ein bisschen erstaunt betrachtet mich mein Großer:
"Mum, ist was mit dir? Geht es dir gut? Du bist irgendwie eigenartig."
Seufzend berichte ich ihm von Christina und Hans und die Reaktion der Kinder. Filius nickt ein bisschen nachdenklich: "Ich habe ja immer gesagt, dass wir eine viel zu intakte Familie sind. Nie Streit, nie Stress, alle fühlen sich immer wohl, beschützt und behütet. Ist doch kein Wunder, dass die Kinder total aus dem Häuschen sind, wenn in der Nachbarschaft die heile Welt zusammenbricht."
"Findest du, das wir in einer heilen Welt leben?"
"Na ja, du vielleicht nicht? Was haben wir denn schon für Probleme, Mum? Keine Scheidung, keinen Todesfall, nicht den allerkleinsten Streit. Nur blauer Himmel und Sonne, was willst du denn noch mehr?"
"Einen neuen Rücken!"
Filius lacht und schüttelt den Kopf: "Mum! Ich gebe ja zu, dass es dir nicht sonderlich gut geht, wenigstens von der Gesundheit her, aber wäre das Ganze nicht viel schlimmer, wenn du mit Michael Stress hättest oder eines von den drei Kleinen ernsthaft krank wäre? Oder wenn ich nur Bockmist treiben würde, wie manche anderen jungen Leute in meinem Alter, anstatt fleißig zu studieren? Sei mal ehrlich!"
"Ja, gegen manch andere geht es uns wohl wirklich sehr gut. Es ist schon beinahe unheimlich, dass es bei uns nie Zank und Streit gibt."
"Was glaubst du wohl, warum ich so gerne nach Hause komme, Mum? Ich bin ein Harmonie süchtiger Mensch und zu Hause ist es einfach schön."

Beim Abendessen spüren wir wieder, dass sich die Kinder den ganzen Tag mit Renes Eltern befasst haben. Amrei erklärt, auf meine Frage, was sie denn am Nachmittag mit Melinda gespielt hat, lapidar: "Vater, Mutter und Kind."
"Du spinnst mal wieder," erklärt Tim mit vollem Mund. "Dafür braucht man drei Leute und ihr wart nur zwei."

"Ja, aber das geht trotzdem."
"Nee, das geht eben nicht; Vater, Mutter und Kind sind drei Leute!"
"Ja, aber wenn der Vater doch ausgezogen ist?"
Seufzend schüttel ich den Kopf.

 

Als ich Tim ins Bett befördere, legt er plötzlich seine Arme um meinen Hals und schmiegt sich ganz fest an mich. "Mami, Papa zieht doch nicht weg, oder?"

"Nein Tim, Papa zieht nicht weg."

"Es stirbt auch keiner und kommt dann nie wieder?"

"Das wollen wir nicht hoffen, mein Großer."

"Mami, wo ist denn Timo jetzt, beim lieben Gott?"

"Ja, da bin ich ganz sicher, Tim. Timo ist jetzt sicherlich ein kleiner Engel und sieht auf uns herunter."

"Und es tut ihm nichts mehr weh?“

"Nein, niemals wieder."
"Möchtest du auch ein Engel sein, Mama?"

"Wie kommst du denn darauf?"

 "Weil dir dann auch nie mehr der Rücken so schlimm weh tut."

"Weißt du Tim, irgendwann müssen wir alle mal sterben, aber ich hoffe, ich habe noch ganz viel Zeit. Ich möchte sehen, wie du erwachsen wirst, und vielleicht hast du ja irgendwann auch einmal Kinder. Die möchte ich unbedingt noch kennenlernen und dann möchte ich ihnen von ihrem Papa erzählen, als der noch ein Kind war. Außerdem habe ich euch viel zu lieb, ich kann euch gar nicht alleine lassen.“

"Warum sagt Bernd immer Engelchen zu dir, wo du doch noch gar nicht tot bist?"

"Das ist ein Kosename, Tim. Einen Kosenamen gibt man Menschen, die man besonders gerne hat; so wie ich 'Hase' zu dir sage, verstehst du?"

"Mami?“

"Ja, mein Hase?"

“Ich möchte auch noch ganz lange bei dir bleiben und bei Amrei und Sarah und Filius und Papa und bei allen meinen Freunden. Können wir das dem lieben Gott sagen, Mama? Nicht das er mich ausVersehen morgen abholt und einen Engel aus mir macht."

"Ja, das können wir dem lieben Gott sagen, dann müssen wir jetzt beten, Tim." Wir falten beide unsere Hände und Tim spricht sein Gebet.

"Mami, was passiert denn eigentlich, wenn man stirbt? Tut das weh?"

„Wenn ein Mensch stirbt, dann hört sein Herz auf zu schlagen. Du weißt, welche Aufgabe unser Herz hat?“

"Ja, wenn man atmet, kommt Sauerstoff in das Blut und das Herz transportiert dann dieses neue Blut durch den Körper, damit der Sauerstoff überall hinkommt, bis in den kleinen Zeh. Und wenn das Herz nicht mehr schlägt, dann kommt nirgendwo mehr Sauerstoff hin und dann können wir nicht mehr leben."

"Ja, so ist das."

"Aber man kann doch das Herz wieder zum Schlagen bringen. warum hat man das bei Timo nicht gemacht?"
"Weißt du Tim, wenn Menschen so krank sind, wie Timo krank war, dann werden sie sehr müde und möchten nur noch schlafen. Weißt du noch, wie du letztes Jahr im Krankenhaus gelegen hast? Wie es dir auf der Intensivstation ging?"
"Da, wo es immer so gepiepst hat?"
"Ja, genau da."
"Da war ich auch müde und ich wollte nicht mehr reden."

"Stimmt! Du wolltest nicht mehr reden, nicht mehr essen, nichts mehr trinken. Du wolltest auch nur noch schlafen. Das war auch schon ein bisschen sterben. Aber du warst nicht so krank wie Timo, du konntest dich noch wehren und irgendwann ging es dir dann wirklich auch wieder besser. Timo war so krank, dass er nie mehr gesund geworden wäre. Und weil alle das gewusst haben, hat man Timo sterben lassen, damit er sich nicht mehr so quälen muss. Vielleicht hätte man sein kleines Herz wirklich wieder zum Schlagen gebracht, aber es hätte sicher nur ein paar Tage gedauert, vielleicht auch nur ein paar Stunden und es hätte wieder aufgehört. Timo wäre nur gequält worden damit und ich finde, das muss nicht sein."
"Tut sterben weh, Mami?"
"Ja, ich glaube schon, dass Sterben manchmal auch weh tut. Aber es kann sicher auch sehr schön sein. Ich habe Menschen gesehen, die sind mit einem Lächeln gestorben. Wenn man dabei lächelt, dann muss es doch wohl auch schön sein können; vielleicht so, als wenn man am Abend nach einem langen Tag in seinem kuscheligen Bett einschläft und sich rundherum wohlfühlt. Aber wie man später einmal sterben wird, wird dir niemand erzählen können.

Man muss es auf sich zukommen lassen, mein Hase. Man muss einfach abwarten. Es kann dir auch niemand sagen, wann es soweit sein wird. Manche Menschen sterben, wenn sie noch ein Kind sind, so wie Timo und das kann man einfach nicht verstehen, weil niemand weiß, welchen Sinn das haben soll. Aber da müssen wir dem lieben Gott vertrauen. Manche Menschen sterben erst, wenn sie sehr alt sind, so wie meine Großmutter zum Beispiel. Die war schon 98 Jahre alt, als sie gestorben ist."
"Mami, hast du Angst vor dem Sterben?"
"Nein!"
"Warum nicht?"
"Weil ich an Gott glaube und an Jesus Christus, Tim. Gott hat versprochen, dass alle Menschen, die an ihn glauben und ihm vertrauen, zu ihm kommen dürfen. Wir Christen nennen das das ewige Leben. Das bedeutet, dass wir nach dem Tod in ein schöneres Leben gehen dürfen. Ein Leben, in dem wir uns geborgen fühlen und nie wieder Schmerzen oder Trauer erleiden müssen. Aber das ist alles ganz schön kompliziert und ich weiß nicht, ob du das alles überhaupt schon begreifen kannst."
"Aber Timo ist doch in einen Sarg gekommen und dann in die Erde. Wie kommt er denn da wieder raus, wenn er zu Gott gehen will?"
"Nicht der Mensch, wie wir ihn kennen, geht zu Gott, sondern unsere Seele, Tim."
"Was ist denn unsere Seele?"
"Das ist eine schwierige Frage. Also unsere Seele ist das, was in uns drinnen ist. Das, was wir nicht sehen können. Aber wir können unsere Seele fühlen. Unsere Seele ist das, was wir spüren - unsere Gedanken, unsere Wünsche und Träume, unsere Angst, die wir manchmal haben und unser schlechtes Gewissen, wenn wir etwas angestellt haben. Wir spüren unsere Seele, wenn wir uns freuen oder ärgern, wenn wir lachen oder weinen. Du musst in dich hineinhören, dann kannst du deine Seele spüren. Nein - eigentlich stimmt das nicht, dass man die Seele nicht sehen kann. Unsere eigene Seele können wir vielleicht nicht sehen, aber wir können die Seele anderer Menschen sehen, wenn wir dazu bereit sind und uns öffnen.

Man kann die Seele in den Augen und im Gesicht sehen. Wir können erkennen, ob jemand traurig ist oder glücklich, ob er Angst hat oder unsicher ist. Wir müssen es nur wollen. Dazu muss man sich auf andere Menschen einlassen. Aber ich fürchte, das ist jetzt wirklich zu kompliziert. Darüber müssen wir später noch einmal reden, ja?"

"Kannst du meine Seele auch sehen?"
"Ja und da sehe ich jetzt eine ganz müde Seele, der schon langsam die Augen zufallen. Stimmt doch oder?"

"Ja, stimmt genau. Ich habe dich lieb Mami!"
"Ich dich auch, mein kleiner Großer. Schlaf schön und träum was Nettes!"
Zum Abschluss umarmt mich Tim noch einmal kräftig und ich bekomme einen dicken Kuss.
„Mami, ich habe dich schrecklich lieb."

"Ich dich auch, mein Hase. Schlaf schön!"
Als ich die Kinderzimmertür schließe, sehe ich Filius, der an der Flurwand lehnt.
"Nanu, warum stehst du hier im Flur?"
"Eigentlich wollte ich Tim Gute Nacht sagen, aber dann wollte ich euch beide doch lieber nicht stören."

"Du hast uns belauscht?"
"Ja, so kann man das auch ausdrücken. Ich liebe dich, Mum!"
Lächelnd schließe ich meinen Ältesten in die Arme...

 

 

 

 


 

 

 


 

 

Kapitel 46

 

 

 

 An einem höchst tristen August Morgen liefere ich meine Kinder bei Christina ab. Mein Termin zur Szintigrafie steht bevor und ich bin froh, dass Schulferien sind. Das erleichtert die Sache ungemein. Als Christina uns die Haustür öffnet, dringt ein ohrenbetäubendes Geschrei durch das Haus. Diese gewaltige Stimme gehört unverkennbar dem kleinen Rene.

"Du liebes bisschen, was ist denn in Rene gefahren?" Christina fängt an zu lachen und schließt die Tür hinter uns: "Er spielt mal wieder Rambo oder anders ausgedrückt: Er hat seine urigen fünf Minuten. Das legt sich gleich wieder."

 "Gibt es für die urigen fünf Minuten einen Grund?"

"Allerdings: Er sollte Zähneputzen. Wie du hörst, ist er nicht begeistert."

Ungläubig schüttel ich den Kopf. Mit Tim muss ich diesbezüglich zwar auch des öfteren diskutieren, aber ein solches Theater kenne ich nicht, jedenfalls nicht wegen des Zähneputzens.

"Und wie sind deine Kinder heute drauf?"

"Sarah ist schlecht gelaunt, weil sie nicht zu Florian darf. Die beiden wollen nämlich heiraten." "Und du Rabenmutter erlaubst es ihnen nicht? Schäm dich, Tina. Obwohl ich natürlich gehofft hatte, deine süße Maus würde sich für meinen Sohn entscheiden. Allerdings bei der Brüllerei, die er im Moment abzieht, würde ich ihn auch nicht nehmen."

"Da ist was dran. Tim hat noch nicht gefrühstückt, weil er keine Lust auf Frühstück hatte, und Amrei ist sauer, weil sie ihren Badeanzug nicht anziehen durfte. Das erschien ihr absolut unlogisch, denn es regnet und ein Badeanzug ist schließlich dazu da, nass zu werden."

"Wie schön, dass es in anderen Familien genauso zugeht, wie in der eigenen. Das beruhigt mich immer ungemein. Wann bist du zurück?"

"Kann ich dir nicht genau sagen. Es wird sich sicherlich bis in den Nachmittag hinziehen. Die Aufnahmen werden doppelt gemacht. Einmal gleich nach Injektion des Medikamentes und dann nach circa drei Stunden noch einmal. Es kann also dauern."

"Lass dir Zeit, Tina. Die Kinder sind bei mir gut aufgehoben."

 

In der radiologischen Praxis werde ich nach kurzer Wartezeit sehr freundlich von Dr. K. begrüßt, der mich sofort fragt, wie es meiner Bandscheibe geht.

"Sie erinnern sich an meine defekte Bandscheibe?“, frage ich verblüfft, denn das letzte Mal war ich im März hier.

"Na klar, wenn man eine Patientin für eine Untersuchung auf dem Rücken lagern muss und sie kann so nicht liegen, weil sie dabei so heftige Schmerzen hat, dass ihr die Tränen kommen und man selbst steht daneben und weiß nicht, wie man helfen kann, dann vergisst man das nicht. Können Sie jetzt besser auf dem Rücken liegen?"

"Nicht unbedingt, aber wir werden das schon hinkriegen."

"Dann ist die Bandscheibe also immer noch nicht in Ordnung?"

"Inzwischen glaubt schon keiner mehr, dass es die Bandscheibe ist."

"Aha, was ist es dann?"
"Das sollen Sie ja gerade raus kriegen - deswegen bin ich hier.“

"Oh, da schau mal einer an! Ich hätte vielleicht mal einen Blick auf die Überweisung werfen sollen." Spricht's und tut's!

"Was ist mit dem Knie?"

"Es schmerzt, ausdauernd und hartnäckig."

"Dann werden wir mal sehen, ob wir etwas finden können. Oder hätten Sie es lieber, wir finden nichts?"

"Ehrlich gesagt, wäre es mir lieber, wenn Sie fündig werden. Ich habe mir jetzt oft genug angehört, dass ich ein Hypochonder bin."

"Denkt Dr. L. das auch?"

"Gottlob nicht, sonst wüsste ich nämlich gar nicht mehr, wo ich hingehen sollte."

"Dann ist er also Ihr Fels in der Brandung?"

"Ja, so kann man das natürlich auch nennen."

Wir müssen beide lachen und ich stelle wieder einmal fest, wie sympathisch Dr. K. ist.

 

Am Nachmittag will ich wie versprochen meine Kinder wieder bei Christina abholen. Ich habe das Gartentor noch nicht richtig geschlossen, als Charlie, Hermans Neufundländer, mich mit einem Satz anspringt. Mit Schwung fliege ich an den Gartenzaun und kann mir einen lauten Aufschrei nicht verkneifen, denn ein heftiger Schmerz schießt durch meinen Rücken.

"Um Gottes Willen, Tina, ist alles in Ordnung? Charlie, komm hierher!" Christina stürzt auf mich zu, nicht wissend, was sie zuerst tun soll: Charlie festhalten oder mir aufhelfen, denn unweigerlich bin ich in die Knie gegangen.

"Oh Gott, dieser dämliche Hund!" schimpfe ich. "Wo kommt der überhaupt her?"

"Herman hat einen Termin und hat Charlie vorhin rübergebracht, damit ich auf ihn achte und er keinen Unfug anstellt. Das habe ich eindeutig mit Bravour geschafft. Tut mir wirklich leid, Tina, geht es wieder?" Ich nicke und versuche wieder auf meine Füße zu kommen. Offenbar hat Charlie begriffen, das er etwas Dummes angestellt hat, denn er legt sich flach vor mich auf die Erde und bettelt mich aus seinen treuen Hundeaugen an. Nun muss ich doch lachen, ich kann ihm einfach nicht böse sein. Sofort springt Charlie wieder auf seine Füße und schmiegt sich fest an mich. "Komm her, du verrücktes Vieh und lass dich streicheln." zärtlich kraule ich in Charlies dichtem, langem Fell und er lässt es sich natürlich gerne gefallen.
"Du kannst diesem Ungetüm auch nicht widerstehen, oder?" Christina betrachtet mich lächelnd.
"Ich kann keinem Hund widerstehen und Charlie am allerwenigsten. Woher soll er auch wissen, dass es im Moment nicht gerade günstig ist, mich anzuspringen. Ich kann es ihm so schlecht erklären. Ich meine, weiß er überhaupt, was eine Wirbelsäule ist?"
Christina fängt an zu lachen: "Tina, ich trau dir sogar zu, dass du selbst einem Hund noch klar machst, warum er dich nicht anspringen darf. Lass dir Zeit beim Erklären und er wird kapieren, was eine Wirbelsäule ist."
"Hast du gehört, Charlie? Du bekommst jetzt Nachhilfeunterricht in Anatomie und Orthopädie und dann erwarte ich von dir, dass du mich nicht mehr anspringst. Ich hoffe, du hast das verstanden?"
Ein kurzes Bellen von Charlie bringt uns beide zum Lachen. Charlie hat verstanden.
"Ich weiß wirklich nicht, warum du dir nicht einen Hund zulegst, Tina? Du bist die geborene Hundehalterin, wirklich.“
"Ich habe ja immer einen Hund gehabt, Christina. Aber die vorletzte Hündin ist uns unter einen Traktor gelaufen und ihre Nachfolgerin hat man uns vergiftet. Ich bin einfach zu sensibel, um das noch mal durchzustehen. Weißt du, ich war Tagelang nicht ansprechbar, weil mir mein Hund gefehlt hat."
"Hast du schon als Kind einen gehabt?"
"Ich habe immer einen gehabt, solange ich denken kann und ich liebe Hunde über alles, sie müssen nur groß genug sein.”
"Wie groß?"
"So groß, dass man sich beim Streicheln nicht zu tief bücken muss."
"Also so wie Charlie."
"Ja, der hat schon die richtige Größe."
"Was hast du denn für einen Hund gehabt als Kind?"
"Einen altdeutschen Schäferhund. Weißt du, so einen Langhaar. Taps ist siebzehn Jahre alt geworden. Für einen Hund ein stolzes Alter. Dann gab es erstmal keinen Hund mehr, weil ich ein Kind hatte und ins Studium ging, das hätte ich nie unter einen Hut bekommen. Aber Michael und ich hatten später eine Schäferhündin, unsere Anka, an der auch die Kinder sehr hingen. Sie wurde überfahren. Sie war uns vom Grundstück entwischt und geriet unter einen Traktor. Der Bauer, der sie überfahren hatte, fühlte sich dafür verantwortlich, obwohl er überhaupt nichts dafür konnte. Er schenkte uns eine neue Schäferhündin, Lissie. Die wurde nach einem Jahr vergiftet. Wir haben nie herausgefunden, wer es gewesen war. Na ja, seitdem mag ich keinen mehr. Ich bin es einfach leid, von diesen Viechern ständig Abschied nehmen zu müssen."
"Das muss dir doch nicht jedes Mal passieren, Tina. Warum wagst du nicht einen Neuanfang?"

"Im Moment fehlt mir das gerade noch. Wer sollte denn mit dem Hund spazieren gehen, wo Michael die ganze Zeit unterwegs ist? Ich bin froh, dass ich mich selbst einigermaßen von der Stelle bewegen kann."

"Ja, da hast du wahrscheinlich recht. Aber irgendwann wird es dir doch auch wieder besser gehen und dann kannst du ja noch mal darüber nachdenken."
"Ja, vielleicht."

 


 

 

Kapitel 47

 

 

 

An einem ziemlich nassen Donnerstagabend startet meine Familie zu einer Kurzreise nach Paris. Mein Bruder Ingo wird dort heiraten und ich werde nicht dabei sein, denn die Reise nach Paris traue ich mir nicht zu. Immer noch quälen mich heftige Rückenschmerzen und auch mein Knie macht erhebliche Probleme. Als mein Mann mich zum Abschied in die Arme nimmt, bin ich doch sehr traurig, dass ich bei der Hochzeit nicht dabei sein werde. Aber es gibt ein Trostpflaster: Mein Bruder Ralf hat zugesagt, einen Abstecher nach Deutschland zu machen und mich zu besuchen, bevor er nach Kalifornien zurück fliegt. Aber bis Samstag ist es noch schrecklich lange hin.

Freitagvormittag greife ich zum Telefon und wähle die Nummer in Paris, die Ingo mir hatte zukommen lassen. Es ist der Telefonanschluss seiner zukünftigen Schwiegereltern.

 
Ingo hatte seine Camille wie in einem Liebesfilm kennengelernt: Camille kam als Tierärztin nach Burkina. Sie arbeitete in einem Forschungsteam, die das Verhalten der Elefanten im dortigen Elefanten Schutzgebiet untersuchte. Man hält es nicht für möglich, aber eine junge Elefantendame trat ihr auf den Fuß und Camille musste sich in ärztliche Behandlung begeben, so lernte Ingo sie kennen. Schnell freundeten die beiden sich an und verbrachten jede freie Minute miteinander, bis der Tag kam, an dem Camille nach Paris zurückkehren sollte. Sie erschien morgens im medizinischen Zentrum in Ouagadougou, um sich von Ingo zu verabschieden und das tat sie auch. Sie war vielleicht zehn Minuten weg, als Ingo wie von der Tarantel gestochen von seinem Stuhl hoch schoss, sich die Autoschlüssel griff und zum Flughafen raste. Er erwischte Camille, bevor sie einchecken konnte, und bat sie, zu bleiben - sie blieb. Das ist jetzt drei Jahre her.

 

So wie Camille in Afrika blieb, so blieb mein Bruder Ralf in Kalifornien, als er seine Tamico auf der Golden Gate Bridge kennenlernte. Wie so ziemlich alle Touristen, die irgendwann einmal nach San Francisco kommen, wollte auch er die Brücke zu Fuß überqueren und die Sonne im Pazifik versinken sehen. Da sah er auf den Streben des Brücken Geländers eine junge Frau stehen und war der festen Überzeugung, sie wolle sich von der Brücke stürzen. Das wollte sie aber ganz und gar nicht. Sie lachte ihn wegen seiner Rettungsversuche aus und sagte ihm, er solle sich auch auf die Streben stellen, denn nur so könne man das Vibrieren und Schwingen der Brücke wirklich genießen. Sie hatte übrigens Recht, Jahre später habe ich es selbst ausprobiert - unter der fachlichen Anleitung meiner Schwägerin.

Ein sehr charmanter Herr meldet sich in Paris am Telefon und mein Französisch reicht immerhin so weit, dass ich dem Herrn klar machen kann, wer ich bin und wen ich sprechen möchte. Nur einen winzigen Augenblick später habe ich Ingo am Telefon: "Tina, Wie schön, dass du anrufst!"
"Ich wollte dir wenigstens persönlich Glück wünschen, wenn ich schon nicht dabei sein kann. Bist du aufgeregt?"
Ingo lacht leise: "Ja, furchtbar! Schlimmer als beim ersten Mal, weißt du?
Das liegt daran, dass ich mit Camille die Frau gefunden habe, mit der ich alt werden möchte."

"Ja, das klingt schön."
"Das ist nicht von mir. In etwas anderer Form hat das mal eine junge Frau gesagt, die ich persönlich vielleicht noch ein bisschen mehr liebe als meine zukünftige Frau."

"Und das wäre wer?"
"Du hast das gesagt!"

"Ich? Wann?"
"Als Ralf dich an deinem Hochzeitsmorgen gefragt hat, ob du glücklich bist. Da hast du gesagt: Mit diesem Mann möchte ich alt werden - und einen Stall voll Kinder wolltest du."
"Ja, du hast recht. Ich erinnere mich."
“Du warst eine sehr schöne Braut. Ich sehe dich noch im Schlafzimmer stehen mit diesem Wahnsinns Kleid und den vielen weißen Blumen in deinem langen Haar. Es klingt vielleicht verrückt, aber wir waren doch ein bisschen traurig, dass da einfach einer daherkommt und uns unsere kleine Schwester klaut."
"Selbst schuld, was seid ihr auch alle so weit weg! Ist Mutti heile angekommen?"
"Ja, gestern Nachmittag, mit Karin und Claus. Sie sind mit dem Pkw gekommen. Mutti war fix und fertig, als sie hier ankamen. Na ja, sie ist halt auch nicht mehr die Jüngste. Aber sie hat sich über Nacht gut erholt und ist jetzt hier erster Hahn im Korbe. Meine Schwiegereltern sind ganz begeistert von ihr. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie perfekt Französisch spricht. Wusstest du, dass sie so gut französisch spricht?"
"Nein, kann sie wirklich?"

"Ja, ich schwöre es dir!"
"Diese Frau ist unglaublich! Wahrscheinlich ist sie heimlich zur Volkshochschule gegangen." Ich muss lachen. Ich hatte wirklich keine Ahnung, dass meine Mutter so gut Französisch spricht.
Wir telefonieren noch eine Weile und ich bekomme schließlich auch noch Ralf, Peter und Christian ans Telefon. Nur Thomas fehlt, er hatte sich nicht frei nehmen können, hatte aber aus Delhi eine ewig lange E-Mail geschickt, wie mir berichtet wird.
Nachdem ich auch noch mit meinen Kindern telefoniert habe, die sich fast überschlagen vor Eifer mir zu berichten, was sie alles schon gesehen und erlebt haben, mache ich es mir mit einem Becher Tee auf der Couch gemütlich. Auch wenn ich ein bisschen traurig bin, nicht in Paris dabei sein zu können, genieße ich doch die Ruhe und Stille im Haus.

 

Samstagmorgen stehe ich bereits sehr früh auf, obwohl das der totale Blödsinn ist. Aber die Vorfreude, mittags meinen Bruder Ralf zu sehen, hat mich gefangen genommen. Die Zeit scheint nicht verrinnen zu wollen. Ich versuche zu lesen, bringe aber nicht die notwendige Konzentration auf. Erlöst bin ich erst, als gegen halb zwölf ein dunkelblauer Wagen auf unser Grundstück fährt und vor dem Haus stehen bleibt. Das kann nur Ralf sein. Ich öffne die Haustür und schaue einigermaßen verblüfft: Nicht nur Ralf steht vor mir, sondern auch Peter und der frischgebackene Ehemann.

"Ingo! Das kann doch nicht wahr sein! Wo ist denn Camille?"

"Bei ihren Eltern in Paris, wo sonst?"

"Was machst du denn hier? Du kannst Camille doch nicht alleine lassen! Ihr seid in den Flitterwochen!"

"Reg dich nicht so auf. Wir leben seit drei Jahren in ständigen Flitterwochen. Im übrigen hat Camille entschieden, dass ich mit fliege, vor allen Dingen deshalb, weil ich dir etwas erzählen muss, was ich dir nicht am Telefon sagen wollte."

Immer noch starre ich meine drei Brüder ungläubig an.

"Nun mach den Mund zu und krieg dich wieder ein, Kleines. Hast du wirklich geglaubt, wir verlassen Europa wieder und haben dich nicht gesehen? Also langsam solltest du uns wirklich kennen! Wir haben allerdings nicht damit gerechnet, dass du so perplex sein könntest. Aber das verdreifacht unsere Freude, dich überrascht zu haben. Können wir jetzt einen Kaffee bekommen?"

Peter grinst mich an und nimmt mich noch einmal in den Arm.

"Kommt mit in die Küche, ich koche euch Kaffee."

In der Küche drängt Ralf mich, mich hinzusetzen: "Setz dich, ich koche den Kaffee. Erzähl uns lieber, wie es dir geht. Ich habe schon registriert, dass du dich wieder besser und sicherer bewegst als im Dezember. Deine Bewegungsabläufe wirken auch wieder harmonischer. Bewirkt das das MST?" "Ja, ich kann mich wirklich wieder besser bewegen. Die Schmerzen sind zwar nicht weg und mit dem MST alleine komme ich auch nicht hin, aber ich komme wirklich besser zurecht."

"Du siehst auch sonst wesentlich besser aus als zu Weihnachten. Da warst du wirklich nur ein Häufchen Elend und wir sind höchst ungern wieder abgereist. Du hast ein bisschen mehr Farbe im Gesicht und du wirkst ausgeglichener." Ingo lächelt mich an und hält meine Hand. Ralf lehnt an der Spüle, die Hände vor der Brust verschränkt: "Du bist schlank geworden. Wie viel Kilo hast du denn runter seid Dezember?"
"Zweiundzwanzig!'"
"Donnerwetter! Das hat sich gelohnt, aber es fällt auch positiv auf. Nachdem du das Jahrelang vergeblich versucht hast, frage ich mich, wie du das jetzt schaffst?"
"Ganz einfach: Chronischer Appetitmangel und eine ausgeklügelte chinesische Diät mit viel Gemüse.”
"Sieh da, Hsan versorgt dich also. Sag bloß, er spielt über eine Entfernung von mehreren tausend Kilometern Doktor? Das ist ja nicht zu fassen, dieser Mann ist der pure Wahnsinn." Peter schüttelt lächelnd den Kopf.
"Wie geht es ihm denn?", erkundigt Ingo sich.
"Es geht ihm und seiner Familie sehr gut. Ich denke, er ist mit seiner Arbeit an der medizinischen Fakultät in Peking sehr zufrieden."
"Ihr steht also immer noch in ständigem Kontakt?"
"Ja, wir schreiben uns regelmäßig und Hsan ruft häufig an, um sich zu erkundigen, wie es mir geht. Er versorgt mich mit Tee, Kräutern und Gewürzen und überwacht aus dieser irren Entfernung meine Diät und sogar die Akupunktur. Ich muss ständig Bericht erstatten und genau Buch darüber führen, was und wie viel ich esse und wie ich mich nach der Akupunktur fühle und so weiter und so weiter. Er kontrolliert es pingelig genau."
"Dieser Mann hat den totalen Narren an dir gefressen, da kann einer erzählen, was er will. Das war schon in Afrika so und das wird sich wohl auch nie ändern. Mich wundert nur, warum er nicht versucht, dich zu überreden, nach Peking zu gehen." Peter schüttelt den Kopf.
"Das hat er schon getan. Ich finde Peking faszinierend, aber ich möchte auf gar keinen Fall dort leben. Ich bin keine Großstadtpflanze und dieser Lärm und diese Hektik dort würden mich umbringen, ehrlich."
"Ja, da hast du sicher recht. Du bist und bleibst ein Landkind. Du brauchst Wald und Wiesen und Kühe, dann bist du glücklich."
"Ja, irgendwie schon. Ich glaube, du hast recht, Ingo. Ich bin ein Naturmensch und meine Familie schließt sich da zum Glück bedingungslos an. Aber wolltest du mir nicht noch etwas erzählen? Was ist denn so wichtig, dass du es mir nicht am Telefon erzählen konntest?"
"Ich hätte schon gekonnt, aber ich wollte nicht. Wenn ich die Möglichkeit habe, dir etwas zu erzählen und dabei dein Gesicht zu sehen, werde ich nicht so blöd sein und diese Chance vertun."
"Na, da bin ich jetzt aber gespannt." Lächelnd betrachte ich Ingo, der sich tatsächlich erhebt und seine Arme um mich legt.
"Also, was ist los?"

Ich kann es nicht mehr erwarten. Wenn Ingo so spannend tut, muss es etwas Ungeheuerliches sein, was er zu berichten hat.
"Was ich dir dringend erzählen wollte, ist die Tatsache, dass ich auf meine alten Tage noch Papa werde. Was sagst du nun?"
Ich bin in der Tat sprachlos. Ingo ist mittlerweile 52 Jahre alt, damit habe ich nicht mehr gerechnet.
"Was ist, freust du dich nicht mit mir?"
"Doch natürlich, aber ich bin irgendwie überrumpelt. Ich werde wirklich noch einmal Tante? Damit habe ich nun wirklich nicht mehr gerechnet. Mein Gott Ingo, ist das schön! Ich freue mich ja so für euch und für mich. Hoffentlich bekomme ich das Kleine auch als Baby zu sehen und nicht erst, wenn es mir bereits entgegenläuft."
"Du wirst das Baby frühzeitig zu sehen bekommen. Camille will auf jeden Fall in Frankreich oder Deutschland entbinden. Sie ist eben nicht so mutig wie du, in Afrika ein Kind zur Welt zu bringen. Der Entbindungstermin ist der 6. Februar. Wenn wir zu Weihnachten kommen, wird Camille hier bleiben. Entweder in Paris bei ihren Eltern oder aber, und die Möglichkeit wäre uns eigentlich am liebsten, vielleicht bei euch, wenn das möglich ist. Was meinst du?"
"Da fragst du noch? Ich wüsste nicht, was ich lieber hätte. Oh Ingo, ich bin ganz aus dem Häuschen. Keinen von meinen Neffen und Nichten habe ich so klein bewundern dürfen. Ihr macht mir damit ein echtes Geschenk. Camille ist uns herzlich willkommen!"
"Das freut mich sehr. Außerdem bist du viermal Mutter geworden und immer die Ruhe in Person geblieben; ich glaube, du kannst ganz vernünftig auf Camille einwirken, schließlich ist es das erste Baby."
"Wirst du hier sein?"
"Ja, das hoffe ich. Ich werde nach Weihnachten erst wieder zurückfliegen, aber ich habe einen achtwöchigen Urlaub beantragt und werde Ende Januar wieder nach Deutschland kommen. Hoffentlich macht uns das Baby keinen Strich durch die Rechnung und kommt vor der Zeit. Wir würden dann Anfang April gemeinsam wieder nach Afrika fliegen, vorausgesetzt Mutter und Kind sind wohlauf.
Kannst du uns so lange ertragen?"
Was für eine dumme Frage! Da ich davon ausgehe, dass Ingo auf diese Frage keine Antwort wollte, schließe ich ihn stattdessen in die Arme. Himmel, ich bin so glücklich, als würde ich dieses Baby selbst bekommen.
So verbringen wir den Tag mit ausgiebigen Gesprächen und als wir uns am Abend in unsere Betten begeben, bin ich ein bisschen traurig, weil die drei nach dem Frühstück am nächsten Morgen wieder abreisen.
Entsprechend sieht auch meine Laune am Sonntag aus.
Lustlos lese ich ein bisschen, besuche schließlich Christina für eine Stunde, unterhalte mich eine ganze Zeit mit Herman über den Gartenzaun hinweg, während Charlie den Sprung über das Hindernis hinüber wagt und sich zufrieden zu meinen Füßen niederlässt, um ein bisschen in der warmen Sonne zu dösen.
Anschließend mache ich es mir in einem Liegestuhl bequem, während Charlie mir weiterhin Gesellschaft leistet. Er lässt sich neben meinem Liegestuhl nieder und legt seinen Kopf auf meinen Bauch. Genießerisch schließt er die Augen, während ich ihn zwischen den Ohren kraule, etwas, dass Charlie ganz besonders liebt, wie so viele Hunde.
Herman werkelt in seinem Garten und lässt uns zufrieden. Wahrscheinlich ist er froh, dass Charlie nicht zwischen den gepflegten Beeten herum tobt. Da ist er bei mir im Moment natürlich gut aufgehoben.

Irgendwann werde ich vorsichtig geweckt. Ich bin tatsächlich eingeschlafen. Noch immer liegt Charlie neben mir und hat den Kopf auf meinem Bauch liegen. Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, dass Herman mich geweckt hat.
"Kommst du mit rüber zu mir auf eine Tasse Eistee und ein Stück Kuchen? Ich habe gestern Apfel-Käsekuchen gebacken."

"Wie spät ist es denn?"
"Gleich drei Uhr, die richtige Zeit für Kuchen."
"Meine Güte, dann habe ich ja zwei Stunden geschlafen!"

"Ja und Charlie hat sich keinen Millimeter hier wegbewegt. Dieser Hund liebt dich. Kommst du nun?"
"Ja, wenn ich ein Wurstbrot bekomme. Außerdem habe ich noch nicht einmal Mittag gegessen."
"Das habe ich mir gedacht. Aber ich auch nicht, es ist einfach zu warm heute."

Wir sitzen schon eine Weile im Garten bei Herman, als Christina um die Ecke kommt.
"Hier steckst du also! Ich habe dich gesucht. Michael hat versucht, dich anzurufen. Der Flug, den sie eigentlich nehmen wollten, ist aus irgendwelchen Gründen abgesagt. Sie kommen jetzt eine Maschine später. Das sollte ich dir nur sagen, damit du dich nicht sorgst."
"Hat er gesagt, wann sie hier sein werden?"
"Er schätzt, dass sie gegen zweiundzwanzig Uhr zu Hause sind. Mein Sohn ist dabei, Eisbecher zu zaubern. Kommt ihr mit rüber?"
"Ich wollte meine Beete noch fertig machen." Herman sieht Christina nachdenklich an.
"Ach komm, heute ist Sonntag und du hast schon Stunden im Garten verbracht, sei nicht so. Ich finde, es reicht für heute, oder?" Fragend blickt Christina in die Runde.
"Na schön! Warum soll man nicht auch mal faul sein. Du hast wohl recht. Und wenn Rene die Eisbecher macht, sind sie bestimmt besonders toll."
Also wandern wir einen Garten weiter und genießen schließlich einen herrlich faulen Sonntagnachmittag.

 

 

 


 


 

 

Kapitel 48

 

 

 

Montagmittag. Ich habe wieder einen Termin bei der Schmerztherapeutin zur Infusion.
Letzten Montag hatten wir das Spiel auch schon, aber die Infusion blieb ohne jede Wirkung. Ich bin gespannt, wie es heute wird.
Ich werde von der Sprechstundenhilfe freundlich begrüßt und soll noch einen Moment im Wartezimmer Platz nehmen.
Es sind nur zwei Stühle besetzt und eine der beiden Damen, die dort sitzen, geht auch fast sofort. Offenbar hatte sie nur auf ein Rezept gewartet. Gleich darauf werde ich aufgerufen und in das Behandlungszimmer geführt, das ich bereits von der vergangenen Woche kenne: Eine Mini-Intensivstation. Wie in der letzten Woche muss ich mich ausziehen, werde in ein Engel Hemdchen gestopft und komplett verkabelt. Nur wenige Minuten später piepst es um mich herum.
Einige Minuten vergehen, ehe Frau Dr. D. auftaucht. Sie überprüft das Monitoring und raunzt die Sprechstundenhilfe unfreundlich an, weil das Oxidimeter fehlt. Diese entschuldigt sich und schließt gleich darauf das Gerät an. Die Diode klemmt sie mir auf den linken Mittelfinger.
Frau Dr. D. legt die Braunüle. Letzte Woche hatte sie die Braunüle auf den Handrücken legen wollen, was ihr aber nicht so recht gelang. So entscheidet sie sich heute, die Braunüle in die Ellenbeuge zu legen. Ausnahmsweise widerspreche ich nicht, denn für die halbe Stunde kann ich das mal hinnehmen. Als sie mit ihrer elenden Stocherei endlich fertig ist, Braunülen legen scheint nicht gerade ihre Lieblingstätigkeit zu sein, kontrolliert sie den richtigen Sitz, in dem sie Kochsalzlösung durch die Braunüle spritzt. Offenbar ist alles in Ordnung, denn sie nickt zufrieden, während ich innerlich den Kopf schüttel.
"Bevor ich Ihnen jetzt die Infusion anhänge, injiziere ich Ihnen noch für alle Fälle MCP. Das ist nur vorbeugend, falls Ihnen schlecht wird.“

Ich nicke zustimmend. Sie wird ja wohl wissen, was sie tut.
Schließlich baumelt auch die Infusion über mir und Frau Doktor verabschiedet sich: "Den Rest macht jetzt Frau P., sie ist gut eingearbeitet. Sie können ihr absolut vertrauen. Sollte es Probleme geben, bin ich natürlich sofort da." Weg ist sie.
Ich unterhalte mich einen Moment mit Frau P., bis ich plötzlich das Gefühl habe, alles doppelt zu sehen.

"Was ist denn mit Ihnen?", fragt mich auch prompt Frau P.

"Ich sehe alles doppelt," murmele ich.

"Ist Ihnen übel?"
"Nein, aber ich werde müde, "
"Sie sollten jetzt aber lieber nicht schlafen." Die Stimme von Frau P. rückt in immer weitere Ferne. Ich schließe die Augen. Immer wieder werde ich wachgerüttelt. Schließlich höre ich auch die Stimme von Frau Dr. D., die Frau P. die Anordnung erteilt, mir Sauerstoff zu verabreichen, da die Sauerstoffsättigung im Blut nicht mehr ausreichend sei. Ich spüre, wie mir eine Sauerstoffmaske auf das Gesicht gedrückt wird. Es ist mir egal, ich möchte schlafen.

"Hören Sie, Sie müssen die Augen öffnen!" Frau P. schüttelt wieder meine Schulter. Mühsam öffne ich die Augen, ich habe zentnerschwere Gewichte auf den Augenlidern liegen, so kommt es mir jedenfalls vor.
"Die Infusion ist durch, Sie werden aber noch mindestens eine Stunde hier liegen bleiben, hören Sie?"
Wieder schließe ich die Augen und wieder werde ich gezwungen, sie offen zu halten. Das geht eine ganze Weile so hin und her. Irgendwann werde ich auf die Kante der Liege gesetzt. Mir wird schwindelig. Also wieder zurück in die Rückenlage. Frau Dr. D. fragt nach einer Weile, ob ich Schmerzen habe. Ich versuche, in mich hinein zu horchen. Habe ich Schmerzen? Offenbar nicht, also schüttele ich den Kopf. Ein höchst eigenartiges Gefühl, dass ich seit Monaten mal wieder gänzlich schmerzfrei bin - ich kann es beinahe nicht glauben.
"Na also, ist doch prima, wenn es funktioniert!"
Mittlerweile sehe ich nicht mehr alles doppelt, sondern dreifach. Wieder werde ich gezwungen, mich auf die Kante der Liege zu setzen. Der Schwindelanfall bleibt aus, dafür kämpfe ich mit einem heftigen Würgereiz. Irgendjemand drückt mir eine Nierenschale in die Hand, aber ich muss mich nicht übergeben. Der Würgereiz geht wieder zurück. Frau P. hilft mir beim Anziehen - wieder Würgereiz, wieder die Nierenschale und wieder blinder Alarm.
Endlich bin ich angezogen und sitze wie ein Häufchen Unglück auf der Liege. Ich sehe immer noch alles dreifach und würde mich lieber wieder hinlegen, aber Frau P. erklärt mir, sie würde mich jetzt ins Wartezimmer begleiten und dann ein Taxi rufen.
Der Weg ins Wartezimmer wird eine echte Qual, ich kann meine Schritte nicht koordinieren und schwanke heftig. Schließlich verliere ich das Gleichgewicht und falle gegen die Wand im Flur. Also werde ich von zwei Sprechstundenhilfen untergehakt und im Wartezimmer auf einen Stuhl bugsiert. Jemand drückt mir noch die Nierenschale in die Hand, dann sind die beiden verschwunden.
Sofort setzt sich eine ältere Dame zu mir und legt ihren Arm um mich: "Du lieber Himmel, was ist denn mit Ihnen? Warum legt man Sie denn nicht hin, so können Sie hier doch gar nicht sitzen. Ist Ihnen schlecht?"

Ich nicke.
"Aber das ist doch ein Unding, dass man Sie einfach so hierher setzt. Kippen Sie bloß nicht um, nicht dass Sie sich noch irgendwie verletzen. Das ist doch wirklich nicht zu glauben!"
Wenige Augenblicke später kommt Frau P. ins Wartezimmer: "Ihr Taxi ist jetzt da. Kommen Sie, ich helfe Ihnen."
Sie schnappt mich und führt mich auf den Flur. Ein junger Mann betrachtet mich sprachlos: "Ist die Frau denn überhaupt in der Lage nach Hause zu fahren?", fragt er schließlich Frau P. Diese nickt und erklärt ihm, wenn das nicht der Fall wäre, hätte man jawohl kein Taxi gerufen.
Kopfschüttelnd übernimmt er mich und führt mich vorsichtig und fürsorglich bis an das Auto. Irgendwie schafft er es schließlich auch, mich hinein zu bekommen und klappt die Tür zu. Als er neben mir sitzt, betrachtet er mich Kopfschüttelnd und höchst besorgt: "Wenn Sie mich fragen, ticken die nicht ganz frisch da in der Praxis. Ich wäre eher der Ansicht, dass Sie ins Krankenhaus gehören."
Jetzt bemerke ich erst, dass ich immer noch die Nierenschale in der Hand halte: "Die Nierenschale. Können Sie die vielleicht drinnen noch zurückgeben?"
"Die behalten Sie mal lieber. Ich weiß ja, dass Sie nichts dazu können, aber ich möchte trotzdem ungern mein Auto vollgespuckt bekommen, okay? Wenn Ihnen schlecht wird, sagen Sie Bescheid, ich halte dann an. Ich drehe Ihnen das Fenster ein bisschen runter, damit Sie frische Luft bekommen."
Eine Viertelstunde später stehen wir vor unserem Haus.

"Ist jemand bei Ihnen zu Hause?"
"Mein Mann," nicke ich.
"Gut, ich werde ihn holen und Sie bleiben bitte sitzen. Steigen Sie nicht aus, ich habe wirklich Angst, dass Sie umkippen."
Gleich darauf kommt er mit Michael zurück. Gemeinsam verfrachten sie mich ins Haus.
"Wohin?", fragt der Taxifahrer.
"Ich möchte in mein Bett," murmele ich.
"Wir werden dich nicht die Treppe rauf quälen, meine Liebe. Geradeaus ins Wohnzimmer, wir legen sie auf die Couch,“ kommandiert mein Mann.
Ich bin heilfroh als ich lang ausgestreckt auf der Couch liege. Das Zimmer dreht sich um mich und scheint zu schwanken. Ich war noch nie in meinem Leben betrunken, aber ich könnte mir vorstellen, dass man sich dabei so ähnlich fühlt.
Michael kommt zurück und auch ihn sehe ich gleich dreifach.
"Was um alles in der Welt hat die Frau mit dir angestellt? Ist die eigentlich noch zu retten, dich so nach Hause zu schicken?"
Michael greift nach meinem Handgelenk und überprüft den Puls.
"Der ist viel zu schnell! Sag mal, macht die sich eigentlich überhaupt keine Gedanken über ihre Patienten? Ich finde das geradezu Verantwortungslos, was die hier abzieht!"
"Michael, bitte!" Ich seufze.
"Ist ja schon gut, tut mir leid. Aber ist dir eigentlich klar, was ich eben für einen Schrecken bekommen habe? Wie geht es dir denn überhaupt? Du siehst einfach furchtbar aus."
"Mir ist übel und alles dreht sich. Außerdem sehe ich alles dreifach. Und ich bin schrecklich müde, lass mich einfach schlafen."
"Den Teufel tu ich! Tina, sag mir was sie dir infundiert hat!"
"Ich weiß es doch nicht."
"Soll ich Birgit anrufen? Ich mache mir wirklich Sorgen um dich."
"Das brauchst du nicht."
"Das brauche ich nicht?! Du müsstest dich mal angucken. Wenn du dich selber sehen könntest, würdest du dir auch Sorgen machen. Soll ich nun Birgit anrufen?"
"Nein, das geht sicher bald wieder vorüber. Außerdem ist Birgit erst ab vier wieder in der Praxis. Die macht jetzt Hausbesuche."
"Na ja, es ist jetzt viertel nach drei. Ich werde bis um vier abwarten, aber wenn es dir dann nicht deutlich besser geht, werde ich Birgit anrufen, hast du mich verstanden?"
Ich nicke und schließe die Augen, aber auch Michael lässt mich nicht schlafen.
"Du wirst wach bleiben! Solange wir nicht wissen, was sie dir infundiert hat, wirst du nicht schlafen!"
"Wo sind eigentlich die Kinder?"
"Die sind mit Christina und Rene zum Schwimmen. Christina bringt sie so gegen sieben wieder nach Hause. Sie wollte mit den Kindern anschließend noch Pizza essen gehen. Im Augenblick bin ich wirklich froh, dass ich den Ausflug genehmigt habe."
Plötzlich erklingt die Haustürklingel.
"Ach Himmel, wer ist das denn jetzt?" Michael erhebt sich murrend aus seinem Sessel und geht zur Tür. Ich nutze den Moment, um meine Augen wieder zu schließen.
Kurz darauf berührt jemand sachte meine Schulter.
"Tina?" Es ist eindeutig die Stimme von Bernd. Mühsam öffne ich die Augen wieder.
"Was ist denn mit ihr?" Michael erzählt Bernd kurz von meinem Besuch bei der Schmerztherapeutin und dass ich in diesem Zustand wieder nach Hause zurückgekehrt bin.
"Kannst du mal an mein Auto gehen, Michael und meinen Koffer holen? Er steht vor dem Beifahrersitz im Fußraum. Ich sehe sie mir mal an."
Gleich darauf kommt Michael mit dem Arztkoffer zurück und Bernd beginnt mich zu untersuchen.
Er leuchtet mir in die Augen und ich höre wie er Michael erklärt, ich hätte eine ausgeprägte Miosis (Engstellung der Pupillen), mein Blutdruck sei zu niedrig, dafür der Puls viel zu schnell.
"Eindeutig! Sie ist total überdosiert. Tina, was kann sie dir infundiert haben? Bitte, denk nach!"
"Xylocain oder Morphin, sie wollte mir nicht sagen, was sie wann verabreicht."
"Morphin, ja na klar! Sag mal, hast du dein Morphin weiter genommen?"
Ich nicke.
"Wie viel nimmst du denn am Tag?"
"Drei MST 30,” antwortet Michael an meiner Stelle.
"Na fantastisch! Und dann noch Morphin obendrauf! Sag mal ist die Frau noch ganz gescheit?“
"Du weißt aber nicht, ob sie wirklich Morphin gegeben hat.“
"Die Symptome sprechen dafür. Aber ich kann sie ja mal anrufen, gib mir die Nummer. "
"Glaubst du, das du eine Auskunft bekommst?"
"Die bekomme ich, keine Sorge.“
Bernd ruft tatsächlich in der Praxis an. Die Ärztin ist nicht mehr da, aber die Sprechstundenhilfe erzählt ihm ganz freimütig, dass ich in der Tat Morphin erhalten habe und dass sogar eine Sauerstoffgabe nötig war, das habe man ja nun auch nicht jeden Tag in der Praxis, dass jemand so heftig auf das Morphin reagiert.
“Das ist einfach unglaublich. Und dann schicken die dich in diesem Zustand nach Hause. Ich kann das einfach nicht fassen. Vor allem, nach dem sie dir ohnehin schon Sauerstoff verabreichen mussten. Die Frau kann wirklich nicht ganz normal sein. was machen wir jetzt? Ich denke mal eine Atemdepression brauchen wir nicht mehr zu fürchten, die wäre jetzt längst eingetreten. Ich würde sagen, ich injiziere ihr Naloxon und dann werden wir sie solange wach halten, wie zwingend notwendig. Außerdem muss regelmäßig Atmung, Blutdruck und Puls kontrolliert werden."
"Ja, tolle Idee. Da wäre dann das nächste Problem. Ich habe um siebzehn Uhr noch eine Bustour und bin frühestens um zweiundzwanzig Uhr wieder zu Hause.“
"Na ja, dann werde ich mal einhüten. Bringen wir sie ins Bett oder lassen wir sie auf der Couch liegen?"
"Lass sie lieber hier liegen, sonst haben wir auch noch Probleme mit der Bandscheibe, das kann ich nun wirklich nicht gebrauchen."

"Na gut, wenn du das sagst. Dann spritze ich ihr jetzt erst mal das Naloxon. Für die nächsten Tage solltest du dir frei nehmen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie morgen schon wieder hochkommt."

"Das werde ich gleich mit dem Chef besprechen. Das kriege ich hin.“ Währenddessen hege ich den stillen Wunsch endlich schlafen zu dürfen. Bernd spritzt mir Naloxon, nur schlafen darf ich nicht. Immer wenn mir die Augen auch nur andeutungsweise zufallen, werde ich von ihm oder Michael gleich wieder geweckt. Irgendwann verabschiedet sich Michael mit einem Kuss von mir und geht. Ich möchte schlafen und darf nicht. Unermüdlich werde ich von Bernd wachgehalten.

Permanent erzählt er mir irgendetwas - ich begreife überhaupt nicht, was er da erzählt. Ich bin entschieden zu müde, um es umsetzen zu können. Ständig misst er den Blutdruck und kontrolliert den Puls und immer wieder sieht er mich besorgt an. Er stellt mir Fragen und ich habe immer wieder Mühe sie zu beantworten. Selbst die Frage nach meinem Geburtsdatum erscheint mir zu schwierig. Nach einer geraumen Weile höre ich die Haustürklingel und dann spüre ich, wie sich Christina über mich beugt und mit mir spricht. Aber nun fallen mir endgültig die Augen zu und dieses Mal werde ich nicht geweckt. Als ich wach werde, sitzt Bernd lang ausgestreckt neben mir in einem Sessel und betrachtet mich forschend. Mein Gott, ist mir übel!

"Wie geht es dir, Tina?"

"Mir ist übel, es dreht sich alles. Ich muss volltrunken sein oder so was Ähnliches."

"Mehr so was Ähnliches. Du bist morphin überdosiert, schon vergessen? Das wird auch noch eine Weile anhalten."

"Wie konnte das nur passieren?"

"Das kann ich dir genau sagen, mein Engel: Du hast auf deine tägliche Ration Morphin noch eine extra Dosis obendrauf bekommen und das ist jetzt das Resultat. So etwas sollte man nun wirklich nicht tun. Ich finde, diese Frau handelte in höchstem Maße unverantwortlich. Die hätte dich umbringen können und das ist bestimmt kein Witz. Vor allen Dingen, nachdem sie dich so fahrlässig einfach mit dem nächsten Taxi nach Hause geschickt hat. Ich begreife das einfach nicht.”

"Habe ich irgendetwas falsch gemacht?"

"Ja - nein - ich weiß es nicht! Vielleicht hättest du dich nicht einfach so auf diese obskure Blindstudie einlassen sollen! Außerdem, du weißt doch, wie sich Morphin in der Überdosierung auswirken kann! Du arbeitest jetzt wirklich lange genug im Rettungsdienst!"
"Bernd, schimpf nicht so mit mir. Ich dachte doch wirklich, dass diese Frau weiß was sie tut. Was hätte ich denn anders machen sollen?"
"Entschuldige, aber - ich bin total sauer auf diese Tante. So kann man doch nicht arbeiten. Mal ganz davon abgesehen, hast du natürlich recht. Sie hätte aufpassen müssen. Wobei ich finde, dass man wohl kaum verschusseln kann, dass ein Patient Morphin einnimmt, wenn man es ihm selbst verordnet hat, nicht wahr? Das war fahrlässig hoch Drei, was die Frau da abgezogen hat. Tina, ernsthaft: Die hätte dich umbringen können. Wahrscheinlich hätte sie dann hinterher gesagt: 'Entschuldigung, das war leider ein Versehen!' oder irgendwas in der Richtung. Tu mir einen Gefallen Tina, geh da bitte nie wieder hin, okay?"
"Du hast vermutlich recht. Ich kann im Augenblick nicht darüber nachdenken. Wo sind eigentlich die Kinder?"
"In ihren Betten, wo sie um diese Zeit hingehören. Ich habe sie endlich zum Schlafen gekriegt, nachdem ich ihnen zwei bis fünf Geschichten vorgelesen hatte. Und diese Banausen wissen genau, welche Geschichten in ihren Büchern die längsten sind. Ganz ausgekochte Früchtchen sind das, die drei! Aber einfach liebenswert, das muss ich nun auch wieder zugeben."
"Wie spät ist es denn?"
"Gleich zehn, mein Engel. Du hast jetzt fast drei Stunden geschlafen."
"Danke, dass du die Kinder ins Bett gebracht hast."

"Hättest du wohl kaum geschafft. Du schaffst es ja nicht mal in dein eigenes Bett. Willst du die Nacht hier auf der Couch verbringen?"
"Weniger. Schaffe ich den Weg nach oben?"
"Weiß ich nicht. Ich würde sagen, wir probieren es einfach mal."
Also machen wir uns mutig auf den Weg. Ich habe das Gefühl, unser Schlafzimmer liegt neuerdings in einer anderen Welt: Ich sehe nach wie vor alles mehrfach. Die Treppe verschwimmt vor meinen Augen und ich weiß nicht genau, ob ich meine Füße wirklich immer richtig auf die Stufen setze. Der Weg ins Schlafzimmer nimmt und nimmt kein Ende, aber endlich haben wir es doch geschafft. Völlig erschöpft und am Ende mit meinen Kräften lasse ich mich auf mein Bett fallen. - Sehr ungeschickt: Ein heftiger Schmerz schießt durch meine Wirbelsäule, Die Schmerzen sind also wieder da. Wenn ich allerdings so recht überlege, spüre ich sie schon seit einer ganzen Weile wieder. Irgendwie sind sie nur nicht richtig in mein Bewusstsein gedrungen.

Gegen halb elf ist Michael zurück und erstaunt, aber auch erleichtert, mich bereits in meinem Bett vorzufinden. "Hast du sie nach oben getragen?" Lächelnd betrachtet er Bernd, der leise auflacht:
"Um Gottes Willen, nein! Das hat sie mehr oder weniger alleine geschafft. War nicht ganz einfach, aber du siehst ja - mit ein bisschen gutem Willen ist alles machbar. Die Kinder schlafen fest, schon seit Stunden, ich habe nochmal bei ihnen reingesehen und ansonsten ist alles soweit in Ordnung.
Hast du morgen Dienst?"

"Nein, ich habe für morgen und übermorgen den Dienst umtauschen können."
"Ja, das ist auch besser so. Morgen hätte ich zwar noch einmal einhüten können, aber übermorgen habe ich Spätdienst, da geht überhaupt nichts. Übrigens habe ich deiner werten Gattin angeraten, nicht mehr zu dieser Ärztin zu gehen. Ehrlich, der traue ich keinen Zentimeter über den Weg. Von mir aus kannst du ja auch mitgehen und aufpassen, aber ich würde mir das wirklich gut überlegen, Michael."
"Ihr beiden tut geradeso, als ob mich das Ganze nichts anginge. Vielleicht könntet ihr mich bei eurer Diskussion ja freundlichst mit einbeziehen!"
"Ach Tina, ich habe dir doch schon gesagt, was ich von dieser Frau halte, da müssen wir nicht mehr diskutieren und du hast gesagt, du kannst heute nicht darüber nachdenken, also was soll das jetzt?"
"Ich finde auch, du solltest da nicht mehr hingehen. Die hätte dich umbringen können. Mein Chef ist im übrigen auch der Ansicht, du solltest besser den Arzt wechseln."
"Dein Chef?! Ich höre wohl nicht recht! Du diskutierst mit deinem Chef meine Krankengeschichte?!“
"Ich diskutiere mit meinem Chef keineswegs deine Krankengeschichte, aber ich musste wohl eine Begründung abgeben, warum ich schon wieder einmal frei brauche, oder? Das passiert schließlich in letzter Zeit häufiger. Tina, ich bin auch langsam am Ende, verstehst du. Ich kann nicht mehr. Was glaubst du wohl, wie lange das noch so geht mit dir? Und wenn man dann denkt, jetzt geht es endlich mal ein bisschen vorwärts, dann passiert so etwas, wie das heute Nachmittag. Verdammt noch mal Tina, ich will und ich kann nicht mehr!"
Mir steigen die Tränen in die Augen. Glaubt er denn, ich hätte mir diesen Zustand selbst ausgesucht? Wenn ich wüsste, wie ich das Ganze abstellen könnte, ich würde es tun, lieber heute als morgen.
Mittlerweile ist Bernd dazwischen gegangen: "Michael nicht! Sie kann nichts dafür, was du auch sehr genau weißt und am Ende sagst du, wenn du nicht aufpasst, Dinge, die du nicht so meinst.“
"Ich kann doch Dr. L. nicht erzählen, dass ich zu dieser Ärztin auch nicht mehr gehen will. Wie stehe ich denn da? Ziemlich blöde oder? Ich mache mich doch absolut lächerlich!", murmele ich in mich hinein.

"Ach Herrgottnochmal, Tina! Dein Orthopäde ist nicht das Maß aller Dinge! Und du hast dich im übrigen noch nie gescheut, deine Meinung immer offen und ehrlich zu sagen, wenn es nicht so lief, wie es eigentlich laufen sollte. Warum denn dieses Mal nicht, meine Liebe? Das würde mich jetzt wirklich interessieren."

"Weil Dr. L. mir mittlerweile ein Dutzend Ärzte empfohlen hat. Ich bin bisher mit keinem einzigen klargekommen. Das ist schon peinlich!"

"Peinlich finde ich höchstens, dass diese Frau dich in einen völlig unzumutbaren Zustand versetzt und dich dann einfach nach Hause schickt. Stelle dir mal vor, hier wäre niemand gewesen! Ich möchte nicht wissen, wie das dann ausgegangen wäre. Vielleicht denkst du mal darüber nach, Tina. Und glaube mir, du bist längst noch nicht über den Berg. Du wirst die Nachwirkungen dieser Aktion die nächsten Tage noch deutlich spüren, aber vielleicht hilft dir das ja bei der Urteilsfindung. Streng genommen hättest du ins Krankenhaus zur Überwachung gehört." Bernd streichelt sachte meine Schulter. Ich weiß, dass er Recht hat und dass ich mir sicher am wenigstens vorzuwerfen habe, aber dennoch ...

Bernd verabschiedet sich und wird von Michael hinaus begleitet. Ich verkrieche mich unter meine Bettdecke und fühle mich mal wieder von der ganzen Welt, ganz besonders aber von meinen Ärzten, im Stich gelassen. Was muss ich eigentlich noch mitmachen? Ich finde, langsam muss doch das Maß erreicht sein. Kurze Zeit später sitzt Michael auf meiner Bettkante und streichelt zärtlich mein Gesicht: "Tinchen, es tut mir ehrlich leid. Ich habe das vorhin nicht so gemeint. Ich bin nur - weißt du, ich habe auch nur Nerven und die liegen langsam aber sicher blank."

"Meinst du denn, mir ist das alles so egal. Ich würde alles dafür geben, wenn ich wieder so normal leben könnte, wie vor dieser leidigen Geschichte. Ich habe immer gedacht, mich erwischt das nie, so was kann mir gar nicht passieren, wenn ich Patienten mit chronischen Schmerzen erlebt habe. Wie dumm und einfältig man doch ist. Wir leben kein normales Leben mehr, nichts ist mehr, wie es einmal war. Wenn ich nur wüsste, wie das weitergehen soll."

"Tina, vergiss bei all dem nicht, dass ich dich liebe. In guten und in schlechten Zeiten, das haben wir uns vor dem Traualtar geschworen und dazu stehe ich. Wir waren im Beruf ein starkes Team und wir sind es auch in unserer Ehe. Was kann uns denn schon passieren, hm? Wir haben vier wundervolle Kinder, eines wohlgeratener als das andere, da müssen wir unserem Leben auch mal die Schattenseiten zugestehen. Und wie ich meine kluge und starke Frau kenne, wird sie auch aus den Schattenseiten des Daseins noch das Licht herausfiltern und aufbewahren. Das ist doch so, oder?"
Ich muss lächeln. Michael hat offenbar mal wieder den Sender zur Poesie eingeschaltet. Aber ganz sicher hat er recht. Ich bin ein Lebenskünstler und Optimist durch und durch. Wo der klassische Pessimist nur noch Trübsal blasen würde, entdecke ich in all der Finsternis noch die schönen und hellen Seiten. Trotzdem bin ich mir heute Abend nicht sicher, ob Michael wirklich recht hat. Ich fühle mich einfach zu elend, zu allein gelassen mit meinen Sorgen, Problemen und Ängsten. Trübsinnig starre ich also vor mich hin und lasse mich dieses Mal nicht so einfach beschwichtigen.
"Tina, nun komm schon, lach mich an. Ich kann das überhaupt nicht leiden, wenn du so traurig bist. Das passt einfach nicht zu dir."
"Mir ist das Lachen heute gründlich vergangen, Michael. Was um alles in der Welt habe ich getan, dass ausgerechnet mir das passiert. Ich kann einfach nicht mehr und wenn du mir jetzt auch noch Vorwürfe machst, dann geht wirklich nichts mehr. Das stehe ich nicht auch noch durch."

Zärtlich werde ich in den Arm genommen: "Tina, Liebes, ich habe mich doch schon entschuldigt. Ich habe es wirklich nicht so gemeint. Ich war nur so erschrocken, weil du in diesem schrecklichen Zustand nach Hause gekommen bist. Ich habe doch wirklich gehofft, dass diese Ärztin dir helfen kann und nun das. Außerdem ist es wirklich nicht einfach, dass sich in diesem Haus irgendwie alles nach dir richten muss. Es ist nun mal einfach so und ich begreife ja auch, dass du im Moment nicht alleine zurecht kommst und wenn dann solche Sachen wie heute passieren und es geht nichts mehr, dann verlier ich eben einfach die Geduld. Tut mir leid. Wir müssen irgendwie damit zurechtkommen das du krank bist. Eigentlich tun wir das ja schon seit Monaten, aber manchmal ist es mir einfach zu viel. Sei nicht böse mit mir, Tinchen. Ich liebe dich über alles und ich möchte nur, dass es dir gut geht. Ich weiß nur nicht, was ich tun kann."
"Ich weiß es auch nicht. Ich möchte das es endlich vorbei ist. Langsam aber sicher entwickelt sich das Ganze zu einem Albtraum. Ich bin so frustriert und fühle mich alleine gelassen."
"Von mir?"
"Nein, von meinen Ärzten. Ich weiß auch nicht so recht."

"Na ja, diese Ärztin war ja nun wirklich die Krönung. Das solltest du dir in Ruhe überlegen, ob du da noch mal hingehst, aber wenn nicht, dann solltest du wirklich mit Dr. L. darüber reden oder geht das auch nicht mehr?"

"Doch sicher. Er ist immer nett, freundlich und geduldig mit mir."
"Was ich nicht schaffe."
"Er muss mich ja auch nicht den ganzen Tag ertragen, im Höchstfall zehn Minuten und das nur zweimal die Woche. Das ist schon ein Unterschied."
"Da magst du recht haben, Liebes. Aber ich ertrage dich gerne den ganzen Tag und die Nacht dazu. Und jetzt habe ich mir ein Lächeln verdient, finde ich."

 

 

 

 


 


 

 

Kapitel 49

 

 

 

Zwei Tage später habe ich wieder einen Akupunkturtermin bei Dr. L. Lange habe ich überlegt, wie ich ihm klarmachen soll, dass ich zu dieser Schmerztherapeutin nicht mehr hingehen will. Am Ende bin ich zu dem Entschluss gekommen, erst mal mit Frau Dr. D. zu telefonieren. Anschließend kann
ich immer noch mit Dr. L. darüber sprechen. Das werde ich dann wohl auch tun müssen.

Heute bespricht er mit mir erst mal den Befund der Szintigraphie. "Birgit hat offenbar einen Entzündungsprozess festgestellt. Damit muss ich Sie jetzt allerdings zum Kernspin schicken, weil man auf den Bildern bedeutend mehr erkennen kann, als auf den Szintigraphie Bildern. Ich hoffe, das macht Ihnen nicht zu viel aus?"
"Nein, ich werde es wohl überleben. Was schreibt Dr. K. sonst noch?"
"Dass Ihre Beschwerden vermutlich doch von der Bandscheibe kommen."

Unwillkürlich verziehe ich das Gesicht. Dr. L. betrachtet mich einen Augenblick lächelnd, um schließlich laut loszulachen.
"Ach kommen Sie, nun nehmen Sie das mal mit ein bisschen Humor. Anders ist es doch auch gar nicht zu ertragen, oder? Na; was ist denn los? Nun lachen Sie schon darüber, was anderes bleibt Ihnen doch gar nicht übrig."
Ich kann nicht anders, ich stimme tatsächlich in das Lachen von Dr. L. mit ein.
"Na schön, und was sagt er über mein Knie?"
“Über Ihr Knie?" Ein bisschen ratlos überfliegt Dr. L. die beiden Seiten des Befundes, um schließlich unwillig den Kopf zu schütteln. “Haben wir denn Ihr Knie mit untersuchen lassen?"
„Ja, natürlich, was dachten Sie denn?"
“Da steht nichts über Ihr Knie, wirklich nicht."
Ich seufze ein bisschen und schüttle leicht den Kopf: “Wieso. müssen solche Sachen denn immer mir passieren? Gibt es dafür eine logische Erklärung? Also schön, dann werde ich eben nochmal in die Praxis gehen und Dr. K. fragen, wo er den Befund über mein Knie gelassen hat."
"Wollen Sie das wirklich selbst machen? Wir könnten doch auch nachhaken.“

„Ja weiß ich, aber ich gehe lieber selbst hin, dann weiß ich wenigstens, es kommt auch an."
"Na gut, dann warte ich mit dem Knie, bis Sie mir den Befund bringen. Im übrigen wäre es mir ganz recht, wenn wir den Reha-Antrag erneut stellen würden, was meinen Sie dazu?"
"Glauben Sie, dass wir dieses Mal mehr Aussicht auf Erfolg haben?"
"Wir können es doch wenigstens probieren."
"Na gut, dann besorge ich also noch einen Antrag für eine Reha-Maßnahme.“

"In Ordnung und von mir bekommen Sie die Überweisung zur MRT.“

"Geht klar.“

 

Nur zwei Tage später habe ich einen Termin zur MRT. Dr. S. ist wieder selbst anwesend und freut sich aufrichtig, mich zu sehen. "Tina, wie schön, dass du mal wieder hier bist. Obwohl ich das so vielleicht nicht sagen sollte. Aber ich freue mich wirklich. Was liegt heute an?“

Ich reiche ihm die Überweisung und er nickt nachdenklich. "Hast du immer noch Schmerzen?"

"Ja, allerdings sind sie Dank MST 30 erträglicher geworden und ich schaffe es auch problemlos, ohne Gehstützen zu laufen.“

"Aber sie sind nicht weg? Ich meine nicht die Stützen, sondern die Schmerzen!“

"Nein, weg sind sie nicht."

"Eine Entzündung im Bereich der Iliosakralfugen, wie sie bei dir vermutet wird, verursacht dieselben Beschwerden, wie ein Bandscheibenvorfall in Höhe LL5/S1. Es würde alles passen. Was nicht passt, ist der positive Lasegue, aber Ausnahmen bestätigen die Regel. Na, sehen wir erst Mal nach, ehe wir die Pferde scheu machen, ja?"

Einen kurzen Moment später nehme ich auf der Liege Platz, mit der ich gleich in die Trommel gefahren werde.

“Ach Tina, das wäre das absolute Werbefoto, wirklich wunderschön. Die Farben deines Kleides passen hier absolut hin. Übrigens steht dir dieses Grün, solltest du viel öfter tragen. Im Kleid siehst du auch mal ganz anders aus, als in den ewigen langweiligen Hosen. Außerdem bist du verblüffend schlank geworden. Wie viel hast du runter?“

“Zweiundzwanzig Kilo!"

"Super! Musst du dich dafür sehr anstrengen?"

"Nein, die Pfunde purzeln von alleine. Dazu gehört nur Appetitmangel und eine chinesische Diät." "Appetitmangel war schon immer eine hervorragende Diät,“ lacht mich Dr. S. an. "Na schön, starten wir. Du weißt ja, dass wir dich sehen können und du klingeln kannst, wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist. Kannst du eigentlich inzwischen ein bisschen besser auf dem Rücken liegen als vorher?“

"Ja, etwas. Es wird schon klappen, hat es ja bisher immer."

Nach, erfolgter Aufnahme setze ich mich noch einen Moment in den Wartebereich, muss dieses Mal aber nicht allzu lange warten. Es dauert nicht lange und Dr. S. drückt mir die Bilder und den Befund persönlich in die Hand.

"Es ist tatsächlich eine Entzündung festzustellen. Na ja, dein Orthopäde wird schon wissen, was zu tun ist. Sag mal, warum kommst du mit Michael nicht mal wieder zum Essen zu uns? Wie wäre es am Samstag? Sag einfach ja! Wir haben schon lange nicht mehr nett miteinander geplaudert. Was meinst du, bekommt ihr einen Babysitter?"

"Das ist das geringste Problem. Doch, ich finde wir sollten wirklich mal wieder zusammen essen. Wir kommen am Samstag. "

"Na fein! Ich freue mich schon."

Damit verabschieden wir uns und ich mache mich auf den Heimweg.

Christina hatte mal wieder unsere Kinder gehütet, doch als ich die Kinder abholen will, sind sie nicht da. "Ich habe wirklich keine Ahnung, wo sie stecken, Tina. Ich schwöre, vor einer Viertelstunde haben sie noch hier im Garten herumgetobt. Ich bin ja wirklich ein tolles Kindermädchen."

"Ach mach dir keine Gedanken, die werden schon irgendwo stecken. Früher oder später tauchen sie wieder auf."

"Da hast du ohne Frage recht. Trinkst du einen Tee mit mir?"

"Nein, du trinkst einen mit mir. Komm wir gehen zu uns rüber."

"Aber Rene wird mich nicht finden, wenn ich nicht zu Hause bin."

"Natürlich findet er dich, er ist doch nicht auf den Kopf gefallen. Du kannst aber auch einen Zettel an die Haustür kleben, wo du bist."

"Rene kann doch noch gar nicht lesen, Tina!"

 “Rene nicht, aber Tim."

Christina lacht und klebt tatsächlich einen Zettel an die Haustür. Als wir bei mir die Diele betreten, hören wir ein deutliches Lachen aus der Küche. Verblüfft sehe ich Christina an, die mich ebenfalls verblüfft ansieht. Ich öffne die Küchentür und bleibe entsetzt stehen. Die ganze Küche schwimmt und mittendrin toben unsere Kinder herum.

"Was ist denn hier los?!" Empört betrachte ich die Bande. Das ist nicht die gepflegte Küche, die ich vorhin verlassen habe.

"Ach Mami, du bist schon zu Hause?" Tim betrachtet mich ein bisschen hilflos.

"Wie du unschwer erkennen kannst. Was ist hier los, was habt ihr gemacht?"

"Also, Sarah wollte Wasser in die Gießkanne füllen und dann wollten wir das Wasser in den Garten tragen und wollten eine Sandburg bauen mit einem Graben.“

"Aber du hast gesagt, ich soll das Wasser holen!“ Sarah betrachtet empört ihren großen Bruder.

„Ja, schon! Aber ich habe nicht gesagt, dass du das ganze Wasser in die Küche gießen sollst.“ "Doch hast du wohl, du hast gesagt wir spielen Überschwemmung und bis Mama wieder da ist, ist alles wieder weg. Das hast du gesagt."
"Moment mal, soll das heißen, ihr habt das Wasser mit Absicht in die Küche gegossen?" Fassungslos betrachte ich meine Kinder und Rene. Ein bisschen schuldbewusst sehen mich die vier jetzt doch an.
"Wir wollten wirklich nur Überschwemmung spielen.“
"Das finde ich kein bisschen komisch," erwidere ich.

"Hast du da etwa mitgemacht, Rene?" Christina betrachtet ihren Sohn fragend. Dieser nickt ergeben mit dem Kopf. "Ja, seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen? Jetzt schnappt ihr aber wirklich langsam über! Das kann doch nicht wahr sein! Wie viel Wasser habt ihr denn in die Küche gekippt?" Christina ist zutiefst empört.

"Haben wir nicht gezählt," erklärt Amrei, während sie abwechselnd Christina und mich betrachtet. "Tja, aus dem Tee wird wohl nichts, Tina. Ich fürchte wir müssen erst das Unglück hier beheben."
"Du spinnst wohl! Haben wir vielleicht dieses Chaos angestellt? Ich kenne da vier kleine Monster, die jetzt ganz fürchterlich arbeiten werden. Holt euch Eimer und Wischtuch aus der Besenkammer und dann flott an die Arbeit. Und ich erwarte, dass die Küche hier in Nullkommanichts wieder tadellos aufgeräumt ist, sonst könnt ihr was erleben! So und wir beide werden uns jetzt Tee machen und dann gehen wir ins Wohnzimmer und genießen den Rest des Nachmittages."

Während ich den Tee aufgieße, trägt Christina kommentarlos das Geschirr ins Wohnzimmer. Erst als wir gemütlich in der Sitzecke Platz genommen haben, spricht sie mich an: "Sag mal, meinst du nicht, die vier sind für die Aufgabe da in der Küche noch zu klein?"

"Sie waren nicht zu klein die Unordnung anzurichten. Ich finde es ganz in Ordnung, wenn sie das Malheur jetzt alleine beheben müssen. Und wenn sie gar nicht weiterkommen, wissen die vier ja, wo wir sind."
"Meine Güte, du kannst ja richtig autoritär sein."

"Na was denkst du denn? Bei drei Plagegeistern bleibt einem manchmal gar nichts anderes übrig."
Lachend schüttelt Christina den Kopf und prostet mir mit der gefüllten Teetasse zu.

Eine halbe Stunde später stehen vier stolze Kinder im Wohnzimmer, um zu erklären, dass die Küche wieder in Ordnung ist. Die Inspektion erfolgt auf dem Fuße und verläuft zur Zufriedenheit.
"Kriegen wir jetzt zur Belohnung ein Eis?" Tim grinst mich an.
"Wie zur Belohnung?”
"Na ja, weil wir so toll aufgewischt haben!"

"Ach ja? Und wer hat das Chaos angestellt? Ich vielleicht?" Kopfschüttelnd betrachte ich Tim.
"Aber wir haben doch alles wieder in Ordnung gebracht."
"Ja, das war ja wohl eine Selbstverständlichkeit, oder dachtest du allen Ernstes ich würde aufräumen? Ihr solltest froh sein, dass ich die Sache damit als erledigt betrachte, und nun verzieht euch nach draußen."
Missmutig machen sich die Kinder auf den Weg nach draußen.
"Ach Tim, eine Frage noch! Wie seid ihr eigentlich hier reingekommen?"
"Durchs Wohnzimmer."

"Wieso durchs Wohnzimmer? Es war doch alles zu." Verblüfft sehe ich Tim an.

"Ich habe die Terrassentür wieder aufgemacht, bevor wir zu Christina gegangen sind. Nur für den Fall, dass ich Spielzeug holen muss, das wir dringend brauchen. Sprachlos sehe ich meinem Sohn hinterher. Da hört sich alles auf!

 

 

Kapitel 50

Wieder beehre ich Dr. L. mit meinem Besuch. Diesmal steht keine Akupunktur auf dem Programm, dafür habe ich den Antrag für die Rehaklinik dabei. Nach kurzer Wartezeit werde ich aufgefordert, Raum 6 aufzusuchen. Nun muss ich doch ein bisschen schmunzeln. Es ist schon so selbstverständlich, dass ich zur Akupunktur erscheine, dass ich auch heute in das dafür vorgesehene Sprechzimmer gebeten werde.

Als Dr. L. den Raum betritt, sieht er mich einigermaßen verblüfft an, denn ich sitze vollständig bekleidet auf der Liege. "Nanu, warum sind Sie denn noch nicht ausgezogen?"

"Weil ich heute keine Akupunktur habe. Wir sind wieder mal durch mit der Serie.“

"Ach Gott und ich lotse Sie in diesen kleinen Raum, das tut mir leid. "

„Das macht überhaupt nichts. Ich habe die MRT-Bilder mitgebracht und den Antrag für die Rehaklinik."

"Fein, dann sehe ich mir erst mal den Befund an.“

Interessiert studiert er den kurzen Befund von Dr. S. und nickt dann langsam mit dem Kopf. "Ja, da ist in der Tat eine Entzündung im Bereich der Iliosakralfugen. Man sollte vielleicht die Rheumafaktoren mal überprüfen oder nachsehen, ob Sie vielleicht einen Chlamydien Infekt haben. Bisher sind Chlamydien bei Ihnen noch nicht festgestellt worden oder?“

Ich schüttle nachdenklich den Kopf.

"Gehen Sie regelmäßig zum Gynäkologen?“

Na klar, muss ich doch seit der OP im letzten Jahr."

“Na ja, dann wird in der Richtung wohl nichts sein. Na gut, nehmen wir uns erst mal den Antrag für die Reha Maßnahme vor."

Ich reiche Dr. L. das Antragsformular hin, das er staunend in Empfang nimmt. "Ist das alles?“

"Ja. Bei der BfA liegt noch der Antrag von Januar vor, deshalb reicht jetzt diese Miniausgabe."

“Prima, ich habe nichts dagegen, das geht so ja auch viel schneller." In Blitzgeschwindigkeit füllt Dr. L. Das Formular aus, während er mir bei jeder Zeile erzählt, was er einträgt.

„Therapievorschläge - also ich würde vorschlagen, dass Sie auf jeden Fall Entspannungstraining erlernen.“

"Nein!“

"Doch!"

"Nein!”

"Warum denn nicht?"

"Weil ich das schon kann."

"Sind Sie etwa Profi, was autogenes Training anbelangt?“

"Ich beherrsche autogenes Training, ja. Aber zudem beherrsche ich verschiedene chinesische Meditationstechniken, und zwar perfekt. Was glauben Sie wohl, warum bei mir die Akupunktur so deutlich sichtbar wirkt?"
"Ja, das stimmt, das ist mir auch schon aufgefallen. Soll das etwa heißen, Sie schweben während der Akupunktur zehn Zentimeter über der Liege?"

Lachend nicke ich: "Ja, so ungefähr."
"Da habe ich Sie wieder mal unterschätzt. Ich staune immer wieder über Sie. Und das funktioniert wirklich?"
"Ja. Es ist nur lästig, wenn irgendjemand herein gestürzt kommt und Sie sucht. Das passiert leider öfter, aber dann ist die Entspannung erst mal hin."
"Wo sollte ich auch anders sein als bei Ihnen, wenn Sie in der Praxis sind. Völlig klar, dass man mich hier sucht." Nun müssen wir doch beide lachen.

Dr. L. drückt mir das fertig ausgefüllte Formular in die Hand und nickt mir freundlich zu. "Können Sie mit Ihrer Hausärztin sprechen, wegen der Blutuntersuchung?"
"Ja, das mache ich. Übrigens habe ich hier auch noch den Befund von der Szintigraphie. Der Befund wegen des Knies steht da übrigens doch drin. Dr. K. hat ihn mit einem Textmarker gekennzeichnet und lässt Ihnen ausrichten, Sie möchten in Zukunft den ganzen Bericht lesen und nicht nur die Beurteilung."

Dr. L.. nimmt mir den Befund aus der Hand und schüttelt ein bisschen den Kopf, wahrscheinlich über sich selbst.
"Mein Gott, ist das peinlich. Veränderungen in der Knochenstruktur - toll! Damit kann ich nicht allzu viel anfangen. Na ja, mal sehen. Ich habe übrigens jetzt drei Wochen Urlaub. Wenn Sie weiterhin die Akupunktur wünschen, Herr H. übernimmt das solange."
"Mein Freund Hsan würde mir den Kopf abreißen. Man wechselt den Akupunkturarzt nicht."

"Wirklich? Das habe ich nicht gewusst."

"Wirklich, das ist so."

"Interessant, was Sie so alles wissen. Machen Sie es gut.“

"Ja, Sie auch. Ich wünsche Ihnen einen schönen Urlaub."

“Danke, bis Oktober dann."

Lächelnd verlasse ich die Praxis.



 

 

Kapitel 51

 

 

 

Ein großer Tag steht uns heute ins Haus: Amrei wird eingeschult!

Bereits um halb sechs morgens nervt sie uns. Ohne Vorwarnung steht sie plötzlich im Schlafzimmer und fragt mit überlauter Stimme, wann wir denn endlich zur Schule gehen.

"Amrei, um Himmels willen, geh in dein Bett zurück! Was willst du denn mitten in der Nacht schon?" Michael mustert ein bisschen genervt seine Tochter.

"Aber die Sonne scheint schon, Papa. Es ist nicht mehr mitten in der Nacht.“
"Es ist halb sechs, Amrei, das ist fast das Gleiche. Du hast noch Stunden Zeit und wir auch. Verzieh dich!“

Lächelnd drehe ich mich aus dem Bett hinaus.

"Was hast du denn jetzt vor, Tina? Es ist wirklich erst halb sechs.“

"Ja, ist ja gut! Ich glaube es dir ja. Ich für meinen Teil gehe jetzt unter die Dusche, dann gehe ich Brötchen einkaufen, wenn ich zurückkomme, mache ich Frühstück und dann werfe ich dich aus dem Bett. Schlaf weiter!"

"Jetzt bin ich wach,“ murmelt meine bessere Hälfte ein bisschen säuerlich und quält sich ebenfalls aus seinem Bett.

Der Morgen schleicht dahin, jedenfalls für Amrei und Tim. Tim ist Zuckertüten Kind und darf in der Schule seiner kleinen Schwester die Zuckertüte überreichen. Er ist mindestens genauso aufgeregt wie Amrei. Endlich ist es so weit. Inzwischen ist auch meine Mutter eingetroffen, die sich die Einschulung ihres Groß Kindes auf keinen Fall entgehen lassen will. Gerade als wir uns auf den Weg machen wollen, trifft Bernd ein. "Ein Glück, ich dachte schon, ich würde zu spät kommen. Ich bin ein bisschen spät zu Hause losgefahren. Na Amrei, bist du aufgeregt?“ Amrei schüttelt den Kopf, hüpft aber permanent von einem Bein auf das andere.

 

Als wir alle in der Turnhalle Platz genommen haben, berührt meine Mutter sachte meinen Arm: „Vor dreißig Jahren bist du eingeschult worden, kannst du dich noch erinnern?"

Und ob ich das kann! Bei dem Gedanken an meine eigene Einschulung muss ich schon ein bisschen lächeln, wenn auch ein bisschen wehmütig.

Ein buntes Programm läuft vor uns ab. Tim hat einmal die Lacher auf seiner Seite, weil er laut und ein bisschen falsch singt und das, obwohl das Lied längst zu Ende ist. Als er merkt, dass er der Einzige ist, der noch singt, schlägt er sich erschrocken die rechte Hand auf den Mund, um schließlich laut loszulachen.
"War das Tim?", fragt meine Mutter leise und mit einem Lächeln.
"Ja, das war Tim." Ich muss lachen.
Schließlich kommt der große Augenblick: Die Zuckertüten werden überreicht.
Tim marschiert ohne zu Zögern in die Mitte der Bühne und bleibt erwartungsvoll stehen. Da er aber, wie vorher eigentlich abgesprochen, Amrei nicht aufgerufen hat, bleibt diese brav auf ihrem Platz sitzen. Ein bisschen unwillig und mit absolutem Kommandoton zitiert Tim seine Schwester zu sich: "Amrei! Vielleicht kommst du jetzt mal hierher!"
Lautes Lachen ist die Antwort und eine Amrei, die sich langsam und gemütlich ihren Weg auf die Bühne bahnt. Mit hoch erhobenem Kopf nimmt sie die Zuckertüte in Empfang und mustert ihren Bruder schließlich ein bisschen von oben herab: "Du brauchst mich gar nicht anschreien, ich wäre auch so gekommen. Aber wenn du das nochmal machst, haue ich dir eine runter, merk dir das!" Meine Mutter bricht in schallendes Gelächter aus und auch Filius kriegt sich vor Heiterkeit nicht wieder ein. Aber die beiden sind nicht die einzigen, die sich amüsieren. Es herrscht allgemein große Heiterkeit.
"Die sind ja niedlich, die beiden!", höre ich eine Frau hinter mir sagen.

So niedlich fand ich das eigentlich gar nicht. Aber auch ich muss ein bisschen lächeln.

 

Als meine Tochter mit Lehrerin und den neuen Schulkameraden als frisch gebackenes Schulkind in ihren Klassenraum marschiert, muss ich doch wieder an meine Einschulung denken: Als wir wieder zu Hause ankamen, schenkte mir mein Bruder Ralf seinen Duden mit den Worten: "Ich brauche ihn nicht mehr, aber du jetzt. Du glaubst gar nicht, was man mit Wörtern alles anstellen kann. Das kannst du alles lernen und noch viel mehr. Du wirst sehen, Schule ist eine spannende und schöne Sache, wenn man kapiert um was es geht. Lerne lesen und Wörter begreifen, dann kannst du alles erfahren, was du wissen möchtest. Irgendwann wirst du wissen, dass ich recht habe.“
Er hatte recht und den Duden, der jetzt nach dreißig Jahren mehr als überholt ist, gehört zu meinen Heiligtümern.
"Na, mein Kind, bist du wieder in der Vergangenheit?“ Meine Mutter hat zärtlich ihren Arm um mich gelegt.

"Weißt du noch, wie Ralf mir den Duden geschenkt hat?“

"Aber sicher. Wir haben uns gewundert, dass er sich davon getrennt hat, er hatte ihn sich von seinem mühsam ersparten Geld selbst gekauft."
"Tatsächlich? Das wusste ich gar nicht."

"Doch, doch! Hast du ihn noch?"

"Ja, ich habe ihn noch und ich würde ihn niemals hergeben.“

“Das kann ich gut verstehen, meine Kleine. Ich weiß gar nicht mehr, was die anderen dir geschenkt haben."

"Genau weiß ich das auch nicht mehr. Aber Ingo hat mir Kamm und Spiegel geschenkt, das war allerdings eher eine Anspielung auf mein Aussehen."

"Ja, ich erinnere mich. Du hast immer ausgesehen, als wärest du gerade aufgestanden und das bei deinen langen Haaren. Es war eine Katastrophe. Außerdem hattest du die schwärzesten Fingernägel, die man sich vorstellen kann. Du warst vieles, aber sicher kein gut erzogenes Mädchen. Aber das hat sich ja zum Glück dann irgendwann gegeben. Was das anbelangt, kommen deine Töchter ganz und gar nicht nach dir, die sind so eitel, dass ich mich manchmal frage von wem sie das bloß haben."

"Was war am schlimmsten an Mum, als sie noch ein Kind war?“ Filius betrachtet seine Großmutter mit einem neugierigen Lächeln.

"Das allerschlimmste an ihr war ihr vorlautes Mundwerk. Sie hat wirklich nie ein Blatt vor den Mund genommen und immer ganz ungeschminkt ihre Meinung gesagt."

"Na, da hat sich ja nichts geändert," schmunzelt mein Sohn.

"Du hast recht Filius, da hat sich nichts geändert!"

Meine Mutter hakt ihren Großsohn unter und nickt zustimmend. Wenn ich mir gegenüber ehrlich bin, muss ich zugeben, dass beide recht haben. Allerdings bin ich heute nicht mehr ganz so direkt. Mittlerweile habe ich es doch gelernt, auch ein bisschen zurückhaltender und diplomatischer vorzugehen, außer wenn mich die Wut packt. Dann kommt das alte Temperament durch und dann passiert es eben doch immer wieder, dass ich auch mal anecke.

 


 

 

Kapitel 52

 

 

 

Am Montag sitze ich mal wieder in Werners Praxis. Seit der Beisetzung von Timo habe ich ihn nicht mehr gesehen und habe daher etwas gemischte Gefühle.

Als ich das Untersuchungszimmer betrete, springt Werner von seinem Stuhl auf und umarmt mich liebevoll.

"Tina, wie schön dich zu sehen. Wie geht es dir?"

"Danke, im Augenblick eigentlich recht gut. So weit wie das möglich ist. Erzähl mir lieber, wie es dir und Susanne geht."

Werner seufzt ein bisschen.

"Weißt du, es ist nicht leicht, aber wir lernen zurechtzukommen. Timo fehlt uns sehr, ohne Frage, aber wir können es nicht ändern."

"Wie kommen deine zwei anderen damit zurecht?"

“Vivian hat Wochenlang geweint und auch jetzt wacht sie oft nachts auf und fängt an zu weinen. Na ja und Mandy hat das Ganze irgendwie nicht richtig realisiert. Sie ist ja auch noch klein, drei Jahre. Aber sie fragt oft nach Timo und begreift nicht, warum er nicht nach Hause kommt. Ich kann es ihr nicht erklären, ich weiß nicht wie. Ich habe es versucht, es funktioniert nicht. Aber wo du jetzt einmal hier bist, kann ich dir ja auch endlich einmal richtig danken."

"Wofür denn?".

"Für unser Gespräch im Juli, für deine mahnenden Worte oder vielleicht einfach nur dafür, dass du für mich da warst. Ich habe mit Susanne über unser Gespräch gesprochen und uns ist die Entscheidung, Timo nach Hause zu holen, dadurch leichter gefallen."

"Ist er zu Hause gestorben oder habt ihr ihn wieder ins Krankenhaus gebracht?"

"Nein, er ist zuhause gestorben und ist ganz friedlich in meinen Armen eingeschlafen. Wir haben noch einige schöne Tage gehabt, das verdanken wir eindeutig dir. Abgesehen davon hattest du recht, Timo hat wirklich nachgefragt, was mit ihm los ist und er hat von alleine gewusst, dass er sterben muss. Weißt du, dass mich das sehr nachdenklich gemacht hat? Ich habe während meiner Laufbahn immer wieder diese Diskussionen darüber mitbekommen, ob man den Patienten informieren soll oder nicht. Nachdem ich meinen eigenen Sohn und sein Sterben erlebt habe, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass man den Patienten informieren muss. Wie soll er sonst vertrauen können, da hast du absolut recht. Dennoch frage ich mich, welchen Sinn der Tod von Timo gehabt hat. Er hatte doch noch jede Menge Träume."

"Träume sind doch nicht vom Alter abhängig, Werner.“

"Nein, da hast du recht. Hast du auch welche?"

”Natürlich, du nicht?"

"Doch schon, aber manche sind auch ein bisschen verrückt."

"Meine auch."

"Was denn zum Beispiel?"

"Ich bin noch nie mit einem Segelflugzeug geflogen."

"Das ist einer deiner Träume?!"

"Ja, ich stelle es mir schön vor so am Himmel entlang zu gleiten, ohne störende Motorengeräusche und gemächlich auf die Erde hinunter zu schauen.“

"Du hast ja eine romantische Ader, das habe ich bei dir nicht vermutet.“

"Warum denn nicht?" '

"Du bist irgendwie so bodenständig, so selbstbewusst. Du weißt immer ganz genau, was du willst und was nicht. Du hast so exakte Vorstellungen von deinem Leben. Du bist temperamentvoll und quirlig, jedenfalls wenn dein Rücken dir keine Probleme macht. Ich weiß nicht, irgendwie habe ich dich vielleicht anders eingeschätzt, als du tatsächlich bist."

"Ja, das glaube ich auch. Ich mag es nämlich wirklich romantisch. Ich liebe Sonnenuntergänge und Nebel, der über Wiesen schwebt, Regen, der von Blättern herunter tropft und Schnee, der im Mondlicht glitzert. Außerdem mag ich Kerzenlicht und klassische Musik, in Kombination versteht sich, und ich liebe es einfach nur so vor mich hin zu träumen."

"Diese ruhige und beschauliche Seite kenne ich an dir gar nicht. Komisch, wie lange kennen wir uns jetzt?".

"Jahre, Werner."

"Eigenartig. Ich habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht, ob du vielleicht auch noch andere Seiten hast. Das verblüfft mich jetzt ein bisschen."

Lächelnd schüttele ich den Kopf.

 

Zwei Tage später habe ich einen Termin bei Birgit.

Interessiert studiert sie den Befund von Dr. S.

"Eine Entzündung der Iliosakralfugen, das kann natürlich die ständigen Schmerzen erklären. Na ja, warten wir mal ab, was die Blutuntersuchung bringt. Was sagt Werner zu deinem Magen?"

"Na ja, zufrieden ist er nicht. Er sagt, es wird Zeit, dass ich aufhöre, Schmerzmittel zu nehmen. Erstmal können."

"Hast du denn Probleme mit dem Magen?“

"Ich leide ständig unter Übelkeit. Werner sagt, das hängt mit den Schmerzmitteln zusammen. Gelegentlich habe ich auch die große Spuckerei, dann kann ich mal zwei Tage nichts drin behalten und dann geht es wieder. Hin und wieder machen mir Magenschmerzen zu schaffen, aber sonst geht es mir gut."

"Was macht die Schmerztherapie?"

"Ja, das ist auch so eine Sache, da wollte ich ohnehin mit dir darüber sprechen."

Ich erzähle Birgit von der Überdosierung und einem Telefonat, welches ich inzwischen mit Frau Dr. D. geführt habe.

“Schön und was hat sie gesagt?"

“Sie ist pampig geworden und hat aufgelegt."

"Sie hat aufgelegt? Hast du dich im Ton vergriffen?"

"Wieso muss ich eigentlich immer schuld sein? Nein! Ich habe ihr lediglich gesagt, dass es so nicht funktionieren kann."

“Hast du mit Dr. L. darüber gesprochen?"

"Nein, der ist im Moment im Urlaub, aber das werde ich noch nachholen und ich werde mir einen neuen Schmerztherapeuten suchen müssen, aber jetzt warte ich erst mal den Reha-Antrag ab."

"Na schön, dann lass uns das so machen. Was Besseres fällt mir im Moment auch nicht ein und ich könnte dir im Moment auch keinen guten Schmerztherapeuten nennen, damit habe ich einfach zu wenig zu tun. Ihr habt einen neuen Reha-Antrag gestellt?“

"Ja, mal sehen, was dabei herauskommt."

"Ja, da bin ich auch gespannt. Aber gut tun würde dir die Reha sicher. Sag mal, gehen wir mal wieder zusammen ins Theater?"

"Ja klar, hast du dir schon was ausgeguckt?“

"Nein, aber das ist wohl die leichteste Übung. Ich werde mal sehen, was so gespielt wird, und dann sage ich dir Bescheid wir haben seit Ewigkeiten nichts mehr gemeinsam unternommen."

"Seit über einem Jahr."

"Na, dann wird's aber Zeit."

 

Anfang Oktober erhalte ich den Bescheid, dass die Reha Maßnahme genehmigt worden ist. Einen Tag später ist bereits der Aufnahmebescheid der Rehaklinik da. So kann ich Dr. L. bei meinem ersten Besuch nach seinem Urlaub berichten, dass ich nur zwei Tage später bereits in die Reha fahre.

Wir sprechen kurz die Befunde der Blutuntersuchung durch, die ich mitgebracht habe. Schließlich lehnt sich Dr. L. in seinem Stuhl zurück und fragt mit einem breiten Grinsen, was es Neues von der Schmerztherapie gibt. Einen Augenblick stutzte ich: Wie kommt er jetzt darauf?

"Es ging mir nach der letzten Behandlung nicht sonderlich gut, mein Mann musste sogar Urlaub nehmen. Ich habe Frau Dr. D. mitgeteilt, dass ich unter diesen Aspekten die Therapie nicht fortsetzen kann," erkläre ich Dr. L., der mich immer noch grinsend mustert.

"Sie haben die Behandlung also abgebrochen?"

“Ja, warum?"

"Reines Interesse."

Das mit dem 'reinen Interesse' glaube ich nicht so ganz, vielmehr vermute ich, dass Dr. L. Post bekommen hat. Soll sich Frau Dr. D. ruhig beschweren, wenn sie mag. Aber irgendwie stört mich die Art und Weise von Dr. L., warum sagt er nicht einfach, dass er Post bekommen hat.

Während sich Dr. L. bereits verabschiedet und mir für die Reha alles Gute wünscht, schreibt mir Frau J., eine offenbar neue Sprechstundenhilfe, denn das Gesicht kenne ich noch nicht, den Transportschein für den Transport in die Klinik aus.

Mit meinen Unterlagen verlasse ich die Praxis, immer noch ein bisschen sauer.

Als Michael nach Hause kommt, bemerkt er sofort meinen Unmut. Ziemlich grantig bin ich dabei, meine Koffer zu packen.

"Was ist denn mit dir los?"

"Ich habe mich über Dr. L. geärgert, das ist alles."

”Wirklich? Ich freue mich, dass dieser Mann doch nicht so vollkommen ist, wie ich bisher dachte."

“Was soll das denn?“

"Na hör mal, du bist so angetan von deinem Orthopäden, dass ich schon ein bisschen eifersüchtig war."

"Sag mal, spinnst du?"

"Ach Tinchen, komm schon, das war ein Scherz."

Zärtlich greift Michael nach meiner Hand und zieht mich neben sich auf unser Bett.

"Na komm, erzähl mir, was passiert ist."

"Er hat sich mit einem absolut affigen Grinsen vor mich hingesetzt und mich gefragt, was mit der Schmerztherapie ist!"

Michael sieht mich verblüfft an.

"Das ist alles?"

"Reicht das nicht?”

"Nur weil er dich angegrinst hat, bist du sauer?"

“Nicht weil er mich angegrinst hat, sondern wie er mich angegrinst hat.“

"Das verstehe ich jetzt nicht."

"Unter Garantie hat er von der Ärztin Post bekommen. Kann er da nicht einfach sagen, ich habe Post bekommen, können wir mal darüber reden? Nein, er zieht so eine blöde Show ab."

"Und darüber ärgerst du dich?"

"Ja. Ich dachte, er wäre anders."

”Ah, jetzt dämmert es bei mir. Du bist nicht wirklich sauer, du bist enttäuscht, dass er nicht dem Bild entspricht, das du dir von ihm gemacht hast."

"Das ist doch Quatsch!"

"Wirklich? Du hast gedacht, dass ist jetzt endlich mal ein Arzt, der dich ernst nimmt und dich mit einbezieht und nun das. Glaube mir, Liebes, der hat sich mit Sicherheit nichts dabei gedacht. Und dieses Grinsen, das dich so verärgert hat, hatte sicherlich nichts mit dem Brief zu tun, sofern es überhaupt einen gibt. Obwohl du für solche Dinge einen siebten Sinn hast, das will ich dir nicht absprechen. Eher glaube ich, dass dieses Grinsen vielmehr auf dich gemünzt war. Der Mann erlebt dich jetzt seit einem Jahr. Glaub es mir, der kennt dich inzwischen."

"Mit anderen Worten, es ist wieder mal meine Schuld."

"Tina, ich bitte dich! Sei doch nicht immer so empfindlich. Nimm es gelassen und mit Humor. Hast du ihm denn gesagt, dass du dich über sein Grinsen ärgerst."

"Nein!"

"Und warum nicht?"

"Weiß ich nicht!"

"Du bist vielleicht eine Zaubermaus. Kann es vielleicht sein, dass du dich über dich selbst ärgerst?"

"Ja!"

"Dachte ich's mir doch. Komm, lass die Kofferpackerei und trink einen Tee mit mir und dann reg dich bitte wieder ab. Und nach deiner Kur kannst du über dich selbst lachen, glaub es mir."

Liebevoll werde ich in den Arm genommen und bekomme einen langen Kuss, der mich für vieles entschädigt.

Nach unserer Teepause verabschiedet sich mein Mann für den Rest des Nachmittages, eine Bustour wartet noch auf ihn.

Dafür überrascht mich Filius mit seinem Besuch. Völlig unerwartet steht er plötzlich im Schlafzimmer.

”Filius, wie schön. Wo kommst du denn her?"

”Na, wo soll ich schon herkommen, Mum. Ich wollte mich auf jeden Fall von dir verabschieden und dir alles Gute für die Reha wünschen. Morgen hätte ich es nicht geschafft, da habe ich volles Programm. Soll ich dir beim Packen helfen?"'

"Nicht nötig, aber du könntest für mich einkaufen fahren."

"Klar, gerne. Wo sind denn die Kleinen?"

"Amrei und Sarah sind bei Rene und Tim ist bei Mario, warum?"

"Weil es so ruhig hier ist. Was soll ich denn einkaufen?"

"Am Gefrierschrank hängt der Einkaufszettel und das Geld liegt auf der Mikrowelle."

"Na, dann bis gleich."

Während ich vor meinem Kleiderschrank stehe und überlege, was ich noch einpacken muss, klingelt das Telefon. Ein bisschen widerwillig unterbreche ich meine Arbeit und gehe ran. Es ist Birgit.

"Hör mal, du fährst doch zur Reha. Wann denn?"

"Übermorgen, warum?"

"Hast du schon die Befunde von Dr. L.?“

"Natürlich, wieso?"

"Tina, ich habe jetzt eigentlich keine Zeit mit dir zu telefonieren, aber du solltest auf jeden Fall nachsehen, ob der Befund von Frau Dr. D. dabei ist. Den solltest du lieber nicht mitnehmen."

"Warum denn nicht?"

"Lies ihn einfach, ja? Ich muss Schluss machen, mein Wartezimmer sitzt gerappelt voll, aber ich komme nach der Sprechstunde bei dir vorbei. Bis dann!"

Ein bisschen ratlos stehe ich am Telefon und überlege, was das nun wieder soll. Schließlich mache ich mich auf den Weg ins Schlafzimmer, wo die Röntgentüte steht, in der auch die Befunde liegen. Ich ziehe die Befunde heraus und sehe sie durch. Tatsächlich ist der Befund von Dr. D.

dabei. Ich setze mich auf mein Bett und fange an, den Brief zu lesen. Irgendwie kann ich nicht fassen, was ich da zu lesen bekomme. Frau Dr. D. schreibt nicht nur, dass es sinnvoller sei, wenn ich eine Psychotherapie machen würde, sie wirft mir auch einen Medikamentenabusus vor. Außerdem schreibt sie, sie hätte einmal eine Braunüle belassen, da ich darauf bestanden hätte. Außerdem würde ich es meisterhaft verstehen, mir bei diversen Ärzten Medikamente zu beschaffen. Tief getroffen sitze ich auf meinem Bett. Ich fühle mich verletzt und zutiefst gekränkt. Die beiden Blätter, die ich in der Hand halte, entgleiten mir und flattern zu Boden; ich bin unfähig, mich zu bewegen und sie aufzuheben.

Ich sitze noch wie versteinert auf der Bettkante, als Filius vom Einkaufen zurückkommt.

"Hallo Mum, was ist los?" Prüfend sieht mein Sohn auf mich herunter. Ich schüttele nur mit dem Kopf.

"Komm Mum, irgend etwas ist doch passiert. Sag mir, was los ist." Filius setzt sich neben mich und legt seinen Arm um mich.

"Lass mich, René," sage ich leise.

"Was ist los, Mum? Ich will das jetzt wissen, du bist ja völlig verstört."

"Ich will jetzt nicht darüber reden."

"Das solltest du aber, dann geht es dir vielleicht besser."

"Kannst du mich nicht endlich in Ruhe lassen?"

Filius seufzt ein bisschen und hebt schließlich die beiden Blätter auf, die auf dem Teppichboden liegen.

"Du hast was verloren. Ist das ein Befund?"

"Ja, so kann man es auch nennen."

Nachdem mein Sohn einen prüfenden Blick auf mich geworfen hat, überfliegt er den Befund. Schließlich lässt er sich neben mich auf das Bett plumpsen:

"Mum, sag mal, was schreibt die hier eigentlich für einen Schwachsinn?"

"Ich will jetzt nicht darüber reden, verstanden?”

"Mum, bitte, du musst darüber reden, du bist ja völlig fertig."

Ich schüttele den Kopf.

"Mum, lass dir bitte nicht auch noch die Seele kaputt machen. Wehr dich!"

"Filius bitte, lass mich jetzt in Ruhe!"

"Willst du dir das etwa gefallen lassen? Mum, komm bitte wieder zu dir. Ich habe dich noch nie so gesehen."

Es klingelt.

"Ich gehe schon."

Kurz darauf betreten Filius und Bernd das Schlafzimmer.

"Tina, hallo. Ich wollte dir alles Gute für die Reha wünschen."

Ich nicke und begrüße Bernd mit der obligatorischen Umarmung.

"Was ist denn los? Du ziehst ein Gesicht, als wärst du in einen Hagelschauer gekommen.“

"Ein Felsbrocken!"

”Was?"

"Es war ein Felsbrocken."

"Was ist denn los?"

"Das hier." Filius hält Bernd den Befund unter die Nase.

"Darf ich?“, fragt Bernd und sieht mich an. Ich nicke und seufze ein bisschen.

Immer wieder schüttelt Bernd den Kopf.

"Sag mal, diese Frau schreckt ja wohl vor gar nichts zurück, oder? Ist die eigentlich noch zu retten, so einen Blödsinn zu verzapfen? Erst bringt die dich fast um, so dass ich hier den ganzen Nachmittag Onkel Doktor spielen darf und dann diese Frechheit! Die ist geistig doch wohl nicht ganz auf der Höhe, oder wie sehe ich das? Was sagt denn dein Arzt dazu?"

"Gar nichts!"

"Wie? Gar nichts?"

"Er hat mir nicht mal erzählt, dass dieser Befund existiert. Wenn Birgit mich nicht angerufen hätte, hätte ich den übermorgen mit in die Rehaklinik genommen. Da hätte ich aber ganz schön dumm dagestanden. Ich hätte doch gleich verloren gehabt."

"Da hast du ohne Zweifel recht. Ich verstehe wirklich nicht, warum er dir den mitgegeben hat, er muss doch auch wissen, wie so ein Befund auf einen Kollegen wirken muss."

"Es ist ja nicht nur das, Bernd. Wenn dieser Befund in die falschen Hände kommt, kann ich meinen Job vergessen. Es gibt niemanden, der eine Medikamentenabhängige Krankenschwester oder Rettungsassistentin einstellt. Da kriege ich kein Bein mehr auf die Erde. Außerdem habe ich gedacht, dass wenigstens mein Orthopäde offen und ehrlich ist, das enttäuscht mich jetzt wirklich."

"Bist du sauer?"

"Vor allen Dingen fühle ich mich zutiefst verletzt. Warum schreibt die sowas? Mit welchem Recht? Ich habe ja in letzter Zeit einiges erlebt, aber das ist der Gipfel."

"Wenn ich bloß wüsste, wie ich dir helfen kann."

"Du? Darüber hätte mein Orthopäde mal nachdenken sollen, stattdessen fragt er mich ganz scheinheilig, was die Schmerztherapie macht. Das verletzt mich eigentlich viel mehr, als dieser alberne Brief hier."

"Was willst du jetzt tun?"

"Erst mal mache ich jetzt Abendessen und dann werde ich mir Gedanken machen müssen. Ich werde das auf keinen Fall so hinnehmen."

"Gott sei Dank. Vorhin dachte ich schon, jetzt ist das Ende da." Filius lacht mich an und umarmt mich.

"Ich finde es gut, dass du dich zur Wehr setzen willst. Das ist meine Mutter, die Kämpferin. Lass dir bloß nichts gefallen."

Nach dem Abendessen taucht wie versprochen Birgit auf.

"Hast du dich von dem Schreck erholt? Ich konnte vorhin wirklich nicht mit dir telefonieren, tut mir leid."

"Ich habe heute Mittag gleich gewusst, dass da was im Busch ist. Der hätte mich doch nie und nimmer auf die Schmerztherapie angesprochen, wenn da nicht irgendetwas gelaufen wäre."

"Wer? Dr. L.?"

"Wer sonst?“

"Vielleicht hat er sich nur nicht getraut. Ich habe es ehrlich gesagt auch nicht. Außerdem weiß ich nur zu gut, wie du auf sowas reagierst. Vom Tobsuchtsanfall bis zu tiefster Depression ist alles drin bei dir."

"Na schön, ihr habt euch nicht getraut. Aber habt ihr auch mal überlegt, was dieses Ding beruflich für mich bedeutet?"

"Wie soll dein Arbeitgeber das denn in die Finger bekommen?"

"Es reicht, wenn das Ding bei der BfA oder beim medizinischen Dienst oder bei der Krankenkasse oder was weiß ich wo landet und die Wahrscheinlichkeit ist gar nicht so gering. Ich bin als Medikamentenabhängige ein Risiko im Gesundheitsbereich. Wenn ich arbeite, habe ich jeden Tag Zugang zu verschreibungspflichtigen Medikamenten, sowohl als Krankenschwester wie auch im Rettungsdienst, gerade im Rettungsdienst. Meinst du vielleicht, irgendjemand würde mir noch die Medikamentenverwaltung anvertrauen. Ich dürfte keinen Koffer mehr anrühren."

Bernd nickt nachdenklich: "Sie hat recht, Birgit. Selbst wenn sich ein Arbeitgeber finden würde, würde sie doch jeder misstrauisch überwachen. So kann man nicht arbeiten, nicht wenn das Vertrauen fehlt. Ich hätte auch die größten Bedenken mit jemandem zusammenzuarbeiten, von dem man weiß, dass er Suchtgefährdet ist. Und hier ist noch nicht einmal von einer Gefährdung die Rede, hier ist es bereits ein Abusus."

"Darüber habe ich wirklich nicht nachgedacht, das muss ich zugeben. Dr. L. wahrscheinlich auch nicht.“

"Er hätte wirklich ehrlich sein können," sage ich leise.

"Tina, ihm ging es sicher wie mir. Er hat sich auch nicht getraut und ganz sicher hat er genauso wenig wie ich darüber nachgedacht, was dieser Befund für deine Existenz bedeuten könnte."

"Es ist trotzdem nicht in Ordnung."

"Dann musst du mir den gleichen Vorwurf machen, Tina."

Birgit sieht mich an.

"Bei dir bin ich nicht in der Sprechstunde gewesen, aber bei Dr. L."

"Spielt denn das eine Rolle?“

"Natürlich spielt das eine Rolle! Ich will Ehrlichkeit und Offenheit, das ist doch wohl nicht zu viel verlangt. Schließlich erwartet er das umgekehrt doch auch, oder vielleicht nicht?"

"Na ja, du hast schon irgendwie recht," seufzt Birgit.

"Was willst du jetzt machen, nicht mehr hingehen?" Bernd sieht mich prüfend an.

"Ich weiß es nicht."

"Tina, ich bitte dich!" Birgit betrachtet mich empört. "Dr. L. ist immer für dich da gewesen, wenn du ihn gebraucht hast. Jetzt hat er einmal, in deinen Augen wohlgemerkt, einen Fehler gemacht. Ich weiß, dass du von deinen Ärzten ernst genommen werden willst und absolute Offenheit erwartest und das kann ich auch sehr gut verstehen, aber meinst du nicht, du solltest erst mal mit ihm reden? Frag ihn doch, was er sich dabei gedacht hat. Er hat es sicher nicht böse gemeint, genauso wenig wie ich."

"Ja, aber im Gegensatz zu dir, hätte er mich in der Rehaklinik mit diesem Befund auflaufen lassen."

"Tina, da hat er sicher nicht drüber nachgedacht." Bernd schüttelt ein bisschen unwillig den Kopf.

"Na prima! Aber er ist immerhin so weit gegangen, mich nach der Schmerztherapie zu fragen! Da hätte er ja vielleicht auch noch ein bisschen weiterdenken können! Und wenn er ehrlich gewesen wäre, hätte ich das sogar mit ihm besprechen können. Aber die Möglichkeit hat er mir nicht eingeräumt. Da bekommt er so ein Schreiben und ich darf mich nicht mal zur Wehr setzen.“

"Tina, ruf ihn doch morgen mal an. Sprich mit ihm darüber." Birgit betrachtet mich ein bisschen hilflos.

"Nein!" Ich schüttele heftig den Kopf.

"Tina, das ist jetzt nicht fair."

"Das wird ja immer besser! Jetzt verlangt ihr von mir Fairness? Ihr habt sie wohl nicht alle!"

“Tina, ich glaube, du bist jetzt viel zu verletzt und zu verärgert, um einen klaren Gedanken zu fassen. Bevor du dir einen anderen Orthopäden suchst, solltest du vielleicht die drei Wochen in der Rehaklinik dazu nutzen, in Ruhe über alles nachzudenken. Brich nichts vom Zaun. Birgit hat einwandfrei recht: Dr. L. ist immer für dich da gewesen und jetzt hat er sich einen Schnitzer dir gegenüber geleistet, aber schließlich ist er auch nur ein Mensch. Menschen machen nunmal Fehler und treffen auch mal falsche Entscheidungen. Das ist doch wohl jedem von uns schon passiert. Gib ihm eine Chance - dir und ihm zuliebe. Denk bitte in Ruhe darüber nach."

Ich antworte nicht mehr, sondern vergrabe mich in meine Sofaecke.

 

Am nächsten Morgen telefoniere ich früh und mache mich dann fertig, um in die Stadt zu fahren.

“Was hast du denn vor?"

Michael steht in der Küchentür und betrachtet mich staunend.

"Ich fahre jetzt zur Krankenkasse und anschließend zum Rechtsanwalt."

"Was willst du denn beim Rechtsanwalt?”

"Meinst du ernsthaft, ich lasse mir diesen Befund gefallen? Glaub ja nicht, dass ich das so auf sich beruhen lasse."

Michael schüttelt den Kopf und verschwindet in der Küche.

Nachdem ich bei der Krankenkasse Kopien über die bisher ausgestellten Rezepte erhalten habe, mache ich mich auf den Weg zu unserem Anwalt. Herr P. begrüßt mich überaus freundlich und fragt sofort nach dem Anlass meines Erscheinens.

Ich reiche ihm den Befund und die Belege von der Krankenkasse über den Schreibtisch. Interessiert liest er den Befund und sieht mich dann ungläubig an.

"Wie kommt sie dazu, so einen Befund zu schreiben?“

"Das kann ich eigentlich nur vermuten." Ich berichte kurz von der Überdosierung und meinem Abbruch der Behandlung.

"Eine Rachefeldzug?!” Herr P. sieht mich völlig perplex an.

"Das wäre natürlich ein starkes Stück. Sind das die bisher ausgestellten Rezepte?"

"Ja, abgesehen von dem MST und den Magen Medikamenten hat Dr. L. die Rezepte ausgestellt, mit Ausnahme der Zeit, wenn er Urlaub hatte."

"Ich kenne mich mit Patientenrecht nicht so gut aus. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich einen Kollegen anrufe und ihn frage, was man da machen kann?"

"Nein, machen Sie das ruhig."

"Gut, ich bin gleich wieder da."

Kurze Zeit später sitzt Herr P. wieder vor mir.

"Also, ich habe jetzt einen Kollegen angerufen, der sich auf solche Sachen spezialisiert hat. Die einzige Möglichkeit, die wir haben, ist folgende: Wir müssten Anzeige wegen Rufschädigung und übler Nachrede erstatten. Das kann ich für Sie erledigen, das ist kein Problem. Die Rezeptkopien sind schon mal nicht schlecht. Sie lösen Rezepte immer in der gleichen Apotheke ein, habe ich festgestellt."

Ich nicke zustimmend.

"Gut, das brauchen wir vielleicht noch. Es ist immer von Vorteil, wenn der Apotheker den Patienten gut kennt. Was Sie aber mit Sicherheit brauchen werden, ist ein psychologisches Gutachten. Hätten Sie da Bedenken?"

“Nein, wieso? Ich bin weder Medikamentenabhängig, noch depressiv, noch ein Hypochonder, auch wenn es Leute gibt, die das behaupten. Ich habe kein Problem mit einem psychologischen Gutachten. Die Frage ist nur, wo lasse ich es machen? Außerdem fahre ich morgen erst mal zur Reha."

"Na ja, das ist vielleicht eine Möglichkeit. Fragen Sie doch mal dort in der Klinik nach. Vielleicht lässt sich das gleich arrangieren."

"Ja, die Idee ist sicher gut. Ich kümmere mich darum."

"Gut, dann erteilen Sie mir jetzt eine Vollmacht und ich kümmere mich um die Formalitäten und dann sehen wir weiter."

Als ich die Kanzlei verlasse, fühle ich mich ein bisschen wohler bei dem Gedanken, etwas unternommen zu haben.

 

 

 

 

Kapitel 53

 

 

 

Es ist ein sonniger Oktobermorgen, als Lars von den Maltesern mich abholt, um mich in die Reha Klinik zu fahren.

Unterwegs plaudern wir ununterbrochen und Lars erzählt mir von seiner Familie, von seiner Freundin und von seinen beruflichen Vorstellungen. Er möchte immer noch Rettungsassistent werden, weiß nur nicht, wie er es realisieren soll, denn die Ausbildung ist teuer und muss in den meisten Fällen selbst finanziert werden. Ich schlage Lars vor, in größeren Städten mal bei den Hilfsorganisationen nachzufragen. Oft hat man dort die Möglichkeit, die Ausbildung finanziert zu bekommen, allerdings muss man sich dann auch für mehrere Jahre zum Dienst verpflichten, aber das muss ja nichts Negatives sein. Ich habe es seinerzeit auch so gemacht. Lars stimmt mir zu. Diese Möglichkeit hatte er noch nicht in Erwägung gezogen, aber für ihn wäre das durchaus eine Alternative, da seine Eltern ihm diese Ausbildung auch nicht finanzieren könnten.

Nach gut drei Stunden treffen wir in der Klinik ein. Als wir das Foyer betreten, bleibt Lars in der Tür stehen und starrt entsetzt in die Eingangshalle.

"Bist du ganz sicher, dass wir hier richtig sind?".

"Ja, es stand doch draußen dran, oder?"

“Na, dann sieh dich mal hier um, aber vorsichtig, sonst trifft dich der Schlag."

Auf den ersten Blick sehe ich, was Lars meint. Nur alte Leute. Die Patienten hier sind ab siebzig aufwärts. Kaum einer ist gut zu Fuß. Fast alle benötigen Deltaräder oder Rollstühle.

“Ich wünsche dir auf jeden Fall einen angenehmen Aufenthalt im Altenheim," flüstert Lars.

"Na, so schlimm wird es schon nicht werden. Nun komm schon."

Lars begleitet mich zur Rezeption, wo ich den Zimmerschlüssel entgegen nehme und erklärt bekomme, wo sich das Schwesternzimmer befindet.

Dort werde ich freundlich begrüßt und eine junge Schwester begleitet mich auf mein Zimmer.

Nachdem Lars meine Koffer im Zimmer abgestellt hat, verabschiedet er sich von mir und flüstert mir ins Ohr, wenn es im Altenheim zu schlimm wird, solle ich einfach türmen. Lächelnd schüttle ich den Kopf.

Kurze Zeit später werde ich zum Mittagessen abgeholt. Auf meinem Sitzplatz findet sich ein Kärtchen, auf dem die Termine für den heutigen Tag vermerkt sind:

Um vierzehn Uhr Arzttermin, um fünfzehn Uhr Führung durch das Haus, um sechzehn Uhr

Begrüßung durch den Oberarzt, ab siebzehn Uhr dreißig Abendessen. Ich seufze ein bisschen.

"Ganz schön viel Programm für den ersten Tag, oder?", spricht mich ein Herr an, der ungefähr in meinem Alter sein dürfte.

"Sie sind ja auch nicht hier, um Ferien zu machen," lacht uns ein etwa fünfzigjährige Mann freundlich an. Jetzt muss ich auch schmunzeln, wie oft habe ich vom 'wohlverdienten Urlaub nach der Kur' gehört.

"Ich heiße Christoph!" Der junge Mann hält mir eine ungewöhnlich gepflegte Hand unter die Nase, die ich ohne Zögern ergreife.

"Ich bin Tina."

"Na, dann will ich mich nicht ausschließen. Ich bin Klaus!" Der Herr, der sich in unser beginnendes Gespräch eingemischt hatte, hält uns ebenfalls seine Hand hin. Jetzt stellen sich auch die beiden Damen vor, die außer mir noch am Tisch sitzen: Elvira und Valentina, die eine Polin, die andere Russin. Und schließlich schaltet sich auch noch der dritte Herr ein, Erwin, der aufgrund einer frischen Bandscheiben-OP an einem kleinen Nebentisch zum ewigen Stehen verdammt ist.

"Armer Kerl, das habe ich auch hinter mir, diese blöde Steherei, aber was soll man machen." Christoph lacht uns freundlich an.

"Auch an der Bandscheibe operiert?", fragt Klaus interessiert.

"Ja, aber irgendwie wird es nicht richtig. Ich mache jetzt schon die zweite Reha, vielleicht funktioniert es ja jetzt besser. Und was treibt euch so her?"

Klaus hat Probleme mit den Handgelenken und der Schulter, Elvira hat Probleme mit den Knien und bei Valentina ist es ebenfalls die Bandscheibe.

"Und du?“, fragt mich Christoph.

"Lumboischialgie," antworte ich ohne Zögern.

“Lumboischialgie?!" Christoph sieht mich verblüfft an, dann stiehlt sich langsam aber unaufhörlich ein Lachen in sein Gesicht.

“Von Lumboischialgie reden Ärzte immer dann, wenn sie die Ursache nicht kennen."

“Stimmt genau!"

"Wie jetzt, stimmt genau?!"

”Na ja, am Anfang war es die Bandscheibe, aber offensichtlich ist sie doch nicht schuld an allem und jetzt weiß eigentlich niemand so genau, was Sache ist."

"Und wie lange läufst du damit schon rum?"

"Seit fast einem Jahr."

"Ständig Schmerzen?" Fassungslos betrachtet mich jetzt Elvira.

“Ja, ohne Morphin kann ich kaum laufen."

"Das ist aber heftig.“ Christoph sieht mich mitleidig an. "Ich dachte schon, mir geht es schlecht, aber da bin ich ja noch richtig gut dran. Ich komme wenigstens mit leichteren Schmerzmitteln zurecht. Meinst du, die kriegen das hier hin?"

"Warten wir es ab."

Nachdem wir also geklärt haben, wer an was leidet, sind die Ärzte dran. Jeder hat mehr oder weniger gute bis schlechte Erfahrungen gesammelt und die Orthopäden schneiden da mal wieder am schlechtesten ab. Nachdem jeder meiner Tischgenossen, außer Christoph, sich über diverse Orthopäden beklagt hat, rutscht mir mein Standardsatz heraus: "Orthopäden sind nun mal arrogante Wichtigtuer."

"Stimmt haargenau!" Klaus nickt mir zufrieden zu, während Christoph mich mit hochgezogenen Augenbrauen und einem kleinen Lächeln mustert.

Nach dem Abendessen finden wir uns zu einem gemütlichen Beisammensein ein, um den ersten gehabten Stress abzubauen. Erwin leistet uns stehend Gesellschaft. Klaus erzählt von seinem Beruf. Er ist Kunsttischler und interessiert lauschen wir seinen Ausführungen.

"Was macht ihr denn beruflich?", fragt er schließlich in die Runde.

Elvira arbeitet in einer großen Autofabrik am Fließband. Valentina ist in einer Großküche angestellt, Erwin ist Dreher. Nachdem auch ich erzählt habe, was ich bisher gemacht habe, sehen alle erwartungsvoll Christoph an.

“Und was machst du beruflich?" Elvira sieht Christoph lächelnd an. Dieser erwidert das Lächeln und mustert mich dann ein bisschen nachdenklich.

"Ich bin ein arroganter Wichtigtuer," erklärt er schließlich.

"Oh Tina, da bist du jawohl echt ins Fettnäpfchen getappt." Valentina sieht mich entsetzt an. Nun muss ich doch lachen.

"Wieso denn, Orthopäden sind arrogante Wichtigtuer."

"Wie kommst du eigentlich darauf?" Christoph mustert mich fragend und gespielt empört.

"Das ist einfach so! Du musst das wohl besser wissen als ich, oder?"

"Du kennst uns nicht gut genug."

"Doch, mein Bruder ist auch Orthopäde und bildet keine Ausnahme."

Belustigt sieht Christoph mich an: "Ich habe mal gehört, dass Rettungsassistenten auch ziemlich eingebildet sein können."

"Ja, Assistenten! - Mit Assistentinnen ist das allerdings was anderes. Die bilden da eine Ausnahme. Die sind immer lieb und nett und ausgesprochen charmant."

"Die Frau ist unglaublich!" Christoph schüttelt lachend den Kopf.

"Mit dir haben wir uns was eingefangen, das kann ja noch heiter werden."

"Du bist wirklich Orthopäde?" Erwin betrachtet Christoph staunend.

"Ja, ist das so abwegig?“

"Was machst du denn hier?"

"Ich versuche, meinen Bandscheibenvorfall auszukurieren, das habe ich doch heute Mittag schon erzählt."

“Das ist mir ein inneres Freudenfeuer," werfe ich ein.

"Was?"

"Ein Orthopäde mit Bandscheibenschaden, das genieße ich richtig."

Christoph schüttelt lachend den Kopf. "Du bist ja ein selten gehässiges Weibsbild."

"Wieso denn? Ich finde es ist ausgleichende Gerechtigkeit, wenn Ärzte die Erkrankungen bekommen, die sie für gewöhnlich zu kurieren versuchen. Dann wissen sie auf jeden Fall, wie es ihren Patienten geht."

"Da hast du allerdings recht. Ich hatte auch nicht die geringste Ahnung, wie weh ein Bandscheibenvorfall tatsächlich tut. Da kann ich jetzt natürlich wirklich mitreden und ein bisschen mehr Verständnis für meine Patienten aufbringen. Irgendwie hast du schon recht, man sollte solche Sachen als Arzt wirklich mal mitgemacht haben, obgleich das keine besonders lustige Erfahrung ist."

"Wieso hast du überhaupt einen Bandscheibenvorfall? Was hast du denn gemacht?“ Erwin betrachtet Christoph neugierig.

“Ich habe einen Patienten vom OP-Tisch gehoben und schon war's passiert."

"Wie ungeschickt!" Erwin betrachtet Christoph mitleidig, während ich mir ein Grinsen nicht verkneifen kann.

"Das war nicht ungeschickt, das war dämlich," erwidert Christoph.

"Wieso dämlich? So etwas kann doch schon mal passieren."

Elvira schüttelt den Kopf.

"Es war deshalb dämlich, weil ich das lieber die Schwestern hätte machen lassen sollen. Ich hätte mir eine Menge Quälerei und Schmerzen erspart. Dann hätte sich eine Schwester mit dem Bandscheibenschaden herumärgern können."

"Da stelle ich mir doch die Frage, wer von uns beiden nun gehässiger ist,” werfe ich ein, was zur allgemeinen Heiterkeit beiträgt.

Am nächsten Morgen treffen wir uns Planmäßig um halb sieben zum Frühstück. Wie ich diese frühe Aufsteherei hasse! Ich bin der geborene Langschläfer. Da aber um halb acht schon die erste Therapie beginnt, bleibt mir wohl nichts anderes übrig.

Am Frühstücksbuffet treffe ich Christoph, der ein bisschen unschlüssig das Angebot betrachtet:

"Da weiß man nicht, was man nehmen soll. Die Auswahl ist ja wirklich riesig."

"Damit habe ich keine Probleme,“ antworte ich lächelnd und greife Standardmäßig zu Vollkornbrot und einem Stück Butter, um mir dann ein Kännchen Milch zu füllen.

"Ist das jetzt etwa dein Frühstück?" Christoph betrachtet mich verblüfft.

"Butterbrot und Vollmilch?"

"Ja, mehr esse ich zu Hause auch nicht."

"Bist du auf Diät?"

"Chronischer Appetitmangel."

"Pass bloß auf, dass du nicht zu viel Gewicht verlierst."

"Na ja, ein bisschen darf es schon noch sein, aber wenn ich das nicht irgendwann zum Stehen bekomme, kann es schon kritisch werden."

"Wie viel hast du denn schon runter?"

"Mittlerweile 23 Kilo."

"Wie bitte?! Was hast du denn gewogen?"

"Als die Geschichte letztes Jahr im Oktober anfing, wog ich 97 Kilo."

"Das ist jetzt nicht dein Ernst."

"Doch, das ist mein Ernst. Ich habe bei meinem jüngsten Sohn in der Schwangerschaft aus unerfindlichen Gründen 20 Kilo zugelegt, dann bin ich noch zweimal schwanger geworden und dann wurde ich das Gewicht nicht mehr los."

"Da bist du wahrscheinlich froh, dass du im Laufe eines Jahres 23 Kilo runter hast?"

"In einem Monat sechzehn Kilo, das war im Januar und seitdem nehme ich kontinuierlich ab."

"Ja, bei dem Essen kein Wunder. Mensch pass bloß auf, dass das nicht aus dem Ruder läuft. In einem Monat sechzehn Kilo, das ist ja unglaublich! Was hat denn dein Arzt dazu gesagt?"

"Dreimal darfst du raten!".

Christoph schüttelt immer noch den Kopf.

Am späten Vormittag treffe ich wieder auf meine Tischgesellschaft. Nachdem jeder diverse Programme durchlaufen hatte, treffen wir uns jetzt zur gemeinsamen Hallengymnastik. Bereits bei der ersten Übung scheitert Christoph kläglich. Wir sollten uns bäuchlings auf einen großen Gymnastikball legen und unser Gleichgewicht auspendeln. Christoph kann anfangen was er will, immer rollt er nach vorne weg und muss sich mit den Armen abfangen, um nicht kopfüber vom Ball zu fallen.

Schließlich wird die Therapeutin auf ihn aufmerksam.

"Herr Doktor, was machen Sie da eigentlich?"

"Ich kann das nicht, tut mir leid."

"Dann werden Sie das jetzt üben."

"Sie sehen doch, dass ich immer vom Ball rolle."

“Ja, aber alle anderen können es doch auch. Sie müssen Ihren Mittelpunkt finden, damit Sie das Gleichgewicht halten können. Nun strengen Sie sich mal ein bisschen an."

"Wozu soll das überhaupt gut sein?"

“Das stärkt die Rückenmuskulatur und Sie bekommen ein besseres Gefühl für Ihre Körperhaltung."

"Können wir nicht irgendwas ohne Ball machen?"

"Kommt noch, keine Sorge!"

Einige Übungen später kämpft Christoph erneut. Wir sollen einen kleinen Ball um den Körper herumführen und möglichst gerade stehen. Wieder stürmt die Therapeutin auf Christoph zu.

"Herr Doktor, Sie sollen gerade stehen!”

"Das tu ich doch!"

“Nein, das tun Sie eben nicht. Sie stehen total schief."

"Ich muss doch wissen, ob ich gerade stehe."

"Nein, eben nicht. Durch die Erkrankung nehmen Sie unwillkürlich eine falsche Körperhaltung an, das ist völlig normal und Sie haben erst mal auch keine Chance das zu korrigieren, deshalb auch die Gymnastik hier. Aber wieso erkläre ich Ihnen das eigentlich, dass wissen Sie als Orthopäde mindestens genauso gut wie ich. Warum diskutieren Sie also mit mir herum?"

"Weil es Spaß macht." Christoph grinst über das ganze Gesicht, dem kann sich auch die Therapeutin nicht entziehen und fängt an zu lachen.

"Sie sind vielleicht ein harter Brocken, nicht zu fassen."

Am späten Nachmittag bekomme ich Probleme mit heftigen Rückenschmerzen. Ich kann kaum einen Schritt vor den anderen setzen. Der Stationsarzt vermutet, dass die Gruppengymnastik schuld ist und entscheidet, dass ich in eine Gruppe gehöre, die weniger schwierige und dafür Rückenschonendere Übungen durchführt. Für den Moment bleibt mir nichts anderes übrig, als mich in mein Bett zu verziehen und Stufenlagerung durchzuführen, um meine überbeanspruchte Wirbelsäule zu entlasten.

Da die Schmerzen im Laufe des Nachmittages nicht abklingen, erhalte ich eine Spritze, die leider ihre Wirkung verfehlt. Ich verzichte auf das Abendessen und auch am nächsten Morgen auf das Frühstück, das später als sonst üblich stattfindet, denn es ist Samstag und abgesehen von der Gruppengymnastik am späten Vormittag ist heute kein Programm.

Gegen halb zehn klopft jemand an meine Zimmertür. Mühsam erhebe ich mich von meinem Bett und öffne - Christoph steht vor der Tür.

"Guten Morgen, Tina. Geht es dir nicht gut? Wir haben uns Sorgen gemacht. Du warst gestern nicht zum Abendessen da und heute auch nicht zum Frühstück. Fehlt dir was?"

"Ich habe Schmerzen. Sei nicht böse, aber ich muss mich wieder hinlegen, das Stehen fällt mir schwer."

"War ein Arzt hier?"

"Gestern Abend."

"Und, was sagt er?" '

"Die Gruppengymnastik war wohl zu viel. Ich habe eine Spritze bekommen, die hat aber leider nichts gebracht."

"Heute Morgen hat niemand nach dir gesehen?“

"Nein!“

"Das finde ich nicht besonders gut.“

"Mich stört es nicht und im Falle des Falles hätte ich ja auch klingeln können."

"Möchtest du etwas essen?"

”Nein."

"Aber was trinken solltest du. Soll ich dir einen Kaffee besorgen?"

"Ein Tee wäre nicht schlecht, ich trinke keinen Kaffee."

"Nie?"

"Da spielt mein Magen nicht mit, aber abgesehen davon mag ich Kaffee auch nicht besonders."

"Meine Güte, du lebst vielleicht gesund. Irgendeinen besonderen Wunsch, was den Tee anbelangt?"

"Nein.”

"Na gut, ich bin gleich zurück."

Etwa zehn Minuten später erscheint Christoph mit einem Kännchen Tee.

"Ich habe den anderen gesagt, dass du flach liegst. Sie machen sich alle Gedanken um dich. Glaubst du, du schaffst es, zum Mittagessen aufzustehen? Du kannst nicht die ganze Zeit ohne Nahrung bleiben und wenn du nur ein bisschen isst, aber du musst etwas essen. Was meinst du?"

"Ich werde es versuchen."

"Gut, dann komme ich dich gegen zwölf abholen. Ich muss jetzt erst mal zur Gymnastik."

"Das klingt ja total begeistert."

"Bin ich auch, absolut. Ich hasse Gymnastik!"

Zum Mittagessen quäle ich mich tatsächlich hoch, vor allen Dingen aber auch, weil ich nicht mehr liegen kann. Nach dem Essen fragt Christoph besorgt, ob ich mich wieder hinlegen will. Ich lehne ab.

"Ich muss ein bisschen laufen."

"Bist du sicher?"

"Ja, ich kann nicht mehr liegen. Sitzen oder stehen kann ich aber auch nicht, also bleibt nur das Laufen."

"Wollen wir einen kleinen Spaziergang machen? Wir könnten außen um die Klinik gehen und dann oben am Waldrand lang. Wenn du dann nicht mehr weiter kannst, sind wir gleich wieder hier. Was meinst du dazu?"

"Ja, die Idee ist nicht schlecht. Ich gehe mir etwas anderes anziehen.“

"Gut, ich warte im Foyer auf dich."

Langsam spazieren wir einen, gottlob, ebenmäßigen Weg entlang. Vorsichtshalber habe ich meine Gehstützen mitgenommen und bin jetzt froh darüber. Dennoch muss ich ständig stehen bleiben, weil mir auch das Laufen schwer fällt und ausgesprochen schmerzhaft ist. Aber das ist ja nichts Neues.

"Seit einem Jahr geht das jetzt schon so?" Christoph bleibt stehen und betrachtet meine mühsamen Laufversuche.

"Ja, obwohl es mit dem Morphin eigentlich ganz gut geht. Aber sowie ich den Rücken ein bisschen mehr belaste, ist es vorbei. Ich habe nicht gedacht, dass die Gymnastik sich so auswirken könnte. Auf was habe ich mich da bloß wieder eingelassen."

"Hat der Arzt denn jetzt irgendwas entschieden wegen der Gymnastik?"

"Ja, eine andere Gruppe. Mal sehen, vielleicht klappt das ja besser."

"Sag mal, wenn du ständig Morphin nimmst, schwebst du dann nicht über dem Erdboden?"

"Das habe ich die ersten drei Wochen getan. Ich kam mir ständig vor wie in einer Wattewolke. Mittlerweile merke ich gar nicht mehr, dass ich Morphin einnehme."

"Nicht zu glauben. Wie wäre es mit einem Tee?"

“Ja, dann müssen wir jetzt aber hier den Weg runter gehen."

"Wir gehen nicht in die Klinik."

"Nein? Wohin gehen wir dann?"

"Ich lade dich im Teehaus zu einem Tee ein."

"Wo ist denn das Teehaus?"

"Gleich da unten an der Kirche. Ich habe es gestern Nachmittag erkundschaftet und habe mir gedacht, das ist der richtige Laden für dich. Jede Menge Tee, urgemütlich und die Stühle sind auch einigermaßen bequem und Rückengerecht, dass ist heute ja auch wichtig für dich. Um das nachzuempfinden muss man wirklich selbst schon Probleme mit dem Rücken gehabt haben. Ich kann mich ziemlich gut in dich hineinversetzen, wenngleich ich diese Probleme allerdings nur die ersten acht Wochen hatte. So rumquälen muss ich mich heute nicht mehr und bin trotzdem nicht zufrieden."

Trotz meiner hartnäckigen Schmerzen verbringe ich einen gemütlichen Nachmittag in der Gesellschaft von Christoph.

Die andere Gymnastikgruppe bringt mir genauso wenig wie die erste. Selbst die Einzelkrankengymnastik bringt nichts und endet im Schlingentisch, was sich auch bis zum Ende der Rehamaßnahme nicht ändern soll. Dafür genieße ich das Bewegungsbad umso mehr. Hier kann ich mich fast schmerzfrei bewegen und so nutze ich meine freien Nachmittage zu ausgiebigen Schwimmübungen. Häufig schließt sich Christoph an und es entsteht eine Freundschaft, mit der wir beide zu Beginn der Reha nicht gerechnet hatten, die wir aber um so mehr genießen.

"Morgen habe ich Bogenschießen, ob das wirklich gut ist für den Rücken? Irgendwie kann ich mir das nicht vorstellen."

"Ich habe morgen auch Bogenschießen, sind wir in einer Gruppe?", frage ich interessiert zurück.

"Ja, das wäre dann wohl möglich. Der 'Hamburger' ist auch in unserer Gruppe, wenn wir denn gemeinsam Bogenschießen haben."

"Oh nein!“ Ich verdrehe ein bisschen genervt die Augen. Der 'Hamburger', wie er allgemein nur genannt wird, ist vor wenigen Tagen eingetroffen und nervt seit dem permanent damit, dass er die Reha Maßnahme ätzend langweilig findet, dass es nur langweilige und spießige Frauen in der Klinik gibt und dass man nicht einmal tanzen gehen kann.

Tatsächlich haben wir gemeinsames Bogenschießen und auch unser Tischnachbar Klaus ist dabei, was Christoph nun überhaupt nicht begreifen kann.

"Wer hat das denn angeordnet? Also mit deinen kaputten Handgelenken und der lädierten Schulter ist Bogenschießen doch wohl absolut kontraindiziert. Ich versteh das nicht, wie können die dir Bogenschießen aufzwingen?"

Christoph behält recht: Nach dem Bogenschießen ist nun Klaus derjenige, der sich mit unerträglichen Schmerzen herum quält.

Das Bogenschießen selbst allerdings macht uns viel Spaß und da kann sich auch Klaus nicht dagegen wehren. Zuerst bekommen wir eine genaue Einweisung und machen Aufwärmübungen. Dann werden uns die Bogen vorgeführt. Die leichtesten Bogen wiegen circa 18 Kilo, wird uns erklärt.

Christoph wirft mir einen besorgten Blick zu: "Hoffentlich ist das nicht zu schwer für dich."

"Ich werde es versuchen," entgegne ich lächelnd.

Der Hamburger darf beginnen und sorgt sofort für allgemeine Heiterkeit. Trotz der optimalen Einweisung schießt er sich den wirklich spitzen Pfeil fast in die Füße, was dazu führt, dass Christoph laut hörbar die Luft einzieht. Auch die drei anderen Pfeile landen vor den Füßen des 'Hamburgers' und schlittern dann quer durch die Halle unter einen Vorhang. Der Therapeut gibt resigniert auf.

"Haben Sie eigentlich schon mal ins Schwarze getroffen?", erkundigt sich Klaus bei dem Therapeuten.

"Noch nie," antwortet dieser lachend.

"Aber meine Füße habe ich auch noch nie getroffen. Man sollte schon die Scheibe treffen."

Die Nächste die dran ist, bin ich. Zuerst halte ich den Bogen verkehrt herum, was natürlich allgemeines Gelächter bei den Herren hervorruft.

"Willst du dich selbst abschießen?" Klaus lacht sich fast kringelig.

"Meine Güte, das kann einem doch mal passieren, oder? Deswegen müsst ihr euch wirklich nicht gleich lustig machen über mich. Das ist nicht nett von euch. Zumal ich das einzige weibliche Wesen hier bin, da könntet ihr schon ein bisschen charmanter sein."

"Du kannst das ab!", wird mir lapidar erklärt. Na klar, was denn sonst?

Inzwischen ist der Therapeut hinter mich getreten und bringt mich in eine kerzengerade Körperhaltung. Er zeigt mir, wie ich die Arme halten muss, und dann kommt das Kommando:

"Sehne spannen! Konzentration! Und Schuss!"

Ich lasse die Sehne los und der Pfeil fliegt in einer schönen geraden Linie auf die Scheibe zu und - bleibt mitten im Schwarzen stecken.

"Donnerwetter!", entfährt es Christoph und Klaus gleichzeitig und auch der Therapeut guckt ziemlich verblüfft. Sicherlich ist die Verblüffung bei den dreien nicht größer als meine eigene. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.

"Sag mal hast du heimlich geübt oder bist du mit Robin Hood verwandt?", werde ich denn auch prompt gefragt.

"Eigentlich nicht, genau genommen habe ich noch nie in meinem Leben einen Bogen in der Hand gehalten."

“Das ist einfach unglaublich, das habe ich noch nie geschafft und ich mache das jetzt schon einige Zeit." Der Therapeut schüttelt staunend den Kopf.

“Nun kriegt euch mal wieder ein, das war nichts weiter als pures Anfängerglück. Ich garantiere euch, das klappt jetzt nie wieder." Genauso ist es! Aber immerhin treffe ich, im Gegensatz zu den Herren, jedes Mal die Scheibe.

Akupunktur steht auf meinem nicht gerade sehr umfangreichen Programm. Die Akupunkturärztin, Frau Dr. H., ist eine zierliche kleine Person mit Nickelbrille und Wuschelkopf und einem unglaublich humorvollen Wesen. Nachdem sie mich zuerst gut zwei Stunden untersucht hat, die typische chinesische Form der Diagnosestellung mit Puls und Zungendiagnostik, hat sie nun einen Behandlungsplan erstellt. Im Gegensatz zu meinem Orthopäden sticht sie auch Punkte auf dem Bauch und an der Vorderseite der Beine. Während sie mir die Nadeln setzt, plaudern wir über ihre Arbeit und ihre Ausbildung, die sie zu einem großen Teil in Peking absolviert hat. Da ich selbst schon einen Urlaub in Peking verbracht habe, haben wir reichlich Gesprächsstoff. Nachdem sie fertig ist mit der Nadelei, setzt sie sich zu meinem Erstaunen zu mir auf die Liege.

"Ich werde die Nadeln jetzt hin - und herdrehen, wenn es unangenehm werden sollte, lassen Sie es mich gleich wissen, dann breche ich ab. Es darf nicht wehtun, nicht stechen und nicht ziepen. Eigentlich soll es nichts weiter als angenehm sein. Wenn Ihnen irgendwie übel oder schwindelig wird, sagen Sie mir bitte auch Bescheid. Das darf ebenfalls nicht passieren, passiert aber    manchmal bei besonders sensiblen Patienten. Vorwiegend allerdings bei denen, die noch keine Akupunktur hatten. Am besten wäre, wenn Sie jetzt einfach versuchen, sich zu entspannen."

"Wenn Sie mich lassen, ist das kein Problem."

"Wenn ich Sie lasse?"

"Ich beherrsche eine chinesische Form der Kurzmeditation, die man im Zusammenhang mit der Akupunktur einsetzt. Das funktioniert aber nur, wenn Sie nicht reden.“

"Na gut, dann mal los."

Ich schließe die Augen und entspanne mich. Tatsächlich habe ich ein wesentlich intensiveres Gefühl während der Akupunktur als zu Hause bei meinem Orthopäden. Es ist nicht nur das angenehme Kribbeln da, das ich immer so genieße. Diesmal spüre ich ein deutliches Gefühl der Wärme durch den Körper ziehen. Ich werde regelrecht müde, allerdings nicht so, wie bei meiner ersten Akupunktur im Februar. Irgendwann spüre ich, wie die Nadeln langsam entfernt werden. Ein bisschen mühsam öffne ich die Augen.

Frau Dr. H. lächelt mich freundlich an.

“Das ist Wahnsinn. So etwas habe ich außer in China noch nie erlebt. Die Chinesen beherrschen alle diese Form der Meditation. Woher können Sie das?"

"Ich habe chinesische Meditationstechniken in Afrika im chinesischen Krankenhaus erlernt. Mit dem damaligen Chefarzt bin ich heute noch befreundet."

"Ist ja unglaublich! Haben Sie noch mehr so interessante Dinge gelernt?"

"Ja, ich beherrsche außerdem noch Yi wan chuang."

"Das ist eine Form der Massage, die man in China vor der Akupunktur einsetzt. Das habe ich in Peking kennengelernt. Die chinesischen Ärzte machen das fast alle vorher. In Bayern gibt es eine Klinik für TCM und da gibt es einen Chinesen, der macht das auch. Aber ich habe nie so ganz begriffen, was dabei passiert."

"Es dient der vollkommenen Entspannung und einer vorzeitigen Aktivierung der Meridiane. Dadurch kommt es zu einer Verstärkung der Akupunktur. Der Akupunktur Arzt entscheidet, an welchen Meridianen er Punkte stechen will, und der Masseur stimuliert dann die entsprechenden Meridiane. Das geschieht durch sanfte Streicheleinheiten, die der Patient erhält. Die Patienten entspannen total, vorausgesetzt, sie lassen sich auf die Massage ein. Damit die Massage auch möglichst angenehm ist, benutzt man Duftöle, die auf die Haut aufgetragen werden. Die Chinesen bevorzugen so intensive Duftnoten wie Geranium, Zitrone, Orange, Jasmin und Ginkgo. Aber das muss man auch auf den Patienten abstimmen."

"Stelle ich mir toll vor. Wie heißt das noch gleich?"

"Yi wan chuang - Fluss der Sonne."

"Fluss der Sonne? Hat das einen bestimmten Hintergrund?"

"Ja, wenn die Massage richtig funktioniert, beschreiben eigentlich alle Patienten ein warmes, entspannendes Gefühl, dass sich im Körper ausbreitet. Ich habe es selbst mal erlebt, das ist einfach irre."

"Muss man neben den Meridianen auch noch die ganzen Akupunkturpunkte auswendig können?"

"Nein, nur die Akupressurpunkte, weil die gesondert stimuliert werden, und die beherrsche ich alle."

"Das ist wirklich der pure Wahnsinn. Warum machen Sie damit nicht irgendetwas? Können Sie nicht in einer Akupunkturpraxis anfangen?"

"Dazu ist das Yi wan chuang bei uns viel zu unbekannt. Erstens kennt es niemand und zweitens ist es Zeitaufwendig. Man muss mindestens zwanzig bis dreißig Minuten alleine für die Massage berechnen."

"Schade dass Sie gesundheitlich nicht fit sind. Ich würde gerne wissen, ob das bei meinen Patienten auch funktioniert."

"Das funktioniert bei jedem Patienten, der keine Berührungsängste hat und sich auf die Massage einlässt. Ich habe in Afrika immer wieder die Erfahrung gemacht, dass die Patienten nicht genug davon kriegen können, man wird süchtig danach. Die Afrikaner haben allerdings von Natur aus keine Berührungsängste und für die Chinesen ist es etwas Selbstverständliches."

"Klar, kann ich mir vorstellen, wenn man so nette sanfte Streicheleinheiten bekommt - ist doch was anderes als unsere Massage hier."

Nach der gelungenen Akupunktur treffe ich mich mit Christoph zum Schwimmen. Es ist einfach herrlich, angenehm entspannt und nahezu schmerzfrei auf dem Rücken liegend im Wasser zu treiben. Ich frage mich ernsthaft, warum ich das nicht schon zu Hause gemacht habe. Schwimmen wird in Zukunft zu meinem Fitnessprogramm gehören, so viel ist sicher.

Nach einer Dreiviertelstunde Rückenschwimmen strecken wir uns beide auf Liegestühlen aus. Total entspannt und auch ein bisschen müde, schließe ich die Augen. Ich genieße das Losgelöstsein von Familie und Pflichten.

Christoph unterbricht meine Gedanken, als er mich anspricht.

“Weißt du, dass du unglaublich schöne Füße hast?“

"Wie bitte?" Erstaunt sehe ich Christoph an.

"Doch wirklich! Ich bekomme als Orthopäde ständig kranke Füße zu sehen, aber deine sind außergewöhnlich schön. Gut geformt, gut gepflegt und absolut gesund."

"Das ist wohl das absonderlichste Kompliment, das mir jemals jemand gemacht hat." Ich schüttel lächelnd den Kopf.

"Aber wenn es doch stimmt."

"Ja, so etwas bringt ja wohl nur ein Orthopäde fertig. Keinem anderen Mann würden meine Füße interessieren.“

"Mich interessiert an dir auch ganz was anderes, aber als ich deine Füße eben sah, dachte ich, ich sollte dir das mal sagen. Was ist denn dabei? Was machst du mit deinen Füßen, dass die so schön aussehen?"

"Ich laufe barfuß."

"Du läufst barfuß?"

"Ja, zu Hause laufe ich nur barfuß. Die ganze Familie übrigens. Es gibt in unserem Haushalt keine Hausschuhe. Niemand würde sie tragen. Wir laufen wirklich barfuß.“

"Auf Strümpfen?"

"Nein, barfuß."

"Da bekommt man doch kalte Füße."

"Das solltest du als Orthopäde doch wohl besser wissen. Wenn man barfuß läuft, fördert man die Durchblutung und somit sind kalte Füße ausgeschlossen. Was führen wir hier überhaupt für Gespräche?"

"Ja, wir sind ein bisschen verrückt. Wechseln wir das Thema, wenn dir deine Füße unangenehm sind: Was machst du am Samstag?"

"Mich langweilen, lesen, spazieren gehen, fernsehen, keine Ahnung."

"Fein, dann machen wir Samstag einen Ausflug!"

"Aha und wohin?"

"Zum Pferdemarkt!"

"Na schön, ich liebe Pferde."

"Fein, ich auch!"

Am Samstag starten wir Mittags tatsächlich zu unserem Ausflug in Richtung Pferdemarkt. Der Markt stellt sich als riesige Messe mit angeschlossenem Rummelplatz heraus. Nach einigem Zögern entscheiden wir uns zu einem Bummel durch die Messehallen, in der Hoffnung irgendwann auch die Pferde zu finden. Gleich in der ersten Halle bleiben wir an einem Rotkreuz Stand hängen. Eine junge Dame in Rettungsdienstkleidung fragt freundlich, ob wir Lust hätten, einen Erste-Hilfe-Test mitzumachen, um unsere Kenntnisse zu überprüfen. Spontan stimme ich zu, ich muss ja auch nichts fürchten, immerhin bin ich Ausbilderin.

Christoph tut sich da schon etwas schwerer.

"Also ich weiß nicht so recht."

"Machen Sie das ruhig mal, dann können Sie hinterher abschätzen, ob Sie mal wieder einen Erste-Hilfe-Kurs besuchen sollten."

"Er glaubt sicher nicht, dass das nötig ist. Er ist Arzt," werfe ich ein.

"Ach so, das konnte ich ja nicht wissen," lacht die junge Dame.

"Ich bin Orthopäde", erwidert Christoph.

"Sie haben es gehört, ich nehme den Arzt wieder zurück. Er sollte doch besser den Test machen!" Lachend drücke ich Christoph den Zettel mit den Fragen in die Hand.

"Machen Sie ruhig. Sie können hier sogar noch etwas gewinnen. Wenn Sie Ihre Zettel ausgefüllt haben, kommen Sie einfach zu mir. Ich schau dann mal durch." Damit lässt uns die junge Dame stehen.

"Du bist wirklich ein gehässiges Weibsstück. Ich habe keine Ahnung von erster Hilfe."

"Ja, wie die meisten Ärzte!" Lachend fange ich an, den Fragebogen auszufüllen.

"Tina?“

"Ja, hast du etwa wirklich Probleme?"

"Gasverteilung in der Einatemluft - hilf mir mal."

"Das weißt du nicht?"

"Wozu muss ein Ersthelfer das wissen?"

"Mal abgesehen davon, dass du Mediziner bist, ist das Grundwissen der HLW."

"Auch für Laien?"

"Sicher!"

"Okay. 78% Stickstoff."

"Na also, stimmt doch."

"17% Sauerstoff."

"21!"

"17!"

"Nein 21%, 17% sind es in der Ausatemluft."

"Das kann sich doch niemand merken!"

"Du hast es aber auch schwer."

"Ja, das finde ich allerdings auch. Na gut, 21% Sauerstoff, 1% Edelgase und 4% Kohlendioxid."

"Es sind in der Einatemluft 0,03% Kohlendioxid, 4% sind es in der Ausatemluft, Herr Doktor."

"Ja, du hast recht. Ich weiß bloß nicht, warum du so etwas auswendig kannst."

"Das ist mein Job. Aber die Fragen zu den Frakturen wirst du jawohl beantworten können, oder?"

"Das schaffe ich gerade so und wenn nicht, werde ich mich nicht scheuen, dich um Rat zu fragen, da kennst du dich sicherlich auch wieder besser aus, als jeder Orthopäde."

"Worauf du dich verlassen kannst!", antworte ich lachend.

Mit viel Spaß und gegenseitigen Sticheleien füllen wir die Fragebogen aus und reichen sie schließlich an die junge Dame zurück.

"Das ist doch tadellos," freut sie sich und drückt mir ein Buch über Erste Hilfe in die Hand, während sie Christoph einen 'Olaf-Kalender' überreicht.

"Nimm du das Erste-Hilfe-Buch und gib mir bitte den Kalender," bitte ich Christoph.

"Warum soll ich das Erste - Hilfe-Buch nehmen?"

"Weil du das nötiger brauchst als ich und ich hätte gerne den Olaf-Kalender."

"Den hätte ich mir sowieso nicht aufgehängt."

"Nein?! Aber Olaf ist total kultig."

"Was ist er?"

"Kult! Aber du hast wohl nie im Rettungsdienst gearbeitet, oder?" '

"Nö."

"Siehst du, deswegen kennst du Olaf nicht. Da ist dir wirklich was entgangen. Ich mag am liebsten die Baby-Rea."

"Die Baby-Rea? Du meinst es gibt eine Zeichnung, wo ein Baby reanimiert wird. Das ist doch pervers!"

Ich muss über Christophs empörtes Gesicht lachen.

"Nein, du Dussel. Auf der Karikatur reanimiert das Baby den Notarzt."

"Wirklich? Ich glaube, die Bilder muss ich mir jetzt doch genauer angucken. Komm wir suchen uns mal irgendwo einen netten Platz, dann können wir auch gleich einen Kaffee trinken."

Ich amüsiere mich königlich über die herrlichen Karikaturen von Olaf. Auch Christoph lässt sich von meiner guten Laune anstecken und schließlich lachen wir gemeinsam über die netten Bilder. Am Ende bekomme ich dann wirklich den Olaf - Kalender von Christoph geschenkt. Nach unserer Kaffee-Tee-Einlage setzen wir unseren Besuch auf der Messe fort. Für einen Pferdemarkt werden hier eine Menge Sachen angeboten, die nicht im entferntesten etwas mit Pferd zu tun haben. Die Angebotspalette erstreckt sich von scheußlichen Möbeln in 'Gelsenkirchener Barock' über Hühnerfutter und Fertigsuppen, bis hin zu Damenoberbekleidung und Massagematten für die Badewanne. Wir amüsieren uns königlich, zumal alle diese Dinge bunt durcheinander stehen. Da gibt es die Käsetheke neben Schrauben und Nägeln und Kosmetika neben Hamstern und Meerschweinchen. Nachdem wir eine ganze Weile gesucht haben, erreichen wir bei der Durchquerung einer der Messehallen ein Freigelände und hier finden wir endlich die Pferde. Eine ganze Stunde verbringen wir bei den stolzen Vierbeinern und fachsimpeln ein bisschen über unser

gemeinsames Hobby, das Reiten. Als wir die Messehallen wieder verlassen, überredet mich Christoph noch zu einem Bummel über den Rummelplatz.

"Magst du Zuckerwatte?" Christoph sieht mich erwartungsvoll an.

"Nein, ich esse nichts Süßes, schon gar keine Zuckerwatte. Aber wenn du welche möchtest, dann lass dich nicht aufhalten." Christoph holt sich tatsächlich Zuckerwatte und bringt außerdem eine große Tüte mit Waffeln mit.

"Du bist ja ein ganz Süßer," rutscht es mir schmunzelnd heraus.

"Die Waffeln sind für heute Abend, wenn wir wieder alle gemütlich beisammen sitzen."

"Da werden sich die anderen aber freuen."

"Magst du etwa auch keine Waffeln?"

"Nein, ich mag auch keine Waffeln. Ich esse wirklich gar nichts Süßes."

"Kuchen auch nicht?"

"Nicht mal Kuchen!"

Nun schüttelt Christoph doch ein bisschen ungläubig den Kopf.

Am Sonntag Abend stelle ich fest, dass meine Magentabletten sich dem Ende nähern. Bei der Begrüßung durch den Oberarzt wurde allen Patienten mitgeteilt, wenn Medikamente zu Ende gehen, könne man diese im Schwesternzimmer nachbestellen. Also tue ich das am Montagmorgen.

"Wie lange reichen Ihre Tabletten denn noch?" Schwester Barbara sieht mich fragend an.

"Bis Mittwochabend."

"Na gut, das reicht. Wir bestellen nämlich nur zweimal in der Woche: Dienstags und donnerstags, am nächsten Tag sind dann die Medikamente da. Ich gebe es weiter und wir bestellen dann morgen Ihre Tabletten."

Ich bedanke mich und gehe.

Als ich zum Mittagessen erscheine, liegt auf meinem Platz ein Kärtchen. Ich werde gebeten, gegen halb zwei den Stationsarzt aufzusuchen. Ich reagiere ein bisschen unwillig. Muss das ausgerechnet während der Mittagsruhe sein?

Dr. M. erscheint wenigstens pünktlich. Exakt um halb zwei taucht er vor seinem Sprechzimmer auf und bittet mich, ihn in sein Zimmer zu begleiten.

"Ich kann das Magenmedikament, das Sie einnehmen nicht in der 'Roten Liste' finden. Wie erklären Sie sich das?"

"Das Medikament ist erst seit Januar oder Februar auf dem Markt, da war die 'Rote Liste' schon gedruckt."

"Ach so, das ist also ein neues Medikament. Wir verabreichen hier normalerweise Antra. Das können Sie doch genauso gut nehmen. Das müssen wir nicht mal bestellen."

Nicht schon wieder, fährt es mir durch den Kopf. Also gebe ich wieder einmal eine Erklärung ab, weshalb ich das Antra nicht einnehmen kann, warum ich zwingend auf mein Medikament angewiesen bin und überhaupt.

"Also gut, dann werde ich ein Rezept ausschreiben und Sie bekommen Ihr Medikament. Wir werden es morgen für Sie bestellen."

Damit bin ich verabschiedet.

Dienstag habe ich den Termin bei der Psychologin. Christoph zieht mich wegen des Termins auf, aber das ist mir egal.

Frau Dr. P. begrüßt mich mit einem warmen Lächeln und bietet mir einen Tee an, den ich gerne annehme. Sie fragt mich nach meiner Familie, meiner Schulbildung und meinem Beruf. Als ich ihr erzähle, dass ich im Rettungsdienst gearbeitet habe, stutzt sie einen Moment. "Im Rettungsdienst? Als Frau? Ist das nicht ziemlich ungewöhnlich?"

"Na ja, es gibt immer noch sehr wenig Frauen, die die Ausbildung zum Rettungsassistenten machen. Ich habe mir damit einen Traum erfüllt."

"Ist das nicht ein ziemlich harter Job?"

"Ja, das schon, aber mir macht er Spaß."

"Aber wenn Sie ständig so furchtbare Unfälle und so etwas zu sehen bekommen, wie kommen Sie damit klar?"

"Ich kann sehr gut damit umgehen."

"Aber wie macht man das?“

"Also Sie dürfen mich vieles fragen, aber nicht, wie ich damit zurecht komme. Ich kann es nämlich nicht erklären, es ist einfach so. Ich denke einfach immer, es ist meine Pflicht zu helfen und ich mache das wirklich gerne."

"Aber wenn Sie ständig miterleben, wie Menschen einfach sterben, geht das nicht aufs Gemüt?"

"Ich kann durchaus damit leben. Natürlich erlebt man immer wieder ein Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit, aber ich denke mir dann, es sollte wohl so sein. Diese Entscheidung treffen nicht wir, die trifft jemand, der stärker und größer ist als wir."

"Sie glauben an Gott?"

"Ja, das tue ich."

"Aber zweifeln Sie nicht manchmal?"

"Natürlich, das tut jeder Christ irgendwann. Aber es liegt nicht daran, dass wir nicht an Gott glauben oder an ihm zweifeln, sondern daran, dass wir manchmal seine Entscheidungen nicht begreifen können."

"Ich glaube nicht an Gott, ich habe das nie getan, eigentlich niemand in meiner Familie, aber wenn ich Sie jetzt so höre, dann frage ich mich, ob ich da etwas verpasst habe."

"Als aktiver Christ würde ich jetzt ganz spontan sagen: Ja! Aber eigentlich müssen Sie das für sich selbst herausfinden."

"Beten Sie?"

"Natürlich."

"Es ist irgendwie merkwürdig, aber ich habe bei Menschen, die wie Sie von der Anwesenheit Gottes überzeugt sind, immer das Gefühl, dass sie in sich gefestigt sind. Es kommt mir jedenfalls so vor. Sie können irgendwie die Schattenseiten des Lebens besser ertragen und die hellen Seiten genießen, auf eine ganz besondere Art. Oder spinne ich jetzt?"

"Ich weiß nicht, wie das bei anderen Menschen ist, aber ich könnte mir vorstellen, dass Sie Recht haben."

"Ein merkwürdiges Gespräch führen wir hier, aber es gefällt mir. Ich mag Ihre Offenheit. Ich habe mit keinem Menschen bisher so offen über seinen Glauben gesprochen. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, den Menschen ist es peinlich, wenn sie bei ihrem Glauben erwischt werden."

"Die Erfahrung habe ich auch schon gemacht, aber dann muss man sich fragen: Meinen sie es ernst?"

"Sie haben vorhin gesagt, Sie seien eine aktive Christin, was meinen Sie damit? Befolgen Sie die zehn Gebote, leben Sie nach der Bibel?“

"Die Bibel ist teilweise altbacken und sollte dringend mal überholt werden. Man kann heute nicht mehr nach der Bibel leben und ich bezweifle, dass das jemals ging. Die zehn Gebote kann auch niemand ständig einhalten, wir sind keine Musterausgaben. Jeder hat schon mal mehr oder weniger gewollt gelogen und so ziemlich jeder hat doch wohl auch schon mal mit Neid auf seine Mitmenschen gesehen, oder? Da fängt es an. Aber wenn man seine Mitmenschen respektiert, sich mit ihnen auseinandersetzt, ihnen entgegenkommt und sich für sie einsetzt, wenn nötig, dann ist man auf dem besten Weg."

"Aber es gibt auch Menschen, die so handeln, obwohl sie nicht an Gott glauben.“

"Diese Menschen haben Gott in sich, sie wissen es nur noch nicht."

"Werden sie es je erfahren?"

"Ganz sicher!"

"Darauf einen Tee!"

Am Mittwoch warte ich vergeblich auf mein Magenmedikament. Als ich am Nachmittag im Schwesternzimmer nachfrage, wird mir erklärt, dass Medikament sei nicht bestellt worden.

"Wie bitte?! Das darf doch wohl nicht wahr sein. Hören Sie mal, ich bin dringend auf dieses Medikament angewiesen. Ohne dieses Magenmedikament kann ich meine Schmerzmittel nicht mehr einnehmen, weil ich dann die große Spuckerei bekomme, mal ganz abgesehen von den Magenschmerzen. Das würde für mich bedeuten, dass ich dann nichts mehr essen kann."

"Ja, dann klären Sie das doch morgen früh in der Visite, jetzt ist kein Doktor mehr da, nur noch der Hintergrunddienst. Die Chefärztin ist morgen bei der Visite dabei, da sind Sie dann auch gleich an der richtigen Adresse."

Stocksauer verlasse ich das Schwesternzimmer und laufe Christoph in die Arme.

"Hallo, ich habe dich gesucht. Kommst du mit Klaus und mir mit in die Cafeteria einen Tee trinken?"

"Ja, aber ich muss erst Geld holen."

"Nicht nötig, ich lade dich ein."

"Na gut, dann lass uns gehen."

Während Klaus und Christoph sich über ihre Therapien austauschen, rühre ich missmutig in meinem Tee herum. Schließlich wird Klaus auf meine Rührerei aufmerksam.

"Es soll sich schon mal jemand tot gerührt haben, Tina."

"Na und?", antworte ich schlecht gelaunt.

"Ich weiß gar nicht, warum du überhaupt in der Tasse herum rührst. Du hast ja noch nicht mal Zucker drin." Christoph schüttelt den Kopf.

"Deswegen werde ich wohl rühren dürfen."

"Ja, natürlich, wenn es dich glücklich macht. Sag mal, hast du schlechte Laune?" Christoph beugt sich über den Tisch und versucht, mir in die Augen zu sehen.

"Merkt man das?"

"Ja, allerdings. Was ist denn passiert?"

Ich erzähle kurz von dem Theater mit meinem Medikament.

"Fabelhaft, gibt es eine Begründung, warum das Medikament nicht bestellt wurde?"

"Bisher nicht, ich muss mich wohl bis morgen gedulden."

"Ich wusste nicht, dass du so knatschig werden kannst."

"Ich bin's einfach leid! Immer und überall und ständig muss ich wegen meiner Medikamente herum diskutieren, wieso eigentlich?"

"Also, in Ordnung finde ich das auch nicht, dass du nicht informiert worden bist. Möglicherweise gibt es aber doch eine vernünftige Begründung, warum das Medikament nicht bestellt worden ist."

"Na, da bin ich aber mal gespannt!"

Am nächsten Morgen warte ich auf die Visite, die wieder einmal mit reichlich Verspätung durch kommt. Mich stört das heute Morgen wenig, denn ich habe, abgesehen von einem Akupunkturtermin um elf, keine Termine und bis dahin ist noch reichlich Zeit.

Um halb zehn, mit einer Stunde Verspätung, ist die Visite schließlich bei mir angelangt. Sofort spreche ich meinen Stationsarzt auf das Magenmedikament an.

"Ja, sehen Sie, dieses Medikament ist nicht zu bekommen. Wir haben es in sämtlichen Apotheken hier im Ort probiert, aber niemand kann dieses Medikament beschaffen." Jetzt sehe ich Dr. M. doch einigermaßen geplättet an. Will er mich verschaukeln?

"Sagen Sie mal, wollen Sie sich über mich lustig machen, oder was soll das jetzt? Das können Sie von mir aus Ihrer Großmutter erzählen, dass das Medikament nicht erhältlich ist! Das ist ja wohl die blödeste Ausrede, die ich jemals gehört habe!" Ich bin sauer.

"Das Medikament ist wirklich nicht zu bekommen," wirft die Chefärztin ein.

"Wir könnten höchstens bei der Pharmafirma anrufen und uns erkundigen, wie man an das Medikament kommt. Solange müssen Sie ohne auskommen oder etwas anderes einnehmen, zum Beispiel Antra," schaltet sich der Oberarzt ein.

"Das ist völlig ausgeschlossen!" Ich schüttele den Kopf.

"Warum denn?" Die Chefärztin baut sich demonstrativ vor mir auf.

"Das habe ich Dr. M. ausführlich am Montag erklärt, ich werde mich jetzt nicht wiederholen!"

"Na schön, wir werden nachfragen, aber wenn man das Medikament nicht beschaffen kann, haben Sie sozusagen Pech gehabt."

Damit verlassen die drei Weißkittel das Zimmer, ohne sich zu verabschieden. Selbst Schwester Barbara sieht ein bisschen konsterniert hinter den dreien hinterher, um dann Kopfschüttelnd zu gehen.

So nicht, entscheide ich für mich und schlüpfe in meine Jacke. Auf dem Weg Richtung Ausgang stoße ich mal wieder auf Christoph, der ebenfalls mit Jacke angetan Richtung Ausgang unterwegs ist.

“Hast du vor einen Spaziergang zu machen?", fragt er mich.

"Ich will in die Apotheke," antworte ich.

“In die Apotheke? Was willst du denn da?"

"Etwas klären!"

"Aha, darf ich dich begleiten? Ich wollte gerade einen Spaziergang machen, für heute Vormittag bin ich nämlich mit meinem Programm durch."

“Dann komm!"

Der Weg in die Apotheke ist nicht sehr weit und nach ein paar Minuten haben wir unser Ziel erreicht. Ohne zu Zögern betrete ich die Apotheke und werde von einem älteren Herrn freundlich begrüßt:

"Was kann ich für Sie tun?"

Ich ziehe die leere Medikamentenschachtel aus meiner Jackentasche und lege sie ihm auf die Theke.

"Können Sie mir dieses Medikament beschaffen?"

"Einen Augenblick bitte." Der Herr gibt ein paar Daten in seinen Computer ein und nickt dann zustimmend.

"Kein Problem, das ist heute Nachmittag da. Aber das Medikament ist verschreibungspflichtig."

"Ja, das weiß ich. Das Rezept bekommen Sie. Wichtig ist nur, dass Sie mir das Medikament auch bestellen. Mir ist nämlich gesagt worden, dass dieses Medikament nicht erhältlich ist, ich bin aber zwingend darauf angewiesen."

"Dann gebe ich Ihnen einen Abholschein, warten Sie einen Moment."

Inzwischen ist eine junge Dame auf uns aufmerksam geworden, die mich jetzt interessiert betrachtet. "Sagen Sie mal, kommen Sie aus der Rehaklinik?“

Erstaunt sehe ich sie an: "Ja, wieso?"

"Weil dieses Medikament am Montag von einem gewissen Dr. M. bestellt worden ist, deshalb.“

"Er hat es bestellt? Ich habe es aber nicht erhalten.“

"Das können Sie auch nicht. Er hat es nach einer halben Stunde wieder abbestellt mit der Begründung, es sei zu teuer. Er wollte wissen, ob es ein günstigeres Ausweichmedikament gäbe, gibt es aber nicht. Dieses Medikament ist ein sehr starkes Magenmedikament, das in der Regel bei Patienten eingesetzt wird, bei denen andere Magenmedikamente nicht mehr greifen. Das habe ich ihm auch genauso erklärt."

"Das ist doch eine Frechheit!" Ich kann es einfach nicht glauben und auch Christoph ist der Unterkiefer eine Etage tiefer gerutscht.

"Soll ich das Medikament jetzt bestellen?" Der Apotheker sieht mich ein bisschen unschlüssig an.

"Selbstverständlich. Keine Angst, es wird abgeholt werden."

So bekomme ich den Abholschein in die Hand gedrückt und verlasse mit Christoph die Apotheke.

"Was wirst du denn jetzt machen?" Christoph betrachtet mich von der Seite.

"Das wirst du gleich sehen."

In der Klinik angelangt, mache ich mich schnurstracks auf den Weg Richtung Schwesternzimmer. Immer noch folgt Christoph meinen Schritten.

Im Schwesternzimmer sitzt Schwester Barbara am Schreibtisch und arbeitet die Visite aus.

"Kann ich etwas für Sie tun?", fragt sie mich.

“Dr. M. kann etwas für mich tun. Sagen Sie ihm bitte, ich habe ihm eine Arbeit abgenommen und das Medikament in der Apotheke bestellt. Hier ist der Abholschein. Ich erwarte, dass ich das Medikament heute Abend habe. Das war es schon."

Ich lasse eine völlig verblüffte Schwester zurück, als ich das Zimmer verlasse.

Vor dem Zimmer betrachtet mich Christoph Kopfschüttelnd. "Du traust dich was! Himmel, bin ich froh, dass du nicht meine Patientin bist. Da darf man sich ja gar nichts trauen, da wird sofort zurückgeschossen. Nichts gegen emanzipierte Patienten, aber du kannst leicht zu einem Albtraum werden. Wie macht dein Arzt zu Hause das eigentlich?"

"Er nimmt mich, wie ich bin, und trägts mit Fassung." Nun muss ich doch lachen und auch Christoph fällt in mein Lachen ein.

"Du bist ganz schön mutig und selbstbewusst. Jetzt bin ich nur noch gespannt, ob du dich durchsetzen kannst.”

Während wir beim Abendessen sitzen, erscheint Schwester Sabine an unserem Tisch und drückt mir mein Magenmedikament in die Hand.

Christoph betrachtet mich lächelnd und sagt schließlich: "Mein Respekt! Ich bin trotzdem froh, dass du nicht meine Patientin bist. Ich glaube, ich hätte Angst vor dir."

Lachend schüttle ich den Kopf.

"Dr. M. wird dich jetzt sicher nicht mehr mögen."

Christoph betrachtet mich nun doch ein bisschen nachdenklich.

"Ich lebe ständig damit, dass mich irgendwelche Ärzte plötzlich nicht mehr mögen, aber das beruht dann meistens auf Gegenseitigkeit."

"Na ja, wenn du dich immer so verhältst."

"Was soll denn das bitte schön heißen?"

"Kein anderer Patient wäre auf die Idee gekommen und in die Apotheke gegangen. Und selbst wenn, er hätte es nie und nimmer gewagt, das Medikament einfach zu bestellen."

"Ja, da bin ich eben anders. Außerdem gab es eine klare Aussage: Das Medikament ist nicht erhältlich. Das war geradezu als Herausforderung zu verstehen."

"Um was geht es eigentlich?" Klaus betrachtet uns interessiert und ein bisschen stirnrunzelnd. Also erklärt ihm Christoph mein Handeln und meine ausgesprochene Frechheit.

"Frechheit siegt, das war doch schon immer so. Aber ich finde das total Klasse, dass du dich so was traust. Das sollten viel mehr Patienten machen."

"Na hör mal" Christoph schüttelt den Kopf.

"Ja, das kannst du ruhig mal hören, Herr Doktor. Ihr glaubt doch immer, nur weil ihr studiert habt, schwebt ihr einen Meter über uns. Ist schon ganz in Ordnung, wenn euch mal einer da oben runter holt."

"Übertreibst du nicht ein bisschen?"

"Es hat vor kurzem Mal eine Umfrage gegeben zum Thema Höflichkeit in bestimmten Berufsgruppen. Die Mediziner sind die unhöflichste Berufsgruppe, die es überhaupt gibt. Klaus hat schon recht, manchmal muss man euch auf den Boden der Tatsachen zurückholen."

"Sind wir Mediziner wirklich so schlimm?" Betroffen sieht Christoph in die Runde.

"Ich würde sagen, ja!" Elvira nickt.

"Na ja, nicht alle, aber viele," wende ich ein.

"Ich habe noch nie darüber nachgedacht. Aber wenn ihr das hier so sagt, ist das doch irgendwie beschämend. Da muss ich mich für meinen Berufsstand entschuldigen.“

"Siehst du und deshalb finde ich es gut, dass es Leute wie Tina gibt, die sich mal trauen zurück zu schießen. Ich finde das gut!" Klaus nickt mir anerkennend zu.

"Es ist ja nicht so, dass ich die Aktion nicht gut fand, aber vielleicht sollte Tina nicht immer so schrecklich spontan sein."

"Solche Sachen wie heute Vormittag gehen nur spontan, die wirken sonst nicht!" Jetzt ergreift auch Erwin Partei für mich.

"Ich hätte nur gerne das Gesicht von Dr. M. gesehen," wirft Christoph nun doch lachend ein.

"Der kann wahrscheinlich noch nicht mal etwas dazu. Ich denke, der bekommt Druck von oben."

"Du meinst diese merkwürdige Chefärztin? Die ist übrigens ein Protegé."

"Ja, ich weiß. Sie hat im richtigen Moment den Präsidenten des Vorstandes geheiratet. Genau zu dem Zeitpunkt, als die Stelle des Chefarztes neu zu besetzen war, und der Ehemann dieser Dame ist dreißig Jahre älter als sie selbst."

Christoph sieht mich verblüfft an: "Woher weißt du das denn schon wieder?"

"Ich höre immer hin, wenn sich Pflegepersonal und Sprechstundenhilfen über Ärzte austauschen. Du ahnst nicht, was man da über seine Ärzte erfahren kann."

"Ist das wahr?”

"Natürlich, so bin ich immer bestens informiert."

"Da tun sich ja ganze Abgründe vor mir auf. Wer weiß, was sich meine Sprechstundenhilfen so alles über mich erzählen. Wahrscheinlich hecheln sie meine sämtlichen Freundinnen durch. Wer weiß, was meine Patienten da schon alles wissen. Oh Gott, ich traue mich nie wieder in meine Praxis."

Wir müssen über Christophe fassungsloses Gesicht lachen, aber schließlich stimmt er in unser Lachen mit ein.

Auch die schönste Zeit geht mal zu Ende - die Reha ebenfalls. Auch wenn mir meine Kinder, während der drei Wochen gefehlt haben, habe ich den Aufenthalt in der Rehaklinik doch genossen.

Während ich meine Sachen packe, sitzt Christoph auf der Bettkante und sieht mir zu.

"Meine Güte, was ihr Frauen immer alles mit euch rumschleppt, da staune ich immer wieder."

"Nun übertreib mal nicht so. Ich habe lediglich die wichtigsten Sachen mitgenommen. Nur das, was ich wirklich gebraucht habe."

"Irgendwie tut es mir leid, dass die Reha zu Ende ist. Schade, wir haben uns gut verstanden."

"Du darfst mich anrufen."

"Wirklich? Und dein Mann?"

"Der lebt mit meinen Männerbekanntschaften und das schon seit mehr als zehn Jahren. Ich übrigens auch mit seinen 'Freundinnen'."

"Du darfst mich aber auch gerne anrufen."

"Und was sagt deine Freundin dazu?"

"Na ja, mitbekommen darf sie es nicht, sie ist wahnsinnig eifersüchtig. Platonische Beziehungen, wie du sie dir leistet, kann ich mir nicht erlauben. Aber ich wohne ja mit meiner Freundin nicht zusammen. Das ist auch ganz gut so, ich bin nicht für die Ehe geschaffen."

"Du weißt nicht, was dir da entgeht."

"Was denn zum Beispiel?"

"Ich finde es einfach schön, nach Hause zu kommen und zu wissen, da ist jemand, der auf mich wartet. Der sich dafür interessiert, wie mein Tag war, was ich so erlebt habe an positiven und negativen Eindrücken und dem ich all das erzählen darf. Ich mag es, wenn Nachts mein Mann neben mir liegt und ich seinen Atem hören und spüren kann. Und selbst wenn das Bett mal leer bleibt, weiß man doch, da gehört jemand hin, den man liebt. Außerdem liebe ich es, die Haustür aufzuschließen und ein Haus zu betreten, in dem das Leben daheim ist. Ich liebe das Chaos, das meine Kinder Tag für Tag anstellen. Ich mag ihr Lachen und ihr Geschrei und ich liebe es, wenn sich eines von ihnen an mich kuschelt. Intensiver kann man Liebe nicht spüren."

"Du bist der totale Familienmensch."

"Ja, das stimmt."

"Wie kommt das?"

"Ich bin in einer äußerst liebevollen Familie groß geworden. Ich bin von meinen Eltern umhegt und umsorgt worden und meine großen Brüder haben mich schrecklich verwöhnt. Ich brauche dieses intakte Familienleben wie die Luft zum Atmen. Ohne meine Familie wäre ich nicht der Mensch, der ich bin, so einfach ist das."

Nachdem wir noch einen Tee zusammen getrunken haben, verabschieden wir uns voneinander. Christoph gibt mir zärtlich einen Kuss auf die Stirn und umarmt mich dann. Eine Umarmung, die ich gerne erwidere.

"Mach es gut, Tina. Ich werde dich anrufen. Es war schön, dich kennengelernt zu haben. Ich beneide deinen Mann ein bisschen. Hoffentlich weiß er, was er an dir hat."

"Ganz sicher, Christoph. Alles Gute für dich."

Mit einem Lächeln sehe ich Christoph davonfahren. Klaus reißt mich aus meinen Gedanken, als er zärtlich einen Arm um mich legt.

"Hallo Tina, ich wollte mich von dir verabschieden. War eine schöne Zeit mit euch allen zusammen. Wann fährst du nach Hause?“

"Ich hoffe, dass meine Familie bald hier ist." Kaum ausgesprochen, biegt unser Wagen um die Ecke und in Nullkommanichts sind meine Kinder aus dem Auto geklettert. Im gleichen Augenblick hängen drei Kletten an mir und drängeln sich darum, mich abzuküssen.

"Mami, kommst du jetzt wieder mit nach Hause?"

"Ja, Sarah. Und ich freue mich ganz schrecklich."

Irgendwann schafft es auch Michael, mich zu begrüßen und zu umarmen.

"Ach Tinchen, ich bin so froh, dass du wieder nach Hause kommst. Es fehlt einfach etwas, wenn du nicht da bist."

"Ich bin auch froh."

"Mami, wir haben eine Überraschung für dich. Wir fahren jetzt zum Mittagessen zu Paul und Clara. Freust du dich?"

"Wir fahren zu Paul und Clara?"

"Tolle Überraschung! Ihr solltet doch nichts verraten. Ich habe gestern bei Paul und Clara angerufen, sie freuen sich auf uns."

"Wie immer. Herrlich!"

Paul und Clara betreiben ein Ausflugslokal, das immer gut besucht ist, selbst im Winter. Michael hatte Paul durch seine Bustouren kennengelernt. Angetan von der freundlichen und zügigen Bedienung und der wirklich sehr guten Küche in diesem Lokal, war er immer wieder dort hingefahren und schließlich entstand daraus eine Freundschaft. Wann immer wir Richtung Süden unterwegs sind, machen wir Rast bei Paul und Clara. Entsprechend freudig werden wir schließlich auch von den beiden begrüßt.

"Tina! Wie schön dich zu sehen. Michael sagt, du warst in der Reha? Wie geht es dir jetzt, ist sie dir wenigstens bekommen?" Paul umarmt mich und drückt mir einen dicken Kuss auf die Wange.

"Ja, ich denke schon, dass sie mir bekommen ist. Erzählt lieber mal wie es euch geht."

So verbringen wir plaudernd und scherzend ein gemütliches Mittagessen.

Als wir uns von Paul und Clara wieder verabschiedet haben, möchte ich noch einen Waldspaziergang machen. Die Kinder sind sofort mit Begeisterung dabei. Gemächlich spazieren wir einen Wanderweg entlang, als Sarah plötzlich einen toten Vogel findet.

"Mama, schau mal, der fliegt nicht mehr."

"Nein mein Schatz, der ist tot. Der wird leider nie wieder fliegen." Michael streichelt behutsam Sarah's Haar.

"Aber vielleicht im Vogel Himmel!" Tim betrachtet ebenfalls den toten Vogel.

"Ja, das wäre natürlich möglich," stimmt mein Mann zu.

"Wenn die Eltern sterben, bleiben die Kinder über," erklärt uns Sarah.

"Und wenn die Kinder auch tot sind? Dann ist ja niemand mehr über." Amrei sieht mich an.

"Also, wenn alles so läuft, wie es eigentlich von der Natur mal gedacht wurde, dann sterben wir Eltern erst, wenn ihr Kinder schon groß seid. Und wenn ihr sterbt, dann habt ihr hoffentlich auch wieder Kinder und so geht das immer weiter."

"Ich bin dann die Mutter,” entscheidet Sarah für sich.

"Nein, ich bin die Mutter!", widerspricht Amrei.

"Du kannst von mir aus die Oma sein, aber die Mama bin ich!" Sarah sieht ihre große Schwester mit einem Blick an, der keine Widerrede duldet.

"Ihr Mädchen seid wirklich doof! Jede hat Kinder, weil jede geheiratet hat, so ist das nämlich." Tim nickt sich selbst zustimmend zu.

"Ja, ich heirate ja auch, weil heiraten Spaß macht," nickt Amrei.

"Ich heirate nicht!" Sarah bleibt stehen und stampft mit dem Fuß auf.

"Aha und warum nicht?", frage ich neugierig.

"Weil Jungs doof sind!" Nun müssen wir doch lachen.

"Du kannst ja Tim heiraten," schlägt Amrei vor, was aber auf wenig Gegenliebe bei Tim stößt.

"Ich würde vorschlagen, ihr werdet erst mal groß und in zwanzig Jahren reden wir nochmal darüber." Michael meldet sich energisch zu Wort.

"In zwanzig Jahren ist deine Meinung nicht mehr gefragt, mein Schatz,” erkläre ich meinem Mann und gebe ihm einen Kuss.

"Morgen Mittag habe ich einen Termin bei Dr. L., du bist doch zu Hause oder?", frage ich meinen Mann während des Abendessens.

"Du gehst also doch wieder hin?"

"Erst mal ja, aber ich werde ihn wegen des Befundes fragen. Mal sehen, was er sagt."

"Da bin ich auch gespannt. Hat sich dein Zorn also gelegt?"

"In drei Wochen glätten sich viele Wogen und außerdem, irgendwie mag ich ihn ja.“

Als Antwort erhalte ich einen Kuss.

 

 

 

 

Kapitel 54

 

 

 

Freudig überrascht werde ich von Dr. L. begrüßt.

"Da sind Sie ja wieder! Ich habe Sie schon vermisst, wo waren Sie denn so lange?“

"In der Rehaklinik."

"Sehen Sie, das hatte ich total verdrängt. Ich habe Sie wirklich vermisst. Wie war es denn, erzählen Sie mal."

Ich erstatte ausführlich Bericht.

"Und was machen Ihre Schmerzen?"

"Sie sind nicht weg, aber ich habe die Schmerzmittel reduzieren können. Kein Tramal mehr."

"Das ist ja wirklich toll. Liegt das an der Akupunktur dort?"

"Ja, ich denke schon.“

"War sie anders als hier?"

"Ja, allerdings," lache ich.

"Erzählen Sie mal."

Also berichte ich von Frau Dr. H. und ihrer Akupunktur.

"Also die Nadeln ständig zu drehen, das ist hier zeitlich nicht möglich. Aber ansonsten können wir die Akupunktur gerne so durchführen, wie sie in der Klinik gelaufen ist. Sie müssen mir dann nur sagen, wo ich die Nadeln setzen soll, dann kriegen wir das sicher hin."

"Ja, das können wir gerne ausprobieren. Ich werde mir dann vorne neue Termine geben lassen."

"Prima."

"Mein Knie schmerzt übrigens nach wie vor. Können Sie sich das nochmal ansehen?"

"Ja, das mache ich gerne. Dann müssten Sie sich die Hose mal ausziehen."

"Ja, mache ich gleich, aber vorher müssen wir noch etwas klären."

"Gerne, was denn?"

"Weshalb haben Sie mir von dem Befund von Frau Dr. D. nichts gesagt?"

Ein verblüffter, aber auch etwas unsicherer Blick trifft mich.

"Ja, also - sehen Sie, ich dachte ... Na ja, ich hätte Ihnen das vielleicht erzählen sollen, aber ich dachte ... Also ich war der Ansicht, Sie haben in letzter Zeit so viele Niederschläge hinnehmen müssen und da dachte ich, dieser Befund nun auch noch, das wäre zu viel für Sie. Sie hätten sich doch sicher darüber geärgert."

"Natürlich hätte ich das, aber ich habe mich viel mehr geärgert, weil Sie es mir nicht gesagt haben. Ich war bitterböse mit Ihnen."

"Ich freue mich, dass Sie trotzdem noch zu mir kommen," lächelt er mich ein bisschen unsicher an. Mein letzter Zorn schmilzt dahin. Diesem Lausbuben Lachen kann ich einfach nie widerstehen.

"Na ja, mittlerweile ist der Zorn verraucht. Aber in Ordnung finde ich das keineswegs."

"Nein, Sie haben ja recht. Aber ich wollte wirklich vermeiden, dass Sie sich aufregen. Ich hätte es Ihnen erzählen müssen. Aber sehen Sie, dieses Schreiben ... Also, ich mache mir mein eigenes Bild über meine Patienten, verstehen Sie. Und gerade Sie, glaube ich, nach so langer Zeit besonders gut einschätzen zu können. Doch ich glaube, ich kenne Sie inzwischen sehr gut. Ich habe mir also meine eigenen Gedanken dazu gemacht und daher dachte ich, warum soll ich Sie damit aufregen. Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie so verärgert habe, das lag ganz sicher nicht in

meiner Absicht."

"Wenn mich meine Hausärztin nicht noch angerufen hätte, dann hätte ich diesen Befund ungelesen mit in die Klinik genommen."

"Ja, das wäre natürlich nicht so toll gewesen, da gebe ich Ihnen absolut recht. Es tut mir wirklich leid."

"Na schön, vergessen wir das Ganze."

"Ich freue mich aufrichtig, dass Sie mir auch weiterhin Ihr Vertrauen schenken wollen."

"Schon gut."

Wir vertragen uns also wieder, was sollten wir auch sonst tun? Man kann diesem Menschen nicht böse sein, jedenfalls nicht, wenn er vor einem sitzt.

Während Dr. L. erst einmal andere Patienten abfertigt, ziehe ich inzwischen meine Hose aus für die Untersuchung des Knies. Plötzlich klopft es an der Tür und gleich darauf steckt Frau T. ihren Kopf herein.

"Hallo, ich wollte Ihnen unbedingt 'guten Tag' sagen. Wir haben Sie wirklich die letzten Wochen vermisst, wo waren Sie denn so lange?"

"In der Rehaklinik."

"Oh, und wie war es?"

Also berichte ich nun auch noch Frau T. wie der Reha Aufenthalt war.

"Ich habe vor ein paar Wochen auch Probleme mit dem Rücken gehabt. Dr. L. hat mir die Wirbel eingerenkt und mir eine Spritze verpasst, aber das waren die drei schlimmsten Tage in meinem Leben, das können Sie mir glauben, ich hatte fürchterliche Schmerzen. Da habe ich pausenlos an Sie gedacht. Ich habe mich ernsthaft gefragt, wie Sie das aushalten? Und dann sind Sie auch noch immer so gut gelaunt dabei, unbegreiflich. Auf jeden Fall freuen wir uns alle, dass Sie wieder da sind, wir haben Sie schrecklich vermisst."

"Was wollen Sie denn machen, wenn ich irgendwann hoffentlich wieder gesund bin?"

"Also, eigentlich sollte ich das ja so nicht sagen, aber bleiben Sie bitte noch eine Weile krank. Wir können ohne Sie gar nicht mehr leben."

"Was um alles in der Welt mache ich denn so Großartiges?"

"Wissen Sie, manchmal habe ich so Tage, und die anderen auch natürlich, da geht einfach nichts mehr. Wenn man den ganzen Morgen von irgendwelchen Patienten angemuffelt worden ist, hier die Hölle los ist und unsere Ärzte erwarten, dass wir uns vierteilen, dann sinkt die Stimmung auf den Nullpunkt - und dann kommen Sie und versprühen hier gute Laune. Das ist, als ob die Sonne aufgeht. Wenn Sie wieder weg sind, können wir gleich viel besser arbeiten."

"Wenn das so ist, sollte ich mit Dr. L. mal über eine angemessene Gage reden."

"Ja, wenn Sie bezahlter weise in die Praxis kommen, dürfen Sie natürlich auch gesund werden, dann bleiben Sie uns ja erhalten." Nun muss ich doch lachen:

"Wie großzügig! Und wenn Sie nicht bald wieder an die Arbeit gehen, ist der Tag trotz meiner Anwesenheit gelaufen."

"Oh mein Gott, Sie haben recht! Dann will ich mal lieber schnell. Aber trotzdem: Schön das Sie wieder da sind!"

Als Frau T. die Tür hinter sich schließt, muss ich lächeln. Ich fühle mich, als sei ich nach Hause gekommen!

Nachdem Dr. L. mein Knie erneut untersucht hat, entschließt er sich, mich damit zur MRT zu schicken. Innerlich muss ich ein bisschen schmunzeln: Dr. S. wird sich sicherlich über meinen erneuten Besuch freuen.

 

 

 

 

Kapitel 55

 

 

 

Pünktlich zum Abendessen trifft Filius mit Melissa ein. Ich werde stürmisch umarmt.

"Mensch Mum, ist das schön, dass du wieder zu Hause bist. Du hast mir so gefehlt. Dieses Haus ist einfach ungastlich, wenn du nicht da bist."

"Übertreibst du jetzt nicht ein bisschen?"

"Nie und nimmer, Mum. Ach ich bin so glücklich, dass du wieder da bist." Noch einmal werde ich umarmt.

"Du hast ja richtige Entzugserscheinungen. Wo gibts denn sowas?", lache ich meinen Großen an.

"Wie geht es dir? Ist dir die Reha bekommen? Was machen die Schmerzen?“

"Langsam, mein Sohn! Ich habe die Schmerzmittel reduzieren können - kein Tramal mehr."

"Klasse, dass ist ja super. Wenigstens was. Hoffentlich hält es an."

"Ich arbeite daran."

Gemeinsam mit Melissa decke ich den Tisch. Als meine Familie schließlich um den Tisch herum sitzt und die Kinder unermüdlich plappern, wird mir erst bewusst, wie sehr ich das vermisst habe. Während ich Melissa und Filius von meinen Erlebnissen in der Rehaklinik berichte, bekomme ich plötzlich mit, wie Sarah ihren Teller an die Seite schiebt und auf den Tisch

klettert.

"Hallo Fräulein, was wird das denn, wenn es fertig ist?" Fragend betrachte ich Sarah, die jetzt auf der Tischkante kniet und mich ein bisschen unsicher ansieht.

"Ich will Ketchup und komme nicht ran!"

"Könntest du dann vielleicht jemanden bitten, dir den Ketchup rüber zu reichen, anstatt auf den Tisch zu klettern?"

"Ja, Mensch!" Sarah tritt den Rückzug an.

"Amrei, gib mir mal den Ketchup!"

"Bitte!"

"Amrei, gib mir mal den Ketchup, bitte!"

"Welchen denn?" Die Frage ist durchaus berechtigt, schließlich stehen drei Sorten Ketchup auf unserem Tisch.

"Den da!"

"Welchen?"

"Den daaa!"

"Den, den oder den?"

"Den da!"

"Oh Sarah! Welchen willst du denn jetzt? Den, den oder den?" Amrei wird ungeduldig.

“Nein, den da!" Sarah lässt sich nicht beirren.

"Möchtest du Kinder Ketchup, Curryketchup oder normalen - Tomatenketchup?" Nun hat sich Tim eingeschaltet.

"Den da!"

"Sarah so geht das nicht, du musst sagen, welche Sorte du haben willst."

"Ich hole ihn mir selber!" Damit klettert unsere Tochter wieder auf den Tisch, rutscht bis in die Mitte, wirft dabei zwei Gläser Milch um, kippt Michael das Bier über die Hose und rutscht mit der erbeuteten Ketchup Flasche in der Hand wieder vom Tisch.

"Sarah, sag mal spinnst du? Jetzt sieh dir mal diese Schweinerei hier an. Seit wann steigen wir auf den Tisch, wenn wir etwas haben möchten. Das ist doch nicht normal, so benimmt man sich nicht!" Während Michael stocksauer mit einem Tuch auf seiner Hose herum reibt, laufen mir vor Lachen die Tränen die Wangen hinunter.

"Findest du das vielleicht lustig?" Jetzt schüttet mein Mann seinen Zorn über mir aus, aber ich kann nicht anders, ich muss lachen.

Sarah weiß nicht so recht, was sie von unseren unterschiedlichen Reaktionen halten soll. Ein bisschen unsicher guckt sie mal zu mir und mal zu Michael. Ich stehe auf und gehe um den Tisch herum. Zärtlich schließe ich meine kleine Tochter in die Arme und gebe ihr einen Kuss.

"Sarah mein Schatz, ich liebe dich. Und jetzt stehst du auf, holst einen Lappen und wische die Milch vom Tisch, okay?"

Michael schüttelt den Kopf und fasst nach meiner Hand, als ich mich wieder auf meinen Platz gesetzt habe.

"Und ich liebe dich, auch wenn du unmöglich bist. Eigentlich hätte man diesem Monsterkind jetzt die Hammelbeine lang ziehen sollen. Klettert einfach auf den Tisch, nicht zu fassen."

"Sei nicht sauer, aber weißt du, das hat mir jeden Tag bei Tisch gefehlt - unsere Chaoskinder!"

"Du bist einfach wundervoll!"

Am nächsten Tag taucht Filius in meinem Arbeitszimmer auf. Ich bin gerade dabei, die während meiner Abwesenheit eingegangen E-Mails zu sichten.

"Mum?"

"Mhm."

"Hast du einen Moment Zeit für mich?"

Ich sehe von meiner Lektüre hoch. "Natürlich, was gibt es denn?"

"Ich muss mal mit dir reden."

"Schieß los, ich höre dir zu."

"Melissa und ich haben beschlossen zusammenzuziehen."

"Aha, habt ihr schon was in Aussicht?"

"Ist das alles, was dir dazu einfällt?"

"Was wolltest du denn jetzt hören?"

"Vielleicht: Habt ihr euch das auch gut überlegt? Ist das finanziell überhaupt zu schaffen? Könnt ihr auf Dauer miteinander auskommen? Seid ihr euch über die Konsequenzen klar?"

"Na gut. Wie lautet die Antwort auf diese Fragen?“

"Ja!"

"Das habe ich mir gedacht."

"Mum, so verhält sich keine normale Mutter. Jede andere Mutter hätte jetzt angefangen zu diskutieren."

"Mein Gott Filius, das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?"

"Doch!"

"Was willst du von mir? Ich habe mich bisher nicht in dein Leben eingemischt und ich werde es weiterhin nicht tun. Du bist alt genug und Melissa ebenfalls."

"Interessiert dich das nicht?"

"Filius, das hat nichts mit mangelndem Interesse zu tun. Ich nehme gerne zur Kenntnis, dass du mit Melissa ein gemeinsames Leben in Erwägung ziehst. Ihr seid jetzt mehr als ein Jahr miteinander befreundet und ich empfinde eure Freundschaft als ausgesprochen positiv. Aber wenn ihr beiden zusammen ziehen wollt, dann ist das eure Sache. Wenn du einen Rat möchtest, dann frage mich bitte konkret, aber erwarte keine Diskussion."

"Melissas Tante hat ganz anders reagiert."

"So, wie denn?"

"Sie hat sich aufgeregt ohne Ende. Wir wären noch zu jung und so was hat sie gesagt."

"Melissas Tante sollte sich besser zurückhalten."

"Du kannst sie nicht ausstehen."

"Du hast es erfasst. Ich mag Menschen nicht, die nur an sich selbst denken. Ich finde es schon furchtbar, dass Melissa keine Eltern mehr hat, aber diese spröde Tante ist wohl das Schlimmste, was ihr passieren konnte. Die fährt in die Karibik und lässt das arme Kind alleine im Studentenwohnheim sitzen, ausgerechnet zu Weihnachten. Ich kann diese Frau nicht begreifen. Wenn sie der Ansicht ist, sie hat ihre Pflichten zur Genüge erfüllt, dann soll sie sich jetzt bitte auch heraushalten."

"Melissa ist kein Kind mehr."

"Eben, du auch nicht. Und da ihr ja alles durchgesprochen habt und zu dem Schluss gekommen seid, es könnte funktionieren, ist doch alles in Ordnung."

"Du hast nichts dagegen?"

"Nein, Filius."

"Und dir fällt nichts ein, was dagegen sprechen könnte?"

"Filius, wenn ich darüber nachdenken würde, würden mir wahrscheinlich ein Dutzend Dinge einfallen, die dagegen sprechen, aber es wäre an den Haaren herbeigezogen. Im übrigen finde ich, dass ich nicht mehr für dich verantwortlich bin, du trägst die Verantwortung für dich selbst. Du bist erwachsen!"

"Und wenn ich dir jetzt sagen würde, dass Melissa schwanger ist?"

"Dann würde ich dir den Kopf abreißen!"

"Sie ist es nicht, aber ihre Tante hat das geglaubt."

Ich schüttele ein bisschen den Kopf.

"Habt ihr denn nun schon was in Aussicht?"

"Wir wohnen bereits seit 15. Oktober zusammen. Hier, das ist unsere Adresse und Telefonnummer." Filius hält mir ein zerknittertes Stück Papier unter die Nase.

"Ihr wohnt schon zusammen? Und dann machst du hier so einen Aufstand? Sag mal, spinnst du?"

"Na ja, ich wusste ja eigentlich, wie du reagierst, aber ich dachte, ich schau mal, ob ich dich aus der Reserve locken kann."

"Sag mal, das ist doch wohl eine Frechheit."

"Ja, das gebe ich zu. Ich mag es, wenn du dich aufregst. Deine Augen sprühen dann Funken.“

"Mach dass du raus kommst, du Flegel. Unverschämtheit!"

"Mum?"

"Was willst du denn noch?"

"Du bist Klasse und du wirst bestimmt mal eine super Schwiegermutter."

"Schwiegermutter?"

"Na ja, irgendwann werde ich Melissa heiraten, so viel ist mal sicher. Noch nicht heute oder morgen, aber so in den nächsten drei, vier Jahren und dann wirst du nun mal Schwiegermutter, so ist der Lauf der Dinge. Aber jetzt mal ehrlich? Wer hat schon eine Schwiegermutter, die gerade mal vierzig Jahre alt ist. Die könnte doch glatt noch selbst die Braut sein, Und wenn ich mir dann vorstelle, du könntest noch schwanger werden, ja?

Stell dir mal vor, du gingest mit deiner Schwiegertochter gemeinsam zur Entbindung. Mein Sohn würde einen frischgebackenen Onkel bekommen, Melissa einen funkelnagelneuen Schwager und du einen Sohn und einen Großsohn, irre Vorstellung. Damit könntest du jede Hebamme an den Rand des Wahnsinns treiben."

"Du hast dabei etwas außer acht gelassen."

"Was denn?"

"Ich würde zur Entbindung nicht in die Klinik gehen."

"Stimmt, Hausgeburten sind ja deine Spezialität. Aber wäre das nicht irre?"

"Das ist gar nicht so selten, wie du glaubst mein Sohn. Und wieso bist du dir so sicher, dass dein erstes Kind ein Junge wird?“

"Es ist statistisch nachgewiesen, dass das erste Kind in siebzig Prozent aller Fälle ein Junge ist. Dein erstes Kind war auch ein Junge, wenn ich höflichst daran erinnern darf. Und bei deinen Brüdern war das auch so."

"Ralf hat zwei Mädchen."

"Na ja, einer muss ja immer aus der Reihe tanzen. Bei Ingo und Camille wird es bestimmt auch ein Junge."

"Und bei dir warten wir die Zeit ab. Ich würde mich kringelig lachen, wenn es ein Mädchen wird."

"So gehässig wärst du, das glaube ich allerdings."

Melissa steckt den Kopf zur Tür herein.

"Darf ich euch stören?“

"Natürlich komm doch rein. Übrigens herzlichen Glückwunsch zur gemeinsamen Wohnung."

"Ich habe ihm gesagt, er soll es dir lieber vorher erzählen. Er hätte dich ja schließlich in der Klinik anrufen können."

"Nimm's gelassen, Melissa. Er liebt es, mich zu ärgern, meine Augen sprühen dann Funken."

"Was?"

"Hat er gesagt."

"Scherzkeks! Über was habt ihr eigentlich so lange diskutiert? Du hast doch nichts dagegen, dass wir zusammen gezogen sind?"

"Nichts Wirksames. Filius hat mir gerade erklärt, euer erstes Baby wird ein Junge."

"Ach ja? So weit denkst du schon?"

"Man muss doch vorplanen. Außerdem liebe ich dich, da erscheint es mir nur logisch, dass wir auch Kinder haben werden."

"An wie viele hast du gedacht?"

"Na so vier, fünf oder sechs."

"Mhm, sechs Kinder. Und wer wird die Kinder denn dann versorgen?"

"Du!"

“Und was machst du den ganzen Tag?"

"Ich gehe die Brötchen verdienen."

"Die klassische Aufteilung also."

"Ja, so könnte man das sehen."

"Da ich Karriere als Chirurgin mache werde, würde ich vorschlagen, dass du die Kinder mitnimmst. Weißt du, Kinder sind im OP meistens im Weg, aber in einer Kinderarztpraxis fallen vier, fünf oder sechs Kinder mehr gar nicht auf. Was hältst du von der Idee?" '

"Ich finde, Frauen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Anstatt in ihrer Mutterrolle aufzugehen, machen sie uns Männern das Leben schwer."

"Wenn du heute noch kochen willst, solltest du jetzt einkaufen fahren. Und wenn du deine kleinen Geschwister mitnimmst, kannst du dich auch gleich an deine Vaterrolle gewöhnen."

"Wieso sollte ich kochen wollen?"

"Weil Tina und ich das gerade entschieden haben. Es wird Zeit, dich von deinen Macho-Allüren herunterzuholen. Tu mal etwas Sinnvolles."

"Mum sag was!"

"Du bist erwachsen und lebst mit dieser überaus charmanten jungen Dame zusammen, ich werde mich also raushalten. Aber ich habe nichts dagegen, wenn du heute kochst."

"Na klasse! Darüber reden wir zu Hause noch mal.“

"Klingt schön!"

"Was?"

"Zu Hause."

"Lass uns einkaufen!"

Filius kocht tatsächlich. Es duftet durch das ganze Haus, was mich neugierig in die Küche treibt.

"Was kochst du denn schönes?" `

"Chili con Carne."

"Darf ich probieren?"

"Ja, klar."

Gerade als ich mir einen Löffel geschnappt habe, kommt Michael in die Küche.

"Liebes, da ist ein gewisser Christoph am Telefon und wünscht, die Dame des Hauses zu sprechen."

"Christoph? Na, das ist ja eine Überraschung."

Erfreut greife ich im Wohnzimmer nach dem Telefonhörer. "Christoph? Hallo!"

"Hallo Tina, ich wollte nur hören, ob du gut zu Hause angekommen bist."'

"Ja, sicher. Und du?"

"Mein Auto ist mir unterwegs verreckt. Ich fürchte, ich muss mir doch bald ein neues Auto kaufen. Na ja, das gute Stück hat ja auch schon zwölf Jahre auf dem Buckel, da darf man sich nicht wundern."

"Was hast du gemacht?"

"War nicht so schlimm, ich bin im ADAC. Die waren auch relativ schnell da und konnten den Fehler beheben."

"Na, ein Glück."

"Gewöhnst du dich langsam zu Hause wieder ein?"

"Das ist kein Problem und du?"

"Kannst du dir vorstellen, dass du mir fehlst? Ich denke pausenlos an dich."

"Ach Christoph, das solltest du lieber nicht tun. Erstens bin ich glücklich verheiratet und will daran auch nichts ändern und zum anderen hast du eine Freundin."

"Ja, ich weiß ja dass du recht hast, aber trotzdem. Wie viele Jahre hätte ich dich früher kennenlernen müssen?"

"Elf Jahre."

"Schade."

"Nett, dass du das sagst."

"Es macht dir nichts aus?"

“Ich finde, es spricht für mich, wenn mich noch andere Männer interessant finden, nicht nur mein eigener."

"Ich mag dich wirklich. Darf ich dich wieder anrufen?"

"Ja, darfst du."

"Mach's gut, Tina." Ich lächle leise in mich hinein, als ich den Hörer auflege.

"Wer ist denn Christoph?", werde ich prompt von Filius gefragt, als ich die Küche wieder betrete.

"Ich habe Christoph in der Reha Klinik kennengelernt, er war dort auch Patient. Ein wirklich netter Kerl, wir haben uns angefreundet und einiges zusammen unternommen."

"Wow, du hattest einen Kurschatten?"

"Nein, ich hatte keinen Kurschatten."

"Meine Mutter hatte einen Kurschatten, wer hätte das gedacht?"

"Ich hatte keinen!"

"Was sagst du eigentlich dazu, Michael? Deine Frau hatte einen Kurschatten!"

"Also, mir tut der arme Kerl leid."

"Er tut dir leid?", frage ich erstaunt.

"Na klar, er musste dich wieder hergeben, ich darf dich behalten. Wer ist jetzt besser dran?"

"Ihr seid doch wirklich bescheuert. Darf ich jetzt das Chili probieren?"

"Bitte!" Filius reicht mir einen Löffel und lässt mich an den Herd. Ich koste und mir bleibt die Luft weg: "Oh mein Gott, Filius! Was ist das denn?"

"Was ist damit?"

"Das ist das schärfste Chili, das ich jemals gekostet habe. So scharf bekommst du es nicht mal in Mexiko und das will was heißen. Was hast du damit gemacht?"

"Lass mich mal probieren, du übertreibst doch bestimmt wieder." Filius nimmt mir den Löffel aus der Hand und probiert selbst. Als Resultat schnappt er hörbar nach Luft.

"Oh, das ist nicht zu glauben, da bleibt einem die Luft weg. Ich weiß gar nicht wie das passiert ist."

"Wie hast du das Chili denn zubereitet?"

"Also ich habe das Mett angebraten, dann habe ich die Tomaten, die Paprika und die Bohnen dazugegeben, anschließend die Gewürze wie Salz, Pfeffer, Chilipulver und Rosenpaprika und dann habe ich das Ganze gekocht."

"Willst du damit sagen, du hast das Chilipulver mitgekocht?" Fassungslos betrachte ich meinen Sohn, den Meisterkoch.

"Klar! War das falsch?"

"Ich glaube das nicht. Wie konntest du? Hast du darüber nachgedacht, dass du jüngere Geschwister hast? Die können das doch gar nicht essen."

"Ich wusste nicht, dass man das Chilipulver nicht mitkochen darf."

"Dann weißt du es jetzt. Und was essen wir nun?"

"Wie wäre es mit Würstchen?"

"Bleibt uns jawohl nichts anderes übrig."

 

 

 

 

Kapitel 56

 

 

 

Dr. S. freut sich sichtlich, als ich mal wieder zur MRT erscheine.

"Na Tina, kommst du diesmal zur Verlaufskontrolle?"

"Wie kommst du denn auf das schmale Brett?" Ich reiche ihm die Überweisung und er schüttelt den Kopf.

"Das linke Knie, aha! Und was ist es Nächstesmal? Die Schulter? Oder lieber der Ellenbogen? Oder doch lieber der Fuß? Warum lässt dein Arzt nicht gleich ein Ganzkörper-MRT machen, dann hat er immer gleich alles zur Hand, was er gerade braucht."

"Machst du dich über mich lustig?"

"Das würde ich niemals wagen, dazu habe ich viel zu viel Respekt vor dir."

"Du machst dich über mich lustig! Das finde ich nicht nett.“

"Na ja, also komm! Solche Probleme wie du hat sonst niemand. Was ist mit dir, fällst du auseinander?"

"Ja, seit ich die dreißig überschritten habe, geht es rapide bergab mit mir."

"Wenigstens hast du deinen Humor noch nicht verloren. Was ist denn mit deinem Knie?"

"Es schmerzt und das bereits seit Juli."

"Ständig?"

"So ziemlich."

"Ist es arthroskopiert?"

"Nein, mein Orthopäde wollte erst mal die MRT-Bilder abwarten."

"Vernünftig, der Mann wird mir immer sympathischer. Was glaubst du wie viele Patienten ich hier Tag für Tag habe, die völlig unnötig arthroskopiert worden sind. Es ist ja ganz angebracht, wenn ein Knie ständig schmerzt und es für die Diagnosestellung sinnvoll ist, aber der Eingriff wird trotzdem viel zu oft unnötig durchgeführt. Na gut, sehen wir uns dein Knie mal an. Wie geht es dir eigentlich sonst? Du siehst irgendwie erholt aus."

"Ich war zur Reha."

"Anscheinend hat es ja was gebracht und wenn es nur für dein Seelenheil gut war."

"Doch, ich fühle mich seitdem schon wohler."

"Das ist wenigstens mal eine gute Nachricht."

Eine dreiviertel Stunde später drückt Dr. S. mir den Befund und die Bilder in die Hand.

"Also, ich habe einen Knorpelschaden feststellen können. Ich denke, es ist eine Chondropathie. Generell erst mal keine zwingende Indikation für eine Spiegelung, wenn die Schmerzen allerdings nicht nachlassen, muss man vielleicht trotzdem mal darüber nachdenken. Das weiß dein    Orthopäde aber sicher viel besser als ich."

"Ja, das wird wohl so sein. Ich danke dir."

"Mach's gut meine Liebe und meldet euch mal bei uns."

"Ihr seid dran. Letztesmal waren wir bei euch zum Essen eingeladen."

"Stimmt, wann passt es euch denn?"

"Wann immer ihr mögt, es reicht, wenn ihr am Nachmittag kurz anruft."

"Gut, dann melden wir uns."

Am nächsten Tag sitze ich meinem Orthopäden gegenüber, der die Bilder betrachtet und mal wieder den Kopf schüttelt über meine anatomischen Gegebenheiten. Schließlich studiert er noch den Befund, um mich dann anzustrahlen: "Eine Chondropathie, also kein Grund eine Spiegelung vorzunehmen, obwohl es genug Kollegen gibt, die Sie mit einer solchen Diagnose spiegeln würden. Ich tue es nicht und ich bin von Herzen froh, dass es nicht zwingend notwendig ist. Ich habe Sie in meinen Albträumen schon mit Narkosekomplikationen da oben liegen sehen, nicht auszudenken. Doch, ich bin wirklich froh."

Er strahlt mich so begeistert an, als hätte er gerade ein gigantisches Geburtstagsgeschenk erhalten. Ich muss zwar lächeln, aber dennoch runzele ich die Stirn ein bisschen. Mich bringt das nun überhaupt nicht weiter.

Selbstverständlich bin ich keineswegs darauf erpicht, eine Arthroskopie vornehmen zu lassen, dennoch muss irgendetwas passieren.

"Schön und was können wir nun tun?", frage ich denn auch sofort.

"Tja, ich denke, wir sollten es mit Krankengymnastik versuchen und ich werde Ihnen eine Bandage verschreiben, damit könnten wir das vielleicht in Griff kriegen."

"Hoffentlich, mir reicht es nämlich."

"Kann ich durchaus verstehen. Was ist denn jetzt eigentlich mit der Schmerztherapie?"

"Wo soll ich denn hingehen?"

"Ich wüsste da noch jemanden, wie wäre es mit Dr. E.? Den kennen Sie doch auch, oder?"

"Ja, die Idee ist sicher gut, ich kann es ja mal versuchen."

"Dr. E. ist wirklich nett und lieb, ich denke da können Sie ohne Probleme hingehen. Probieren Sie es mal, ich gebe Ihnen eine Überweisung. Im Übrigen denke ich, ich werde keine Patienten mehr zu Frau Dr. D. schicken. Da denkt man, man hat jemanden Gutes hier vor Ort und dann passieren solche Sachen. Das finde ich nicht so toll."

"Ich auch nicht."

"Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

"Nein, im Moment nicht. Vielen Dank erst mal."

Dr. L. hat mal wieder mehr für mich getan, als er ahnt. Alleine die Tatsache, dass er keine Patienten mehr zu Frau Dr. D. schicken will, gibt mir ein gutes und sicheres Gefühl. Offenbar hat er sich wirklich Gedanken zu dem Vorfall gemacht und das gibt mir die alte Sicherheit wieder, in Dr. L. den richtigen Arzt gefunden zu haben.

 

 

 

 

 

Kapitel 57

 

 

 

Meine erste Akupunkturbehandlung nach dem Reha-Aufenthalt ist gelaufen. Auf dem Bauch liegend bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass ich nicht in der Lage bin, Dr. L. die Punkte zu benennen, die Frau Dr. H. gestochen hat. Andeutungsweise weiß ich zwar, wo ungefähr die Nadeln gesessen haben, aber verschiedene Akupunkturpunkte mit den unterschiedlichsten Wirkungen können teilweise sehr dicht nebeneinander liegen und eine nicht exakt durchgeführte Akupunktur ist wenig sinnvoll. Also beschließe ich, Frau Dr. H. anzurufen und sie zu bitten, mir die Punkte mitzuteilen, dann kann ich sie an Dr. L. weiterreichen. Das ist sicher besser als sprichwörtlich im Dunkeln herum zu stochern. Frau Dr. H. zeigt sich freundlich und verständnisvoll und gibt mir telefonisch die Punkte durch, die gestochen werden sollen. Na also, damit kommen wir doch weiter.

Dr. L. zeigt sich begeistert, als ich ihm die Zettel in die Hand drücke.

"Toll, dann werde ich mal mein Glück versuchen. Allerdings habe ich so meine Probleme mit den Punkten auf der Vorderseite Ihres Körpers. Ich steche eigentlich vorwiegend Punkte auf dem Rücken, aber das soll uns ja nicht abschrecken, ich kriege das schon hin. Dickdarm eins und vier, na die kenne ich wenigstens. Soll ich Dickdarm eins wirklich nadeln? Eigentlich ist das ein Punkt, den man bluten lässt."

"Also Frau Dr. H. hat ihn genadelt."

"Gut, dann mache ich das auch."

Nach und nach arbeitet sich Dr. L. durch den Behandlungsplan. Immer wieder muss er nachsehen, wo der eine oder andere Punkt liegt, und schüttelt manchmal den Kopf.

"Das wird ja hochwissenschaftlich hier. Ich muss zugeben, dass das für mich wirklich ein bisschen schwierig ist, aber ich kriege das hin. Das Interessante daran ist, dass ich manche Punkte überhaupt nicht kenne. Das ist wirklich spannend."

Immer wieder bedient sich Dr. L. meines Daumens, um einen Punkt genau zu lokalisieren. Der Daumen als proportionale Messtechnik, ein ausgeklügeltes exaktes chinesisches Maßsystem. Man bedient sich der Breite des Daumenendgliedes, vorzugsweise nutzt man den Daumen des Patienten, da die Daumenbreite in einem bestimmten Verhältnis zur Körpergröße steht. Diese Maßeinheit nennt der Chinese 'Cun'. Liegt ein Akupunkturpunkt zum Beispiel zwei Cun von 'X' entfernt, bedeutet das also zweimal die Daumenbreite des Patienten als Entfernungsmaß. So einfach wie genial!

Dr. L. atmet sichtlich erleichtert auf, als er sich, hoffentlich erfolgreich, durch den Behandlungsplan genadelt hat, und wünscht mir, wie immer, angenehme zwanzig Minuten.

Am nächsten Tag habe ich einen Termin bei Dr. E., dem Schmerztherapeuten. Einmal auf die Nase gefallen, suche ich mit etwas gemischten Gefühlen die Schmerzambulanz in dem kleinen gemütlichen Kreiskrankenhaus auf. Das Krankenhaus ist mir von meiner Unterleibsoperation her bekannt und da ich mich dort in meiner Rolle als Patientin sehr wohl gefühlt hatte, sind meine Bedenken nicht ganz so groß, wie sie unter anderen Umständen vielleicht wären.

In der Schmerzambulanz werde ich herzlich begrüßt. Eine der überaus netten Schwestern dort fragt, wann ich das letzte Mal da gewesen wäre, da sie meine Akte nicht finden könnte.

"Ich war noch nicht hier, aber das habe ich doch der jungen Dame am Telefon gesagt, als ich wegen des Termins angerufen habe."

"Sie waren noch nie hier?" Ein ebenso entsetzter wie ungläubiger Blick trifft mich.

"Ich fürchte, dann haben wir jetzt ein Problem.“

"Weshalb?"

"Weil Dr. E. nur Mittwochs Neuaufnahmen macht und heute ist Donnerstag. Da werden Sie wohl wieder kommen müssen."

"Das ist jetzt nicht wirklich Ihr Ernst?"

"Ich frage den Doktor, aber er hat noch nie an einem Donnerstag eine Aufnahmeuntersuchung durchgeführt, aus dem einfachen Grund, weil er dazu keine Zeit hat. Was glauben Sie, wie viele Patienten hier pro Stunde abgefertigt werden. Aber wie gesagt, ich frage ihn."

"Na, das hat mir jetzt auch noch gefehlt," murmele ich ein bisschen grantig.

"Warten Sie doch erstmal ab. Dr. E. ist ein so liebenswerter, netter Mensch, ich glaube nicht, dass er Sie wirklich wieder weg schickt. Wie ich ihn kenne, wird er Sie irgendwie dazwischen quetschen." Eine junge Frau lacht mich freundlich und mit einem leichten Kopfnicken an. Ich lächele, nicht ganz überzeugt, zurück und nehme im Flur Platz, gespannt wie Dr. E. sich entscheiden wird.

Es dauert nicht lange und Dr. E. kommt ausgesprochen rundlich und ausgesprochen gemütlich den Flur heruntergerollt und steuert Zielsicher auf mich zu. Er strahlt über das ganze Gesicht, als er mir seine Hand hinhält: "Sie sind aber ein ausgemachter Unglücksrabe, ausgerechnet an einem Donnerstag hier einzufliegen. Donnerstags ist bei uns der Teufel los. Trotzdem: Herzlich willkommen bei uns!"

"Ja, vielen Dank für die nette Begrüßung. Es tut mir sehr leid, dass ich hier jetzt alles durcheinander bringe."

"Ihnen muss das in keinster Weise leid tun, aber es wird demjenigen leid tun, der Sie zu heute eingeladen hat. Aber wenn neue Gäste kommen, darf man sie nicht gleich vergraulen und darum werde ich Sie selbstverständlich heute aufnehmen für die ambulante Behandlung. Da Sie aber ein Unglücksrabe sind, wie ich eingangs bereits erwähnte, habe ich gleich noch eine schlechte Nachricht: Ich kann Sie dieses Jahr nicht mehr behandeln."

"Wie bitte?"

"Wir haben einen Patientenstopp von den Krankenkassen aufgezwungen bekommen. Neue Patienten darf ich erst wieder ab Januar nehmen, tut mir sehr leid für Sie. Aber ich werde Sie heute aufnehmen, dann haben wir das schon mal erledigt und können Anfang Januar gleich mit der Behandlung anfangen. Ich gehe jetzt nur erst mal einen Patienten mit einer 'Epiduralen' ärgern, was im übrigen meine Lieblingsbeschäftigung ist, und dann kümmere ich mich um Sie. Bleiben Sie hier einfach sitzen, dann finde ich Sie auch gleich wieder."

Damit steht er auf und rollt wieder genauso gemütlich den Flur entlang, wie er hergekommen ist, während ich schmunzelnd sitzen bleibe. Der Mann ist auf jeden Fall meine Kragenweite: Ich mag Menschen, die Humor haben!

Zehn Minuten später ist er wieder zurück und bittet mich in sein kleines Sprechzimmer.

"Möchten Sie einen Cappuccino?", fragt er mich zu meiner Verblüffung.

"Ob ich einen Cappuccino möchte?", frage ich zurück, als wäre ich geistig unterbemittelt.

"Ja, während wir uns nett unterhalten, können wir doch nebenbei einen Cappuccino trinken. Ich habe jetzt eine Dreiviertelstunde Zeit für Sie."

"Nein danke, aber ich möchte keinen Cappuccino.“

"Aha, wie wäre es dann mit Saft oder Wasser?"

"Nein, dann schon lieber einen Tee."

"Tee? Ist das Ihr Ernst?"

"Ja!"

"Schwarzen Tee, Pfefferminz, Kamille oder Hagebutte?"

"Was Sie gerade fertig haben."

"Wir haben keinen Tee fertig, hier trinkt nämlich niemand Tee. Tee trinkt man nur, wenn man krank ist und hier ist niemand krank, oder sind Sie etwa krank? Welchen mögen Sie denn am liebsten?"

"Grünen!"

"Sind Sie kompliziert. Den haben wir bestimmt nicht. Ich lasse Ihnen jetzt einfach irgendeinen Tee machen. Ich bin gleich wieder da."

Kurz darauf ist er wieder zurück und strahlt mich an: "Sie sind doch kein so großer Unglücksrabe, wie ich dachte. Stellen Sie sich vor, wir haben grünen Tee. Was sagen Sie nun?"

"Damit ist die Schmerzambulanz bei mir im Ansehen gestiegen."

"Na, das will ich jetzt auch hoffen."

Dr. E. greift nach meiner Überweisung und studiert sie mit gefurchter Stirn, um mich dann herausfordernd anzusehen: "Da steht keine Diagnose drauf; um genau zu sein, steht da gar nichts drauf, nur dass das die Überweisung für die Schmerztherapie ist."

Ehe ich antworten kann, betritt eine junge Dame den Raum und stellt mir einen Becher Tee vor die Nase.

"Möchten Sie Zucker?"

"Nein, vielen Dank," antworte ich lächelnd.

"Gern geschehen," antwortet sie ihrerseits und stellt vor Dr. E. einen großen Becher Cappuccino ab. Im gleichen Moment schießt mir durch den Kopf, was ein verantwortungsvoller Mediziner in Anbetracht dieser Leibesfülle wohl zu dem Cappuccino sagen würde, auf dem eine große Haube Schlagsahne mit Schokostreuseln thront. Ich kann mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.

Dr. E. sitzt zurückgelehnt in seinem Stuhl, greift nach seinem Becher und blinzelt mich über den Becherrand hinweg an.

"Tausend Mark für das, was Sie gerade denken," schmunzelt er.

Nun muss ich doch lachen.

"Und wenn Sie noch ein paar Nullen dranhängen würden, ich würde es Ihnen nicht erzählen."

Schelmisch droht er mir mit dem Zeigefinger:

"Ich sehe schon, wir werden gut miteinander auskommen."

"Es könnte funktionieren."

"Na, dann erzählen Sie mir mal, was Sie hierher treibt. Der Kollege L. ist ja nicht gerade schreibfreudig."

Also bete ich wieder einmal meine Krankengeschichte herunter. Am Gesichtsausdruck von Dr. E. kann ich leicht erkennen, dass er mir konzentriert zuhört. Hin und wieder nickt er ein bisschen, seufzt gelegentlich und schüttelt auch mal den Kopf.

"Wieso sind Sie nicht schon viel früher zu einem Schmerztherapeuten gegangen?"

Ich zögere einen Moment. Dr. E. bemerkt mein Zögern sofort.

"Sie waren bei einem Schmerztherapeuten - was ist passiert?”

Ich schüttele ein bisschen den Kopf. Dr. E. rollt mit seinem Stuhl um den Schreibtisch herum und greift nach meinen Händen: "Kommen Sie, haben Sie ein bisschen Vertrauen zu mir und erzählen mir, was passiert ist. Sie können mir alles erzählen, wirklich. Es ist einfach nur wichtig, dass Sie den Mut aufbringen, mir bedingungslos zu vertrauen. Schließlich muss ich Ihnen auch vertrauen können. Also lassen Sie uns einfach das erste Hindernis überwinden. Erzählen Sie mir, was passiert ist."

Ich nicke und berichte ihm von meinem missglückten Versuch mit Frau Dr. D.

Dr. E. seufzt, lässt meine Hände wieder los und rollt an seinen Platz zurück. Ein wenig nachdenklich betrachtet er mich: "Die Kollegin D. kenne ich bereits. Die schafft es meisterhaft, ihre Patienten zu motivieren und aufzurichten. Von diesen hoch motivierten Patienten habe ich einige hier in der ambulanten Sprechstunde. Es ist harte Arbeit, das wieder auszubügeln. Solche Kollegen, wie Frau Dr. D., können unsere ganze Arbeit zunichte machen. Schmerztherapie bedeutet nicht nur das meisterhafte jonglieren mit Medikamenten und alternativen Heilmethoden, es bedeutet vor allen Dingen Patientennahe Arbeit. Wir Schmerztherapeuten müssen zuallererst das Vertrauen unserer Patienten gewinnen, nur so können wir es erreichen, bis in ihre Seele vorzudringen. Das ist zwingend notwendig, wenn wir dem Patienten die Kraft und den Mut zum Weiterleben vermitteln wollen. Wir müssen den Patienten aufrichten und ihm den Rücken stärken, er muss absolutes Vertrauen zu seinem Arzt entwickeln, sonst kann die gesamte Therapie nicht funktionieren. Wenn Kollegen solche Briefe schreiben, nachdem sie den Patienten ganze zweimal behandelt haben, dann haben sie ihren Beruf aber entschieden verfehlt. Die Dame, von der wir hier reden, hätte gut daran getan, weiterhin als Anästhesistin zu arbeiten, und zwar in einem Bereich, wo die Patienten vorwiegend den Mund halten. Dann muss man sich nämlich nicht mit ihnen auseinandersetzen. Passiert einem Patienten so etwas wie Ihnen, dann verliert er schnell das Vertrauen; dieser Stachel sitzt tief. Ihnen geht es ja auch nicht anders, Sie haben auf meine Frage hin auch gezögert, erst mal austariert, ob ich Ihnen mit dieser Geschichte nicht noch zusätzlich an den Wagen fahre. Ich tue das nicht, aber ich sage Ihnen auch ganz offen und ehrlich, komme ich zu dem Schluss, das möglicherweise eine gewollte oder ungewollte Abhängigkeit da ist, werden wir darüber reden. Ich würde einen solchen Brief sicher nicht ohne Weiteres schreiben. Eher würde ich den überweisenden Kollegen anrufen und mit ihm über unseren gemeinsamen Patienten und seine Probleme sprechen, aber erst, wenn ich mit dem Patienten gesprochen habe. Glauben Sie nun, wir können eine gemeinsame Basis erreichen? Wenn nicht, dann sollten wir lieber als gute Freunde auseinandergehen."

"Doch, ich glaube schon, dass wir das schaffen können."

"Gut, dann müssen wir aber auch offen und ehrlich miteinander umgehen dürfen. Ich kann sehr    ungeschminkt meine Meinung sagen."

"Ich auch!"

"Na prima, da haben wir ja schon eine Gemeinsamkeit. Was halten Sie davon, wenn ich Sie jetzt untersuche? Ich muss mir ja ein Bild schaffen."

"Kein Problem," antworte ich lächelnd.

Dr. E. reicht mir seine Hand über den Schreibtisch: "Auf gute Zusammenarbeit, wir werden das schon hinkriegen und noch einmal: Herzlich willkommen bei uns!"

Nach erfolgter Untersuchung verlasse ich mit Dr. E. sein kleines Sprechzimmer und trete mit ihm in die Anmeldung.

"Sie bekommen einen Termin gleich Anfang Januar, damit Sie nicht länger als nötig warten müssen. Conny, wir brauchen einen Termin für Anfang Januar. Am besten gleich die erste Woche."

"Das geht nicht."

"Warum nicht?"

"Weil wir noch keinen Kalender für 2000 haben."

"Na, das ist ja dumm gelaufen. Wie lange geht denn dieser hier?"

Ein bisschen unwillig blättert er in dem vor ihm liegenden Kalender herum und schlägt schließlich die letzte Seite auf.

"Na also, der geht ja bis 31.01., dann gebe ich Ihnen doch einen Termin. Sagen wir, der dritte Januar?"

“Ja, den können wir gerne nehmen."

”Gut, dann trage ich Sie hier ein."

"Das geht aber nicht!", meldet sich die junge Dame wieder zu Wort.

“Und warum nicht?“

"Weil du gar nicht weißt, wie du am dritten Januar Dienst hast."

"Also, wenn ich hier jetzt höchstpersönlich einen Termin vergebe für den dritten Januar, dann habe ich am dritten Januar um 15.00 Uhr auch Dienst - Ende der Diskussion!"

Damit bekomme ich meinen Termin in die Hand gedrückt und bin entlassen.

Ich habe schon fast den Ausgang erreicht, als mir Dr. E. noch Grüße an Dr. L. nach ruft.

Als ich nach Hause komme, ist inzwischen auch Michael von seiner Bustour zurück. Mit einer Fachzeitschrift auf den Knien, sitzt er im Wohnzimmer und beobachtet unsere Kinder, die vor dem Kamin 'Mensch-Ärgere-Dich-Nicht' spielen.

Als ich das Wohnzimmer betrete, werde ich stürmisch von allen Dreien begrüßt, als sei ich mal wieder für Monate verschwunden gewesen. Michael steht auf und ich bekomme meine Begrüßungsumarmung und einen Kuss.

"Na, wie war's?"

"Dr. E. ist sehr sympathisch, das wird schon klappen."

"Na, wie schön. Wann hast du den nächsten Termin?"

"Am dritten Januar."

"Wann?!" Mein Mann betrachtet mich fassungslos, also wiederhole ich das Datum noch einmal.

"Sag mal, das ist jetzt nicht dein Ernst oder?"

"Doch, natürlich!"

"Wieso erst im Januar? Wir haben Anfang November!"

"Weil sie wegen einer Auflage der Krankenkassen keine neuen Patienten mehr nehmen können, deshalb."

"Das darf doch wohl nicht wahr sein! Das sind noch fast zwei Monate, wie stellst du dir das eigentlich vor?”

"Ich kann es nicht ändern, Michael."

"Vielleicht solltest du dich bei der Krankenkasse mal beschweren. Ich finde das ..., weiß ich auch nicht!"

"Was soll ich denn noch alles machen? Ich werde jetzt bis Januar abwarten."

"Na, das finde ich ja mal prima. Tolle Einstellung von dir."

"Sag mal, was willst du eigentlich von mir?" Wütend lasse ich meinen Mann stehen und gehe in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten. Michael folgt mir in die Küche und lehnt sich in den Türrahmen.

"Das kann so nicht mehr weitergehen, Tina. Ich werde in diesem Haus noch wahnsinnig."

"Ich weiß absolut nicht, was du eigentlich von mir willst."

"Ich will, dass verdammt noch mal, endlich etwas Produktives passiert."

"Und was stellst du dir vor?"

"Also andere Patienten, die sich an deiner Stelle befinden, würden von einem Arzt zum nächsten reisen, bis sie einen gefunden haben, der endlich etwas tut."

"Fantastische Idee! Weißt du eigentlich, dass ich mittlerweile dreizehn Ärzte der verschiedensten

Fachrichtungen durch habe? Orthopäden, Neurologen, Neurochirurgen, Internisten, Gynäkologen, Anästhesisten, Nuklearmediziner - meinst du nicht, dass es langt?"

"Ich mache das nicht mehr mit, Tina."

"Und was willst du tun?"

"Ich habe beim Chef heute eine einwöchige Bustour in den Schwarzwald abgelehnt. Ich werde die Tour fahren, ich muss hier raus, ich werde wahnsinnig."

"Na klar, du bist ja auch so oft zu Hause, dass du jeden Grund hast wahnsinnig zu werden. Fahr doch, wenn es dich glücklich macht, aber dann überlass mir auch meine Entscheidungen!"

"Ach, ist es jetzt so weit, dass wir gewisse Dinge nicht mehr miteinander klären und besprechen?"

"Im Moment ist das ausschließlich meine Entscheidung! Im Übrigen hast du damit angefangen! Aber bitte, wenn wir dir zu viel sind, dann fahre ruhig!"

"Du bist mir zu viel, Tina - und nur du! Ich kann deine Erkrankung nicht mehr ertragen und jetzt das ganze noch zwei Monate und dann vielleicht noch ein paar Monate, vielleicht hört es ja auch nie mehr auf und bleibt so! Ich bin neununddreißig Jahre alt, Tina! Ich möchte nicht nur arbeiten und eine kranke Frau pflegen, ich möchte auch noch etwas von meinem Leben haben, verstanden?!"

Fassungslos starre ich meinen Mann an. Noch nie haben wir uns gestritten, aber das ist unverkennbar ein Streit und gerade im Augenblick fühle ich mich nicht nur angegriffen, sondern auch zutiefst verletzt.

"Das war deutlich, Michael! Vielleicht solltest du mich jetzt besser alleine lassen!"

"Verdammt noch mal Tina, ich habe seit über einem Jahr nicht mehr mit dir geschlafen! Du bist meine Frau und ich liebe dich! Ich habe auch gewisse Bedürfnisse!"

"Bist du wirklich sicher, dass du mich noch liebst? Vielleicht bin ich mittlerweile wirklich nur noch ein lästiges Anhängsel. Und noch etwas, nur so am Rande, ich wäre auch gerne wieder gesund, ob du's glaubst oder nicht! Ich finde es nämlich keineswegs toll, den ganzen Tag zu Hause herumzusitzen und darauf zu warten, dass die Schmerzen so erträglich werden, dass ich dir mit einem strahlenden Lächeln 'guten Abend' sagen kann!"

Mein Mann starrt mich verblüfft an: "Ich hatte keine Ahnung, dass dich das so belastet. Es tut mir leid. Aber wie kommst du denn darauf, du seiest ein lästiges Anhängsel?"

"Wieso ich? Du hast mir das doch gerade durch die Blume zu verstehen gegeben!"

"Nein, Tina!"

"Doch, das hast du getan!"

"Nein! Nein. Ich habe - ich wollte ... Es tut mir leid, Tina. Das habe ich nicht so gemeint und auch nicht gewollt. Ich bin einfach frustriert. Sei mir nicht böse, aber ich habe irgendwie geredet, ohne nachzudenken. Tust du das nie? Es tut mir leid. Du bist kein lästiges Anhängsel. Ich liebe dich und ich möchte niemals eine andere Frau haben. Ich bin ungeduldig und genervt. Wie zum Teufel bringst du diese Geduld und diesen Gleichmut auf? Das ist einfach das, was ich nicht nachvollziehen kann, verstehst du?

Erkläre es mir, damit ich dich verstehen kann!"

"Michael, ich kann meine Situation im Augenblick nicht ändern, also muss ich versuchen das Beste daraus zu machen. Ich habe in diesem einen Jahr gelernt, damit umzugehen, und ich denke, ich kriege das ganz gut hin, aber nur, wenn du mir nicht in den Rücken fällst.

Ich brauche deine Unterstützung und vor allen Dingen brauche ich deine Liebe und Zuneigung. Ich schaffe es, diese Geschichte durchzustehen, aber ich schaffe es nicht alleine. Ich brauche dich. Wir haben schon vieles miteinander durchgestanden in den elf Jahren, die wir jetzt zusammen sind, aber ich habe dich noch nie so sehr gebraucht, wie gerade zu diesem Zeitpunkt."

Michael löst sich aus dem Türrahmen und kommt auf mich zu. Zärtlich schließt er mich in die Arme und plötzlich fühle ich mich unsagbar geborgen und beschützt.

"Was kann ich tun, Tina? Sag es mir. Ich würde alles für dich tun," flüstert er, während sich seine Nase in meinem Haar verirrt.

"Mach mir nie wieder Vorwürfe, bitte! Sei für mich da, wenn ich mich anlehnen möchte. Halt mich einfach nur fest. Und habe ein bisschen Geduld, dann können wir das schaffen und wir werden es schaffen, da bin ich mir absolut sicher.“

"Ich weiß nicht, wo du diese Kraft immer wieder hernimmst. Ich hätte längst aufgegeben und mich irgendwo hin verkrochen."

"Ich kann mich nicht irgendwo hin verkriechen, Michael. Wir haben drei kleine Kinder, die mich noch lange brauchen. Außerdem bin ich ganz und gar nicht der Typ, der sich irgendwo vergräbt. Ich brauche nur immer wieder die Sicherheit, dass ich nicht umsonst kämpfe. Ich brauche eure Liebe. Aus dieser Liebe tanke ich meine Kraft."

"Meiner Liebe darfst du dir auf jeden Fall sicher sein. Außer dir und unseren Kindern gibt es niemanden, den ich mehr lieben würde.

Sei mir nicht böse, weil ich so schrecklich ungeduldig bin. Ich kann es einfach nicht ertragen, zu sehen, wie schlecht es dir an manchen Tagen geht. Ich fühle mich dann so hilflos, weil ich dir nicht helfen kann. Vor allen Dingen dann, wenn du versuchst, vor den Kindern zu verbergen, was du für fürchterliche Schmerzen hast. Jetzt wirst du noch zwei Monate warten müssen und jeder Tag, an dem du Schmerzen hast, ist ein Tag zu viel. Versuch, mich auch ein bisschen zu verstehen, ich möchte wirklich nur, dass es dir gut geht. Auf keinen Fall wollte ich dich verletzen. Verzeih mir bitte, wenn ich es getan habe."

Liebevoll schließt mein Mann mich in seine Arme. Ich schmiege mich ganz fest an ihn.

"Ich kann dich ja verstehen, Michael, aber du musst Geduld haben, auch mit mir. Sieh mal, ich brauche nicht irgendeinen Arzt, ich brauche einen Arzt, der mich versteht und dem ich vertrauen kann. Und ich denke, Dr. E. kann ich vertrauen. Ich mag ihn und er gibt mir eine gewisse Sicherheit, also lass mich bitte bis Januar warten."

"Ich habe immer noch nicht heraus gefunden, nach welchen Kriterien du deine Ärzte auswählst, aber irgendwie weißt du immer schon beim ersten Besuch, ob es klappt oder nicht. Ich weiß noch, als du von Frau Dr. D. nach Hause gekommen bist. So ganz sicher warst du dir damals nicht, ob das was wird mit der. Und jetzt bei Dr. E. bist du wieder felsenfest davon überzeugt, dass er der Richtige ist. Bei Dr. L. war es vor einem Jahr dasselbe. Du wusstest vom ersten Moment an, das ist der richtige Arzt für dich und siehe da, es scheint ja zu passen. Was ist es, wonach urteilst du?"

"Lachst du mich aus, wenn ich es dir sage?”

"Niemals würde ich dich auslachen. Komm, lüfte das große Geheimnis."

"Ich muss meinem Arzt wichtig genug sein. Ob ich das bin, merke ich schon daran, wie er mich begrüßt. Das erste Wort, der erste Blick und dann entscheide ich aus dem Bauch heraus. Meistens liege ich richtig."

"Du bist ein völlig verrücktes Frauenzimmer. Also schön, wenn Dr. E. der Richtige für dich ist, werde ich mich ebenfalls in Geduld üben, auch wenn mir das verdammt schwerfällt."

"Und was das miteinander schlafen anbelangt, warum versuchen wir es nicht mal wieder?"

"Darüber können wir ja durchaus noch einmal reden, wenn die drei Plagegeister wohlbehalten in ihren Betten liegen."

An diesem Abend haben wir nach über einem Jahr tatsächlich das erste Mal wieder miteinander geschlafen. Nach der wiederentdeckten Zärtlichkeit mussten wir uns beide eingestehen, dass wir doch etwas vermisst hatten...

 

Kapitel 58

 

 

 

Samstagmittag steht Melissa vor der Tür - ohne Filius.

"Du bist alleine?", frage ich entsprechend erstaunt.

"Ja, dein Sohn meint, er müsse den fleißigen Studenten hervorkehren und büffelt wie ein Wahnsinniger. Ich weiß nur nicht was, bestimmt tut er nur so."

"Und da dachtest du dir, dann fahre ich eben alleine."

"So ungefähr, ja. Ich störe dich doch nicht, oder?"

"Nein, das tust du nicht, komm ruhig rein. Möchtest du einen Tee oder Kaffee oder irgendetwas anderes?"

"Wenn du hast, hätte ich gerne einen Kaffee."

"Gehen wir in die Küche und kochen einen. Es macht dir sicher nichts aus, wenn ich Tee trinke."

"Bist du alleine? Es ist so auffallend ruhig hier."

"Michael hat eine Tagestour und hat Tim und Amrei mitgenommen, Sarah ist bei ihrer Patentante. Wir haben also ausreichend Zeit, uns zu unterhalten. Du willst doch mit mir reden oder sehe ich das falsch?"

"Kannst du hellsehen?"

"Manchmal. Was ist los? Hast du dich mit Filius gestritten?"

"Gestritten kann man nicht sagen. Nein, wirklich, wir haben nicht gestritten."

"Was ist dann das Problem?"

"Ich weiß nicht so recht, wie ich es erklären soll."

"Am besten munter drauflos. Also komm schon, was ist es? Ist er noch nicht reif für eine Beziehung?"

"Das ist es nicht, aber er ... Irgendwas mache ich falsch."

"Wie kommst du denn darauf?"

"Filius vergleicht mich ständig mit dir. Egal, was ich sage oder tue, immer kommt ein Spruch von ihm, der unter Garantie anfängt mit: 'Meine Mutter hat ..., oder meine Mutter sagt ..., oder auch, meine Mutter würde ... Was soll ich tun?"

"Männer!"

"Es nervt mich, Tina."

"Ja, das würde es mich auch. Die Frage ist nur, was soll man dagegen tun?"

“Kannst du nicht mal mit ihm reden?"

"Willst du wirklich, dass er merkt, dass du dich bei mir ausheulst?"

Ein tiefes Seufzen von Melissa ist die Antwort.

“Melissa wirklich, ich möchte euch gerne helfen, aber ich halte es für keine gute Idee, wenn ich mich da einmische. Filius könnte es dir auch verübeln, dass du zu mir gekommen bist damit."

"Was mache ich denn falsch?"

"Nichts."

"Nichts?!"

"Nichts“ Du bist nur einfach du und das muss er erst lernen. Es ist nämlich so, dass man erst, wenn man zusammenlebt, die Macken des anderen wirklich erkennt. Filius hatte vor dir nur kleine sporadische Liebeleien, die nichts bedeuteten. Er lebt das erste Mal mit einer Frau zusammen, die nicht seine Mutter ist und er tut das, was die meisten Männer tun, er zieht Vergleiche. Männer, die schon in anderen Beziehungen gelebt haben, neigen dazu, uns Frauen mit der Vorgängerin zu vergleichen und so gesehen, bin ich deine Vorgängerin. Du darfst ihn nicht so ernst nehmen, Melissa. Er wird das wieder ablegen, aber du musst ihm deutlich klar machen, dass du ein eigenständiger Mensch bist."

"Klingt einfacher, als es ist. Hattest du mit Michael auch Probleme am Anfang?"

"Ja, natürlich. Man muss sich erst zusammenraufen."

"Hat er dich auch mit seiner Mutter verglichen?"

"Nein, das hat er nicht. Ich war ihm zu selbstständig."

"Was?"

"Na ja, ich habe jahrelang alleine gelebt, da baut man sich eine gewisse Unabhängigkeit auf und die wollte ich nicht einfach so aufgeben. Ich brauche meinen Freiraum, Platz um mich weiterentwickeln zu können. Ich habe einen festen, eigenständigen Freundeskreis. Den hatte ich auch damals schon und den wollte ich mir erhalten. Das tue ich auch und gelegentlich knüpfe ich auch mal neue Freundschaften. Ich möchte meinen Mann nicht um Erlaubnis fragen müssen, wenn ich alleine ausgehen möchte. Das habe ich nie getan und das werde ich niemals tun. Für Michael war das am Anfang etwas schwierig. Nicht, dass er etwa darauf bestanden hätte, das ich frage und um Erlaubnis bitte, aber er hat durchaus versucht, mich auf seine geplante Bahn zu bringen. Ich bin aber nun mal ein Sturkopf: Wenn ich etwas nicht will, dann will ich es nicht. Wir haben eine Weile gebraucht, bis wir eine Basis hatten. Im übrigen hat Michael irgendwann erkannt, dass er auch seinen Freiraum braucht und das es nicht gut ist, wenn man ständig aufeinander hängt."

"Aber funktioniert das denn, wenn jeder tut, was er will?"

"Du hast das falsch verstanden, Melissa. Hier tut nicht jeder, was er will. Wir nehmen schon Rücksicht aufeinander, das geht in einer Partnerschaft auch nicht anders. Aber wenn mich eine Freundin anruft und mich bittet, mit ihr Mal wieder Essen zu gehen oder ins Kino mitzukommen, dann frage ich meinen Mann nicht, ob ihm das genehm ist. Ich sage ihm, dass ich etwas vor habe und wir vergleichen unsere Termine. Schließlich haben wir ja auch noch Kinder und die haben Vorrang."

"Wo hast du bloß dieses Selbstbewusstsein gelernt?"

"Das habe ich nicht gelernt, da bin ich hineingewachsen.“

"Kann man da hineinwachsen?“

"Was heißt Selbstbewusstsein denn? Sich selbst kennen, mit allen Schwächen und Stärken, wissen was man sich zutrauen kann und was nicht. Man sollte wissen, wie man ist, wie man auf andere Menschen wirkt."

"Und wie bist du?“

"Fröhlich und unkompliziert auf der einen Seite, überheblich und arrogant auf der anderen Seite. Manchmal bin ich furchtbar besserwisserisch und dann mag ich nicht zugeben, dass die anderen vielleicht doch recht haben. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, dann will ich es mit aller Gewalt durchsetzen und dann kann ich auch mal fürchterlich stur und verbohrt sein. Andersherum bin ich aber auch wieder ein sehr geduldiger und gelassener Mensch, der das nötige Fingerspitzengefühl aufbringen kann, um andere Menschen für sich zu gewinnen. Wenn jemand meine Hilfe braucht, stelle ich den betreffenden Menschen über mich. Nichts ist dann im Moment wichtiger, das kann auch mal ein Fehler sein. Aber ich will genauso ernst und wichtig genommen werden und werde giftig, wenn ich merke, dass das nicht funktioniert."

"Vielleicht hättest du Nonne werden sollen, dann hättest du gewisse Eigenschaften an dir am besten austoben können."

"Ich bin nicht gehorsam genug. Ich würde ständig widersprechen und die Bibel kritisieren. Ich würde den Schleier gar nicht erst bekommen, nach spätestens zwei Tagen würde ich draußen auf der Straße stehen."

"Ich habe dich noch nie besserwisserisch oder arrogant erlebt."

"Ich kann das aber, glaubs mir."

Melissa lacht ihr unwiderstehliches Lachen und nimmt mich in den Arm: "Du bist einfach eine tolle Frau. Im Grunde genommen kann ich Filius ja verstehen, dass er dich förmlich anbetet.“

"Er darf mich nicht auf einen Sockel heben, ich bin ein ganz normaler Mensch, mit guten und schlechten Eigenschaften, wobei ich natürlich wie jeder Mensch versuche, die schlechten Eigenschaften zu verstecken, aber sie kommen immer wieder durch, leider."

"Filius liebt dich sehr.“

"Ich ihn auch."

"Sag mal, ist es nicht ganz schön schwierig, ein Kind großzuziehen, wenn man selbst noch eines ist? Ich meine, ich will nicht indiskret sein, aber wie hast du das geschafft?"

"Es war nicht immer ganz einfach, aber ich hatte jede Hilfe, die ich brauchte. Meine Eltern waren immer für mich da und ohne sie hätte ich das wahrscheinlich nicht geschafft. Sie haben sich niemals eingemischt, sie haben schon respektiert, dass Filius mein Sohn war und ich ihn nach meinen Vorstellungen erziehen wollte. Aber ich hatte in meinen Eltern Vorbilder, ich habe vieles von ihnen übernommen und ich habe sie oft um Rat gefragt, wenn ich nicht weiter wusste. Eigentlich ist man mit siebzehn oder achtzehn noch gar nicht richtig in der Lage ein Kind zu erziehen.

Meine Eltern haben mir nie Vorwürfe gemacht und sie haben mir freie Hand gelassen, meine Entscheidungen zu treffen. Sie haben an mich geglaubt und mir immer wieder den Mut und das Selbstvertrauen gegeben, auch mit Kind meinen Weg gehen zu können. Und sie haben noch etwas Wichtiges getan: Sie haben ihr Großkind vom ersten Tag an ohne Vorbehalte geliebt."

"Und deine Brüder?"

"Die haben mich manchmal liebevoll wegen meiner frühen Mutterschaft geneckt. Aber sie waren für mich da, wenn ich sie brauchte, ganz besonders Ralf."

"Ist Ralf sowas wie ein Lieblingsbruder?"

"Merkt man das?"

"Irgendwie schon. Ich habe immer das Gefühl, du hast zu Ralf einen besonders intensiven Kontakt. Ich finde, mit Christian telefonierst du längst nicht so viel und das, obwohl er in Deutschland lebt, zumindest habe ich den Eindruck."

"Das liegt sicher daran, dass der Altersunterschied zwischen Ralf und mir am geringsten ist. Es sind, in Anführungszeichen, nur dreizehn Jahre. Er war schon mein Vertrauter, als ich noch im Krabbelalter war. Ich wollte nur von ihm ins Bett gebracht werden. Später habe ich ihm dann alle meine großen und kleinen Kümmernisse gebeichtet und er hatte oft einen Rat für mich. Als Ralf dann nach München ins Studium ging, habe ich ihm kilometer lange Briefe geschrieben. Ich war damals in der zweiten Klasse. Irgendwann habe ich einen Radiorekorder zum Geburtstag bekommen und dann habe ich nicht mehr geschrieben, sondern alles auf Kassette gesprochen. Das mache ich übrigens heute noch öfter. Hin und wieder bekommt er eine Kassette geschickt."

"War es schlimm für dich, als er nach Amerika ging?"

"Nein, ich wusste ja, er kommt wieder. Nur, dass er nicht wieder zurückkam. Irgendwann habe ich gelernt ihn zu verstehen. Ich bin ja auch ein Jahr in Kalifornien gewesen. Damals lebte Ralf noch in San Francisco, aber schon verheiratet. Tamico war eine mehrjährige Verpflichtung dort am Gericht eingegangen und konnte nicht weg und ohne sie wollte Ralf nicht gehen. Dann übernahm er die Praxis in Monterey und damit waren die Würfel endgültig gefallen."

"Aber du hättest ihn schon lieber hier, oder?"

"Ja, es wäre mir wirklich lieber, wenn er ein bisschen näher dran wäre."

"Warum bist du nicht in Amerika geblieben?"

"Das hätte ich vielleicht getan, wenn ich René nach Amerika mitgenommen hätte, aber er ist bei meinen Eltern geblieben. Ich wusste genau, wenn ich erst mal wieder in Deutschland bin, gehe ich nicht mehr zurück. Abgesehen davon, lebe ich gerne in Deutschland."

Melissa sieht mich nachdenklich an und steht dann auf, um aus dem Küchenfenster in den Garten zu sehen, der ziemlich trostlos daliegt. Es ist ein typischer Novembertag, diesig und regnerisch.

"An was denkst du?“, frage ich leise Melissa.

"Weißt du, wenn Filius von dir spricht, dann tut er das immer mit viel Stolz und sehr zärtlich und liebevoll. Manchmal denke ich dann, ob ich von meiner Mutter auch so überzeugt wäre, wenn sie am Leben geblieben wäre."

Ich bin hinter Melissa getreten und habe einen Arm um sie gelegt.

"Die Frage kann dir leider niemand beantworten."

"Ja, ich weiß. Wie kommst du eigentlich mit deiner Schwiegermutter klar?"

"Lange Zeit war sie mir sehr fremd. Ich habe sie ja auch immer nur für wenige Stunden gesehen, wenn wir Michaels Eltern mal besucht haben oder wenn sie zu uns kamen. Allerdings habe ich ihr hoch angerechnet, dass René für sie sofort ein gleichberechtigtes Großkind war. Er sagt Oma zu ihr und das finde ich schön. Aber in der langen Zeit, die sie hier bei uns verbracht hat, habe ich sie sehr gut kennengelernt. Instinktiv habe ich ihre Nähe gesucht und sie hat mich angenommen. Wir verstehen uns sehr gut. Natürlich haben wir auch mal unsere kleinen Querelen, wie sie überall vorkommen, aber ich denke doch, dass ich sie auf eine gewisse Art sehr liebe."

"Und wie ist das mit deiner Mutter?"

“Ich liebe und bewundere sie. Sie ist auch heute noch jederzeit für mich da und wenn ich mitten in der Nacht zu ihr kommen würde. Sie würde sicher alles stehen und liegen lassen für ihre Kinder. Leider geht es ihr gesundheitlich auch nicht mehr so gut, aber sie ist auch schon über achtzig Jahre alt."

"Über achtzig Jahre?! Wie alt war sie denn, als du geboren wurdest?”

"Sechsundvierzig."

"Sechsundvierzig?! Und dein Vater?"

"Siebenundvierzig."

”Oh, du lieber Himmel. Kein Wunder, das deine Brüder so viel älter sind als du. Sag mal, war das gewollt oder ein Unfall?"

"Die Ärzte hatten meinen Eltern gesagt, dass meine Mutter nicht mehr schwanger werden könnte und das, obwohl mein Vater sich sehnsüchtig ein kleines Mädchen wünschte. Er war damals tief enttäuscht, dass sich dieser Wunsch nicht mehr erfüllen sollte. Zwölf Jahre lang passierte nichts,

da fühlt man sich ziemlich sicher, glaube ich und dann war ich plötzlich unterwegs. Für meine Mutter war es erstmal ein Schock, mein Vater dagegen hat gejubelt, aber er war ja auch nicht schwanger."

"Hatten sie keine Angst?"

"Mein Vater hat immer gesagt, er hätte nur Angst davor gehabt, dass es kein Mädchen werden könnte, aber ich denke schon, dass sie irgendwie auch gemischte Gefühle hatten. Es ist aber alles wie geplant verlaufen, einschließlich der Geburt. Und dann hatte mein Vater endlich die ersehnte Tochter und ich kann dir versichern, ich bin in dieser Familie von den Männern nach Strich und Faden verwöhnt worden. Wenn meine Mutter nicht immer als Gegenpol agiert hätte, wäre ich heute sicher ein verwöhntes, kleines Biest."

"Gibt es Babyfotos von dir?"

"Ja, natürlich. Willst du sie sehen?"

"Ja, klar. Zeigst du mir auch die von Filius?"

“Ja, auch auf die Gefahr hin, dass er mich umbringt."

Also wandern wir von der Küche ins Wohnzimmer und schon ein paar Minuten später stöbert Melissa mit Begeisterung in unseren Fotoalben. Hingerissen betrachtet Melissa Babyfotos von Filius.

"Oh, der war so knuffelig. Ob unsere Kinder auch mal so süß sind?"

"Babys sehen doch alle süß aus."

"Ja, da hast du recht. War Filius pünktlich da?"

"Einen Tag vor dem errechneten Termin."

"Netter Zug von ihm, seine Mutter nicht warten zu lassen."

"Ja, aber bei der Geburt hat er sich dann reichlich Zeit gelassen, ganze neunzehn Stunden. Ich schwöre dir, mir hat es gelangt."

"Das kann ich mir vorstellen. Nein, Quatsch! Das kann ich mir nicht vorstellen, ich hatte ja noch nie Wehen. Aber ist man nicht reichlich entschädigt, wenn man dann so ein kleines Menschlein endlich im Arm halten kann?"

"Ganz sicher. Das ist immer wieder ein wahnsinniger Augenblick. Da schlagen die Emotionen Purzelbaum."

"Was für Gefühle entwickelt man nach einer Entbindung?"

"Schwer zu sagen, weil so viel auf einen einstürzt. Ich war immer erleichtert, glücklich, traurig, ach ich weiß nicht, alles auf einmal."

"Das muss man wahrscheinlich selbst erleben."

"Ganz sicher."

"Was, zum Teufel, treibt ihr hier eigentlich?"

Erschrocken drehen wir uns um. Filius lehnt grinsend in der Wohnzimmertür und betrachtet uns.

"Wo kommst du denn her?!“ Melissa starrt Filius erstaunt an.

"Gegenfrage: Wieso bist du ohne mich gefahren?"

"Na, du warst doch so beschäftigt mit deiner dämlichen Lernerei. Ich dachte, ehe ich mich das Wochenende über zu Tode langweile, fahre ich lieber deine Mutter besuchen."

"Ist ja echt reizend." Filius kommt näher und haucht mir einen Kuss auf die Wange.

"Grüß dich, Mum. Was macht ihr denn hier?"

"Wir sehen uns Fotos an," wirft Melissa ein.

"Fotos? Was denn für Fotos? Oh nein, Mum! Du zeigst meiner Freundin nicht wirklich Babyfotos von mir, oder?!"

"Warum denn nicht?"

"Oh Mum, wenn Frauen erst mal Babyfotos von ihren Männern gesehen haben, werden wir Männer nicht mehr ernst genommen!"

"Ja, wir sehen dann nämlich nicht mehr den Mann, sondern nur noch das Riesenbaby, das in ihnen steckt." Melissa kugelt sich vor Lachen auf dem Teppichboden, während Filius versucht, so schnell wie möglich seine Babyfotos verschwinden zu lassen.

"Das finde ich überhaupt nicht komisch," murrt mein Sohn und stopft die Fotoalben in die Schublade zurück, in die sie hineingehören.

"Ach, komm schon Filius. Du warst ein total süßes Baby und erst mal dieser Körper: Ein viel zu großer Kopf und keine Haare ..."

"Mum, sag ihr sofort, dass ich Haare hatte!"

"Du hattest keine!", wirft Melissa lachend ein.

"Doch! Ich hatte jede Menge Haare. Siehst du, was ich meine, Mum? Man wird nicht mehr ernst genommen. Sie wird sich jetztJjahrelang über mich lustig machen und allen erzählen, ich hätte als Baby keine Haare gehabt!"

"Und keine Zähne. Jetzt habe ich zumindest einen Hauch von Vorstellung, wie du in fünfzig Jahren aussehen wirst."

"Mum, was hast du da bloß angerichtet?"

Inzwischen kullern auch bei mir Lachtränen über Filius's komische Verzweiflung.

"Filius, jetzt sei nicht eingeschnappt. Du warst ein total süßes Baby, richtig wonnig." Melissa kugelt sich immer noch.

"Von meinem Sohn wird es später keine Babyfotos geben, sonst muss der arme Kerl am Ende das Gleiche durchmachen wie ich. Da kann man ein echtes Trauma entwickeln, wisst ihr das eigentlich?"

Lachend schütteln Melissa und ich unsere Köpfe, unfähig, überhaupt noch ein Wort herauszubringen.

 

 

 

 

 

Kapitel 59

 

 

 

Das Novemberwetter schlägt auch unseren Kindern aufs Gemüt. Den ganzen Tag sind sie am rumstreiten. Ich merke, wie ich immer grantiger werde.

"Mami, dürfen wir was spielen?" Amrei lehnt in der Tür zu meinem Arbeitszimmer und sieht mich fragend an.

"Natürlich dürft ihr was spielen, wenn ihr euch nicht streitet. Was möchtet ihr denn spielen?"

"Mausefalle." Tim ist schon dabei, meinen Schrank zu erklettern, in dem in den oberen Fächern diverse Gesellschaftsspiele untergebracht sind.

"Nein, ich will nicht Mausefalle spielen. Ich will Kugel Mikado!" Amrei reagiert sauer auf Tims Vorschlag und schon streiten die beiden wieder.

"Wenn ihr nicht bald aufhört mit der Streiterei, dürft ihr in eure Zimmer gehen und solange drin bleiben, bis ihr euch wieder benehmen könnt!", werfe ich ein.

"Dann gehe ich eben!", murrt Tim und verschwindet.

"Sarah, spielst du jetzt was mit mir?" Amrei betrachtet ihre kleine Schwester, die gerade mit Hingabe meinen Rettungsdienstleitfaden auseinanderbaut.

"Sarah, was zum Teufel machst du denn da?! Nimm sofort die Pfoten von meinen Sachen!"

"Mann, ja!" Nur widerwillig gibt Sarah meinen Ordner frei.

Säuerlich sortiere ich die Blätter wieder ein, die Sarah gerade aus dem Ordner gefischt hatte und lasse ihn im oberen Regalfach verschwinden.

Die Mädchen trollen sich. Ich atme seufzend auf. Hoffentlich habe ich jetzt mal für ein paar Minuten Ruhe. Es sind wirklich nur ein paar Minuten. Gleich darauf spielen die Mädchen vor meiner Tür Fußball. Als der Ball hörbar an die Tür rummst, reißt mein Geduldsfaden endgültig.

"Sarah, gib mir sofort den Ball!" Sarah starrt mich an, als würde ich plötzlich eine fremde Sprache sprechen.

"Was?", fragt sie schließlich.

"Den Ball, aber sofort!"

"Warum?"

"Das weißt du genau, das muss ich nicht erst erklären, oder?"

"Ich höre ja auch auf!"

"Zu spät!" Widerwillig bekomme ich den Ball ausgehändigt und auch dieser landet im obersten Regalfach.

"Da komme ich aber nicht ran!", stellt Sarah ein bisschen knatschig fest.

„Sollst du ja auch nicht."

Wenn ich mir eingebildet habe, jetzt Ruhe zu kriegen, habe ich mich gründlich getäuscht. Zwischen den Mädchen entbrennt nun ein heftiger Streit darüber, wer Schuld daran ist, dass ich den Ball einkassiert habe.

Schließlich artet der Streit in handfeste Argumente aus. Amrei holt aus und verpasst ihrer kleinen Schwester eine Ohrfeige. Nach der ersten Verblüffung holt Sarah aus und tritt Amrei nun wiederum ans Schienbein. Beide brechen in ein mordsmäßiges Gebrüll aus. Ich bin kurz davor zu explodieren.

"Hör sofort auf zu brüllen, Sarah!", kommandiert Amrei.

"Deine Backe tut längst nicht so weh, wie mein Bein."

"Das kannst du gar nicht wissen, du blöde Kuh!", brüllt nun wiederum Sarah ihre Schwester an. Mir reicht es: "Ihr verschwindet jetzt auf der Stelle in eure Zimmer, und zwar jeder in seines. Wenn ihr glaubt, das ihr euch wieder wie zivilisierte Menschen benehmen könnt, dürft ihr gerne wiederkommen."

Damit schiebe ich die beiden Richtung Treppe. Ich bleibe am Fuß der Treppe stehen, bis ich oben zwei Türen zuknallen höre. Genervt gehe ich in die Küche, um mir einen Tee zu machen.

Kaum habe ich meinen Tee fertig und versuche, mich ein bisschen zu entspannen, klingelt es prompt an der Haustür. Also quäle ich mich wieder hoch. Mein Kollege Stefan steht vor mir.

"Hallo, Stefan! Wie geht es dir?"

"Erzähl mir lieber, wie es dir geht. Wann kommst du wieder arbeiten?"

"Wenn es nach mir ginge heute schon, aber leider spielt mein Rücken immer noch nicht mit."

"Meine Güte, dass man sich den Rücken derartig ramponieren kann, finde ich ganz schön erschreckend. Weißt du, immer wenn wir irgendwelche Idioten völlig vermanscht aus dem Straßengraben ziehen, frage ich mich, ob die auch nur einen Gedanken daran verschwenden, was wir uns damit antun, ich meine körperlich und seelisch. Aber letztendlich sind wir ja dafür da. Das ist unser Job und wir haben ja nichts anderes gewollt. Wir sind selbst schuld."

"Kommst du, um mir das zu erzählen?"

"Nein, natürlich nicht. Tina, ich habe ein riesiges Problem."

"Und du glaubst, ich könnte dir dabei helfen, es zu lösen?"

"Na ja, ich weiß nicht. Du bist immer so gelassen, dich kann irgendwie nichts aus der Ruhe bringen, während ich hier den großen Flattermann habe."

Nun muss ich doch ein bisschen über Stefan lachen: "Sag mal, was hast du denn für ein Problem, dass du derart Panik schiebst?"

"Ich habe einen EH-Kurs (Erste Hilfe)."

"Das ist doch nichts Besonderes für dich, schließlich bist du schon seit ein paar Jahren Ausbilder. Wo ist das Problem?"

"Es ist kein normaler EH."

"Wie bitte? Das verstehe ich nicht."

"Ach Tina, ich muss einen EH für gestandene Mediziner abhalten, verstehst du? Alles niedergelassene Ärzte, ich werde mich hoffnungslos blamieren."

Nun kugele ich mich fast vor Lachen.

"Ja, du lachst, aber du musst diesen Kurs ja auch nicht halten. Sag mir lieber, was ich tun soll."

"Stefan, nicht du wirst dich blamieren, sondern die Herren Mediziner."

"Wie kommst du denn darauf?"

"Ärzte haben null Ahnung von Erster Hilfe, glaub es mir. Wirklich, das ist kein Problem. Du könntest dich höchstens blamieren, wenn du dich in Anatomie versuchst. Du hast nun mal keine Laien vor dir. Aber da die ja alle ein Medizinstudium hinter sich haben, kannst du generell die Kenntnisse der Anatomie voraussetzen. Also lass die Anatomie komplett weg, das kürzt auch den Kurs."

"Tina, damit ist es doch nicht getan. Wenn ich anfange, über Kreislaufprobleme oder Frakturen oder über sonst was zu reden, lachen die sich doch über mich kaputt."

"Stefan! Du hältst einen EH-Kurs ab. Ich garantiere dir, dass du dich wundern wirst, wie wenig Ahnung die von Erster Hilfe haben. Die können weder die stabile Seitenlage noch eine Reanimation vernünftig durchführen."

"Ich weiß nicht so recht. Und was ist mit Verbänden?"

"Eigentlich muss man voraussetzen, dass sie einen Druckverband problemlos hinkriegen, aber lass dir zeigen, dass sie ihn beherrschen, da habe ich auch schon die tollsten Sachen erlebt. Und lass dir nichts erzählen, von wegen Stauung mittels Blutdruckmanschette oder so was. Die machen einen EH-Kurs. Denen muss klar sein, dass sie im akuten Notfall nicht auf ihren Arztkoffer zurückgreifen können. Geh davon aus, dass sie, wie jeder andere Ersthelfer auch, bestenfalls einen Verbandskasten zur Verfügung haben, im Maximum eine Hausapotheke. Wenn du Verbände üben willst, lass sie Dreiecktuchverbände machen und sei sicher, die können sie nicht."

Stefan schüttelt ungläubig den Kopf.

"Hast du mal Bernd gefragt?" Lächelnd betrachte ich Stefan, der mit gerunzelter Stirn im Sessel sitzt.

"Ja."

"Und was hat er gesagt?"

"Dass alle Mediziner Fachidioten sind und das ich dich fragen soll, weil du dich damit am besten auskennst."

Lachend schüttle ich den Kopf: "Typisch Bernd."

"Wieso bist du dir so sicher, dass die keine Erste Hilfe können?"

"Erstens habe ich auch mal einen EH-Kurs für Mediziner durchgeführt, zweitens habe ich im Rettungsdienst immer wieder die Hilflosigkeit und das mangelhafte Wissen von niedergelassenen Ärzten erlebt, die meistens nicht wussten, was sie mit ihrem Notfallpatienten anfangen sollten und drittens verlassen sie sich wirklich immer darauf, dass sie ihren Koffer bei sich haben. Mache ihnen also klar, dass sie keinen Koffer haben, nur einen Verbandskasten und spätestens dann kommen sie ins Schwitzen. Ach ja, und fange nicht an, mit ihnen über irgendetwas zu diskutieren. Du bist der Ausbilder, du bildest nach dem neuesten Stand der Wissenschaft aus und somit hast du Recht und sonst niemand. Alles klar?"

"Ja, wenn ich dein Selbstbewusstsein hätte," seufzt Stefan.

"Denk einfach nicht darüber nach, dass du Ärzte vor dir sitzen hast. Das sind Leute, die machen einen EH-Kurs, weil sie von Erster Hilfe nichts verstehen, sonst bräuchten sie ihn ja nicht, oder?"

"So gesehen, hast du vielleicht recht."

"Lass es einfach auf dich zukommen."

"Werde ich wohl müssen."

"Ruf mich an, wenn der Kurs gelaufen ist."

"Damit ich mich bei dir ausheulen kann?"

"Wenn du das dann nötig hast, von mir aus."

Als ich am Abend müde in mein Bett krabble, betrachtet Michael mich nachdenklich.

"Du siehst heute irgendwie völlig geschafft aus, Liebes."

"Die Kinder haben den ganzen Tag genervt, ich habe Rückenschmerzen und dann auch noch Stefan."

"Der schiebt wirklich Panik, was?"

"Ich kann ihn ja irgendwie verstehen. Stefan gehört zu den Leuten, die vor Ehrfurcht in die Knie gehen, wenn ihnen ein Arzt gegenüber steht."

"Was dir natürlich nie passieren könnte."

"Nein, ganz sicher nicht. Dazu habe ich schon zu viele Idioten kennengelernt."

"Tina!"

"Also ich finde es wenig imponierend, wenn so ein Möchtegern-Doktor einem Patienten erst den gesamten Handrücken und anschließend den Unterarm komplett zersticht, um dann festzustellen, dass er die Braunüle doch lieber in die Ellenbeuge legt. Oder dieser Vollidiot, der Trapanal und Pantolax nicht voneinander unterscheiden konnte. Wenn wir den hätten machen lassen, hätte er den Patienten wahrscheinlich ins Jenseits befördert.“

Michael schüttelt lächelnd den Kopf. "Es gibt Dinge, da kannst du dich Jahre später noch drüber aufregen.“

"Ja, ich begreife das nicht. Wir Rettungsassistenten dürfen uns nicht den geringsten Schnitzer leisten. Wenn wir etwas unternehmen, zum Beispiel um einen Patienten zu stabilisieren, dann müssen wir nachweisen, dass wir das auch beherrschen. Diese Mediziner dagegen kommen ohne jede Erfahrung, ohne jedes Fachwissen und bauen einen Mist nach dem anderen. Aber das ist normal. Das Interessante ist nur, dass von uns Assistenten erwartet wird, dass wir die geleisteten Fehler ausmerzen. Das ist das, was mich so wütend macht. Und weißt du, was mich am meisten ärgert? Wenn sie es dann endlich gelernt haben und vernünftig arbeiten könnten, springen die meisten wieder ab und wir können uns wieder mit Anfängern herumärgern."

"Willst du mal wieder die Welt ändern? Auch wenn du recht hast, du kannst es nicht ändern. Es nutzt überhaupt nichts, sich darüber zu ärgern."

"Du hast recht. Und letztendlich haben Mediziner ja doch immer recht, auch wenn sie nicht recht haben."

"Tina, wirklich. Du tust so, als ob du nur mit medizinischen Nieten zusammengearbeitet hättest."

"Manchmal denke ich das wirklich. Kannst du dich noch an Dr. T. erinnern?"

"Na ja, also der war's nun wirklich nicht, aber der war auch Gynäkologe."

"Das ist natürlich ein Grund, das muss ich jetzt aber zugeben."

"Fachidiot und damit wären wir wieder beim Thema!"

Das Telefon unterbricht unsere Diskussion. Michael betrachtet mich ein bisschen genervt.

"Es ist halb elf!"

"Ja, willst du nicht rangehen?"

"Das ist für dich Tina, das höre ich am Klingeln. Mich ruft um diese Zeit niemand an."

Schließlich rollt er sich aber doch aus dem Bett, um eine Minute später mit dem Telefon zurückzukommen.

"Ich sagte doch, es ist für dich."

"Wer?"

"Hsan."

"Der hat mir jetzt auch noch gefehlt."

Ich hole einmal tief Luft und melde mich schließlich. Irgendwie verspüre ich im Moment wenig Lust, mich mit Hsan auseinanderzusetzen. Hsan gibt sich allerdings wieder liebenswürdig und freundlich wie immer und irgendwie tut mir seine ruhige, gelassene Stimme gut. Unwillkürlich entspanne ich mich.

"Wie läuft es mit der Akupunktur?"

"Dr. L. nadelt jetzt die Punkte, die Frau Dr. H. in der Reha-Klinik genadelt hat. Das klappt ganz gut."

"Kannst du mir die Punkte durchgeben?"

"Wenn du einen Moment wartest. Ich muss erst den Zettel holen, ich kann die Punkte nicht auswendig. Moment mal."

Ich drücke meinem erstaunten Gatten den Hörer in die Hand und quäle mich aus meinem Bett. Als ich mit dem Zettel zurückkomme, führt Michael eine angeregte Unterhaltung mit Hsan, die er erst nach zehn Minuten beendet. Mit einer großzügigen Geste reicht er mir den Hörer zurück. Folgsam gebe ich Hsan die Akupunkturpunkte durch. Offenbar notiert er sich die Punkte, denn er hakt einige Male nach.

Schließlich herrscht Schweigen am anderen Ende.

"Was ist, Hsan?", frage ich ein wenig irritiert.

"Ich überlege."

"Und was?"

"Irgendetwas stimmt da nicht, ich weiß nur nicht was, aber ich komme noch drauf. Bist du dir sicher, dass Dickdarm eins und vier gemeinsam genadelt werden?"

"Natürlich."

"Dann gib deinem Arzt weiter, dass das nicht gut ist. Die heben sich gegenseitig in der Wirkung auf. Außerdem gefällt mir nicht, dass Dickdarm eins genadelt wird."

"Warum? Ist das falsch?"

"Nein, das ist nicht generell falsch. Man macht das schon, zum Beispiel bei Atembeklemmungen oder akuten Zahnschmerzen oder als Sofortmaßnahme bei einem Kollaps oder einem epileptischen Anfall, aber in deinem Fall wäre mir eine blutige Nadelung lieber. Also Folgendes: Entweder Dickdarm eins oder Dickdarm vier und wenn Dickdarm eins, dann blutig. Das ist effektiver. Gib das erstmal so an deinen Arzt weiter und ich werde in Ruhe dieses Konzept überdenken. Es gefällt mir nicht so ganz. Hat die Ärztin dort in der Klinik eine chinesische

Diagnose vorgenommen?"

"Ja, hat sie."

"Gut, dann kann ich entsprechend Rückschlüsse ziehen. Ansonsten kommst du mit der Akupunktur klar?"

"Ja sicher, mir geht es gut dabei."

"Schön, ich melde mich in den nächsten Tagen wieder bei dir. Ich werde dir einen Behandlungsplan aufstellen. Meinst du, dein Arzt ist bereit, ihn zu übernehmen?"

"Ja, das wird er tun."

“Na, dann mach es erst mal gut, mein Mädchen. Und du weißt ja, wenn irgendetwas nicht funktioniert, melde dich bei mir. Wenn ich kann, will ich gerne helfen."

"Ich danke dir. Mach's gut."

"Was ist mit der Akupunktur?" Michael betrachtet mich fragend.

"Hsan ist irgendwie nicht zufrieden, weiß aber selbst nicht, was ihn stört. Er will einen Behandlungsplan aufstellen."

"Und du meinst, Dr. L. läßt sich darauf ein?"

"Davon bin ich überzeugt."

"Ja, es gibt eben doch solche und solche Ärzte."

"Die sind mir am liebsten."

"Welche?"

"Solche!"

 

 

 

 

 

Kapitel 60

 

 

 

Wie versprochen gebe ich an Dr. L. weiter, dass Dickdarm eins und vier nicht gemeinsam genadelt werden dürfen.

"Tatsächlich? Warum nicht?"

"Sie heben sich gegenseitig in der Wirkung auf."

"Das habe ich auch nicht gewusst. Ist ihr Freund da wieder am Werk?"

Ich muss lachen: "Ja, allerdings und wo wir gerade dabei sind: Sie sollen Dickdarm eins bitte bluten lassen."

"Sehen Sie! Ich habe es doch gleich gesagt. Schön, dass ich auch mal recht habe. Hat er sonst noch etwas gesagt?"

"Er ist mit dem Behandlungsplan nicht zufrieden, weiß aber selbst nicht, wieso. Na ja, er wird sich schon wieder melden, wenn er darauf gekommen ist."

"Ich bin wirklich gespannt, was ihn stört."

"Ich auch!"

Am Freitag bricht Michael mal wieder zu einem langen Wochenende auf und ist erst am Sonntag wieder zurück. Die Kinder starten ebenfalls am Freitag ins Wochenende. Sarah fährt zu ihrer Patentante, Amrei zu ihrer Freundin Melinda und Tim verbringt das Wochenende bei seinem Freund Mario. Ich habe das Haus also wieder mal für mich alleine. Ein bisschen gelangweilt kuschle ich mich am Abend in mein Bett und schalte den Fernseher ein. Das Programm ist nicht gerade berauschend und so schalte ich von einem Kanal zum nächsten, um schließlich die Tagesschau anzusehen. Danach schalte ich den Kasten aus, das Fernsehprogramm langweilt mich.

Ich greife nach einem Buch, mache es mir richtig gemütlich und prompt klingelt es an der Haustür. Seufzend überlege ich, ob ich aufstehen und aufmachen soll oder ob ich es bleiben lasse. Schließlich lege ich mein Buch doch zur Seite und begebe mich an die Haustür. Christina steht davor.

"Hallo! Das ist ja eine nette Überraschung, komm rein."

"War so ein spontaner Entschluss. Es ist so still im Haus, bist du alleine oder sind die drei etwa schon eingeschlafen?"

"Nein, ich bin wirklich alleine. Die ganze Familie ist unterwegs und ich hatte mich gerade über das blöde Fernsehprogramm geärgert und beschlossen, doch lieber zu lesen. Schön, dass du da bist. Was ist mit René?"

"Der ist dieses Wochenende bei Hans. Wie geht es dir?"

“Gut, so weit das möglich ist. Und wie sieht es bei dir aus?"

"Na ja, es geht so."

Erstaunt sehe ich Christina an.

"Was ist denn? Hast du Probleme? Bist du krank?"

"Ach Tina."

Christina lässt sich im Wohnzimmer auf die Couch plumpsen.

"Ich mache uns einen Tee oder möchtest du lieber Kaffee?"

"Nö, Tee ist in Ordnung, wenn es ein Schwarzer ist."

"Ich mache uns einen Assam."

Christina folgt mir in die Küche und sieht mir zu, wie ich die Kanne anwärme und schließlich den Tee aufgieße. Ich stelle Geschirr auf ein Tablett, angele im Küchenschrank nach Käsegebäck und stelle schließlich die Kanne auf das Tablett. Ohne etwas zu sagen, nimmt Christina das Tablett und trägt es ins Wohnzimmer. Ich lehne am Bücherregal, während sie das Geschirr auseinander stellt und die Kerze im Stövchen anzündet. Schließlich lässt sie sich wieder auf die Couch fallen."

"Erzähl mir, was los ist, deswegen bist du doch hier, oder?"

Christina sieht mich einen Augenblick an: "Ich habe ein Problem, Tina."

"Dachte ich mir. Willst du darüber reden?“

Christina greift nach einem Sofakissen und knautscht es zusammen. Schließlich streicht sie es wieder glatt und legt es an seinen Platz zurück. Während ich uns Tee eingieße, angelt sie nach meinem kleinen Stoffclown, der auf der Sofalehne thront und zupft ihm die dunklen Wollhaare zurecht. Ein bisschen abwesend setzt sie den Clown wieder auf seinen Platz.

Christina steht auf und beginnt, unsere Bilder an den Wänden zurechtzurücken, obgleich die gerade ausgerichtet an ihren Plätzen hängen. Sie streicht mit der Hand über die Kohlezeichnung von Tim, die ich angefertigt habe, als er gerade vier Wochen alt war. Sie betrachtet Tim sein Babygesichtchen und fängt dann plötzlich an, trockene Blätter von meinen Pflanzen zu zupfen.

Ein bisschen irritiert folge ich ihr mit den Augen. Ich lasse ihr Zeit. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie im Moment noch nicht so weit ist, dass sie mit mir über ihr Problem sprechen kann.

Nach einer Weile lässt Christina die trockenen Blätter in den Papierkorb fallen und setzt sich wieder auf die Couch. Sie nimmt ihre Teetasse und nippt ein bisschen daran. Ich stehe auf und lege eine CD in den CD-Player. Als ich mich wieder setze, betrachtet mich Christina nachdenklich. Im Stillen überlege ich, was für ein riesiges Problem sie wohl wälzen mag, wenn sie nicht darüber reden kann oder den Anfang nicht findet.

"Ich habe heute Fenster geputzt,“ sagt sie schließlich.

"Aha," murmele ich.

"Und dann habe ich Wäsche gebügelt, es hatte sich soviel angesammelt. Ich habe die Knitter aus meiner Seidenbluse nicht rausgekriegt."

Ich halte es nicht mehr aus:    "Christina? Die Knitterfalten in deiner Seidenbluse sind doch nicht dein Problem, oder?"

"Nein, natürlich nicht."

"Willst du darüber reden? Ich meine, deswegen bist du doch hergekommen, oder sehe ich das falsch?"

"Ich bin schwanger," flüstert Christina leise. Jede andere Freundin hätte ich bei einer solchen Nachricht wahrscheinlich begeistert umarmt, Christina betrachte ich besorgt. Irgendwie sieht sie mitgenommen und keineswegs glücklich aus.

"Darf ich ... - Ich meine, magst du mir sagen, wer ...?"

"Wer der Vater ist?"

Ich nicke.

"Hans, wer denn sonst?".

"Na ja, entschuldige. Ich meine ihr lebt getrennt, da ... Ist ja auch egal."

"Ja, wir leben getrennt. Genau das ist das Problem."

"Verstehe ich nicht. Du kannst ihm doch sagen, dass du schwanger bist."

"Hans hat eine Freundin und wenn ich ihm jetzt sage, dass ich von ihm schwanger bin, was meinst du wohl, wie wird er darauf reagieren?"

"Er hat eine Freundin? Wieso schläft er dann mit dir?"

"Eine berechtigte Frage. Das war wohl mehr ein Ausrutscher. Ich kann ihm nicht sagen, dass ich schwanger bin. Er würde denken, ich will ihn unter Druck setzen, oder was weiß ich, was Männer in einem solchen Fall denken."

"Aber du musst es ihm sagen. Er wird ohnehin früher oder später merken, dass du schwanger bist. Irgendwann kannst du das Baby nicht mehr verstecken."

"Ich werde es nicht bekommen."

Vor Entsetzen und Empörung stelle ich meine Tasse so heftig ab, dass sie laut klirrend auf der Untertasse aufkommt. Irritiert hebt Christina den Kopf und sieht mich an.

"Christina, das war jetzt nicht dein Ernst, oder?"

"Doch," sagt sie leise.

"Das kannst du nicht tun!"

"Warum denn nicht? Viele Frauen tun das."

"Das ist Mord!" Ich bin zutiefst empört.

"Tina!" Christina starrt mich entsetzt an.

"Als was würdest du das denn bezeichnen? Da wächst ein Kind in deinem Bauch und du willst es töten!"

"Ich bin erst in der achten Woche!"

"Ach so? Dann warte mal einen Moment!"

Ich greife ins Bücherregal und ziehe nach einigem Suchen zwei Bücher heraus, die ich schließlich aufgeschlagen vor Christina hinlege.

"So sieht ein Baby in der achten Schwangerschaftswoche aus, nur für den Fall, dass du es nicht weißt. Es hat bereits Arme und Beine und ein kleines Herz das schlägt und das hier," ich lege das zweite Buch vor Christina, "ist ein Abbruch in der zehnten Schwangerschaftswoche gewesen, mittels Kürettage. Wie du siehst, sind von dem Baby nur noch einzelne Körperteile übrig. Hier ein Bein und da ein Händchen. Anschließend muss jemand dabei gehen und dieses kleine tote Menschlein wieder zusammensetzen, um herauszufinden, ob es komplett ist. Also, wie nennst du

das jetzt?"

Christina starrt mich entsetzt und entgeistert an. Schließlich schlägt sie die beiden Bücher zu und steht auf.

"Ich finde nicht, dass man eine Abtreibung mit Mord gleichsetzen kann."

"Ach, findest du nicht?! Wenn Mütter ihre neugeborenen Babys, aus welchen Gründen auch immer, umbringen, dann regen sich alle auf und sprechen von kaltblütigem Mord! Wenn diese Babys noch im Mutterleib sind, dürfen sie getötet werden, sogar auf Kosten der Krankenkasse und dann ist es plötzlich kein Mord mehr, dann ist es nur ein medizinischer Eingriff und alle tun so, als hätte man nur einen entzündeten Wurmfortsatz entfernt! Tut mir leid, Christina, aber dafür bringe ich kein Verständnis auf!"

"Das war jetzt nicht sehr taktvoll und auch keineswegs angebracht. Ich dachte, du bist meine Freundin und ich kann auf deine Hilfe hoffen. Ich sollte jetzt besser gehen."

Langsam komme ich wieder zu mir.

"Christina, bitte. Es tut mir leid, ich bin zu weit gegangen."

Langsam dreht sich Christina zu mir um: "Wieso spielst du Moralapostel? Mit welchem Recht?"

"Es gibt meiner Meinung nach kaum einen vertretbaren Grund, so ein kleines Wesen zu töten. Es hat niemanden, der es beschützt und den Frauen begreiflich macht, dass sie Mütter sind. Du hast ganz einfach eine Verpflichtung diesem Kind gegenüber. Es ist absolut wehrlos und verletzlich. Wenn die eigene Mutter es nicht beschützt, wer dann, Christina?"

"Wenn ich es aber nicht lieben kann, was dann?"

"Das glaubst du nur, aber das ist nicht so. Tief drinnen in deinem Herzen liebst du es jetzt schon, du musst es dir nur eingestehen."

"Woher willst du das denn wissen?"

"Ich weiß es, weil ich vorhin gesehen habe, wie du das Bild von Tim betrachtet hast."

Unserer beider Blicke wandern zu der Kohlezeichnung und dem zarten Babygesicht darauf.

"Ich habe vorhin, als ich mir dieses Bild angesehen habe, gedacht, dass man ein Kind schon sehr lieben muss, um es so einzufangen. Ich liebe René, aber dieses Baby."

"Christina, bitte. Setz dich wieder hin, lass uns darüber reden. Du bist meine Freundin, ich kann einfach nicht zulassen, dass du dir und deinem Kind so etwas Entsetzliches antust. Ich hätte nicht so heftig werden dürfen, ich weiß nicht, was ... Ich war einfach entsetzt, dass du überhaupt mit diesem Gedanken ..."

Christina betrachtet mich einen Moment und setzt sich schließlich wieder. Stillschweigend will ich die beiden Bücher wieder ins Regal stellen, aber Christina hält meine Hand fest.

"Nein Tina, gib sie mir bitte."

Ich nicke und reiche Christina die beiden Bücher. Sie blättert in dem gynäkologischen Fachbuch und studiert schließlich das Kapitel Schwangerschaftsabbruch und die dazugehörigen Fotos von gequälten und getöteten Babys. Gelegentlich tropft eine Träne aufs Papier, wenn Christina es nicht schafft, sie schnell genug mit der Hand wegzuwischen.

Irgendwann greift sie nach dem anderen Buch. Es ist ein amerikanisches Buch, dass mir Ralf schickte, als ich mit Tim schwanger war. Es trägt den Titel 'Wonderful Life'. Auf zahlreichen Hochglanzfotos ist die Entwicklung eines Babys im Mutterleib dargestellt. Es gibt keinerlei Text, nur diese wunderschönen Fotos. Lediglich das Alter des Babys steht neben den Fotos.

Christina schlägt die Seite mit dem acht Wochen alten Embryo auf und betrachtet es.

"Hast du eine Ahnung, wie groß es ist? Hier steht ja nichts."

Ich nicke: "Etwa vier Zentimeter."

“Hast du ein Lineal?”

“Na klar."

Ich stehe auf und hole vom Schreibtisch meines Arbeitszimmers ein Lineal. Ich bringe einen Bogen weißes Papier und einen schwarzen Filzstift mit. Zurück im Wohnzimmer setze ich mich neben Christina und zeichne mit dem Filzstift einen exakt vier Zentimeter langen Strich auf den Bogen Papier und schiebe ihr das Blatt rüber.

"Was für ein Winzling. Ich bin so ein Idiot, Tina. Du hast recht, man muss es beschützen und wenn nicht ich, wer sollte es dann tun? Ich habe gar nicht gewusst, dass du so eine militante Gegnerin der Abtreibung bist."

“Ich auch nicht."

"Was?"

"Der Gedanke, dass meine beste Freundin ihr Kind töten könnte, nur weil sie im Moment mit sich selbst und ihrem Leben nicht klar kommt, hat mich zutiefst entsetzt. Ich hätte nicht so rabiat vorgehen dürfen."

”Tina, wenn du das nicht getan hättest, dann wäre ich ... Ich glaube, ich habe nicht darüber nachgedacht, was mit meinem Baby geschieht. Ohne dieses Bild ... Wissen die Frauen eigentlich, was da passiert?”

"Ich weiß es nicht. Aber so oder so finde ich, dass es Mord ist. Wir haben einfach nicht das Recht zu töten. Und schon gar nicht so wehrlose Geschöpfe."

"Weißt du, dass du recht hast? Ich bin auch immer entsetzt, wenn ich in der Zeitung lese, dass wieder mal eine Frau ihr Neugeborenes getötet hat? Da sind wir doch alle entsetzt, oder nicht? Wenn sie noch nicht geboren sind, darf man sie ganz legal töten und du hast recht, dann bezahlt es sogar die Krankenkasse. Ich weiß nicht, wie ich überhaupt darüber nachdenken konnte."

"Ach Christina, wir Menschen tun so viel unsinnige Dinge, wenn wir Probleme und Kummer haben."

"Ich liebe Hans. Ich habe das nicht gewollt, Tina. Ich habe einfach Angst, dass er zu mir zurückkommt, nur wegen des Kindes und dass wir dann irgendwann wieder da stehen, wo wir jetzt sind."

Unaufhörlich rollen jetzt die Tränen. Vorsichtig schließe ich Christina in meine Arme, so, als wäre sie das Zerbrechlichste, was ich je besessen habe. Hilflos schluchzt sie und klammert sich an mir fest. Wir sitzen lange so, mein Rücken schmerzt furchtbar, aber ich will Christina auf keinen Fall loslassen. Nach langer Zeit beruhigt sie sich etwas.

"Schlaf heute Nacht hier, Christina," sage ich leise. Sie sieht mich an und nickt leicht.

Ich koche Christina einen Johanniskraut Tee und verfrachte sie in Michaels Bett. Eine Weile sitze ich bei ihr und halte ihre Hand, bis ihre Atemzüge gleichmäßig werden und sie einschläft.

Leise schließe ich die Tür unseres Schlafzimmers und gehe ins Wohnzimmer. Genauso wie Christina zuvor, studiere ich die Bilder in den beiden Büchern, die immer noch geöffnet auf dem Wohnzimmertisch liegen. Ich denke an Werner und seinen kleinen Sohn Timo, der so früh sterben musste, und im Geiste sehe ich meine drei Kinder herumtoben, fröhlich und unkompliziert.

Schließlich greife ich zum Telefon und wähle Bernds Nummer. Ein bisschen verschlafen meldet er sich, nachdem das Telefon eine ganze Weile geklingelt hat.

"Ich bin es, Tina. Hast du schon geschlafen?"

"Tina, wie schön dich zu hören. Ich habe schon geschlafen, aber das macht nichts. Ist alles in Ordnung?"

"Ich weiß es nicht genau."

"Ist etwas passiert?"

"Christina war heute Abend hier. Sie hat Probleme, Bernd und das nicht zu knapp."

"Was für Probleme? Ist sie krank?"

"Nein, krank ist sie nicht, aber wenn nicht bald etwas geschieht, dann könnte sie es werden."

"Also ein seelisches Problem?"

"Christina ist schwanger."

"Will sie das Kind nicht?"

"Nein, aber ich hoffe, dass sie es sich anders überlegt hat.“

"Du hast also mit ihr darüber gesprochen?"

"Ich war, glaube ich, wie ein Elefant im Porzellanladen."

"Was meinst du damit?"

"Ich war so schockiert und da habe ich ihr ein Buch vor die Nase gelegt, in dem Fotos von abgetriebenen Embryos abgebildet sind. Genauer gesagt, habe ich ihr ein Foto nach einer vollzogenen Kürettage gezeigt."

Bernd seufzt tief.

"Da sind jawohl sämtliche Pferde mit dir durchgegangen, was?"

"Ich war so empört, Bernd."

"Ja, das kann ich mir bei dir sehr gut vorstellen. Wie hat sie reagiert?"

"Sie war zuerst ziemlich verletzt, denke ich. Aber dann hat sie sich in Ruhe die Bilder angesehen ..."

"Die Bilder von den Abtreibungen?"

"Ja, sie hat geweint. Und dann hat sie sich die Bilder in dem Buch 'Wonderful Life' angesehen und gesagt, sie könne nicht verstehen, warum sie überhaupt darüber nachgedacht hätte, ihr Baby töten zu wollen."

"Weißt du, wie weit sie ist?"

"In der achten Woche."

"Wo ist sie denn jetzt?"

"Sie schläft in Michaels Bett. Ich wollte sie weder nach Hause lassen noch sie im Gästezimmer unterbringen, weil ich dachte, wenn sie vielleicht nicht schlafen kann, dann wäre es gut, wenn jemand bei ihr ist."

"Ja, das ist wieder die Tina, die ich kenne. Hat sie denn einen Freund?"

"Nein, das Kind ist von ihrem Mann, aber wie du weißt, leben die beiden getrennt und sie sagt, Hans hat eine Freundin."

"Warum schläft er dann mit seiner Frau?"

"Christina nannte es einen Ausrutscher."

"Ganz schön verzwickt. Kann ich dir irgendwie helfen?"

"Nein, ich wollte nur mit jemandem reden und Michael ist mal wieder übers Wochenende auf Tour."

"Hast du jetzt ein schlechtes Gewissen Christina gegenüber?"

"Nein, das kann man eigentlich so nicht sagen. Ich bin vielleicht ein bisschen sehr heftig    vorgegangen, aber ich habe nun mal meine Meinung zu dem Thema Abtreibung und die werde ich auch wegen Christina nicht ändern, auch wenn sie vielleicht jetzt sauer auf mich ist."

"Weißt du, ich denke, wenn ihr beiden darüber reden könnt, du und Christina, dann musst du dir keine Gedanken machen. Wenn es sie so geschockt hat, dass sie jetzt von einem Abbruch wieder Abstand nimmt, dann hat sie nie ernsthaft einen gewollt, davon bin ich überzeugt. Ich habe übrigens einen Studienfreund. der Gynäkologe ist, der geht bei Frauen, die einen Abbruch wünschen, ganz ähnlich vor. Er versucht ihnen auch ziemlich drastisch klarzumachen, was ein Schwangerschaftsabbruch tatsächlich bedeutet - für die Frau und für das Baby. Und wenn ich darüber nachdenke, wie viele Frauen hinterher mit ihrem Leben nicht mehr klar kommen, weil sie sich nicht verzeihen können, ihr Kind getötet zu haben, dann denke ich, du hast nicht den schlechtesten Weg gewählt."

"Glaubst du wirklich?"

"Kannst du dich noch an die Frau in der Nordstadt erinnern, die vom Hochhaus gesprungen ist, weil ihr Mann oder ihr Freund, das weiß ich nicht mehr so genau, sie zur Abtreibung gezwungen hatte?"

"Du meinst Vicky?"

"Hieß sie Vicky?"

"Ja, wir sind zu spät gekommen."

"Ja, die meine ich. Ich wusste ihren Namen gar nicht mehr. Tina, rede mit Christina morgen früh noch einmal ganz in Ruhe, wenn der erste Schock abgeklungen ist. Dann kannst du wirklich abschätzen, zu welchem Entschluss sie gekommen ist. Aber wenn sie es tun will, kannst du sie nicht davon abhalten. Das ist ihre eigene Entscheidung."

"Aber sie bringt ein wehrloses Kind um, wenn sie es tut."

"Das sehe ich auch so und ich gehöre ganz sicher zu den Medizinern, die niemals eine Abtreibung durchführen würden, aber trotz allem ist es ihre eigene Entscheidung. Du kannst ihr ganz sicher sagen, wie du darüber denkst, aber ... Warte doch ab, was sie morgen früh dazu sagt, Tina. Wenn du magst, kannst du mich morgen wieder anrufen, ich habe dienstfrei."

"Du hast recht, Bernd. Ich sollte trotzdem nicht immer so impulsiv sein. Na schön, warte ich also ab, was morgen früh ist. Entschuldige bitte, dass ich dich geweckt habe."

"Das macht nichts, du weißt doch, dass du mich immer anrufen kannst. Geh schlafen, Tina und grübel nicht so viel. Du kannst Christina diese Entscheidung nicht abnehmen, du kannst höchstens darüber nachdenken, wie du damit umgehst, wenn sie sich doch für einen Abbruch entscheidet. Wäre das das Ende eurer Freundschaft?"

"Ich denke ja, Bernd„ Ich kann nun mal nicht über meinen Schatten springen. Vielleicht habe ich eine zu festgefahrene Meinung dazu, aber ich ... Ich finde nun mal, dass es Mord ist."

”Ja, ich verstehe dich ja.

Es gibt nichts Wertvolleres als ein menschliches Leben und da darf das Alter keine Rolle spielen. Wer sollte das besser wissen als wir, wo wir tagtäglich mit dem Tod Ringkämpfe führen. Aber ich gehe davon aus, dass Christina das auch weiß. Geh jetzt bitte schlafen, sonst geht es dir morgen nicht gut. Weißt du was? Ich rufe dich morgen Nachmittag an, du bist doch zuhause?"

"Ja, bin ich. Danke Bernd. Schlaf gut."

 

Die halbe Nacht sehe ich Christina beim Schlafen zu. Sie schläft sehr unruhig und wälzt sich hin und her. Irgendwann übermannt auch mich der Schlaf. Als ich wach werde, ist Michaels Bett leer. Erschrocken setze ich mich auf. Mühsam quäle ich mich aus meinem Bett, morgens brauche ich eine Weile, bis ich hoch komme. Als ich die Schlafzimmertür öffne, höre ich Geschirrgeklapper aus der Küche. Erleichtert lehne ich mich einen Augenblick an die Wand.

Als ich die Küche betrete, ist Christina dabei, den Tisch fürs Frühstück zu decken.

"Guten Morgen, Tina. Hast du gut geschlafen?"

Ob ich gut geschlafen habe?

"Was ist mit dir? Du hast sehr unruhig geschlafen."

Ich setze mich auf den nächsten Küchenstuhl.

"Tatsächlich?"

"War der gestrige Abend Wirklichkeit oder habe ich das alles nur geträumt?"

"Tina, ich habe einen Entschluss gefasst."

Ein bisschen angstvoll sehe ich Christina an. Wie mag sie sich entschieden haben?

"Und das wäre?"

"Ich möchte, dass du Patentante wirst. Mein Baby könnte niemals eine bessere bekommen."

Ich sitze einen Moment da, als hätte Christina chinesisch mit mir gesprochen. Ich habe ein bisschen Mühe, das Gesagte umzusetzen, für mich eine Bedeutung herauszufiltern.

"Christina, du wirst ..."

"Ja, ich werde dieses Baby bekommen und wahrscheinlich habe ich nie etwas anderes gewollt. Ob mit oder ohne Hans wird sich zeigen, aber ich werde es austragen. Ich weiß nicht, was in mich gefahren war. Ich weiß es wirklich nicht."

"Ich bin so froh, Christina."

"Wieso besitzt du eigentlich ein solches Buch? Diese Bilder sind einfach entsetzlich."

"Es liegt wohl daran, dass ich immer alles genau wissen will."

"Du bist ein merkwürdiger Mensch, Tina. Ich habe dich irgendwie gern. Ich danke dir für deine Freundschaft!"

Christina umarmt mich liebevoll und ich fühle mich wieder wohl.

Am Nachmittag steht Bernd vor der Haustür.

"Wolltest du nicht anrufen?"

"Wollte ich und dann dachte ich, vielleicht gehst du mit mir essen?"

"Ja, das tue ich."

"Was ist mit Christina?"

"Ich soll Patentante werden."

"Dann habt ihr also noch mal über alles gesprochen?", schmunzelt Bernd und legt zärtlich einen Arm um mich.

"Geht es dir jetzt besser?"

"Ja, natürlich geht es mir besser, allerdings habe ich auch so meine Bedenken, ob ich Christina nicht zu etwas dränge, was sie nicht wirklich will."

"Wenn sie sich jetzt von dir umstimmen lässt, Tina, dann hat sie einen Abbruch nie wirklich gewollt und spätestens wenn sie das Baby in den Armen hält, wird sie wissen, dass du die beste Freundin bist, die sie jemals hatte. Wenn sie es nicht längst weiß, was meinst du? Immerhin möchte sie dich als Patin für ihr Baby. In einer ruhigen Minute kannst du ja nochmal mit ihr reden."

"Du hast recht. Gibt es was Neues auf der Wache? Ich entferne mich irgendwie immer mehr von allem und allen."

 

"Markus geht in die Staaten."

"Was?!"

"Er hat irgendwo in Mississippi einen Vertrag bei den Paramedics abschließen können und will sich auf die Art noch ein bisschen bilden. Wer weiß, ob er je wiederkommt."

"Schade, ich habe Markus immer besonders gern gemocht. Weißt du, dass er der einzige Kollege war, der mich bei meinem Start in unserer Wache sozusagen unter seine Fittiche genommen hat? Ohne ihn wäre es ziemlich hart geworden.“

"Na, jetzt hör aber auf! Ich kenne wirklich niemanden mit mehr Durchsetzungsvermögen und gesunder Arroganz, wie dich."

"Arroganz?!"

"Gesunde Arroganz! Wie war das noch gleich?: Wenn Sie dem Patienten jetzt Isoptin geben, sind Sie ihn natürlich schneller los. Ich an Ihrer Stelle würde es allerdings lieber mal mit Alupent probieren, Herr Dr. W.! nur für den Fall, das Ihnen Ihre Approbation wichtig ist!"

"Das war unser erster gemeinsamer Einsatz!", lache ich.

"Ganz genau und ich dachte, du lieber Himmel, wer hat mir bloß diese Zicke an die Seite gegeben. Du hast dich aber von dem Alupent nicht abbringen lassen, darüber bin ich heute noch froh und dankbar. Wäre ich bei dem Isoptin geblieben, wäre der Patient heute tot und ich wäre meine Approbation los. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das Kommentarlos hingenommen hättest."

"Nein, das hätte ich gewiss nicht."

Der Vorfall, an den Bernd mich gerade erinnert, war tatsächlich unser erster gemeinsamer Einsatz. Bernd hatte, im Rettungsdienst noch neu und unerfahren, einem Patienten mit einer ausgeprägten Bradykardie Isoptin geben wollen, ein Medikament, dass man bei Tachykardien einsetzt. Die Folge wäre ein provozierter Herzstillstand gewesen. Es kostete mich enormes Durchsetzungsvermögen, ihn davon zu überzeugen, dass er nicht das richtige Medikament gewählt hatte. Als wir wieder in der Wache waren, habe ich ihm eine 'Rote Liste' vor die Nase gelegt, um meine, Gottlob erfolgreiche, Widerrede zu untermauern. Nach diesem Vorfall hatte Bernd den nötigen Respekt vor mir und nachdem wir einige Einsätze mehr hinter uns hatten, hat er nie mehr gezweifelt, wenn ich widersprach. Vielleicht sind wir gerade durch diesen Vorfall so enge Freunde geworden ...

"Hat sich eigentlich Stefan bei dir gemeldet?", unterbricht Bernd meine Gedanken.

"Du meinst wegen dieses EH-Kurses? Ja, das hat er. Wieso hast du ihm eigentlich gesagt, ich wäre der richtige Ansprechpartner, von wegen dem Umgang mit Medizinern?"

"Konntest du ihm einen Rat geben?"

"Ja, ich hoffe. Ich habe ihm gesagt, er soll einfach ignorieren, dass er Ärzte vor sich sitzen hat."

"Das beantwortet doch die Frage von selbst!"

"Altes Ekel!"

Nach gut zwei Stunden gemütlicher Plauderei und zwei Litern Tee machen wir uns auf den Weg in ein kleines gemütliches französisches Restaurant, das Bernd durch einen Zufall entdeckt hatte.

Während ich die Speisekarte rauf und runter lese, weil ich mich mal wieder nicht entscheiden kann, betrachtet Bernd mich mit einem leichten Lächeln.

"Was siehst du mich so an?", frage ich ihn, als der Ober unsere Bestellung aufgenommen hat.

"Du hast dich verändert."

"Ich habe mich verändert? Wieso? Was ist anders an mir?"

"Du bist nicht mehr die quirlige, temperamentvolle Tina, die ich mal kennengelernt habe. Du bist nachdenklicher und ruhiger geworden, irgendwie anders eben. Als diese leidige Geschichte mit deinem Rücken anfing, da habe ich gedacht, das steckt Tina so weg. Die ist so stark und selbstbewusst, das macht die mit links. Ich habe mich geirrt. So einfach war das Jahr für dich nicht, wie ich immer dachte. Es hat dich irgendwie nachdenklich gestimmt. Du bist anders geworden, aber ich kann es nicht in Worte fassen, ich weiß einfach nicht, wie ich es beschreiben soll."

"Versuch es!"

"Du bist nie ein oberflächlicher Mensch gewesen, aber jetzt bist du irgendwie noch tiefgründiger. Ich habe das Gefühl, dass du nichts mehr, also wirklich nichts mehr, als normal und selbstverständlich ansiehst. Es ist so: Wenn ich morgens wach werde und die Sonne scheint und ich habe gute Laune, dann empfinde ich das als selbstverständlich.

Wenn ich den ganzen Tag meine Arbeit getan habe und mich gut fühle, weil ich meine Arbeit sinnvoll finde, dann empfinde ich das als selbstverständlich und ich empfinde es als selbstverständlich, dass ich so liebe und wichtige Freunde habe, wie du einer bist. Das war früher bei dir auch so, aber wenn ich dich in der letzten Zeit beobachte, dann habe ich das Gefühl, dass das alles für dich nicht mehr selbstverständlich ist.

Manchmal habe ich das Gefühl, es gibt Dinge, die möchtest du festhalten, um sie nie zu verlieren und dann wieder gibt es Sachen, die du loswerden möchtest, aber es geht nicht. Das sind Dinge, die kleben an dir und lassen einfach nicht los und du machst dir die Mühe, diese Sachen aufzuarbeiten und für dich das Wichtige herauszufiltern, egal ob es am Ende positiv oder negativ ist.

Wenn du von den Dingen sprichst, die du erlebt hast oder die dich bewegen, dann habe ich den Eindruck, du hast sie mit anderen Augen gesehen als früher.

Du hörst intensiver zu, noch intensiver als vorher, du betrachtest Menschen, mit denen du zu tun hast, kritischer, aber du bist auch großzügiger geworden, vor allem mit deinen eigenen Emotionen. Ich kann es irgendwie nicht ausdrücken. Was ist passiert?"

"Ich habe bisher nicht großartig darüber nachgedacht, aber ich denke, du hast recht. Es gibt eine Menge Dinge, die ich als selbstverständlich hingenommen habe. Nichts ist selbstverständlich, alles müssen wir uns erarbeiten und erkämpfen und verdienen und dann ist es immer noch nicht selbstverständlich. Als die Probleme mit meinem Rücken anfingen, bin ich ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Sache nach ein paar Tagen, spätestens nach ein paar Wochen erledigt ist. Tatsächlich aber hat diese Krankheit mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt.

Nichts ist mehr so wie vorher. Ich kann nicht mehr arbeiten gehen und ich habe immer noch nicht den Mut mir einzugestehen, dass ich möglicherweise nie mehr in meinem  Lieblingsberuf arbeiten werde, weil ich für meinen Job einen gesunden Rücken brauche. Ich habe Hobbys, die ich gar nicht mehr oder nur stark eingeschränkt ausüben kann, weil ich für das Reiten, das Malen und das Singen einen gesunden Rücken brauche. Ich kann meine Hausarbeit nur noch stark eingeschränkt ausüben, weil ich dafür einen gesunden Rücken brauche. Meine Kinder kommen oft zu kurz, weil ich einen gesunden Rücken bräuchte.

Sieh mich nicht so entsetzt an, das ist kein Grund den Kopf hängen zu lassen, ich muss nur sehen, dass ich das Beste aus der Situation mache. Ich arbeite daran! Ich sehe meine Umwelt jetzt aus einer ganz anderen Perspektive, keine uninteressante Perspektive übrigens. Aber bei alldem bin ich auch empfindlich geworden: Ich werde wütend, wenn mich jemand mit meinen Sorgen nicht ernst nimmt, ich bin frustriert, wenn ich mir gegenüber zugeben muss, dass ich etwas nicht mehr kann, was früher eine Leichtigkeit war. Ich bin deprimiert, wenn ich mir eingestehen muss, dass ich mein Leben vollständig ändern muss - ich bin nur leider noch nicht so weit.

Andersherum bin ich stolz, wenn ich gerade im Rahmen dieser Erkenntnis wieder ein Stück weiter bin. Ich bin glücklich, wenn meine Familie für mich da ist, obwohl sie es nicht gerade leicht mit mir haben und es baut mich ungemein auf, wenn mir jemand Mut macht und ich spüre, dass die betreffende Person es ernst meint.

Ist es also nicht völlig klar, dass ich mich verändert habe? Kann das wirklich ausbleiben? Mein Leben hat sich schließlich auch ganz und gar geändert. Und außerdem bin ich der Ansicht, dass auch zu diesem Prozess Stärke und Humor gehört und ich habe von beidem reichlich. Es gibt ohne Frage Dinge, an denen ich noch sehr arbeiten muss, aber ich bin auch bereit dazu. Nur - ich brauche Zeit dazu und die nehme ich mir. Das Recht gestehe ich mir einfach zu."

"Kannst du denn ohne deinen 'Lieblingsberuf' leben?"

"Das werde ich müssen. Es würde mir schwerfallen, aber dann muss ich mir eben neue Perspektiven schaffen. Nur wie gesagt, dafür brauche ich noch Zeit."

"Und wie empfindet deine Familie das? Ich meine, wenn du so im luftleeren Raum schwebst und nicht weißt, wohin du dich nun wenden sollst?"

"Ich setze voraus, dass sie, ebenso wie ich, die notwendige Geduld dafür aufbringen. Das ist nicht einfach, das weiß ich wohl und dass sie sich auch mal genervt fühlen, ist mir durchaus bewusst. Aber wenn wir es nicht schaffen, das gemeinsam durch zu stehen, dann läuft irgendetwas falsch. Irgendwie reichen die Liebe, der Respekt und das Vertrauen dann nicht. Wenn dem so wäre, müssten wir alle unsere Position überdenken, allerdings glaube ich, dass meine Familie das nicht nötig hat. Das hoffe ich zumindest."

"Hast du denn noch nie an deiner Familie gezweifelt? Oder wenigstens an deinem Mann?"

"Nein!"

"Wirklich nicht?"

"Nein, weil wir uns mit Respekt und Vertrauen begegnen, das wichtigste in einer Partnerschaft."

"Und dein Mann? Hat er jemals an dir gezweifelt?"

"Das weiß ich nicht, aber ich hoffe, dass, wenn es so wäre, er mit mir darüber reden würde. Einen Grund hatte er von meiner Seite her jedenfalls nie."

"Ich finde deine Familie ohnehin bemerkenswert. Du hast Brüder, die wohnen ganze Welten von dir entfernt, aber wenn du sie bräuchtest, dann wären sie sicherlich postwendend da."

"Darauf kannst du dich verlassen. Und wie ist das mit deiner Familie?"

Bernd stochert ein bisschen hilflos in seinem Essen herum, das uns der Ober längst vor die Nasen gestellt hatte.

"Zu meinen Eltern habe ich kein besonders gutes Verhältnis. Schon lange nicht mehr. Ach, was rede ich da. Seit Jahren haben wir kein Wort mehr miteinander gewechselt. Wir haben nicht mal mehr ein kaputtes Verhältnis, wir haben überhaupt keines mehr. Es ist so schlimm, dass ich aus der Zeitung erfuhr, dass mein Bruder gestorben war. Ich schlug morgens die Zeitung auf, ich habe eine Zeitung immer von hinten zu lesen angefangen, und stolperte über die Todesanzeige. Ich habe nicht geglaubt, was ich da las, aber es stimmte. Seitdem lese ich Zeitungen von vorne nach hinten und die Todesanzeigen lasse ich aus."

"Deine Eltern haben dich nicht informiert?"

Bernd schüttelt leicht den Kopf und rührt wieder in seinem Essen herum.

"Ich habe es nie irgend jemandem erzählt, weil ich mich immer in Grund und Boden geschämt habe. Es war mir peinlich. Es ist tieftraurig und beschämend."

"Aber warum ...?"

"Warum wir keinen Kontakt mehr haben? Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Wir sind noch nie sonderlich gut ausgekommen. Ich denke einfach, meine Eltern hätten niemals Kinder haben dürfen. Eine Kindheit im Hause W. war ein Albtraum. Deswegen kann ich es einfach nicht fassen, was du für ein ausgeprägter Familienmensch bist. Du stellst deine Kinder über alles andere. Sie sind dir wichtig, wahrscheinlich wichtiger als dein eigenes Leben. Ich frage mich immer wieder, ob es wirklich nur daran liegt, dass du so ein schönes Elternhaus gehabt hast. Ich meine, ich habe deine Brüder kennengelernt, die beten dich förmlich an. Die tragen dich auf Händen und ich habe gemerkt, dass du das sehr genießt. Ist doch so, oder?"

"Ja, das ist so. Aber ich liebe die Fünf auch sehr. Ich bin eigentlich nicht mit ihnen groß geworden, aber ich habe keinen Zweifel an ihrer Liebe zu mir und umgekehrt. Ich habe großen Respekt vor ihnen, ich würde ihnen jederzeit blind vertrauen. Und ich arbeite daran, dass auch meine Kinder so mit sich umgehen. Es gibt nichts Schöneres als eine intakte Familie, leider gibt es intakte Familien nur selten. Wenn ich überlege, was wir so alles im Rettungsdienst zu sehen kriegen, da kann man nicht mehr von intakten Familien reden, ohne dass sich einem der Magen umdreht.“

"Ich weiß! Wenn wir in solche Familien kamen, habe ich oft gedacht: Sieh an, wie bei dir zu Hause. Traurig, oder?"

"Ja!"

"Hat es denn in deinem Leben nie Momente gegeben, wo du gedacht hast, jetzt geht wirklich gar nichts mehr? Wo dich die pure Verzweiflung getroffen hat und du wirklich keinen Ausweg mehr wusstest?"

"Nein."

"Wirklich nie?"

"Nein. Ich bin ein Mensch, der ziemlich genau weiß, was er will und was er nicht will. Wenn ich wirklich mal in einer Sackgasse steckte, so wie im Moment, dann habe ich mir die Zeit genommen, darüber nachzudenken. Und wenn ich alleine nicht klar kam, dann habe ich meine Eltern oder meine Brüder um Rat gefragt. Nur meine Entscheidungen letztendlich, die habe ich immer alleine getroffen. Ich habe mir nie reinreden lassen, aber das hat auch nie jemand gewollt. Ich war immer ein schrecklicher Sturkopf ... Nein, ich bin einer, das werde ich wohl nie ablegen."

 

"Irgendwie bewundere ich dich für dieses wahnsinnige Selbstbewusstsein, das du an den Tag legst. Irgendwie schaffst du es, deine Kinder zu dem gleichen Selbstbewusstsein zu erziehen. Wenn ich mir Sarah so ansehe, die weiß doch ganz genau, was sie will oder eben auch nicht."

"Ob das immer so gut ist? Sarah hat meinen Sturkopf geerbt. Aber ich denke schon, dass es sich auch daraus entwickelt, wie viel Freiraum man den Kindern lässt."

"Manchmal kann die Freiheit auch zu viel werden."

"Ja, das werde ich sicher nicht abstreiten."

"Zuwenig Freiheit ist aber auch nichts. Es ist schlimm, wenn einem alle Entscheidungen abgenommen werden. So war das bei mir zu Hause; wir durften nichts selbst entscheiden. Es fing mit dem Brotbelag an und hörte mit den Schulfreunden auf. Es ist verdammt schwer, sich aus so einem Käfig zu befreien. Und es ist noch schwerer, plötzlich für sich alleine verantwortlich zu sein, wenn man es nie gelernt hat, auch noch so kleine Entscheidungen zu treffen. Kannst du dir vorstellen, dass ich noch nicht einmal einkaufen gehen konnte, weil ich nicht entscheiden konnte, was ich wirklich essen möchte? Ich habe das erste Jahr meines Studentenlebens exakt das eingekauft, was bei uns zu Hause auf den Tisch kam. Die gleiche Leberwurst, die gleiche Buttersorte, sogar die Marmelade, der Ketchup oder der Kaffee stimmten. Das ist der pure Wahnsinn. Ich habe wirklich ein Jahr gebraucht, bis ich mich im Supermarkt traute, einfach mal eine andere Sorte Käse als die übliche zu nehmen. Kannst du dir sowas vorstellen?"

"Du hast es doch gelernt."

"Ja, aber es war ein harter Kampf. Selbst mit meinen Freundinnen tue ich mich schwer. Vielleicht liegt es an mir, dass keine Beziehung länger als höchstens ein Vierteljahr anhält."

"Das kann ich einfach nicht glauben. Du bist so ein liebenswerter Mensch, ich kann mir das einfach nicht vorstellen."

“Meinst du, ich habe den falschen Beruf? Aber andere Ärzte sind doch auch verheiratet und haben Kinder."

"Und lassen sich irgendwann scheiden. Es gibt keine Berufsgruppe, in der die Scheidungsrate so hoch ist, wie bei Medizinern."

"Ja, gelesen habe ich das auch schon. Was um alles in der Welt habe ich mir nur für einen Beruf ausgesucht? Bei uns Medizinern läuft ja wohl nichts normal. Es war eine wirklich weise Entscheidung von dir, nicht Medizin zu studieren. Wer weiß, wie dein Leben heute aussehen würde, wenn du Ärztin geworden wärest. Vielleicht wärst du dann auch schon wieder geschieden oder hättest einen Haufen gescheiterter Beziehungskisten hinter dir. Schließlich sind ja auch zwei von deinen fünf Brüdern geschieden, oder?"

"Ja, Peter und Ingo, aber Ingo hat sich ja nun dieses Jahr wieder getraut. Und nicht alle Arztehen müssen in die Brüche gehen. Meine Eltern waren Jahrzehnte glücklich verheiratet und Ralf ist dieses Jahr auch schon siebzehn Jahre verheiratet."

"Meine Eltern haben sich auch nie getrennt, aber dass sie glücklich waren, kann ich mir nicht vorstellen. Es war wohl mehr Bequemlichkeit zusammen zu bleiben. Und man schuldet ja seinen Kindern etwas, nämlich das vermeintlich intakte Elternhaus. Ich glaube allerdings, mir und meinen Geschwistern wäre es besser gegangen, wenn meine Eltern nicht so bequem gewesen wären. Meine Mutter hat ganz und gar unter der Fuchtel meines Vaters gestanden. Und es niemals gewagt ihm in irgendetwas zu widersprechen. Eine so selbstbewusste Frau wie du wäre für ihn ein Albtraum gewesen.

 

Und wie war das mit deiner Mutter? Ich meine, wann haben die beiden geheiratet?"

"l939, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Sie haben sich dann einige Jahre nicht mehr gesehen, weil mein Vater sehr früh eingezogen wurde. 1942 hat er meine Mutter noch einmal für zwei Tage besucht und dann geriet er kurze Zeit später in russische Kriegsgefangenschaft und wurde nach Sibirien deportiert. Mein Vater konnte flüchten, zusammen mit mehreren anderen Lagerinsassen. Auf der Flucht wurde er sehr krank, er verlor eine seiner Nieren. Aber merkwürdigerweise hat ihm das nie zu schaffen gemacht. Er war der gesündeste Mensch den ich je gekannt habe. Durch diese Erkrankung wurde er dann allerdings 1943 vom Kriegsdienst freigestellt und arbeitete von da an in einem Krankenhaus und dabei ist es geblieben."

"Hat dein Vater nie mit dem Gedanken gespielt, eine eigene Praxis aufzumachen?"

"Ich glaube nicht. Er war mit Leib und Seele Chirurg, etwas anderes als sein Krankenhaus konnte er sich wahrscheinlich nicht vorstellen."

"Du hast ihn sehr geliebt, oder?"

"Ja, das habe ich. Aber er hat auch uns sehr geliebt. Er war ein Bilderbuch Vater. Er hat immer Zeit für uns gehabt. Wir durften ihn sogar im Krankenhaus anrufen, wenn wir Sorgen hatten. Hatten wir das Pech und mein Vater stand im OP, hat irgendeine Schwester eine Notiz für ihn geschrieben und er rief zurück, so wie es im möglich war oder er kam direkt nach Hause und hatte dann erst mal nur Zeit für den Anrufer. Trotz seiner vielen Arbeit hat er sich immer die Zeit für uns genommen, von der er der Ansicht war, dass wir sie bräuchten. Ich genoss später ein besonderes Privileg: Ich durfte nach der Schule zu ihm ins Krankenhaus kommen. Ich saß dann in seinem Arbeitszimmer und machte meine Hausaufgaben und manchmal, als ich älter war, durfte ich ihm ein bisschen über die Schulter sehen. Ich wäre wahnsinnig gerne einmal mit in den OP gegangen, aber das hat er nicht zugelassen - leider. Als ich mich dann entschloss Geschichte und Literatur zu studieren, war er ein bisschen enttäuscht und hat gemeint, er hätte mich vielleicht doch mal mit in den OP nehmen sollen, damit ich gelernt hätte, wo mein Platz ist."

"Meine Eltern haben sich nie Zeit genommen und es war ihnen auch völlig egal, was wir mit unserem Leben anfangen. Ich hatte Schulkameraden, da wären die Mütter in einen Begeisterungs Taumel ausgebrochen, wenn ihre Söhne gesagt hätten, dass sie Medizin studieren werden. Meine Eltern hat das ganz kalt gelassen. Ich hätte genauso gut Straßenkehrer

werden können. Die Reaktion wäre die Gleiche gewesen. Ich hätte es mir gewünscht, dass sie wenigstens einmal ein bisschen stolz auf mich gewesen wären, aber darauf musste ich verzichten. Na ja, man kann nicht alles haben."

"Wie bist du damit fertig geworden?"

"Mit der mangelnden Zuneigung? Ich weiß nicht. Es war bitter und wenn ich heute darüber nachdenke, dann fühle ich mich um vieles betrogen. Ein Klassenkamerad und Schulfreund von mir hatte ein prachtvolle Mutter. Sie war alleinerziehend und eine tolle Frau. Bei ihr habe ich mir die Streicheleinheiten für die Seele geholt. Ich habe heute noch einen sehr engen Kontakt zu ihr. Sie war meine Ersatzmutter. Ich bin froh, dass ich sie hatte, wer weiß, was sonst für ein Mensch aus mir geworden wäre."

"Ich kann das nicht nachvollziehen. Ich denke immer, wenn man Kinder in die Welt setzt, muss man sie doch auch lieben. Warum bekommt man sie sonst? Können sie einem wirklich so gleichgültig werden?"

"Ja, ich fürchte, manche Mütter sind gar keine, von den Vätern mal ganz zu schweigen."

Ich schüttele ein bisschen den Kopf und starre auf meinen Teller. Das Essen ist inzwischen kalt geworden.

"Was machen wir hier eigentlich? Eigentlich wollten wir doch nichts anderes als gemütlich zu Abend essen und stattdessen machen wir hier Psychotherapie." Bernd lächelt mich ein bisschen schuldbewusst an.

”Vergangenheitsbewältigung. Wer weiß, wozu es gut ist. Nichts geschieht durch Zufall."

"Es war meine Schuld, Tina. Jetzt ist das Essen kalt. Sollen wir ... Wir könnten noch mal frisches Essen bestellen."

Ich schüttele den Kopf.

Inzwischen ist der Ober auf unsere vollen Teller aufmerksam geworden.

"Hat es den Herrschaften nicht geschmeckt?"

"Oh doch, es war fabelhaft. Bringen sie mir bitte die Rechnung," antwortet Bernd ihm.

Der Ober betrachtet uns beiden und unsere gut gefüllten Teller etwas stirnrunzelnd und verschwindet schließlich, um die Rechnung zu holen.

Ich muss lachen und Bernd stimmt mit ein.

Als wir draußen auf dem Parkplatz stehen, betrachtet Bernd mich mit einem spöttischen Lächeln.

"Wir fahren jetzt hungrig nach Hause und das, nachdem ich zweihundert Mark bezahlt habe. Was machen wir denn jetzt? Ich habe Hunger."

"Lass uns nach Hause fahren, Bernd und dann werfe ich uns eine Pizza in den Backofen."

"Wahnsinn, diese Frau bringt mich um meinen Verstand. Pizza für zweihundert Mark, ich werde verrückt!"

"Du kannst Champagner dazu haben, um die zweihundert Mark zu rechtfertigen," werfe ich lachend ein.

“Du hast Champagner zu Hause?“

"Ja!"

"Hey, du hast ja Stil, ich bin tief beeindruckt. Pizza und Champagner, wenn das nichts hat!"

Lachend steigen wir in den Wagen ...

 

 

 

 

 

Kapitel 61

 

 

 

Am Montag herrscht mal wieder das Chaos bei uns zu Hause. Offenbar ist wieder mal Treffen der Monster Kinder angesagt, denn es geht wie im Taubenschlag zu. Permanent erklingt die Haustürklingel und immer wieder ertönt dann der gleiche Geräuschpegel: trampelnde Kinderfüße im oberen Stockwerk, dann das Zuknallen einer Zimmertür, kurz darauf die trampelnden Kinderfüße auf der Treppe und dann das Zuknallen der Haustür. Gleich darauf vier oder noch mehr trampelnde Kinderfüße und die dazugehörenden Zurufe auf der Treppe und schließlich im oberen Stockwerk, bis dann eine zu knallende Zimmertür der Geräuschkulisse ein Ende setzt. Seufzend sitze ich vor dem Computer und versuche zu arbeiten.

Erst gegen halb sechs schaffe ich es, nach und nach die Kinder, die nicht eindeutig in meinen Haushalt gehören, loszuwerden. Der letzte, der noch anwesend ist, ist Tim's Schulfreund Mario, der schon fast bei uns wohnt.

"Tim, Mario! Es ist sechs Uhr, Mario muss jetzt gehen!", rufe ich aus der Küche den beiden zu.

"Ich muss aber erst um halb sieben nach Hause!", ruft nun seinerseits Mario zurück.

Ich sehe um die Ecke: "Bist du ganz sicher?"

"Mama ist mit Torben zum Arzt gefahren und hat gesagt, ich soll erst um halb sieben gehen, weil sie sonst vielleicht noch nicht zu Hause ist, und Papa kommt nicht vor neun Uhr. Sie hat mir auch einen Zettel mitgegeben."

Nachdem Mario aus seiner Hosentasche diverse Dinge zutage gefördert hat wie zum Beispiel eine Glasmurmel, einen kleinen Hühnerknochen, zwei Gummibänder, ein abgebranntes Streichholz, drei Büroklammern und zwei klebrige Bonbons zweifelhafter Herkunft, reicht er mir einen völlig zerknitterten Zettel.

"Na gut, dann habt ihr beiden noch eine halbe Stunde," gebe ich mich seufzend geschlagen.

"Ich mache mir noch etwas zu essen." Selbstsicher marschiert Mario in die Küche und wirft einen prüfenden Blick in den Kühlschrank.

"Du musst mal wieder einkaufen,“ erklärt er mir nach kritischer Musterung.

"Das macht Michael morgen," antworte ich ihm.

"Und was soll ich jetzt essen?"

"Ich habe noch Kartoffelsalat und Fischstäbchen von heute Mittag, wenn du magst. Die Fischstäbchen kann ich dir aufwärmen."

"Au ja!"

Kurz darauf sitzt auch Tim mit am Tisch, der mir beim Mittagessen noch erklärt hatte, das Mittagessen sei mal wieder die pure Zumutung, er hätte gerne Pizza, Hamburger mit Pommes oder doch wenigstens Spaghetti mit Bolognese.

"Mein Zahn wackelt!“, erklärt Mario mit Nachdruck.

"Toll! Dann kommt ja bald die Zahnfee!" Tim ist die Begeisterung in Person.

"Wer kommt?" Mario sieht Tim staunend und fragend an.

"Die Zahnfee!"

"Wer ist denn das?!" Mario staunt.

"Oh Mann, das weißt du nicht?!" Tim ist geradezu empört. "Also: Wenn dein Zahn rausgefallen ist, natürlich geht das nur mit Milchzähnen, ist ja klar, dann legst du ihn auf die Fensterbank und dann kommt nachts die Zahnfee und holt ihn weg und dafür legt sie dir ein kleines Geschenk hin. Ich hatte schon kleine Autos, Buntstifte und sogar eine Kinokarte, nee zwei Kinokarten, und dann bin ich mit Filius ins Kino gegangen und habe 'Asterix und Obelix' gesehen."

"Ist ja voll geil! Bei mir ist die Zahnfee noch nie gewesen. Ich glaube, die weiß gar nicht, wo ich wohne."

“Echt? Noch nie da gewesen, noch nicht einmal?!"

"Ich habe eine Idee! Ich bringe meinen Zahn mit und lege ihn hier auf die Fensterbank, den Weg kennt die Zahnfee ja. Woher weiß die denn überhaupt, dass da ein Zahn liegt?"

"Mama ruft die Zahnfee an!"

"Die kann man anrufen?"

"Ja, aber das kann nur Mama, wir kennen die Telefonnummer nicht, die weiß nur Mama. Mama weiß auch die Telefonnummer vom Weihnachtsmann, vom Nikolaus und vom Osterhasen."

"Und vom Christkind?"

"Das kann man nicht anrufen. Das kommt so vorbei und sieht nach, ob wir artig sind. Aber man kann sehen, dass es hier gewesen ist."

"Geil und wie?"

"Dann liegt Goldstaub in der Diele und manchmal auch auf der Treppe."

"Wo kommt der denn her?"

"Oh, du weißt aber auch gar nichts! Das Christkind hat doch Flügel und von diesen Flügeln verliert es Goldstaub und der fällt dann auf den Fußboden und da kann man ihn dann finden.“

"Warum hat denn das Christkind Goldstaub auf den Flügeln?"

"Mann! Warum haben denn Schmetterlinge staubige Flügel?!"

"Weiß ich doch nicht!"

"Schmetterlinge haben auf den Flügel ganz feine Schuppen. Für uns sieht das aus wie Staub und beim Christkind ist das auch so. Hast du das jetzt verstanden?"

"Ja, aber warum haben denn die Schmetterlinge Schuppen?"

"Weil das die Farbe ist, du Doofi! Mann! Hast du schon mal einen Schmetterling in der Hand gehabt? Wenn du mit dem Finger über die Flügel wischt, dann geht die Farbe weg und das Christkind hat eben goldene Flügel, so!"

"Woher weißt du das denn alles?"

"Oh! Aus dem Lexikon und von Mama!"

"Das mit den goldenen Flügeln steht im Lexikon?"

"Nee, das mit den Schmetterlingen!"

"Voll geil, aye!"

"Ja, da kannst du mal sehen."

Nachdem ich meine drei Rabauken endlich in ihre Betten befördert habe, entschließe ich mich, mich mit einem Buch ins Bett zu verkriechen ...

Etwas erschrocken wache ich plötzlich auf. Michael ist dabei, meine Bettdecke zurecht zu zupfen, und sieht mich schuldbewusst an: "Tut mir leid, Liebes, ich wollte dich nicht wecken, ich wollte dich nur richtig zudecken."

"Hallo, mein Schatz. Bin ich etwa beim Lesen eingeschlafen?"

"Sieht so aus. Die Lektüre kann ja nicht so spannend sein, wenn du einschläfst."

"Doch, das Buch ist eigentlich ziemlich gut, aber irgendwie bin ich heute geschafft. Den ganzen Tag Kinder Toben im Haus, mit Ausnahme des Vormittags natürlich, aber heute Nachmittag war hier echt was los. Ich habe einen neuen Auftrag für ein Feuilleton in einem Magazin zugeschickt bekommen und versuchte mich an die Arbeit zu machen, aber das konnte ich heute irgendwie vergessen."

"Wann musst du die Arbeit abliefern?"

"Ich habe noch jede Menge Zeit, sie wollen es erst übermorgen haben, aber pünktlich selbstverständlich!"

"Ach du arme Zaubermaus. Warum lehnst du diese Arbeiten denn nicht einfach ab? Erst recht, wenn sie so holterdiepolter fertig sein müssen?"

"Weil ich dann außer Haushalt und Kindern wirklich nichts mehr um die Ohren hätte. Wahrscheinlich würde ich mich dann wirklich irgendwann selbst bemitleiden und ganz depressiv werden."

"Das kann ich mir nun absolut nicht vorstellen. Möchtest du noch irgendetwas aus der Küche?"

"Sieh mal nach, ob auf dem Gemüseteller noch etwas drauf ist."

Kurz darauf kommt Michael mit einem Glas Bier und dem Gemüseteller wieder zurück ins Schlafzimmer.

"Auf dem Gemüseteller ist noch von jedem ein bisschen: Paprika, Kohlrabi, Mohrrübe und ein Apfel, der nicht mehr so toll aussieht."

"Na, den möchte ich auch nicht mehr, aber das andere werde ich jetzt vernichten."

"Über was sollst du denn eigentlich in dem Artikel fürs Feuilleton schreiben?"

"Über Heinrich den Achten."

"Kennst du dich da aus?"

"Ja."

"Der war doch mindestens ein Dutzend Mal verheiratet."

“Na ja, so oft nun auch wieder nicht: Er war sechsmal verheiratet."

"Und die Frauen hat er alle umbringen lassen?"

"Nein, hat er nicht: Er hat zwei seiner sechs Frauen hinrichten lassen, und zwar Anna Boleyn und Katharina Howard. Die letzte Frau, Katharina Parr ist noch seine Witwe geworden.“

"Die Engländer sind schon merkwürdig, lassen einfach ihre Frauen hinrichten, nicht zu fassen. Obwohl, so gesehen ist das ja eigentlich ganz bequem."

"Untersteh dich!“

"Warum denn? Also wenn ich dich irgendwann mal loswerden will, werde ich am besten mal darüber nachdenken, wie ich das problemlos hinkriege. Aber Hinrichtungen sind nicht mehr erlaubt und den perfekten Mord gibt es nicht."

"Das stimmt doch gar nicht!"

"Was?"

"Dass es den perfekten Mord nicht gibt. Ich habe vor Kurzem ein Buch über Gerichtsmedizin gelesen und da stand drin, dass eine Menge Mediziner häufig einen natürlichen Tod attestieren, obwohl es keiner war, einfach weil sie die Zusammenhänge nicht erkennen. Sieh mal, ich mit meiner Herz Geschichte wäre so ein Kandidat. Du könntest mit irgendeinem Medikament einen künstlichen Herzstillstand provozieren und bei meiner Vorgeschichte würde das möglicherweise gar nicht auffallen."

"Das klappt vielleicht in dreißig Jahren."

"Na ja, dann warte eben noch dreißig Jahre."

"Ob ich es so lange noch mit dir aushalte, wage ich zu bezweifeln."

"Kann es sein, dass du jetzt frech wirst?"

"Niemals!"

"Du schwindelst!"

"Weißt du, was mich jetzt beschäftigt?"

"Na, was denn?"

"Wenn du über den perfekten Mord nachgrübelst und sogar Bücher darüber liest, dann frage ich mich, was das für mich zu bedeuten hat?"

"Ich finde immer, man muss auf alle Eventualitäten vorbereitet sein."

"Also ich hoffe wirklich, dass du mir, wenn du mich schon umbringen willst, wenigstens ein schnell wirkendes Gift verabreichst."

"Das geht leider nicht.“

”Ach, und warum nicht, wenn ich fragen darf?"

"Weil ich nicht zusehen kann, wie jemand stirbt. Ich fühle mich dann moralisch verpflichtet zu helfen. Also muss ich wenigstens die Zeit haben den Tatort frühzeitig zu verlassen, damit ich gar nicht erst in diese Situation komme, das Ganze ist sonst nämlich nicht gerade als effektiv zu bezeichnen."

"Na, das sind ja rosige Aussichten! Was würdest du mir denn verabreichen?"

"Das weiß ich noch nicht so genau, aber es wird sich schon was finden, ich kenne mich ja bestens aus."

"Ich hoffe, dass du niemals etwas Geeignetes findest. Was liest du denn als nächste Fortbildungslektüre?"

"Die Foltermethoden des frühen und späten Mittelalters"

Lächelnd reiche ich meinem Gatten das besagte Buch vom Nachttisch herüber.

"Oh da kommen aber finstere Zeiten auf mich zu!"

Lachend beenden wir unser obskures Gespräch mit einem Kuss.

 

 

 

 

Kapitel 62

 

 

 

An einem Mittwoch Morgen sitze ich Birgit in ihrem Sprechzimmer gegenüber. Soeben hatte sie mir Blut abgenommen für die Routinekontrollen und nun sitzen wir beide da und halten eine dampfende Tasse in unseren Händen. Birgits Wartezimmer ist heute Morgen auffallend leer.

"In ein paar Wochen ist schon wieder Weihnachten. Die Zeit vergeht irgendwie rasend schnell." Ein bisschen seufzend sieht Birgit in ihre Teetasse.

"Ich freue mich auf Weihnachten. Ralf kommt dieses Jahr schon ein paar Tage vor Weihnachten mit seiner Familie und wenn es klappt, dann sind Ingo und Peter auch früher dran dieses Jahr."

"Ich werde wahrscheinlich zu Mama fahren und mich wie jedes Jahr zu Tode langweilen. Manchmal denke ich, eine eigene Familie wäre doch wirklich schön, wenigstens zu Weihnachten."

"Warum suchst du dir nicht endlich den Mann fürs Leben?"

“Das ist so schwierig, Tina. Ich glaube, den gibt es nicht."

"Soll ich dich mit Bernd verkuppeln? Der ist auch solo.“

"Ja, aber es würde nicht funktionieren."

"Warum denn nicht? Gefällt er dir nicht?"

"Doch, schon, aber er liebt dich, dagegen kann ich nicht an."

Ich betrachte Birgit entgeistert. "Was?!"

"Sag bloß du merkst das nicht? Das sieht ein Blinder mit Krückstock, dass der Junge bis über beide Ohren in dich verliebt ist. Komm jetzt, du kannst mir nicht erzählen, dass du das nicht weißt!"

"Doch, ich meine, ich ... Ich habe nicht erwartet, dass das so auffällt. Wenn du es merkst, muss es doch jeder andere auch merken, oder sehe ich das falsch?“

"Tja, das weiß ich nicht. Mir ist es jedenfalls aufgefallen."

"Wie denn? Ich meine, woran hast du es gemerkt?"

"Daran wie er dich ansieht, wie er mit dir spricht, die kleinen zärtlichen Gesten, die er so ganz versteckt mal ... Na ja, man merkt es eben."

"Was soll ich tun?"

"Liebst du Bernd?"

"Nein - ja! Nicht so, wie eine Frau einen Mann liebt, verstehst du? Mehr so, wie ich meine Brüder liebe. Er ist für mich wirklich so etwas, wie ein großer Bruder."

"Hat er dir jemals gesagt, dass er dich liebt?"

"Durch die Blume schon."

"Wie hast du reagiert?"

"Geschmeichelt."

Birgit lacht ihr wunderschönes helles Lachen und betrachtet mich amüsiert.

"Die Ehefrau, die sich geschmeichelt fühlt, weil sie nicht nur dem Gatten gefällt. Das ist gefährlich, Tina. Du spielst mit dem Feuer."

"Das tue ich nicht, Birgit. Ich weiß ziemlich genau, wo meine Grenzen sind."

"Ziemlich genau bedeutet nicht ganz genau. Ich meine, hast du ihm denn deutlich zu verstehen gegeben, dass er keine Chancen hat?"

"Ja, ich denke doch. Außerdem weiß er doch, dass ich verheiratet bin."

"Das hat schon eine Menge Männer nicht abgeschreckt."

"Bernd ist nicht so!"

"Na, komm schon, ich wollte dich nur ein bisschen ärgern. Ich habe es doch nicht so gemeint. Ich weiß zufällig genau, dass du deinen Mann anbetest. Du würdest niemals einen anderen Mann an dich heranlassen, das ist so klar wie das Amen in der Kirche. Lass dich doch nicht so ärgern! Oder habe ich vielleicht doch einen wunden Punkt getroffen?"

"Nein, hast du nicht. Ich weiß nur nicht, wie ich ... Es bringt doch nichts, dass er mich liebt. Es hat doch keine Aussicht."

"Ja, aber die Erfahrung muss er alleine machen und irgendwann wird er schon die Frau finden, die dafür sorgt, dass er dich vergisst."

"Er soll mich nicht vergessen."

"Du weißt doch, wie ich das gemeint habe. Wenn ihm an eurer Freundschaft etwas liegt, dann wird er dich nicht vergessen. Aber er muss irgendwann doch begreifen, dass du für ihn unerreichbar bist."

"Das weiß er doch längst."

"Das hoffe ich für ihn.“

"Können wir das Thema wechseln?"

"Wenn es dir unangenehm ist, klar. Gehst du am Wochenende mit mir ins Theater?"

"Wenn ich einen Babysitter bekomme. Michael ist übers Wochenende in Berlin."

"Jetzt geht das wieder los: Die leidigen Wochenenden vor Weihnachten, an denen dein Mann nur unterwegs ist. Ist er wenigstens Weihnachten zu Hause?"

"Er fährt am ersten Weihnachtstag, aber ansonsten hat er frei, auch zwischen den Jahren."

"Sylvester?"

"Magdeburg, wie letztes Jahr."

"Du hättest genauso gut auch einen Mediziner heiraten können, der wäre auch nicht öfter zu Hause. Also solltest du dich doch eines Tages für Bernd entscheiden, dann musst du wenigstens nicht umdenken."

Lachend schüttle ich den Kopf.

Am nächsten Tag ist planmäßig wieder eine Akupunktur bei Dr. L. dran und wieder einmal hat Hsan den Behandlungsplan geändert. Dr. L. seufzt leicht und sieht mich dann mit einem zuversichtlichen Lächeln an, so als wollte er sagen: 'Da wurschtel ich mich schon durch!'

Aber wieder braucht er sein Modell, auf dem die Akupunkturpunkte aufgezeichnet sind, und immer wieder muss er in einem Buch nachblättern, um sich dann zu ärgern, weil die Punkte nicht drinstehen, die er sucht. Aber offenbar findet er sie doch noch.

Wenn es sich um Akupressurpunkte handelt, kann ich auch schon mal behilflich sein, die kenne ich so ziemlich alle.

Neuerdings hat Hsan auch Moxa mit in das Programm genommen. Die Moxakegel sind aus Beifuß hergestellt und werden auf die Haut geklebt. Dort werden sie dann angezündet. Sowie auf der Haut ein zunehmend warmes Gefühl entsteht, werden sie wieder entfernt. Dafür hat Dr. L. Frau J., seine nette Sprechstundenhilfe, die mir ausgesprochen sympathisch ist.

Wenn Dr. L. sich nach mühsamer Schwerstarbeit und den obligatorischen Wünschen für die angenehmen zwanzig Minuten verabschiedet hat, nutzen wir die kurze Zeit, die uns bis zum Entfernen der Moxakegel bleibt, um miteinander zu plaudern.

Heute glänzt Frau J. allerdings durch Abwesenheit. Ich nehme es mit leichtem Bedauern zur Kenntnis. Ich habe mich bereits so an Frau J. und ihr freundliches und humorvolles Wesen gewöhnt, dass sie mir tatsächlich fehlt. Dr. L. klebt die Moxakegel auf und setzt anschließend noch einige Nadeln, dann verabschiedet er sich wie gewöhnlich. Erst als er draußen ist, fällt mir auf, dass er die Moxakegel nicht angezündet hat. Im ersten Augenblick hege ich den Gedanken, ihn anzurufen, aber die blutenden Zeigefinger, zu denen er mir verholfen hat, bringen mich wieder davon ab. Zwei kräftige Blutlachen haben sich auf der Liege gebildet und ich wage es nicht, das Telefon zu berühren. Ich würde vermutlich alles einsauen. Also lasse ich die Moxakegel unangezündet und konzentriere mich lieber auf meine Meditation.

Nach einer Weile löse ich mich aus meiner Meditation und sehe auf die Uhr. Die zwanzig Minuten sind gerade um. Mittlerweile schaffe ich es nahezu perfekt, genau zwanzig Minuten zu meditieren. Mental habe ich mich voll auf die notwendige Zeit eingestellt. Während ich noch überlege, ob ich mit meinen blutverschmierten Fingern jetzt wirklich das Telefon anfassen soll, öffnet sich vorsichtig die Tür und Frau A. sieht herein.

"Hallo, ich wollte nur mal sehen, wie es Ihnen geht. Sind Sie mit der Akupunktur schon fertig?"

“Oh ja, Sie kommen wie gerufen. Ich habe gerade überlegt, ob ich wirklich das Telefon anfassen soll."

"Wieso?" Frau A. kommt näher und stößt einen entsetzten Schrei aus.

"Mein Gott, was haben Sie gemacht?"

"Das war nicht ich, das war der Doktor."

"Was hat er sich denn dabei gedacht? Das habe ich ja noch nie gesehen. Das hat er bei anderen Patienten aber noch nicht gemacht."

"Das ist die hohe Kunst der Akupunktur."

"Dass man die Moxakegel nicht ansteckt, auch?"

"Das ist eigentlich mehr die Auswirkung einer ausgeprägten Unkonzentriertheit, aber ich werde ihn diesbezüglich mal fragen."

Nachdem Frau A. mir kopfschüttelnd die Hände von dem Blut gesäubert hat, betrachtet sie mich staunend. "Sagen Sie mal, wie viel haben Sie eigentlich abgenommen? Das ist mir noch nie so aufgefallen, wie gerade eben in diesem Augenblick."

"28 Kilo mittlerweile und ich nehme immer noch langsam, aber kontinuierlich ab."

"Wie machen Sie das denn?"

"Chronischer Appetitmangel und eine chinesische Diät, klappt wunderbar."

"Also ich versuche, seit ewigen Zeiten meine Pfunde loszuwerden, allerdings mit mäßigem Erfolg. Ich habe die Kilos eigentlich loswerden wollen, weil ich mit dem Herzen leichte Probleme habe. Ich nehme ständig einen Betablocker.“

"Ich nehme einen Kalziumantagonisten - wegen einer Störung des Reizleitungssystems."

"Da kann man ganz schön Angst kriegen, oder?"

"Ich habe ehrlich gesagt nur einmal richtig Angst bekommen und das war, als ich im April hier in der Praxis zusammengebrochen bin. So einen Anfall hatte ich vorher noch nie und danach Gottlob auch nicht wieder."

"Da kann ich mich noch gut daran erinnern. Sie haben uns damals einen ganz gehörigen Schrecken eingejagt. Wir waren heilfroh, dass sie nach ein paar Tagen wieder gut gelaunt in die Praxis marschiert kamen. Irgendwie sind sie sowas wie ein Stehaufmännchen, oder?"

"Ja, das muss wohl so sein. Es wirft mich eigentlich nichts wirklich um."

"Das macht ihr ausgeprägter Humor, glauben Sie mir das. Ich habe noch nie einen Menschen erlebt, der mit so viel Humor durchs Leben geht wie sie. Irgendwie mögen wir Sie gerade deshalb so und weil ihr Humor so ansteckend wirkt. Selbst Dr. L. haben Sie damit aus seinem Schneckenhaus gelockt, der kann sich ihrem Humor auch nicht entziehen."

"Na, Gott sei Dank! Es gab mal eine Zeit, da hat er kaum ein vernünftiges Wort mit einem geredet. Alles, was über das Medizinische hinausging, war tabu. Ich bin froh, dass sich das geändert hat."

"Sehen Sie, genau das meine ich."

 

Am Abend steht Filius mal wieder ohne Vorwarnung auf der Matte, weil er dringend meine Bücher braucht.

"Wann kaufst du dir endlich mal die Bücher, die du wirklich brauchst?", frage ich ein bisschen knatschig.

"Ach Mum, sei doch nicht sauer. Sei lieber froh, dass du deinem fleißigem Sohn unter die Arme greifen kannst. Übrigens verstehen meine Kommilitonen überhaupt nicht, warum eine Krankenschwester solche Bücher besitzt."

"Sag deinen Kommilitonen, sie sollen sich beizeiten daran gewöhnen. Denn spätestens, wenn sie AiP ler sind, werden sie zu spüren bekommen, welch ein Fachwissen eine Krankenschwester wirklich hat und wie gemein und hinterhältig eine Schwester sein kann. Es gibt nämlich nichts Schöneres, als AiP ler auflaufen zu lassen."

"Ich wusste wirklich nicht, dass du so ein Biest sein kannst.“

"Doch, kann ich. Aber es liegt auch am AiP ler."

"Kann es sein, dass du AiP'ler nicht leiden kannst?"

"Wie kommst du denn darauf? Es gibt solche und solche. Wie ich bereits sagte, es liegt am AiP ler, ob er mit einer Krankenschwester klar kommt oder nicht."

"Oh du lieber Himmel, da tun sich ja ganze Abgründe auf. Ich kann es gar nicht erwarten, endlich AiP ler zu sein."

"Sei froh, dass du noch Zeit hast."

"Wenn es so weit ist, wirst du mich dann einweisen?"

"Ganz bestimmt nicht! Die Erfahrung musst du selbst machen, wie soll sonst ein vernünftiger Mensch aus dir werden."

"Na, vielen Dank auch. Ich schätze deine mütterliche Fürsorge ganz besonders."

"Das will ich auch hoffen, ich gebe mir immerhin viel Mühe."

"Das merke ich mal wieder überdeutlich!"

Es geht in langen Schritten auf Weihnachten zu und so steht auch wieder ein Besuch bei Werner in meinem Terminkalender. Werner freut sich sichtlich, mich zu sehen und umarmt mich herzlich.

"Wie geht es dir, Tina?"

"Wie immer: Bescheiden schön und dir?"

"Wesentlich besser als vor einigen Monaten. Allerdings steht Weihnachten vor der Tür und irgendwie spürt man Verluste dann überdeutlich. Geht es dir da auch so?"

"Ja, natürlich. Ich vermisse meinen Vater immer ganz besonders zu Weihnachten, aber ein Kind ist da wohl noch etwas anderes."

"Du hast sicher recht und ich nehme an, dass es für Susanne noch schlimmer ist. Sie spricht nicht darüber, aber sie ist so in sich gekehrt. Sie hat es erst vor ein paar Wochen fertig gebracht, Timos Sachen auszusortieren und zu verpacken. Ich habe ihr versprochen, dich zu fragen, ob du die Sachen für Tim haben möchtest. Was meinst du?"

"Ich werde Tim fragen und dich dann anrufen."

"Du willst Tim erst fragen?"

"Ja, natürlich. Vielleicht ist es ihm nicht recht. Ich möchte ihm nicht einfach irgendetwas aufzwingen. Was hat Susanne denn aussortiert?"

"Bekleidung, Bücher, aber auch ein Großteil an Spielzeug, das die Mädchen nicht haben wollten. Eigentlich wollten sie bis auf einige Kuscheltiere gar nichts von Timo behalten. Susanne wollte die Sachen aber auch ungern einfach in die Altkleidersammlung geben oder zum Kinderschutzbund bringen. Rufst du mich an, wenn du mit Tim gesprochen hast?"

"Natürlich, Werner."

"Gut und jetzt erzählst du mir, wie es dir geht."

"Es hat sich nicht viel geändert. Es klingt vielleicht verrückt, aber ich habe angefangen, mein Leben zu überdenken. Ich kann wahrscheinlich nicht in meinen Beruf zurück, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit, aber ich bin auch nicht der Typ, der noch viel länger zu Hause herumsitzen kann. Ich weiß noch nicht, was ich machen werde, aber irgendetwas muss geschehen."

"Mein Angebot steht nach wie vor. Du könntest jederzeit bei mir anfangen, überleg es dir. Wir könnten sicher eine akzeptable Vereinbarung treffen, auch was die Arbeitszeit anbelangt."

"Ich bin noch nicht so weit, mich zu entscheiden."

"Was machst du denn im Augenblick? Ich meine, wenn du immer noch nicht arbeiten gehen kannst, was treibst du den ganzen Tag?"

"Ich arbeite von zu Hause aus. Ich schreibe für einige Zeitungen und Zeitschriften Kurzgeschichten und gelegentlich auch Dokumentationen. Außerdem schreibe ich Buchbesprechungen und frage mich, wie es manche Schriftsteller schaffen, mit ihren Büchern überhaupt einen Verlag zu finden. Aber irgendwie muss es ja funktionieren."

"Daran siehst du, dass die Geschmäcker verschieden sind. Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Könntest du diese Schreiberei zu deinem Job machen?"

"Nein, sie ist eine willkommene Abwechslung, aber - nein!"

"Du brauchst also nach wie vor den Kontakt zu Patienten, hm? Nun ja, du weißt jetzt, wer dir das bieten kann. Natürlich habe ich wirklich nur eine kleine Praxis, na ja, das Thema hatten wir ja schon, aber vielleicht kannst du dich ja doch entschließen. Ich würde mich sehr freuen, dich zur Mitarbeiterin zu haben. Was Besseres könnte ich mir eigentlich nicht vorstellen. Deine Ansichten gehen mit meinen durchaus konform und ich finde, das wäre schon eine gute Basis. Vielleicht machst du es ja nur Übergangsweise, bis du weißt, was du wirklich willst. Ich würde dir keinen Knebelvertrag aufzwingen, Tina."

"Danke, Werner, aber ich weiß wirklich noch nicht, was ich will. Ich brauche einfach noch ein bisschen Zeit. Es gibt Dinge, die ich mir erst mal selbst eingestehen muss und dann muss ich diese Dinge irgendwie aufarbeiten, das schaffe ich nicht von heute auf morgen."

"Was für Dinge sind das, wenn ich fragen darf?"

"Vielleicht die Tatsache, dass ich nicht mehr in den Rettungsdienst zurückgehen werde. Ich fürchte, ich schaffe das gesundheitlich nicht mehr. Aber wenn ich den Rettungsdienst nicht mehr schaffe, muss ich mir gegenüber zugeben, dass auch eine Tätigkeit in der Pflege fast ausgeschlossen ist. Wenn ich weiter mit Patienten arbeiten will, dann muss ich mich fragen, ob mich das Dasein einer Sprechstundenhilfe wirklich ausfüllen kann, ob es meinen Ansprüchen genügt, oder ob ich nicht besser etwas ganz anderes anfange."

"Es käme vielleicht auf die Praxis an und auf die Möglichkeiten, die man dir dort bieten kann."

"Ja, vielleicht. Ich weiß es einfach noch nicht. Ich muss - ich brauche einfach noch Zeit, um mir selbst klar zu werden, was ich will und was nicht. Ich muss wissen, was ein potenzieller Arbeitgeber von mir erwartet und was ich von ihm erwarte. Nein, das stimmt nicht. Was ich erwarte, weiß ich ziemlich genau."

"Kann ich mir vorstellen: Du willst selbstständig arbeiten können, so weit das zu machen ist. Du erwartest die Möglichkeiten zur Fortbildung, denn Stagnation ist dir verhasst. So weit ist das Ganze ja noch nachvollziehbar und möglicherweise auch zu bewerkstelligen. Dann wird es allerdings haariger: Du möchtest nicht nur einfach nebenher arbeiten, sondern mit einbezogen werden und da fängt es dann an problematisch zu werden. Die wenigsten Mediziner haben große Lust, sich mit ihren Sprechstundenhilfen auf Diskussionen einzulassen, aber genau das ist es, was du erwartest."

"Würdest du dich darauf einlassen?"

"Wenn ich dich einstelle, Tina, weiß ich, dass ich keine andere Wahl hätte, einfach weil du, du bist. Aber jeder andere Mediziner weiß das nicht, weil er dich nicht kennt. Ich garantiere dir, wenn du nicht im Vorfeld ein paar wichtige Dinge klärst, dann schaffst du nicht mal die Probezeit. Dein vorlautes Mundwerk wäre dir im Weg."

"Schon klar! Was schlägst du also vor?"

"Versuch, einen Mediziner zu finden, der mit dir und deinen Eskapaden leben kann oder fang bei mir an, das würde die Sache für dich leichter machen. Aber wie ich dich kenne, liebst du wieder mal die Herausforderung und lässt es darauf ankommen, wenn es für dich so weit ist."

"Du kennst mich ziemlich gut; du hast absolut recht."

"Dann kann ich nur noch hoffen, dass du einen solchen Mediziner nie findest und dich schließlich doch für meine Praxis entschließt."

"Gib mir einfach Zeit, Werner. Ich werde auf jeden Fall einmal darüber nachdenken."

"Damit sind wir tatsächlich einen Schritt weiter, als noch vor gut einem Jahr. Hättest du denn sonst noch Alternativen, die dich halbwegs zufrieden stellen könnten?"

"Ich muss darüber nachdenken. Immerhin habe ich die Qualifikation des Lehrrettungsassistenten und der Lehrschwester. Lehrrettungsassistenten werden reichlich gesucht. Die Frage ist nur, ob mich das auf Dauer ausfüllen kann. Andererseits könnte ich als Literaturwissenschaftlerin arbeiten, Angebote habe ich bereits. Ich habe ja auch schon einige Arbeiten in dem Fachbereich abgeliefert und nicht schlecht damit verdient. Aber will ich das? Was dieses Problem anbelangt, habe ich momentan den totalen Wirrwarr in meinem Kopf. Ich bin im Augenblick in einer schrecklichen Phase, ich weiß einfach nicht, was ich will."

"Du bist eine intelligente Frau, die immer ihren Weg gefunden hat und ihn dann auch gegangen ist. Es wird auch diesmal klappen. Lass dich nicht drängen, von niemanden, auch nicht von dir selbst. Du wirst ganz sicher eine akzeptable Lösung finden, glaub es mir, ich bin mir ganz sicher."

"Ich muss eine Lösung finden, Werner, sonst werde ich irgendwann verrückt. Ich werde schon darauf kommen oder die Lösung des Problems kommt zu mir, wir werden sehen."

“Wie gesagt, du kannst gerne übergangsweise in meiner Praxis ausprobieren, ob dich der Job der Arzthelferin ausfüllen kann. Es liegt an dir, du brauchst mir nur sagen, wann du anfangen willst. Und sollte dir meine Praxis nicht zusagen, dann such dir eine andere. Ich kann dir auch gerne dabei behilflich sein und bei dem einen oder anderen Kollegen mal vorfühlen, wenn du möchtest. Ich muss es nur wissen, Tina."

"Du bist wirklich ein Freund, Werner, danke! Ich denke darüber nach, versprochen!"

Werner umarmt mich noch einmal und drückt mich fest an sich.

"Du schaffst das schon, Tina und wenn ich dir dabei helfen kann, dann tue ich das gerne. Ich bin immer für dich da, wenn du Hilfe brauchst."

"Danke!"

 

 

 

 

 

Kapitel 63

 

 

 

Einige Tage später fahre ich mit Tim zu Susanne und Werner, um die Sachen von Timo abzuholen. Tim hatte sich einen Tag Bedenkzeit ausgebeten und dann entschieden, dass er wohl nicht alle Sachen, aber doch das eine oder andere gerne von Timo haben würde.

Susanne öffnet uns die Haustür. Sie sieht blass und müde aus, lächelt uns aber erfreut an, als sie sieht, wer vor der Tür steht.

Im Wohnzimmer ist bereits der Kaffeetisch für uns gedeckt und auch hier spürt man deutlich, dass es auf Weihnachten zugeht.

Nach dem gemeinsamen Kaffeetrinken schnappt sich Werner Tim und geht mit ihm stöbern. Tim soll sich die Sachen, die er haben möchte, selbst heraussuchen. Ich bleibe mit Susanne zurück im Wohnzimmer.

"Wie geht es dir?", frage ich sie leise.

"Ich komme mit der Trauer um Timo nicht zurecht. Manchmal vergrabe ich mich einfach in mir selbst und hoffe, so mit meinem Leben klarzukommen. Es ist der falsche Weg, Tina, aber ich weiß nicht, wie ich es machen soll."

"Ich weiß irgendwie nicht, was ich dir sagen könnte, Susanne."

"Du hast uns so sehr geholfen, Tina. Wirklich! Dein Gespräch mit Werner im Juli hat uns die nötige Kraft gegeben, uns mit Timo auseinanderzusetzen. Er hatte so viele Fragen und wir haben versucht, sie so ehrlich wie möglich zu beantworten. Wir haben durch dich eine sehr wertvolle Woche mit Timo verbracht. Der Abschied ist uns nicht leichter gefallen, aber wir haben eher loslassen können. Und trotzdem ... Ich habe Timos Sachen eingepackt und ihn bei jedem einzelnen Stück vor mir gesehen. Sein Lachen, sein Weinen, sein Trotz ... Ich habe nie geahnt, wie weh es tut, ein Kind zu verlieren. Es tut schon weh, sie zu bekommen, aber sie zu verlieren, treibt einen an den Rand dessen, was man selbst aushalten und verkraften kann. Ein Stück von mir selbst ist mit Timo gestorben, kannst du das verstehen?"

Ich nicke und lege meinen Arm um Susanne. Sie kuschelt sich an mich und Reflexartig streichle ich ihr langes, blondes Haar.

"Woher nimmst du eigentlich diesen Mut, Tina?"

"Welchen Mut denn?"

"Mit deinen Kindern so offen und ehrlich umzugehen? Ist es nicht eigentlich normal, dass wir Erwachsenen immer sagen, dafür sind sie noch zu klein, das verstehen oder verkraften sie noch gar nicht?"

"Ja, das stimmt wohl, aber machen wir es uns damit nicht nur einfach bequem? Sie verstehen mehr, als uns lieb ist, Susanne und sie haben Anspruch darauf, von uns mit einbezogen zu werden."

"Aber muss man sie nicht schützen?"

"Vor was denn? Irgendwann kommt sowieso der Tag, wo du sie nicht mehr beschützen kannst. Plötzlich sollen sie sich dem Leben stellen, dass man vorher vor ihnen verborgen hat. Ich finde, sie können ruhig schon frühzeitig erfahren, dass das Leben nicht immer ganz leicht ist."

"Gibt es Dinge, die du nicht mit ihnen besprichst?"

"Das sind dann nur Dinge, die meine Kinder absolut nichts angehen. Auch wenn ich Mutter bin, habe ich ein Recht auf einen Persönlichkeitsbereich, der zu respektieren ist, von wem auch immer. Sie müssen lernen, dass es Dinge gibt, über die ich nicht bereit bin zu diskutieren oder sie ihnen zu erklären, einfach weil sie nur mich etwas angehen."

"Wie schafft man es, sich diesen Freiraum zu bewahren? Meine Kinder fressen mich auf, jetzt nach Timo’s Tod noch viel mehr als vorher, habe ich das Gefühl."

"Man gehört ihnen nicht Susanne. Man gehört nur sich selbst. Sie sind eine Leihgabe Gottes an uns und umgekehrt."

"Eine Leihgabe Gottes ... Das habe ich noch nie irgendjemanden sagen hören. Eine Leihgabe Gottes - klingt irgendwie schön. Aber wenn das so ist, darf ich dann mit meinem Schicksal hadern, weil Er mir mein Kind wieder weggenommen hat? Oder habe ich vielleicht sogar irgendwas falsch gemacht, das Ihn zu diesem Schritt berechtigt?"

"Nein, Susanne. Natürlich darfst du hadern, wie solltest du sonst trauern können. Und Fehler machen alle Mütter und Väter, das ist nie und nimmer der Grund, warum Gott sich zu so einem Schritt entschließt. Er hatte sicher einen Grund, aber ob wir ihn je erfahren werden? Ich fürchte fast, nein! Wenn wir an ihn glauben wollen, müssen wir ihm auch vertrauen."

"Aber ergibt das irgendeinen Sinn, Tina?"

"Vielleicht können wir ihn nur nicht erkennen. Ehrlich gesagt, weiß ich es auch nicht."

"Ich habe versucht, mit unserem Pastor über Timos Tod zu sprechen. Er hat nur dummes Zeug von sich gegeben und Bibelstellen zitiert. Warum sagt er nicht ganz einfach, dass er es auch nicht weiß?"

"Das ist so ein Problem mit dem Bodenpersonal."

Nun lacht Susanne doch leise in sich hinein und schüttelt den Kopf.

"Manchmal ist das Personal halt nicht das Beste. Trinkst du noch einen Tee mit mir, Tina?"

"Na klar."

"Dann gehe ich jetzt in die Küche und mach uns einen frischen."

Wir gehen beide in die Küche. Ich lehne mich an den Küchenschrank und sehe Susanne beim Zubereiten des Tees zu.

"Ich hoffe Tim findet ein paar schöne Sachen, die er mitnehmen mag."

"Ganz sicher, Susanne."

"Ich würde mich wirklich freuen. Ich habe einige der Spielsachen an Timos Freunde verteilt, mit denen er immer zusammen war, aber Tim hatte er immer besonders gern. Weißt du, was mich wütend macht? Dass ich nie erfahren werde, wie sein Leben weitergegangen wäre."

"Da gibt es ein Märchen von Hans-Christian Andersen. Eine Mutter will ihr Kind vom Tod zurückhaben und er zeigt ihr zwei Blumen, die eine ist ein unscheinbarer Kaktus und die andere eine wunderschöne Orchidee. Aus der einen Blume wird ein guter Mensch und aus der anderen ein böser. Sie soll entscheiden, welche der Blumen ihr Kind ist und nur wenn sie richtig rät, soll sie ihr Kind zurückbekommen. Neigt nicht jede Mutter dazu, zu behaupten, ihr Kind wäre die Orchidee? Aber ist das, was schön aussieht, auch wirklich immer so schön, wie es den Anschein hat? Die Mutter jedenfalls hat nicht den Mut, zu entscheiden, welches ihr Kind ist und überlässt das Kind schließlich dem Tod."

"Und was soll uns diese Geschichte nun sagen?"

"Dass wir einmal geschehene Dinge nicht ungeschehen machen können und dass es manchmal gut ist, wenn man nicht alles erfährt und es schließlich so belässt, wie es nun mal ist."

"Manchmal kommst du mir vor, als seiest du achtzig und ungeheuer weise," antwortet Susanne mir mit einem Lächeln.

“Ja, manchmal komme ich mir auch vor, als wäre ich achtzig ..."

"... und weise?"

"Nein, gebrechlich."

Wir müssen beide lachen und umarmen uns.

Kurze Zeit später taucht Werner mit Tim wieder auf.

"Na Tim, hast du was gefunden?", fragt Susanne lächelnd.

"Er konnte sich nicht entscheiden und nimmt nun alles mit," verkündet Werner lachend.

”Prima, ich freue mich, dass dir alles gefällt. Warte mal, ich habe noch etwas für dich."

Susanne steht auf und öffnet eine Schublade. Sie reicht Tim eine gerahmte Fotografie, auf der Timo mit seinem unwiderstehlichen Lachen abgebildet ist.

"Ich schenke dir das Foto." Lächelnd hält sie Tim das Foto hin. Behutsam nimmt er Susanne das Foto aus der Hand und streicht zärtlich mit einer Hand über Timos lachendes Gesicht.

Mit einem scheuen Lächeln bedankt er sich bei Susanne und legt das Foto vorsichtig zu den anderen Sachen.

Als ich Tim am Abend eine gute Nacht wünschen will, sehe ich das Foto auf seinem Schreibtisch stehen. Mit einem wehmütigen Lächeln betrachte ich die Fotografie. Ich kann Susanne und ihren tiefen Schmerz gut verstehen.

Zärtlich legt Tim seine Arme um meinen Bauch, als er aus dem Badezimmer in sein Zimmer zurückkommt.

"Ist Susanne immer noch traurig?", fragt er mich, während er seinen Kopf an meinen Rücken schmiegt.

"Ja, das ist sie, Tim."

"Ich auch ein bisschen. Als ich mir Timos Sachen heute angesehen habe und aussuchen sollte, habe ich immer Timo gehört, wie er gesagt hat: 'Na los, nimm das auch noch und das auch!' Ich konnte nichts da lassen. Ist das verrückt?"

"Nein, mein Schatz, das ist es nicht. Es zeigt nur, dass du Timo nicht vergessen hast und das er wirklich dein Freund war."

"Können wir für Susanne beten, damit es ihr bald besser geht?"

"Ja, das machen wir. Willst du es sprechen?"

Tim nickt und spricht ein kleines Gebet für Susanne, Werner und Timos Schwestern.

"Darf ich mir das Licht heute mal alleine ausmachen?"

"Warum?"

"Ich möchte bitte noch Timo ein bisschen ansehen. Darf ich?"

"Na klar darfst du. Schlaf schön, mein Hase."

Zärtlich umarme ich Tim und gebe ihm einen Kuss, den er ebenso zärtlich erwidert.

Als ich mich aus seinem Zimmer schleiche, ist das Letzte, das ich sehe Tim, der, sein Kinn auf die Hände gestützt, das Bild von Timo betrachtet.

 

 

 

 

 

Kapitel 64

Nach einer rundum gelungenen Akupunktur komme ich an einem kalten Dezember Nachmittag gut gelaunt nach Hause. Es schneit heftig und ich freue mich auf eine Tasse Tee und ein gemütliches Kaminfeuer. Hermann hat bei uns eingehütet, weil Michael zu irgendeinem Weihnachtsmarkt unterwegs ist und ich die Kinder nicht alleine lassen wollte.

Als ich die Haustür aufschließe, kommt Charlie, Hermanns Hund, gemächlich auf mich zu getrottet und verlangt seine Streicheleinheiten. Im Haus ist es ungewöhnlich ruhig, was mich ein bisschen stutzig macht. Hermann sitzt gemütlich im Wohnzimmer und liest in einem Buch.

"Hallo, du bist ja schon zurück. Also das klappt ja immer tadellos in dieser Praxis da, Wartezeiten kennst du wohl gar nicht?"

"Nicht wirklich, Hermann. Wo sind denn die Kinder?"

"Tim ist zu Frederik rüber gegangen. Das ist dir doch hoffentlich recht?"

"Ja natürlich, wenn ich weiß, wo er steckt, ist das in Ordnung. Und die Mädchen?"

"Die sind oben und benehmen sich auffallend gut. Seit einer Stunde habe ich sie nicht mehr gehört und gesehen."

"Na, dann gehe ich doch mal lieber gucken."

Als ich nach oben komme, fällt mir sofort der hoch konzentrierte Geruch nach Putzmitteln auf. Ich gehe dem Geruch nach und lande im Badezimmer. Sarah sitzt pudelnackt in der Wanne und spritzt mit Hingabe das Wasser durch die Gegend. Es trieft bereits alles. Amrei ist derweil dabei, die Fliesen mit dem Wasser zu putzen, das an den Fliesen hinunterläuft.

"Was zum Kuckuck treibt ihr denn hier?”, rutscht es mir heraus.

"Oh, du bist schon da?" Die beiden Mädchen sehen mich an, als wäre ich ein Weltwunder.

"Allerdings bin ich schon da und jetzt hätte ich gerne eine Erklärung!"

"Ich wollte einfach baden," erklärt Sarah denn auch ohne Umschweife.

"In Putzmitteln?“, frage ich zurück.

"Das macht mehr Schaum!" Na klar, das ist jetzt absolut logisch.

"Du kommst raus und ziehst dich an."

"Ja, aber dann brauche ich neue Sachen."

"Wieso?"

"Weil die anderen nass sind. Ich bin erst mit Sachen in die Wanne gegangen, aber weil sie dann nass waren, habe ich sie ausgezogen."

"Dann ziehst du jetzt dein Nachtzeug an."

“Will ich aber nicht!"

"Keine Diskussion, sonst werde ich ungemütlich."

Damit lasse ich die Mädchen alleine, allerdings nicht, ohne ihnen noch einzuschärfen, dass sie das Badezimmer noch in Ordnung bringen müssen.

Hermann ist ein bisschen geknickt. Immerhin hatte er versprochen auf die Kinder aufzupassen und das war ihm nun gründlich daneben gegangen.

"Mach dir nichts daraus Hermann. Es ist ohnehin leichter, einen Sack Flöhe zu hüten."

“Sie waren so schön ruhig und da dachte ich, es ist alles in Ordnung."

"Hermann, wenn man Kinder hütet, darf man eine goldene Regel nicht außer Acht lassen: Je ruhiger sie werden, umso mehr Blödsinn stellen sie an!"

"Ich werde es mir merken, Tina."

"Bleibst du zum Abendessen?"

"Ich weiß nicht, störe ich denn nicht?"

"Keineswegs, ich muss nur wissen, ob ich für fünf Leute oder für sechs Kartoffelpuffer backen muss. Also?"

"Ja, da bleibe ich doch gerne."

"Gut. Und wegen der Kinder lass dir keine grauen Haare wachsen. Die muss man nehmen, wie sie sind."

Nachdem Hermann sich verabschiedet hat und die Kinder in ihren Betten liegen, mache ich es mir im Wohnzimmer gemütlich. Kurz darauf erscheint Michael auf der Bildfläche und hält mir meinen Mantel her.

"Und nun?", frage ich etwas erstaunt.

"Es schneit!", ist die Antwort.

Ich muss lächeln und schlüpfe in meinen Mantel. Ich liebe es durch den frischen Schnee zu laufen. Im letzten Jahr hatte ich mir dieses Vergnügen verkniffen, da ich ohnehin sehr unsicher mit dem Laufen war. Aber das hat sich ja zum Glück geändert. Also sagen wir kurz Tim Bescheid, dass wir zu einem kleinen Spaziergang aufbrechen und machen uns auf den Weg. Michael legt seinen Arm um meine Schulter und ich schmiege mich dicht an ihn. So nah beieinander schlendern wir durch den Schnee.

Mittlerweile hat es aufgehört, zu schneien, und über uns glänzt ein wolkenloser Himmel.

"Schau dir diesen Himmel an," flüstert Michael mit Ehrfurcht in der Stimme, aber auch ich bin überwältigt von dem unglaublichen Sternenglanz. Es ist eiskalt und der Himmel ist so klar, dass es scheint, als wollten die Sterne die Erde berühren.

Michael bleibt stehen und küsst mich sachte auf den Mund.

"Weißt du eigentlich, was heute für ein Tag ist?"

"Natürlich weiß ich das. Wir haben Jahrestag."

"Es war genauso ein Abend wie heute. Erst sind wir auf dem Weihnachtsmarkt gewesen und haben Glühwein getrunken und dann ..."

"... sind wir zu meinem Lieblings Chinesen ..."

"... ich denke, das ist Hsan?"

"... zu meinem damaligen Lieblings Chinesen gegangen und haben zu Abend gegessen."

"Weißt du noch was?"

"Eierblumensuppe, Ente süßsauer und zum Nachtisch hast du überbackene Ananas bestellt."

"Ich konnte doch nicht wissen, dass du Ananas nicht magst."

"Und dann sind wir zu Jean in den Weinkeller gegangen und da saß Carlo und wollte uns verheiraten."

"Ach ja, richtig! Den Weinkeller hatte ich inzwischen vergessen. Als Carlos uns verheiraten wollte, hast du gesagt, den nehme ich nie und nimmer."

"Das war nur so dahingesagt. Ich wusste an dem Abend schon längst, dass ich deine Frau werden würde."

"Ach ja? Da wusste ich ja noch nicht mal so genau, ob ich es überhaupt mit dir ausprobieren möchte und du wusstest schon, dass du mich heiraten würdest?”

"Ja!"

"Na schön und heute? Wenn ich dir hier und jetzt einen Antrag machen würde, was würdest du sagen?“

"Das selbe wie das letzte Mal: Ja!"

"Ohne wenn und aber?"

"Ohne wenn und aber."

"Obwohl ich oft ungeduldig bin? Obwohl ich nicht immer so für dich da bin, wie ich es vielleicht sein sollte? Obwohl ich manchmal ungerecht bin und dir Dinge sage, die dich vielleicht verletzen?"

"Nein. Ich würde dich wieder heiraten, weil ich dich liebe. Weil du für mich da bist, wenn ich dich brauche. Weil ich mich bei dir anlehnen darf, wenn mir danach ist. Weil wir uns bedingungslos vertrauen können und weil du der Vater meiner Kinder bist."

"Dreier deiner Kinder."

"Der Vater meiner Kinder. Du bist vielleicht nicht Filius' Erzeuger, aber du bist ihm doch ein Vater. Er weiß das und ich weiß es und im Grunde weißt du es doch auch."

"Wann habe ich dir eigentlich das letzte Mal gesagt, dass ich dich liebe?“

"Heute Morgen."

"So lange ist das schon her? Dann wird's aber Zeit, dass ich es dir mal wieder sage: Ich liebe dich, Tina und ich bin von Herzen froh, dass ich so ein Glückspilz bin und dich gefunden habe.“

"Ich habe dich gefunden."

"Ach ja, richtig. Du hast mich gefunden, das hatte ich völlig verdrängt, aber du hast Recht. Trotzdem bin ich ein Glückspilz."

"Wenn du das einsiehst, ist ja schon viel gewonnen."

"Du würdest mich wirklich noch einmal heiraten?"

"Jederzeit. Ich habe mich so an deine Unzulänglichkeiten gewöhnt, es würde mir schwerfallen, ohne sie zu leben."

"Ich bin immer wieder überwältigt von deinem Charme. Haben wir an dem besagten Abend nicht auch noch einen Spaziergang gemacht?"

"Ja, aber eher unfreiwillig.“

"Wieso?"

"Weil das Auto eingefroren war. Es hatte sich keinen Millimeter von der Stelle gerührt. Am nächsten Tag haben wir es dann in die Wärmehalle geschleppt und nicht nur mein Auto."

"Sind wir dann zu mir gegangen? Du wohntest doch gar nicht in der Stadt?"

"Wir sind zu dir gegangen. Ich habe dich ins Bett gebracht und dann auf deiner Couch genächtigt, das war irrsinnig romantisch."

"Und nächsten Morgen bist du einfach verschwunden."

"Ach! Das weißt du noch?"

“Klar, ich habe mich gefragt, was das sollte. Das frage ich mich übrigens heute noch.“

"Ich wollte pünktlich zum Dienst erscheinen."

"Ja, das klingt nach meiner Frau. Warum hast du mich nicht geweckt?"

"Angetrunkene soll man schlafen lassen und schließlich bist du ja gegen zehn Uhr dann noch von alleine aufgetaucht."

"Ich war nicht angetrunken."

"Nein, mein Schatz, was warst du dann?"

"Ich war trunken vor Glück!"

"Wirklich?"

"Ja, und vorher war ich schrecklich nervös. Als Einziger in der Wache hatte ich es geschafft, dich zu einem Abendessen zu überreden. Du warst so unnahbar. Es gab nur deine Arbeit, sonst nichts. Und dann hatte ich es doch geschafft, dich zu überreden, mit mir Essen zu gehen."

"Auf diese Überredungskunst habe ich nahezu vier Monate gewartet und gedacht, du traust dich nie. Ich wäre mit keinem anderen Essen gegangen, nur mit dir."

"Nur mit mir? Warum?"

"Weil ich irgendwie einen Anfang brauchte, um dir klar zu machen, dass du mein zukünftiger Ehemann bist."

"Und wenn ich dich nicht eingeladen hätte?"

"Du hast mich nicht eingeladen. Du hast gesagt, wir könnten doch mal gemeinsam Essen gehen und uns ein bisschen unterhalten. So wie du es gesagt hast, klang es so, als müsste ich meine Rechnung selbst bezahlen."

“Ich stelle fest, ich bin durch und durch ein Flegel. Und trotzdem hast du mich geheiratet. Wie lange hältst du es noch mit mir aus?"

"Ich hoffe, noch ewig, auch wenn das altmodisch ist. Heutzutage ist man nicht auf Dauer verheiratet. Aber man muss ja nicht jede Mode mitmachen."

"Wie schön das du so altmodisch bist in manchen Dingen. Du bist wundervoll. Gehen wir nach Hause?"

"Und was wollen wir da?"

"Mir ist kalt. Ich hätte jetzt gerne jemanden zum Kuscheln, damit mir wieder warm wird."

“Ich auch!"

"Na, wenn das so ist."

Lachend treten wir den Heimweg an.

 

 

 

 

 

 

Kapitel 65

 

 

 

Eine Woche vor Weihnachten reisen Ralf und seine Familie an. Wie geplant waren sie in diesem Jahr früher als sonst in den Weihnachtsurlaub gestartet. Ich genieße es, so viele Leute um unseren riesigen Esszimmertisch versammelt zu haben. Es herrscht eine ausgesprochen fröhliche Stimmung, als wir beim Abendessen sitzen. Filius und Melissa sind ebenfalls da und so bin ich rundum glücklich. Filius neckt seinen kleinen Bruder ein bisschen. Tim ist extrem Wasserscheu und selbst Duschen und Baden ist eine echte Zumutung für ihn. Den ganzen Sommer hat er sich erfolgreich um das Plantschen im kühlen Nass gedrückt, während die Mädchen nicht mehr herauszukriegen waren.

"Tim, ich verstehe dich nicht, Wasser ist doch was Schönes," wirft mein Bruder Ralf ein. "Ich könnte es mir ohne Surfen und Schwimmen nicht vorstellen."

"Wo surfst du denn?", erkundigt sich Tim in höflichem Tonfall.

"Im Pazifik," lautet die Antwort.

"Wow, der reicht echt bis Kalifornien? Ist ja megastark!"

Lautes Gelächter bricht aus und Ralf wuschelt meinem kleinen Sohn zärtlich durchs Haar.

"Es wird Zeit, dass ihr uns endlich mal besuchen kommt, damit ihr euch davon überzeugen könnt, wie schön es bei uns ist und dass der Pazifik wirklich bis Kalifornien reicht."

"Aber warum kommst du denn zu Weihnachten hierher, wenn es bei euch so schön ist?", fragt Tim, noch nicht so überzeugt, dass Kalifornien wirklich so schön ist.

"Weil ich es zu Weihnachten dunkel und kalt brauche und bei uns wird es nicht kälter als vielleicht sechzehn Grad und den ganzen Tag scheint die Sonne und die Blumen blühen und es sieht nicht die Spur nach Weihnachten aus."

"Bei uns wird es doch auch nicht kälter." Filius betrachtet seinen Onkel mit einem Schmunzeln.

"Aber dunkler."

Lachend schüttelt Filius den Kopf und wendet sich dann wieder Tim zu.

"Kommen wir mal wieder auf deine Wasserphobie zurück."

"Auf was?"

"Wasserphobie - Angst vor dem kühlen Nass."

"Ich habe keine Angst."

"Doch, warum machst du sonst so einen großen Bogen um Wasser?"

“Ich habe keine Lust, baden zu gehen."

"Du hast den ganzen Sommer über nicht einmal gebadet, Tim."

"Nächsten Sommer gehe ich baden."

"Ach ja?"

"Na ja, vielleicht!"

"Ich habe heute mit Nicky gespielt," wirft Amrei ein.

"Ist das deine Freundin?”, erkundigt Ralf sich interessiert.

"Ja, aber sie geht eigentlich in Tim seine Klasse. Wir haben in ihrem Spielzimmer gespielt!"

"Ein Spielzimmer? Sie hat ein Spielzimmer? Hat sie auch Autos?" Fragt Sarah und ihre Augen sind groß und kugelrund vor Staunen.

"Sie hat keine Autos," erklärt Amrei kategorisch.

"Warum denn nicht?" Sarah versteht anscheinend die Welt nicht mehr. So sieht sie jedenfalls aus.

"Sie mag keine Autos."

"Warum denn nicht? Ist die blöd!" Für Sarah ist das Thema 'Nicky' damit erledigt.

"Sie mag Barbies."

"Sie hat fünfzig Stück," fügt nun Tim hinzu.

"Nein, sie hat sechzig, mindestens."

"Oh Gott, hat die Barbie-Manie bei euch jetzt auch Einzug gehalten?", erkundigt sich Ralf mitleidig bei mir. Ich nicke.

"Ich habe eine Tierarzt - Barbie mit zwei kleinen Hundebabys!" Amrei strahlt Ralf stolz an.

"Und ich habe eine Zahnarzt - Barbie mit einem Kind. Zu der gehen dann die anderen Barbies, die wir haben, wenn sie mal Zahnschmerzen haben." Auch Sarah ist stolz auf ihren Besitz.

"Klingt ja ziemlich interessant. Willst du denn mal Zahnärztin werden, Sarah?" Ralf hat sich ganz Sarah zugewandt, die ihn nachdenklich betrachtet und dann den Kopf schüttelt.

"Ich werde so ein Arzt wie Dr. L."

"Was ist Dr. L. denn für ein Arzt?"

"Ein - ein - ein Ortho Dingsda.“

"Orthopäde heißt das, Sarah," helfe ich meiner Jüngsten.

"Du willst Orthopädin werden?"

"Ja!"

"Ich bin auch ein Orthopäde,“ erklärt Ralf stolz Sarah, die ihn allerdings etwas misstrauisch beäugt.

"Bist du nicht!"

"Bin ich wohl!"

"Kannst du die Leute vielleicht am Knie operieren?"

"Ja!"

"Kannst du?"

"Ja!"

"Kannst du den Leuten auch Spritzen geben, zum Beispiel in den Rücken?"

"Kann ich auch, aber wieso ausgerechnet in den Rücken?"

"Das hat Dr. L. bei Mami gemacht, damit sie wieder gesund wird."

"Pfui, das ist ja gehässig."

"Nein, gar nicht, wenn sie doch gesund werden soll, und Mami hat gesagt, es hat nicht mal doll weh getan."

"Na schön, wenn Mami das sagt. Aber das kann ich auch. Bin ich jetzt also auch ein Orthopäde?"

"Kannst du Akupunktur?"

"Nein, das kann ich nun gerade nicht."

"Siehst du, dann bist du auch kein Ortho Dingsda." Damit rutscht Sarah vom Stuhl, drückt ihrem ungläubig guckenden Onkel einen Kuss auf die Wange und verzieht sich.

"Du hast gerade im Ansehen verloren, und zwar mächtig!", stellt Filius mit einem breiten Grinsen fest.

"Warum um alles in der Welt, bin ich nicht lieber Buchhalter geworden? Ich könnte es so schön leicht und gemütlich haben. Ich Idiot!"

Lachend wuschel ich nun meinerseits Ralf durch sein dunkles Haar. Auch Onkels haben es mitunter schwer.

Nach dem Abendessen fährt Michael zu meiner Mutter, die mal wieder die hausmeisterlichen Qualifikationen ihres Schwiegersohnes für irgendetwas braucht. Tamico und die Kinder begleiten ihn, auch Filius und Melissa schließen sich an, so dass Ralf und ich alleine zurückbleiben. Ich lächle ein bisschen in mich hinein, als ich in der Küche Ordnung schaffe. Das hat mein Mann ja mal wieder hervorragend geregelt, um mir eine ruhige Stunde mit meinem Bruder zu verschaffen.

Nach einer Viertelstunde sitzen Ralf und ich uns im Wohnzimmer gegenüber. Vor Ralf steht ein Glas funkelnder Rotwein, während ich mich auf einen Becher Tee beschränke.

"Du siehst entschieden besser aus, als letztes Jahr zu Weihnachten. Erzählst du mir, wie es dir geht?” Ralf sieht mich prüfend an und ich nicke. Ich berichte ihm von meinem Gesundheitszustand und meinen kleinen und großen Sorgen, die damit verbunden sind.

"Aber Schmerzen hast du nach wie vor, ja?" Ralf sieht mich ein bisschen besorgt an.

"Ja schon, aber ich lerne, damit umzugehen. Allerdings habe ich hin und wieder schlimme Schmerzattacken, die werfen mich dann komplett aus der Bahn. Das sind Tage, wo dann mal wieder gar nichts geht. Vor ein paar Wochen habe ich sogar die Akupunktur abgesagt, weil ich einfach keinen Schritt vor den anderen setzen konnte."

"Du hast wirklich deine Akupunktur abgesagt? Dann muss es dir ja richtig schlecht gegangen sein. Wie kommt denn deine Familie jetzt mit der Situation zurecht?"

"Das klappt eigentlich ganz gut. Die Kinder bekommen nicht mehr allzu viel mit, weil es mir ja doch um einiges besser geht, als noch vor einem Vierteljahr. Michael ist manchmal sehr ungeduldig und das belastet mich dann schon mal. Es dauert halt seine Zeit und damit muss ich jetzt einfach zurechtkommen."

"Aber es macht dir zu schaffen."

"Ja, das tut es allerdings. Manchmal habe ich irgendwie das Gefühl, ich müsste mich für meine ständigen Schmerzen rechtfertigen und dann habe ich Schuldgefühle, obwohl das ausgemachter Blödsinn ist. Ich kann diese Schmerzen nur schwer beeinflussen. Sie sind da und stellen mein Leben auf den Kopf, mehr als mir lieb ist. Manchmal packt mich auch die Verzweiflung, wenn ich vor Schmerzen wieder mal nicht laufen kann und mich wirklich ins Bett legen muss, weil nichts mehr geht und nur noch Stufenlagerung ein bisschen für Linderung sorgt. Dann frage ich mich oft, wie das weitergehen soll."

"Aber du hast doch durchaus Fortschritte gemacht. Ich meine im Gegensatz zum letzten Jahr, geht es dir doch wesentlich besser."

"Ja, aber nur wenn ich Morphin einnehme. Das macht mir nach wie vor ein bisschen Angst. Aber das Morphin macht die Sache erträglicher. Die Schmerzen sind auszuhalten und ich kann mich bewegen, ich darf das Morphin nur nicht weglassen."

"Glaubst du, dass du wieder in den Rettungsdienst zurückgehen kannst?"

"Nein, eigentlich glaube ich das nicht mehr. Aber so richtig habe ich es mir immer noch nicht eingestanden. Dazu brauche ich wohl auch noch ein bisschen Zeit."

"Was willst du denn anfangen, wenn du nicht mehr in den Rettungsdienst gehen kannst? Hast du schon darüber nachgedacht?"

"Solange ich es mir nicht hundertprozentig eingestehe, dass es da wohl keine Chance mehr gibt, werde ich auch nicht wirklich darüber nachdenken, was ich anfangen will. Ich weiß es nicht, Ralf. Aber irgendetwas muss ich über kurz oder lang tun. Anfang Januar versuche ich es nochmal mit der Schmerztherapie. Vielleicht bringt es ja doch was und ich kann mir dadurch neue Perspektiven schaffen. Ich muss es einfach abwarten."

"Hast du einen neuen Schmerztherapeuten?"

"Ja und ich bin dieses Mal eigentlich ganz zuversichtlich. Ich hatte bisher nur ein einführendes Gespräch und eine Aufnahmeuntersuchung, aber beides hat sehr positiv auf mich gewirkt. Ich habe ein gutes Gefühl."

"Und was macht dein Knie?"

"Schmerzt!"

"Und dein Orthopäde? Will er nicht bald mal etwas unternehmen? Ich meine, dein Knie schmerzt jetzt seit Juli oder so, das ist doch kein Zustand. Warum arthroskopiert er denn nicht?"

"Ich fürchte, er traut sich nicht - oder vielmehr, er traut mir nicht."

"Wie bitte?"

"Er hat vermutlich Angst vor irgendwelchen Komplikationen."

"Das kann ich sogar ein bisschen verstehen, du bist prädestiniert für medizinische Zwischenfälle, aber trotzdem - das kann man doch nicht so auf sich beruhen lassen. Also ich hätte längst arthroskopiert."

"Ich denke mal, er geht davon aus, dass nichts dabei herauskommt, wenn er arthroskopiert."

"Ja, aber die Gefahr besteht doch wohl bei jeder diagnostischen Arthroskopie. Also ich muss sagen, wenn ein Knie solange und so ausdauernd schmerzt, hätte ich eher Angst irgendetwas zu verschlampen, wenn ich nicht arthroskopiere, als dass nichts dabei herauskommt. Natürlich kann es passieren, dass er völlig grundlos arthroskopiert, aber da hat er doch wohl noch mehr Patienten, bei denen er Gefahr läuft, dass es so ist, oder etwa nicht? Ganz sicher kann man sich bei einer diagnostischen Arthroskopie doch nie sein. Solltest du wegen deines Knies nicht vielleicht doch mal einen anderen Arzt aufsuchen?"

"Nein, das will ich auf gar keinen Fall. Dann warte ich lieber noch ab."

"Stur wie immer. Aber ich finde, wenn sich das mit deinem Knie nicht bald gibt, was ich im Übrigen nicht mehr glaube, dann solltest du deine Sturheit vielleicht mal darauf verwenden, ihn zu einer OP zu drängen. Ich meine, du kannst ihn natürlich nicht zwingen, er kann immer ablehnen, das ist sein gutes Recht. Aber dann solltest du vielleicht doch darüber nachdenken, wegen des Knies einen anderen Arzt aufzusuchen - einen der mehr Traute hat."

Ich schüttle unwillig den Kopf und seufze tief.

"Du kannst natürlich auch nach Kalifornien kommen. Ich würde dich zwar auf keinen Fall selbst operieren, aber ich habe einen Kollegen, der ein wahrer Meister auf dem Gebiet ist."

"Mach ich glatt, wenn du das mit der Krankenkasse klärst."

Lachend schüttelt Ralf den Kopf und gibt es schließlich auf.

"Komm, großer Bruder, erzähl mir lieber, wie es bei euch zu Hause geht. Was ist mit den Mädchen? Kimberley ist richtig erwachsen geworden."

"Wir hatten vor kurzem eine höchst unangenehme Auseinandersetzung. Stell dir mal vor, dass meine dreizehnjährige Tochter allen Ernstes mit dem Gedanken spielt, die Pille zu nehmen."

"Was? Hat Kim schon einen Freund?"

"Nein, aber es könnte ja durchaus demnächst sein und dann muss man vorbereitet sein. Außerdem nehmen angeblich alle Freundinnen, die mit ihr zur Highschool gehen, die Pille. So einen Schwachsinn habe ich ja wohl selten zu hören bekommen und das habe ich ihr auch ganz unmissverständlich gesagt. Wärst du in dem Alter auf die Idee gekommen, die Pille haben zu wollen?"

"Nein, ich bin mit fünfzehn noch nicht so weit gewesen und das Ende der Geschichte heißt Filius."

"Du meinst also, ich sollte ihr die Pille erlauben?"

"Ich meine gar nichts, Ralf. Ich wollte dir nur deutlich machen, dass deine Tochter immerhin ein bisschen weiter denkt, als ich damals. Aber wenn es irgendwann soweit ist, dass sie einen Freund hat, solltest du noch einmal darüber nachdenken, ob du ihr die Pille nicht doch lieber gestattest."

"Sie könnten es doch schließlich auch mit Präservativen versuchen, muss es denn gleich die Pille sein, die den ganzen Hormonhaushalt durcheinander bringt?"

"Das mit den Kondomen geht schief, mein Lieber. Kondome sind nämlich lästig."

"Man muss es ihr nur klar machen."

"Ja, dann wird sie am Anfang vielleicht darauf achten, aber irgendwann kommt dann der Tag, wo die beiden unvorsichtig werden, oder vielleicht keine Kondome greifbar sind oder weiß der Kuckuck was passiert und dann? Ich bin nach dem ersten Mal schwanger gewesen, das ist kein Witz!"

"Du würdest es deinen Töchtern erlauben?"

"Wenn sie ein paar Regeln einhalten: Nicht just for fun, sondern nur wenn es angebracht ist und nur unter regelmäßiger ärztlicher Kontrolle. Es würde mich jedenfalls keineswegs begeistern, wenn meine Töchter mit fünfzehn schwanger sind. Sie müssen mir nicht in allem nacheifern. Die Jugend ist dann hin, so viel ist sicher. Du kannst nicht die Hand dazwischen halten. Sie werden dich nämlich nicht um Erlaubnis bitten."

"Na ja, in gewisser Weise hast du ja recht. Dennoch bin ich der Ansicht, dass dreizehn Jahre doch ein bisschen sehr früh ist."

"Ja, das sehe ich genauso. Auf der anderen Seite sei aber doch froh, dass sie sich dir anvertraut und dich um die Pille bittet. Immer noch besser, als plötzlich schwanger nach Hause zu kommen, so wie es mir ging. Und es ist gar nicht so selten, dass Dreizehnjährige schwanger werden."

"Ich habe nie gedacht, dass es so kompliziert werden kann, Vater zu sein. Mit Meredith ist es ja auch nicht viel einfacher. Die hatte jetzt Sexualkundeunterricht und hat entsprechende Fragen zu Hause gestellt und war zutiefst entsetzt, dass Tamico und ich ein Sexualleben haben."

"Ist es nicht merkwürdig, dass Kinder immer glauben, die eigenen Eltern schlafen nicht miteinander. Filius ging es ganz ähnlich, als ich mit Michael zusammen war und ich ihm dann eines Tages erzählte, dass er ein Geschwisterchen bekommt. Er war auch zutiefst schockiert. Die eigene Mutter kann doch unmöglich mit einem Mann schlafen."

"Weißt du. dass es mir genauso ging? Du warst die größte Peinlichkeit in meinem Leben."

"Wie bitte?!"

"Ich fand es ausgesprochen schwierig und peinlich, meinen Schulfreunden zu erzählen, dass meine Mutter schwanger ist. Leider konnte ich es irgendwann nicht mehr geheimhalten. Schwangerschaften sieht man nun mal irgendwann."

"Das ist jetzt nicht dein Ernst?"

"Doch! Es war mir zutiefst peinlich und ich wüsste heute nicht mal, warum. Ich meine, unsere Eltern hatten doch weiß Gott keine Probleme damit uns aufzuklären. Sexualität war nie ein Tabuthema bei uns zu Hause, wir haben immer ganz offen darüber gesprochen. Trotzdem war es mir peinlich, dass meine Eltern in ihrem Alter miteinander schliefen. Heute bin ich so alt wie unser Paps damals und finde, es ganz normal und wunderschön, mit meiner Frau zu schlafen."

"Ja, manche Sachen muss man erst selbst erleben."

"Stimmt wohl. Und wie sieht Filius das heute?"

"Er hatte sich nach dem zweiten Geschwisterchen mit der Tatsache abgefunden, dass ich keine Nonne bin. Und jetzt hat er selbst ein Sexualleben und findet es eigentlich ganz in Ordnung, dass Sexualität nicht Altersabhängig ist. Mal ganz abgesehen davon, dass er Pädiater werden will, und ohne Sex gibt es keine Babys, so ist das nun mal."

"Und wie läuft es so mit ihm und seiner Freundin? Melissa ist ja wirklich nicht nur unglaublich hübsch, sie ist mir auch sehr sympathisch."

"Ich mag sie auch sehr und die beiden kommen wohl sehr gut miteinander klar. Dennoch ist es ein eigenartiges Gefühl, dass mein Großer bereits mit einer Frau zusammenlebt, die vielleicht mal meine Schwiegertochter wird. Aus Kindern werden Leute."

"Höre ich da ein bisschen mütterliche Wehmut?"

"Ja, sie sind so schnell erwachsen. Gestern waren sie noch die kleinen Zwerge, die man in den Schlaf gewiegt hat, und morgen sind sie flügge und haben selbst Kinder. Manchmal möchte ich schon ein bisschen die Zeit anhalten und so manchen Moment würde ich gerne noch einmal erleben."

"Komm her, kleine Schwester und lass dich umarmen. Die Gelegenheit habe ich auch viel zu selten. Ich finde es ohnehin schade, dass wir so über die ganze Erde verstreut leben und uns so selten sehen können. Es ist schon merkwürdig, wie sich manche Dinge entwickeln."

"Aber dennoch, trotz der riesigen Entfernungen sind wir doch eine sehr harmonische Familie. Allerdings hätte ich euch fünf gerne mehr in meiner Nähe und wenn es nur dazu wäre, mich bei einem von euch anzukuscheln, so wie ich es als Kind getan habe. Eigentlich bin ich zum Kuscheln mit euch viel zu groß oder?"

"Ich liebe es, wenn du dich ankuschelst. Und wenn ich ehrlich bin, hätte ich das auch gerne viel öfter. Ich liebe dich, Nesthäkchen."

"Ich dich auch, großer Bruder. Schön dass du da bist."

Zwei Tage vor Weihnachten habe ich den letzten Akupunkturtermin in diesem Jahr. Mit einem verschmitzten Lächeln erzählt Frau J., die Sprechstundenhilfe meines Orthopäden, sie hätte sich durch den Moxa Rauch, dem sie ständig ausgesetzt ist, eine Lungenentzündung geholt.

"Na, jetzt hören Sie aber auf!", schüttelt mein Orthopäde lächelnd den Kopf und wendet sich dann an mich: "Fragen Sie Ihren Freund in Peking mal, ob das möglich ist. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen."

Wir müssen alle drei lachen.

Als Dr. L. geht, wünscht er mir schöne Feiertage und schenkt mir noch ein unwiderstehliches Lächeln.

"Ich habe neulich wirklich eine Lungenentzündung gehabt," erklärt mir Frau J. als er draußen ist.

"Und was glauben Sie, hat er gesagt, als ich wieder zur Arbeit kam?"

"Keine Ahnung. Was denn?"

"Er fragte: Hatten Sie einen schönen Urlaub? Das ist doch wohl eine Frechheit, oder?"

Wir müssen beide lachen und schütteln über 'unseren' Doktor die Köpfe. Auch bei meiner Familie bricht Heiterkeit aus, als ich von der Lungenentzündung durch Moxa Rauch berichte.

"Willst du die Weihnachtsgans wirklich mit Beifuß würzen? Nicht dass wir alle eine Lungenentzündung bekommen.", wirft mein Bruder Ingo lächelnd ein.

"Auch auf die Gefahr hin, dass wir alle eine Lungenentzündung bekommen, werde ich die Gans mit Beifuß würzen. Du musst ja keine essen," erwidere ich das Thema damit abschließend.

 

 

Kapitel 66

 

 

 

Am 23. Dezember schmücke ich am Abend mit Ralf zusammen unseren Weihnachtsbaum. Seit vielen Jahren hatten wir das nicht mehr zusammen getan und genießen es daher doppelt.

Plötzlich wird mir schwindelig und ich muss mich setzen. Ich drücke Ralf den Strohstern in die Hand, den ich gerade an den Baum hängen wollte, und lasse mich auf die Couch fallen. Erstaunt sieht er mich an.

"Was ist denn jetzt los?"

"Ich weiß nicht, mir ist schwindelig. Das geht sicher gleich wieder vorüber."

"Du bist ja schneeweiß. Hast du das öfter?" Ralf setzt sich auf die Kante der Couch und nimmt meine Hand.

"Nein, eigentlich nicht. Ich weiß auch nicht, was los ist. Bis eben ging es mir eigentlich noch gut."

"Wie weit seid ihr beiden denn? Das Abendessen ist fertig." Filius steht plötzlich im Wohnzimmer und sieht erstaunt auf mich herunter.

"Was ist denn mit dir, Mum?"

"Ihr ist schwindelig. Sie war schneeweiß, aber jetzt bekommt sie gottlob wieder Farbe. Geht es wieder etwas besser?"

"Ja, macht euch keine Gedanken. Wer weiß, was das war. Vielleicht habe ich nur zu wenig gegessen heute. Jetzt geht es jedenfalls wieder.“

"Dann lassen wir den Baum jetzt Baum sein und schmücken ihn morgen früh weiter. Wir gehen jetzt essen und danach legst du dich hin und ruhst dich ein bisschen aus."

"Das ist doch nicht nötig."

"Widersprich nicht immer. Du legst dich nach dem Essen hin und damit Ende der Durchsage!"

Am nächsten Morgen geht es mir auf keinen Fall besser. Wenn ich mich bewege, fange ich an zu schwitzen. Setze ich mich aber hin und ruhe mich ein bisschen aus, fange ich an zu frieren. Dennoch schmücke ich mit Ralf den Baum weiter und begebe mich schließlich in die Küche, um den obligatorischen Kartoffelsalat zuzubereiten, den es Traditionsgemäß am Heiligen Abend bei uns gibt. Schließlich überkommt mich wieder ein heftiger Schwindelanfall. Ralf kann mich gerade noch auffangen, bevor ich gänzlich umkippe.

"Was ist denn los mit dir, Tina?" Besorgt sieht er mich an und legt mir schließlich seine Hand auf die Stirn.

"Du hast Fieber. Du gehörst ins Bett!"

"Das geht doch nicht. Heute ist Heiligabend, ich habe überhaupt keine Zeit, mich ins Bett zu legen."

"Die wirst du dir jetzt nehmen. Du gehst jetzt hinauf, ziehst dich aus und dann wird Fieber gemessen."

"Ralf!"

"Keine Widerrede, das ist eine ärztliche Anordnung."

Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich zu beugen. Also begebe ich mich ins Schlafzimmer, ziehe mich aus und lege mich kommentarlos ins Bett. Filius bringt mir das Fieberthermometer und bleibt neben mir stehen, bis die Messung beendet ist.

"Gib her!" Mein Sohn hält fordernd seine Hand her.

"Ich kann das Thermometer alleine ablesen."

"Weiß ich, aber ich habe Onkel Ralf versprochen, zu kontrollieren, wie hoch die Temperatur ist."

Etwas widerstrebend händige ich ihm das Thermometer aus. "Nicht schlecht für den Anfang: 39,4 Grad. Du bleibst im Bett!"

Damit ist Filius verschwunden, während ich ihm noch sprachlos hinterher sehe. Aber wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich im Bett besser als außerhalb desselben. Also kuschel ich mich in die Kissen und verschlafe mehr oder weniger den Nachmittag.

Am Spätnachmittag sitzt plötzlich Michael auf der Bettkante und will wissen, wie es mir geht.

"Ich werde auf jeden Fall zur Bescherung aufstehen," erkläre ich mit Nachdruck.

"Bist du sicher?"

"Absolut!"

"Na gut, du musst es wissen. Dann zieh dir was an, wir können gleich mit der Bescherung anfangen, wenn du soweit bist."

Wenn ich mich in meinem Bett noch einigermaßen gefühlt habe, so muss ich jetzt zugeben, dass es mir außerhalb meines Bettes nicht besonders gut geht. Mir ist mal kalt und mal heiß und ich habe Schmerzen beim Atmen. Dennoch lasse ich die Bescherung über mich ergehen.

Nachdem die Kinder mit Begeisterung ihre Geschenke entgegengenommen haben und wir Umarmungen und Weihnachtswünsche ausgetauscht haben, reicht meine Kraft nicht mehr aus, ich kippe fast um. Diesmal ist es Michael, der mich gerade noch auffängt, und wieder werde ich ins Bett geschickt.

Während Michael und Tamico sich um das Abendessen kümmern, kommt diesmal Ralf, um zu kontrollieren, wie hoch die Temperatur ist. Mir ist alles egal. Ich möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Entsetzt schüttelt mein großer Bruder den Kopf, als er das Thermometer abliest: Die Temperatur ist auf 40 Grad gestiegen.

"Du brauchst ganz eindeutig einen Arzt, Nesthäkchen. Ich sage Michael Bescheid."

Damit verlässt er das Schlafzimmer.

Eine ganze Zeit später steht Michael plötzlich mit einem mir unbekannten Herrn im Schlafzimmer. Dieser stellt sich mir als Dr. P. vor und erklärt mir, dass er von der Familie gerufen wurde, da es mir Augenscheinlich nicht besonders gut gehe. Wenn ich keine Einwände hätte, würde er mich gerne untersuchen. Mir ist alles egal, ich fühle mich hundeelend und lasse einfach alles geschehen.

"Tja, Sie haben ganz eindeutig eine Lungenentzündung. Ich schreibe Ihnen ein Antibiotikum auf und dann wird es Ihnen sicherlich bald besser gehen. Auf jeden Fall werde ich für den Kollegen, der morgen Dienst hat, eine Notiz hinterlegen, damit er im Laufe des morgigen Tages noch einmal hier herauskommt, um nach Ihnen zu sehen."

Ich nicke und schließe meine Augen wieder. Ich möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden.

Ich höre, wie Dr. P. noch kurz mit Michael spricht und sich dann verabschiedet. Gleich darauf sitzt Michael auf meiner Bettkante und streichelt mein Gesicht.

"Was hat er dir gesagt?", frage ich meinen Mann.

"Er sagt, wenn es dir schlechter gehen sollte, sollen wir einen Krankenwagen rufen und dich ins Krankenhaus bringen lassen."

"Was sagt denn der Arzt?" Ralf hat das Schlafzimmer betreten und betrachtet mich besorgt.

"Sie hat eine Lungenentzündung, wir müssen das Antibiotikum noch aus der Apotheke holen. Am besten fahre ich gleich mal los." Michael erhebt sich und zupft kurz meine Bettdecke zurecht. Wann lassen die mich endlich in Ruhe?

"So, so, eine Lungenentzündung. Wie war das mit der Moxa Vergiftung? Es ist ja wohl völlig klar, dass die Gans ohne Beifuß zubereitet wird."

"Mir ist das so egal, macht doch was ihr wollt," murmele ich aus meinen Kissen hervor.

"Möchtest du schlafen?"

Ich nicke. Jetzt zupft Ralf auch noch meine Bettdecke zurecht, obwohl es daran nichts zu zupfen gibt.

"Gut, dann versuch zu schlafen. Wir sehen wieder nach dir. Soll ich vielleicht die Tür auflassen, dann können wir dich notfalls hören."

“Mach sie bitte zu, bei dem Kinderlärm hört ihr ja doch nichts."

“Dann ruh' dich aus."

Endlich fällt die Tür zu. Mühsam drehe ich mich auf die Seite und schalte das Licht meiner Nachttischlampe aus.

Die Dunkelheit tut mir gut ...

Zwei Tage dämmere ich vor mich hin und dann geht es mir langsam wieder besser. Am dritten Tag schaffe ich es endlich wieder, etwas zu essen, und meine Familie atmet auf. Allerdings werde ich wie ein rohes Ei behandelt. Wenn ich mich im Wohnzimmer in meine Lieblingsecke kuschle, kommt sofort jemand mit einer Wolldecke angerannt und besteht darauf, dass ich mich einwickle. Permanent stehen irgendwelche Säfte und Tees vor meiner Nase, damit ich auch ausreichend trinke, und zwischendurch werde ich liebevoll mit kleinen Leckereien gefüttert, damit ich wieder zu Kräften komme.

Auf der einen Seite liebe ich die Fürsorge die mir zuteil wird, auf der anderen Seite geht sie mir auf die Nerven.

Aber was soll ich tun? Jeder Widerspruch wäre zwecklos. Also nehme ich alles dankbar hin und versuche, mich einfach wohlzufühlen.

Wenige Tage später haben wir Silvester. Im Gegensatz zum vergangenen Jahr geht es mir dieses Jahr doch wesentlich besser und so lasse ich mich auch darauf ein, mit meinen Brüdern samt Familien nach Magdeburg zu fahren. Michael hatte dort über seinen Betrieb eine Silvesterfeier gebucht. Immerhin kommen wir so frühzeitig in Magdeburg an, dass ich mich noch ein bisschen hinlegen kann, bevor es ernst wird.

Der Silvesterabend wird ein voller Erfolg. Ich fühle mich sehr wohl im Kreis meiner gigantischen Familie und für meine Brüder ist es ein besonderer Genuss einmal wieder eine deutsche Silvesterfeier zu erleben.

Das große Ereignis beginnt mit einem eindrucksvollen Barockfeuerwerk in der Hotelhalle und einem dazugehörigen Champagnercocktail, auf den ich allerdings verzichte. Bei meinen starken Schmerzmitteln bin ich lieber vorsichtig und verzichte auf Alkohol in jeder Form.

Über den Abend verteilt gibt es verschiedene Attraktionen, von denen auch unsere Kinder beeindruckt sind: Von Hochseilartistik über Clownsnummern und einem Zauberkünstler wird ein buntes Programm geboten. Die Jubelschreie unserer Kinder nehmen kein Ende mehr, als gegen halb elf das große Eisbuffet eröffnet wird. Wann hat man schon mal die Möglichkeit, so viel Eis in sich hineinzuschaufeln, wie der Magen vertragen kann und ich staune, was ein Kindermagen so alles verträgt. Gegen halb drei scheuchen wir die Kinder ins Bett und ich selbst falle kurz danach völlig erschöpft, aber zufrieden und glücklich in mein Hotelbett.

Nach einem gemütlichen Frühstück tritt der Großteil der Familie die Rückreise an. Lediglich Christian und seine Frau Florence, sowie Ingo und Camille bleiben noch gemeinsam mit Michael in Magdeburg, um die Stadt noch ein bisschen zu erkunden. Sie werden am nächsten Tag gemeinsam mit Michael und seinen Busgästen zurückkommen.

 

Kapitel 67

 

 

 

Endlich wieder zu Hause verziehe ich mich Mittags in unser Schlafzimmer. Die Fahrt nach Magdeburg war doch anstrengend. Außerdem habe ich beim Atmen immer noch Schmerzen, wenngleich das Fieber auch weg ist. Also strecke ich mich auf meinem Bett aus und schlafe irgendwann ein.

Christina weckt mich am Nachmittag. Sie sitzt auf der Bettkante und wünscht mir ein hoffentlich gesundes Jahr 2000; ich könnte es gebrauchen.

"Darf ich mich auf Michaels Bett legen?", fragt sie mich mit einem Lächeln und streckt sich im gleichen Moment neben mir aus, ohne auf eine Antwort zu warten.

"Wie geht es dir?", frage ich sie und stütze mich auf meinen Ellenbogen.

"Ziemlich gut."

"Und dem Baby?"

"Dem geht es auch ziemlich gut."

"Hast du inzwischen mit Hans gesprochen?"

"Nein. Weißt du, wenn er René abholt, dann ist seine Freundin dabei. Wenn er René wieder bringt, ist sie ebenfalls dabei und als ich René Weihnachten zu ihm gebracht habe, war sie auch anwesend. Was soll ich tun, Tina? Soll ich ihm sagen: 'Hör zu mein Lieber, ich bin von unserem letzten amourösen Abenteuer schwanger. Entscheide dich jetzt: das Baby und meine Wenigkeit oder dieses blonde Gift an deiner Seite' Was meinst du, was dann passiert?"

"Sie ist blond?"

"Sie ist nicht nur blond, sie ist Krankenschwester und hat sich den angehenden Oberarzt geangelt, wie in einem billigen Arztfilm, wie findest du das?“

"Bist du jetzt nicht ein bisschen gehässig, Christina?“

"Ja, bin ich. Ich finde es unglaublich, wie schnell er sein Leben umgestellt hat. Es ist, als hätte es mich nie gegeben, als wären wir nie verheiratet gewesen. Und ich blöde Gans hüpfe mit ihm auch noch in die Kiste. Dabei habe ich genau gewusst, dass er bereits eine andere hat. Aber vielleicht habe ich gedacht, wenn er mit mir wieder schläft, dann ist das mit der anderen nicht so ernst. Natürlich habe ich auch keine Sekunde mehr daran gedacht, dass ich die Pille nicht mehr nehme und werde prompt schwanger. Ich kann es ihm nicht sagen, Tina. Ich weiß wirklich nicht wie."

"Aber er wird es irgendwann erfahren."

"Na und, ich könnte doch auch einen anderen gehabt haben."

"Das glaubt er dir nie."

"Du hast recht."

“Sag mal, wie denkst du jetzt über die Schwangerschaft? Ich meine - ich ... Was ich sagen will, ist ...ehm ..."

"Du machst dir Sorgen, weil du mir den Kopf zurechtgerückt hast und ich den Mut nicht finde, mit Hans zu sprechen? Tina, ich habe diesen Abbruch wahrscheinlich niemals wirklich gewollt. Ich denke, es war der erste Schock, der mich zu so einer Aussage getrieben hat. Aber du warst ganz schön drastisch, meine Liebe."

"Bist du mir böse?"

"Nein, überhaupt nicht. Ich bin froh, dass du so reagiert hast. Vielleicht wäre es für mich schlimmer, wenn ich eine Freundin gehabt hätte, die mich auf diese Aussage hin an die Hand genommen und mich in eine Abtreibungspraxis geschleppt hätte. Ich bin von Herzen froh, dass du nicht so bist."

"Ich finde einfach, dass in einer Zeit der modernen Verhütungsmittel keine Frau mehr ungewollt schwanger werden muss. Wenn sie es doch wird, dann sollte sie bitte auch die Verantwortung tragen, aber so, dass sie auch ihrem Kind gerecht wird. Ich finde, niemand hat das Recht, ein Kind zu töten - überhaupt zu töten. Und mir ist völlig egal, was andere Leute darüber sagen oder denken. Ich habe vor kurzem die Anmerkung eines Gynäkologen gelesen, der der Ansicht ist, dass die Frauen, wenn sie nicht legal abtreiben dürfen, wieder verstärkt zu einem Engelmacher gehen würden. Das war früher sicher richtig, aber heute gibt es die Pille, Kondome, Intrauterinpessare und weiß der Kuckuck was alles. Man muss nicht mehr schwanger. werden, Ende der Fahnenstange."

"Du hast da eine sehr festgefahrene Meinung, Tina. Als du mit René schwanger warst, hast du nicht auch einen Moment lang über einen Abbruch nachgedacht? Du warst erst fünfzehn."

"Nicht eine Sekunde, Christina. Für mich war immer klar, dass man ein Leben nicht zerstören darf. Es spielt doch keine Rolle, wie alt jemand ist."

"Irgendwie hast du ja recht. Ich wünsche mir manchmal, ich könnte die Welt mit deinen Augen sehen. Du hast unglaubliche Prinzipien. Machst du dir damit nicht manchmal auch das Leben schwer?"

"Immer dann, wenn jemand meine Gedanken und Vorstellungen nicht teilen kann oder will. Aber manchmal kann ich die Gegenseite auch von meiner Meinung überzeugen, so wie in deinem Fall und gerade in deinem Fall hat mich das besonders glücklich gemacht."

"Du bist schon etwas Besonderes, Tina. Ich bin froh, dass du meine Freundin bist - nein! Dass ich deine Freundin sein darf!"

 

 

 

 

 

Kapitel 68

 

 

 

Am 3. Januar fahre ich wie geplant zur Schmerzbehandlung. Wie beim letzten Mal werde ich aufs Herzlichste begrüßt. Dr. E. tätschelt mir liebevoll die Schulter, während er mir erläutert, wie er vorgehen will. Ihm schweben ungefähr sechs epidurale Injektionen vor. Er ist sich sicher, damit mein Schmerzproblem aus der Welt zu schaffen. Ich bin keineswegs so überzeugt wie er. Damit mir nicht wieder heftige Kopfschmerzen zu schaffen machen, wie bei den vorangegangenen Injektionen, verabreicht er mir ein Migränemittel und schickt mich noch eine halbe Stunde ins Wartezimmer, allerdings nicht ohne meinen grünen Tee.

Exakt eine halbe Stunde später werde ich von Conny, die ich noch vom letzten Mal her kenne, aufgerufen und in einen Behandlungsraum geführt. Vier Betten und eine Liege stehen in dem Raum und an jedem Bett ist ein Monitoring möglich. Da noch zwei Betten frei sind, soll ich mir eines davon aussuchen. Mit etwas gemischten Gefühlen nehme ich auf der Bettkante Platz und warte auf Dr. E., der auch ziemlich schnell erscheint. Während er die Injektion vorbereitet, plaudert er zwanglos mit mir. Meine Nervosität lässt spürbar nach. Es ist die ruhige Art, mit der Dr. E. die Behandlung angeht. Mit geübten Handgriffen setzt Dr. E. die Injektion, ohne dass ich nennenswerte Schmerzen verspüre. Gleich darauf darf ich mich auf das Bett legen und entspannen. Conny erscheint wieder auf der Bildfläche und schließt mich ans Monitoring an, um meine Vitalwerte zu überwachen.

Nach zehn Minuten taucht Dr. E. wieder auf und will wissen, wie die Spritze gewirkt hat. Ich muss ihn enttäuschen: Außer dass ich wieder meine obligatorischen Kopfschmerzen habe, ist nicht viel geschehen. Meine Schmerzen im Rücken und im rechten Bein jedenfalls sind in der gleichen Stärke vorhanden wie vor der Spritze. Dr. E. schüttelt ein bisschen unwillig den Kopf: "Sie haben immer noch Schmerzen? Spüren Sie denn wenigstens ein warmes Gefühl im Po und im Bein?"

Ich schüttele den Kopf.

"Wissen Sie was? Ich mache die Injektion noch einmal. Würden Sie noch mal auf dem Hocker Platz nehmen?"

"Glauben Sie, dass Sie beim zweiten Mal mehr Erfolg haben werden?"

"Wir können es doch wenigstens versuchen, oder?"

Ich nicke zustimmend und nehme wieder auf dem Hocker Platz. Auch die zweite Injektion ist nicht sehr schmerzhaft, aber sie ist ebenso wenig erfolgreich wie die erste. Nur meine Kopfschmerzen verstärken sich, trotz des Migränemittels.

Wieder wartet Dr. E. zehn Minuten ab, um mich dann zu fragen, ob die Spritze diesmal besser gewirkt hat. Hat sie nicht!

Seufzend betrachtet er mich ein wenig nachdenklich und nickt schließlich mit dem Kopf, als sei er für sich zu einer Entscheidung gekommen. Er bittet mich aufzustehen und mich auf die Liege zu legen.

"Ich werde die Injektion ein bisschen anders platzieren. Vielleicht haben wir dann mehr Erfolg."

"Sie wollen noch mal spritzen?" Ich bin keineswegs begeistert.

"Es muss doch möglich sein, die Schmerzen auszuschalten. Vielleicht hatte ich nur nicht die richtige Technik. Lassen Sie es mich noch einmal versuchen. Ich schwöre auch, Sie dann in Ruhe zu lassen." Ich gebe mich geschlagen und nehme auf der Liege Platz. Dr. E. bittet mich, mich auf die linke Seite zu legen und mich zu entspannen. Die Injektion, die jetzt folgt, stecke ich nicht so einfach weg, wie die ersten beiden. Diese schmerzt heftig und ich beiße entsprechend fest die Zähne aufeinander. Ich bin heilfroh, als Dr. E. mit seiner Arbeit fertig ist und ich mich wieder auf den Rücken drehen darf.

"Warten wir mal zehn Minuten ab und dann werden wir wissen, ob die Spritze was gebracht hat." Er streichelt mir die Schulter und verschwindet.

Conny kommt zurück, um die Werte 'ihrer' Patienten in die Überwachungsbogen einzutragen, und ist etwas irritiert, weil ich mich plötzlich auf der Liege befinde.

"Warum sind Sie denn jetzt hier?"

"Ich spiele ein bisschen Versuchskaninchen."

"Wie bitte?!" Erstaunt betrachtet sie den Überwachungsbogen, in dem natürlich auch die drei Injektionen verzeichnet sind.

"Was hat er denn mit Ihnen vor? Sowas hat er doch noch nie gemacht!" Während Conny sich noch wundert, hat Dr. E. wieder den Raum betreten, um zu hören wie es mir geht. Die Schmerzen sind nach wie vor da.

"Sag mal, was hast du denn hier gemacht? Hast du wirklich dreimal gespritzt?" Conny starrt Dr. E. entgeistert an.

"Ja, habe ich."

"Warum denn?"

"Weil sie nicht nett zu mir ist. Jetzt habe ich ihr drei Spritzen verpasst und keine hat angeschlagen. Also für's nächste Mal muss ich mir was anderes überlegen. Conny, gib ihr einen Termin für Freitag. Ich will sie diese Woche noch mal hier haben. Das ist Ihnen doch recht?"

Ich nicke ergeben. Irgendwie habe ich den Eindruck, Widerspruch wäre zwecklos.

Nach einer ganzen Weile kommt Conny, um mich von der Kabelei, an die ich angeschlossen bin, zu erlösen.

"Sie dürfen wieder aufstehen. Wenn Sie möchten, mache ich Ihnen noch einen Tee."

Kaum sitze ich auf der Kante der Liege, wird mir furchtbar schwindelig. Ich muss mich wieder hinlegen. Sofort schließt mich Conny wieder an den Monitor an. Mein Blutdruck ist in den Keller gesaust und auch die Sauerstoffsättigung reicht nicht aus. Ich bekomme eine Sauerstoffmaske auf's Gesicht gedrückt und Conny flitzt los, um Dr. E. zu benachrichtigen, der auch sofort erscheint.

"Die Spritzen wirken doch, nur nicht so, wie sie sollen. Wie geht es Ihnen jetzt?"

"Etwas besser."

"Na schön, aber Sie bleiben auf jeden Fall noch eine Stunde hier. Wenn Ihre Werte dann besser sind, dürfen Sie nach Hause fahren. Und für Freitag muss ich mir wirklich was anderes überlegen. Na ja, ich werde schon drauf kommen, was Ihnen wirklich hilft. Kopf hoch, wir machen das schon!" Wieder bekomme ich Streicheleinheiten, dann verschwindet D. E. wieder.

Tatsächlich kann ich nach einer Stunde nach Hause fahren. Allerdings nehme ich als Erinnerung die Kopfschmerzen und Übelkeit mit nach Hause.

Zu Hause erwartet mich meine Schwägerin Camille, die in der Küche steht und Abendessen zubereitet. Wie im Sommer mit Ingo abgesprochen, ist Camille nach Weihnachten nicht mehr mit zurück nach Afrika geflogen, sondern bei uns geblieben, um in etwa fünf Wochen ihr Kind zur Welt zu bringen.

Als ich die Küche betrete, sieht Camille mich prüfend an: "Du siehst müde aus, Tina. Willst du dich hinlegen? Ich brauche noch eine Dreiviertelstunde, bis das Essen fertig ist."

"Soll ich dir nicht lieber irgendetwas helfen?"

"Das kommt nicht in Frage. Leg dich hin und ruh dich aus. Ich sage dir Bescheid, wenn das Essen soweit ist. Ich komme hier schon zurecht. Beim Tischdecken können mir dann ja die Kinder helfen."

"Sag Tim Bescheid, wenn der Tisch gedeckt werden kann, er hat heute Tischdienst."

"Tatsächlich?"

"Da an der Wand hängt der Dienstplan. Da kannst du immer nachsehen, wer gerade mit was an der Reihe ist. Tim hat heute Tischdienst, Amrei ist mit dem Müll dran und Sarah mit staubsaugen, wobei ich davon ausgehe, dass heute noch nicht gesaugt worden ist. Und wenn ich mir das hier so ansehe, ist der Müll auch überfällig. Ich werde die Kinder mal an die Arbeit scheuchen."

"Es gibt wirklich einen Dienstplan?"

"Klar! Ich kann sonst nicht kontrollieren, wer mit was an der Reihe ist und dann schiebt es jeder auf jeden und am Ende kann ich es dann alleine machen. Das sehe ich überhaupt nicht ein. So kann sich keiner rausreden."

Nachdem ich meine Kinder auf ihre überfälligen Hausarbeiten aufmerksam gemacht habe, strecke ich mich auf meinem Bett aus. Ich bin wirklich müde. Wahrscheinlich wirken die Medikamente entsprechend nach. Zum Schlafen komme ich allerdings nicht, denn ein paar Minuten später steht Sarah an meinem Bett. Sie hat mir heute noch nicht erzählt, was sie den ganzen Tag über so erlebt hat. Ich halte die Bettdecke hoch und Sarah krabbelt zu mir ins Bett.

"Daniel ist blöd!", erklärt mir Sarah kategorisch.

"Aha und warum?"

"Weil er mich nicht ausreden lässt und weil er mich gehauen hat."

"Und was hast du gemacht?”

"Ich habe ihn getreten, aber er hatte selbst schuld."

"Abgesehen davon, dass ich es nicht besonders nett finde, wenn ihr euch schlagt und tretet, würde mich interessieren, warum Daniel selbst schuld war."

"Weil er blöd ist. Er redet immerzu dummes Zeug."

"Was hat er denn gesagt?"

"Er hat gesagt, mich würde nie ein Mann heiraten, dabei stimmt das gar nicht. Ich heirate Papa, der nimmt mich schon."

"Papa ist aber schon mit mir verheiratet."

"Dann musst du dich eben scheiden lassen, dann kann Papa mich heiraten."

"Ich will Papa aber behalten."

"Willst du vielleicht schuld sein, dass mich wirklich keiner heiratet?"

"Ach Sarah, du wirst irgendwann schon einen Mann finden, der dich nimmt."

"Na ja, ich kann ja vielleicht auch Daniel heiraten, wenn er wieder nett ist oder Kevin, der ist auch nett."

"Na siehst du, du hast ja Auswahl genug. Und außerdem hast du ja auch noch ein paar Jahre Zeit."

"Wann kann man denn heiraten?"

"Wenn man erwachsen ist, Sarah."

"Das dauert ja noch ewiglich, mindestens fünfzig Jahre."

"Na, solange wird es nun wohl nicht dauern, aber ein paar Jahre musst du wirklich noch Geduld haben, mein Trollkind."

Während wir zwei noch angeregt plaudern, betritt Michael das Schlafzimmer.

"Sieh da, meine beiden Lieblingsfrauen. Ich wünsche euch beiden einen schönen guten Abend." Michael verteilt Küsschen und setzt sich schließlich zu uns auf die Bettkante.

“Papa, kannst du mich heiraten?"

"Nein Sarah Kind, das kann ich nicht."

“Warum nicht?"

“Weil ich mit Mama verheiratet bin, sie war schneller als du."

"Kannst du nicht vielleicht auch zwei Frauen haben?"

"Nein, das ist nicht üblich, dass man zwei Frauen hat."

"Dann mach es doch üblich!"

"Nein, mein Schatz, zwei Frauen sind mir zu anstrengend. Mir reicht wirklich deine Mutter, die ist schon anstrengend genug."

"Aber ich bin nicht anstrengend!"

"Was bist du nicht? Natürlich bist du anstrengend, und zwar ganz fürchterlich. Was glaubst du wohl, warum ich arbeiten gehe. Nur damit ich mich zwischendurch von dir erholen kann."

"Dann heirate ich eben doch Daniel.“

"Wolltest du nicht mal Florian heiraten?"

"Nee, nicht mehr, der ist doof."

"Warum denn?"

"Er lässt mich nicht mit seinen Autos spielen, er sagt, ich bin ein Mädchen und Mädchen müssen mit Puppen spielen. Jetzt kriegt er meine Feuerwehr auch nicht mehr zum Spielen."

"Also das finde ich jetzt auch ein bisschen blöd von Florian, zu behaupten, Mädchen müssten mit Puppen spielen."

"Ich zeige ihm morgen meinen Storchenwagen, dann wird er aber staunen."

"Deinen was?"

"Storchenwagen!"

"Was ist denn ein Storchenwagen?"

"Oh Papa, du bist aber auch dumm! Das ist ein Babynotarztwagen, ich habe einen. Soll ich ihn dir zeigen?"

Ehe Michael antworten kann, ist Sarah schon raus und kommt gleich darauf mit ihrem neuesten Spielzeugauto zurück. Es handelt sich tatsächlich um die Miniaturausgabe eines Notarztwagens, auf den ein riesiger Storch gemalt ist.

"Guck mal! In Berlin fährt so einer."

"Woher weißt du das denn?“

"Von Filius. Der ist doch geil, oder?"

"Das ist ein wirklich toller Wagen. So einen habe ich wirklich noch nie gesehen, Klasse!"

"Ich brauche Florians Autos gar nicht, ich habe viel schönere."

"Das finde ich auch, mein Schatz.“

"Der kann doch froh sein, wenn er mich heiraten darf, genauso wie Daniel oder Kevin. Ich werde mir das noch überlegen, ob ich überhaupt einen von denen haben will. Wenn man verheiratet ist, muss man dann zusammen wohnen?"

"Das ist normalerweise so, ja."

"Dann will ich lieber nicht heiraten. Ich will nicht immer mit Daniel oder Florian zusammenwohnen, mit Kevin am liebsten auch nicht. Die wollen dann sowieso nur mit meinen Autos spielen. Ich glaube, ich heirate lieber nicht, das ist besser. Und jetzt gehe ich gucken, ob Tante Camille das Essen fertig hat, ich habe Hunger."

"Gute Idee, ich komme mit - du auch?" Michael betrachtet mich fragend. Ich nicke zustimmend und so machen wir uns auf den Weg in die Küche.

Am nächsten Tag berichte ich Dr. L. von meiner ersten Behandlung in der Schmerzambulanz.

"Was hat er denn gemacht?", erkundigt sich Dr. L. interessiert.

"Zwei Epidurale, weil die Erste nicht angeschlagen hat. Die zweite hat allerdings auch nicht angeschlagen, ich hatte nur wieder Kopfschmerzen."

"Wollte er Ihnen nicht ein Migränemittel geben?"

"Wollte er, hat er auch getan."

"Es hat nicht funktioniert?"

“Nein!"

"Er war doch so überzeugt davon."

"Ja, dumm gelaufen."

"Und was nun?"

"Dr. E. will sich was anderes überlegen. Warten wir's ab."

"Na, da bin ich ja mal gespannt."

"Ja, ich auch!"

 

 

Kapitel 69

 

 

 

Der Januar zieht sich dahin. Mittlerweile ist Dr. E. auf Infusionen umgestiegen, die leider auch ganz und gar ihre Wirkung verfehlen. Ich solle mich nicht entmutigen lassen, bekomme ich gesagt. Leichter gesagt als getan. Über ein Jahr versuche ich jetzt schon ständig, mich nicht entmutigen zu lassen. Mir geht die Geduld und die Kraft dafür aus.

Eine willkommene Abwechslung bietet Tims Geburtstag. Im Gegensatz zum letzten Jahr, hat er sich in diesem Jahr gottlob mit vier Kindern begnügt, so dass es etwas geruhsamer zugeht, als im letzten Jahr. Das ist auch gut so, denn dieses Jahr glänzt Filius durch Abwesenheit, so dass ich die Kinder alleine beschäftigen muss. Camille möchte ich die Geburtstagsgesellschaft auch nicht zumuten. In den letzten Tagen geht es ihr nicht so gut. Sie kämpft mit einer Erkältung und weigert sich hartnäckig, auch nur an Medikamente zu denken. Sie möchte auf keinen Fall ihr Baby gefährden, also läuft sie lieber völlig verschnupft und hustend durch die Gegend, obgleich Birgit ihr auch pflanzliche Präparate angeboten hatte.

Nach einer Weile scheuche ich die Geburtstagsgesellschaft in den Garten. Irgendwie brauche ich jetzt auch dringend ein paar Minuten Ruhe, um mich ein bisschen zu erholen. Es hat geschneit und so ziehen die sieben Kinder bereitwillig ab.

Eine ganze Weile höre ich die Kinder vergnügt herumtoben, bis plötzlich Frederik das Wohnzimmer stürmt, mich am Arm packt und versucht, mich von der Couch zu ziehen.

"Was ist denn bitte in dich gefahren, Frederik?"

"Komm schnell, Sarah ist vom Balkon gesprungen."

"Wie bitte? Was ist Sarah?"

"Vom Balkon gesprungen!"

Immer noch ein bisschen ungläubig folge ich Frederik in den Garten. Vom Balkon führt eine Treppe in den Garten hinunter und an der untersten Treppenstufe lehnt Sarah leichenblass und sieht mich schuldbewusst an.

"Was ist passiert?", frage ich meine kleine Tochter.

"Ich habe mir den Kopf gestoßen," flüstert Sarah.

"Wie denn?"

"Ich bin da oben runtergesprungen und dann habe ich mir den Kopf gestoßen."

"Sie hat die Augen zu gehabt und nichts mehr gesagt, Mama!" Tim hüpft aufgeregt um mich herum.

"Wieso bist du überhaupt da oben runtergesprungen?"

“Wir haben gewettet, wer von der höchsten Stufe runter springt. Der hat dann gewonnen," berichtet Amrei.

"Sarah hat gewonnen!", ruft René aus.

"Ja, Sarah hat gewonnen. Sie ist von ganz oben runtergesprungen, das traut sich sonst keiner."

Inzwischen ist auch Michael auf uns aufmerksam geworden.

"Was ist passiert?", erkundigt er sich bei mir.

"Sarah ist vom Balkon gesprungen und irgendwie mit dem Kopf aufgeschlagen. Sie muss kurzfristig bewusstlos gewesen sein, wir sollten mit ihr ins Krankenhaus fahren."

"Ja, das ist sicher besser. Was machen wir mit den Kindern?"

"Ich bitte Christina herüber zu kommen, für Camille alleine ist das zu viel. Christina macht das sicher. Wasch du Sarah ein bisschen und ich gehe eben rüber und hole Christina."

Christina ist sofort bereit, die Regie auf Tims Geburtstagsparty zu übernehmen, so das Michael und ich uns ohne große Sorgen mit Sarah auf den Weg ins Krankenhaus machen.

Der Arzt dort sieht uns ein bisschen ungläubig an, als wir berichten, dass Sarah vom Balkon gesprungen ist.

"Sie meinen, sie ist runtergefallen?"

"Nein, sie ist gesprungen. Es war ein Wettkampf, sie hat ihn gewonnen."

Der junge Arzt betrachtet mich, als sei ich nicht ganz zurechnungsfähig.

"Das schaffen die anderen nicht, von ganz oben runter zu springen. Ich habe gewonnen." Sarah ist sichtlich stolz und sehr zufrieden mit sich.

"Du bist wirklich vom Balkon gesprungen?"

"Ja!"

"Das sollte man aber nicht tun, da kann man sich ja sonst was brechen. Stell dir mal vor, du hättest dir dabei einen Arm oder ein Bein gebrochen."

"Dann wären wir nicht hierher gefahren."

"Nein, wohin denn dann?"

"Zu Dr. L., der macht sowas wieder heile. Aber ich habe ja alles heile."

"Auf jeden Fall werden wir jetzt noch ein Bild von deinem Kopf machen, um zu sehen, ob der auch heile ist."

"Der ist heile.“

"Wenn er heile, ist, dann darfst du gleich mit Mama und Papa wieder nach Hause fahren."

Kurze Zeit später ist die Röntgenaufnahme fertig.

"Tja, sieht ziemlich gut aus. Wenn Sie wollen, dürfen Sie ihre Tochter wieder mit nach Hause nehmen. Aber sie sollten sie noch eine Weile beobachten. Wenn sie sich irgendwie verändert oder Kopfschmerzen bekommt, Übelkeit und Erbrechen auftritt oder plötzlich das Bewusstsein getrübt ist oder sie tatsächlich ohnmächtig wird, dann müssen Sie sie allerdings so schnell wie möglich wieder herbringen. Aber sie ist eigentlich putzmunter. Ich denke mal, dass da nichts nachkommt. Sie hat eine Menge Glück gehabt."

Der junge Arzt beugt sich zu Sarah hinunter und hält ihr seine Hand hin: "Mach's gut Sarah und versprich mir, nie wieder vom Balkon zu springen. Das geht nicht immer so gut aus wie heute."

Sarah denkt nicht daran, dem jungen Mann die Hand zu reichen. Sie nickt nur, macht auf dem Absatz kehrt und geht. Wir schließen uns an.

Den Samstagvormittag darauf nutze ich die Gunst der Stunde, Michael hat die Kinder mit in den Harz genommen, um mal wieder etwas für meine Schönheit zu tun. Nach einem ausgiebigen Bad bin ich gerade dabei meine Beine mit Enthaarungscreme einzucremen, als jemand an die Schlafzimmertür klopft.

Bernd überrascht mich mit einem Besuch, ist allerdings etwas konsterniert, als er mich in Unterwäsche auf meinem Bett sitzen sieht.

"Entschuldige Tina, ich wusste nicht dass du ... Soll ich unten warten?"

"Nein, komm schon rein. Ich bin jawohl nicht die erste Frau, die du in Unterwäsche siehst."

"Ist es dir nicht unangenehm?"

"Wären wir jetzt im Freibad und ich würde einen Bikini tragen, dann würdest du auch nicht die Flucht ergreifen, oder doch?"

"Du bist unmöglich! was machst du da eigentlich?"

"Ich enthaare meine Beine."

"Ich dachte immer, das macht man mit Wachs."

"Das tut doch weh."

"Rasieren?"

"Ich mache es lieber so. Das ist viel einfacher und ich laufe nicht Gefahr, mich zu schneiden."

"Also meine Freundinnen haben das immer hinter verschlossener Tür gemacht."

"Darf ich dich höflichst daran erinnern, dass ich auch nicht auf dem Marktplatz sitze, sondern in meinem Schlafzimmer."

"Du hast ja recht. Ich bin der Eindringling."

"Das macht nichts, ich freue mich dass du da bist. Hast du freies Wochenende?"

"Ich habe nur heute frei. Der Sonntag ist schon wieder mit Spätdienst versaut."

"Armer Kerl!"

"Wie geht es dir? Was macht die Schmerztherapie?"

Ich seufze ein bisschen.

"Sie bringt also nichts."

"Das habe ich nicht gesagt."

"Doch, hast du. Nicht mit Worten, aber mit deinem Seufzen."

"Ich weiß nicht, wie das weitergehen soll, Bernd. Was soll ich tun, wenn die Schmerztherapie ohne Erfolg bleibt? Sag's mir!"

"Was macht dein Doktor denn jetzt?"

"Welcher?"

"Na der Schmerztherapeut. Der andere ist jawohl gerade im Urlaub."

"Woher weißt du denn, dass Dr. L. im Urlaub ist?"

"Von Michael, wir haben gestern telefoniert. Ich habe meinen Besuch für heute angekündigt. Hat er nichts gesagt?"

"Nein, das hat er wohl vergessen. Aber das ist typisch Michael."

"Also, was macht der Doktor jetzt?"

"Er jagt mir Spritzen in den Rücken und macht eine Infusionstherapie. Dazu haben wir das Morphin absetzen müssen. Mein Kreislauf ist jedes Mal in den Keller gesaust. Zweimal habe ich sogar Atropin gebraucht, damit ich wieder normale Werte bekam. Ohne das Morphin geht es mir nach den Infusionen besser."

"Was nimmst du jetzt an Schmerzmitteln?"

"Das gute alte Tramal und Metamizol. Es reicht nicht, aber ich kämpfe mich durch."

"Konntest du das Morphin problemlos absetzen?"

"Ja, Herr Doktor!"

"Entschuldige, es interessiert mich einfach, wie es dir geht. Übrigens, wusstest du, dass Jan dort im Krankenhaus arbeitet?"

"Welcher Jan?"

"Jan B., mit dem bist du doch auch gefahren."

"Der arbeitet da?"

"Ja, ich habe ihn vor ein paar Tagen getroffen. Er war in der Rettungswache, um ein paar Sachen abzuholen, die er noch dort hatte. Wir haben uns über dich unterhalten und da habe ich ihm erzählt, dass du zu Dr. E. zur Schmerztherapie gehst. Na ja und da hat er mir erzählt, dass er dort arbeitet."

"Im Rettungsdienst?"

"Ja, denke ich doch. Aber anscheinend auch in der Anästhesie. Vielleicht läuft er dir ja nochmal über den Weg."

"Bis jetzt habe ich ihn noch nicht getroffen. Mal sehen. Ich werde jawohl noch öfter hinfahren, so wie es aussieht."

"Wie oft fährst du im Moment?"

"Zweimal in der Woche."

"Und das ohne Erfolg?"

"Ja, ich hatte mir eigentlich mehr davon versprochen. Aber vielleicht bin ich auch nur zu ungeduldig, wer weiß."

"Ich muss dir ehrlich sagen, wenn ich in deiner Haut stecken würde, ich hätte schon lange aufgegeben. Wie machst du das nur? Wo nimmst du diese Gelassenheit her?“

"Das ist wohl irgendwie mein Naturell. Außerdem, ich kann es ja doch nicht ändern. Ich kann nur versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Es gibt so viel Schönes in meinem Leben und ich stehe nicht alleine da. Ich habe eine Familie, die mich liebt, habe Freunde, die immer für mich da sind und zum Glück einen geduldigen Orthopäden, der mich immer noch ertragen mag."

"Manchmal frage ich mich, wie ich dir helfen kann, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass du ganz gut alleine zurecht kommst. Du scheust dich ja zum Glück auch nicht, um Hilfe zu bitten, wenn du nicht mehr weiter kannst. Wie lange willst du jetzt die Schmerztherapie durchziehen, wenn sie so wenig bringt?"

"Weiß nicht. Ich habe nächste Woche ohnehin einen Gesprächstermin bei Dr. E., mal sehen, was er meint. Er ist der Arzt, vielleicht kann er das alles besser einschätzen als ich. Und wenn nicht ... ich weiß es wirklich nicht."

"Magst du mit mir essen gehen?"

"Ich habe eine bessere Idee: Lass uns in die Küche gehen und selbst kochen. Ich möchte Camille nicht alleine lassen. Im Augenblick geht es ihr nicht so gut. Sie würde also nicht mit uns mitgehen. Aber wenn wir hier kochen, können wir sie vielleicht dazu bewegen, etwas zu essen. Was meinst du?"

"Tolle Idee! Weißt du auch schon, was du kochen möchtest?"

"Ich? Wir, mein Lieber. Gehen wir mal nachsehen, was die Schränke so bieten."

"Na schön, du hast mich überredet. Gehen wir also kochen."

Wir müssen nicht alleine kochen. Camille schließt sich uns an und so stehen wir schließlich zu dritt in der Küche.

"Vermisst du eigentlich deinen Mann, Camille?" Bernd betrachtet meine Schwägerin, die lächelnd seinen Blick erwidert.

"Nein, eigentlich nicht. Es ist ausgesprochen angenehm, mal ohne ihn auszukommen."

"Aber du hast ihn immerhin geheiratet."

"Das würde ich auch jederzeit wieder tun. Aber nichts desto Trotz genieße ich es, mal ohne ihn zu sein. Außerdem tut er so, als wäre ich krank. Ständig sollte ich mich ausruhen. Dabei bin ich nur schwanger und das ohne jede Komplikation. Mit meiner Erkältung jetzt hätte er mich bestimmt ins Bett gesteckt."

"Männer sind so, Camille. Michael ist da auch nicht viel anders. Aber es ist doch schön, wenn sie so fürsorglich sind. Für mich wäre es ein Albtraum, einen Mann zu haben, dem das alles gleichgültig ist und der nur an sich denkt. Ich genieße es, wenn sich Michael Sorgen um mich macht. Das zeigt doch deutlich, dass ich ihm nicht egal bin. Und Ingo geht es genauso: Er macht sich Sorgen um dich, Camille und um euer Baby. Sei doch froh, dass er so ist."

"Ja, aber mit zu viel Fürsorge kann man einen Menschen auch erdrücken."

"Ja, da hast du natürlich recht. Findest du, dass Ingo zu fürsorglich ist?"

"Ich glaube, ihm ist im Weg, dass er zu allem Überfluss auch noch Mediziner ist. Er sieht Katastrophen, wo keine sind."

"Du doch auch, oder warum willst du das Baby nicht in Afrika bekommen?"

“Nicht ich will das Baby unbedingt hier zur Welt bringen, sondern dein großer Bruder möchte, dass das Baby hier geboren wird. In seinen Albträumen sieht er so schreckliche Sachen wie eine Steiß- oder Querlage, massive Blutungen, die nicht in den Griff zu kriegen sind und im schlimmsten Fall Kindbettfieber. Du hast doch selbst in Burkina gearbeitet. Wie viele Geburten hast du erlebt, die wirklich riskant waren? Sag es mir!"

"Ingo ist derjenige, der Panik schiebt? Mir hat er gesagt, du wärest diejenige!"

"Männer! Aber du hast meine Frage nicht beantwortet."

"Also, ich habe nicht viele Risikogeburten erlebt. Ganz im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, dass die Geburten in Afrika alle viel leichter und Risikofreier vonstatten gingen, als mit unserer hoch technisierten Medizin. In Afrika kommt niemand auf die Idee, vor einer Geburt einen Einlauf zu machen oder gar eine Rasur des Genitalbereiches. Ich habe auch nie erlebt, dass man einer Frau eine Braunüle gelegt hätte, weil man sie vielleicht ja doch eventuell gebrauchen könnte. In Afrika lässt man der Natur ihren Lauf und ich finde das richtig und gut, solange keine Risikoschwangerschaft besteht. Ich finde, dass wir hier einfach mit allem übertreiben. Wir müssen die Technik einsetzen, weil sie da ist und viel Geld kostet, aber nicht, weil sie erforderlich ist. Erforderlich ist sie nämlich meistens nicht. Ich habe drei Kinder ohne jede Technik zur Welt gebracht. Ohne Rasur, ohne Einlauf, sogar ohne Dammschnitt und ohne "Vorsichts Braunüle" und siehe da, es hat alles perfekt geklappt. Meiner Meinung nach belastet es eine Frau nur unnötig, wenn sie während des Geburtsvorganges permanent an irgendwelche Apparate angeschlossen ist, die ihr nur unnötig Angst machen, weil sie ihr die ganze Zeit signalisieren, es könnte ja vielleicht doch etwas schief gehen. Ich frage mich wirklich, was das soll?”

"Tina will wieder mal die Welt ändern." Bernd betrachtet mich lächelnd.

"Nein, will ich nicht! Ich würde es nur begrüßen, wenn wir endlich aufhören würden, alles so zu übertreiben. Eine Geburt ist ein ganz normaler natürlicher Vorgang. Wenn kein Risiko vorliegt, regelt die Natur alles von alleine. Wir brauchen nichts zu tun, außer vielleicht Hilfestellung zu leisten. Warum beschränkt man sich nicht darauf? Warum müssen Frauen stundenlang am CTG hängen, nur damit der Arzt weiß, wie intensiv die Wehen nun wirklich sind und sich permanent davon überzeugen kann, dass das Herz des Babys im richtigen Rhythmus schlägt. Und dann geraten alle aus dem Häuschen, wenn sich die Herztöne des Babys ändern. Dabei ist die Geburt absolute Schwerstarbeit für ein Kind. Es ist doch normal, dass auch das Herz darauf reagiert."

Bernd und Camille betrachten mich beide mit einem breiten Grinsen.

"In Ordnung, Tina, du hast mich überzeugt. Wenn es so weit ist, dann lassen wir Ingo zu Hause und du gehst mit mir in die Klinik und dann wirst du mir dort alle Leute vom Hals halten, die irgendwelche unsinnigen Sachen von mir wollen."

"Kannst du dann nicht gleich hier entbinden? Dann sparst du dir den Weg ins Krankenhaus und Ingo kann trotzdem dabei sein," gibt Bernd zu bedenken.

"Ihr nehmt mich mal wieder nicht ernst."

"Doch, doch, Tina! Wir nehmen dich ernst und haben kapiert, was du uns sagen willst: In manchen Bereichen sind Mediziner absolut überflüssig."

"Nein, das habe ich nicht gesagt und auch nicht gemeint."

"Was hast du dann gemeint, Engelchen?"

"Das sie nicht immer so übertreiben sollen. Es kann auch ohne Hightech-Medizin funktionieren."

"Was du eindeutig bewiesen hast. Immerhin drei Kinder, die ohne Hightech-Medizin auf die Welt gekommen und bestens gediehen sind."

"Ihr nehmt mich wirklich nicht ernst. Warum rede ich überhaupt mit euch?”

"Ach komm schon! Du hast ja nicht ganz unrecht. Man kann es wirklich übertreiben. Aber Fakt ist auch, dass es Gottlob immer mehr Krankenhäuser gibt, die auf dieses ganze Brimborium verzichten, wenn es möglich ist. Was beweist, dass du nicht ganz unrecht hast und mit deiner Meinung auch nicht alleine dastehst. Aber es gibt eben auch Frauen, die gerne eine schmerzfreie Entbindung wollen, zum Beispiel mittels einer Peridural-Anästhesie."

"Davon habe ich doch auch gar nicht gesprochen. Es ist völlig klar, dass eine Frau, die eine Peridural-Anästhesie wünscht, auch damit leben muss, dass sie medizinisch überwacht wird. Das ist dann nun mal zwingend notwendig. Ich habe aber von der ganz normalen Geburt ohne Schmerzmittel und so was gesprochen."

"Hast du dir bei den Geburten deiner Kinder keine Schmerzmittel geben lassen?" Camille sieht mich verblüfft an.

"Ich habe keine gebraucht, Camille."

"Aber es tut doch weh!"

"Ja, natürlich tut es weh. Aber es hat mir nichts ausgemacht und schließlich ist es ja auch irgendwann ausgestanden. Wehen gehören nun mal zu einer Geburt dazu. Mir haben sie nichts ausgemacht, ich fand es gar nicht so schlimm. Aber natürlich ist jede Frau anders."

Ich werde durch die Haustür Klingel unterbrochen. Bernd geht öffnen und gleich darauf steht Christina in der Küche.

"Was treibt ihr denn hier?"

"Tina versucht mal wieder, die Welt zu ändern."

"Das ist nichts Neues, dass tut sie doch schließlich dauernd. Um was geht es heute?"

"Um die natürliche Geburt."

"Und das heißt?"

"Ohne medizinischen Quatsch, wie die völlig unnötige Braunüle oder den Einlauf und ohne Schmerzmittel usw."

"Lässt du dich jetzt von ihr verunsichern, Camille?"

"Nein, ich hole mir Anregungen."

"Willst du dein Kind ohne Schmerzmittel zur Welt bringen?"

"Das weiß ich nicht. Ich habe ja noch nie eines bekommen. Ich denke, das muss ich abwarten. Aber wenn man Tina so hört, ist es schwierig, eine normale Geburt in deutschen Krankenhäusern zu erleben.“

"Da hat sie allerdings nicht ganz unrecht. Man muss seine Entbindungsklinik schon mit Bedacht auswählen, wenn man nicht auf die Nase fallen will. Bei René habe ich sechs Stunden am CTG gehangen. Du kannst dich nicht auf die Seite drehen und liegst wie angekettet auf dem Rücken. Das ist einfach schrecklich. Du hast nicht die Möglichkeit, mit den Wehen vernünftig umzugehen, weil du die für dich entspannendste Position einfach nicht einnehmen kannst. Diesmal werde ich mich dagegen wehren, da könnt ihr sicher sein. Und die Braunüle war auch völlig überflüssig. Kein Mensch hat sie für irgendwas gebraucht. Sie ist gelegt worden und völlig jungfräulich wieder entfernt worden, das finde ich auch höchst albern. Und warum das Ganze? Weil vielleicht etwas passiert!"

"Meine Worte!"

"Ich finde, Tina hat absolut Recht. Man kann alles übertreiben und nirgendwo wird mehr übertrieben als in der Geburtshilfe. Sie war ein kluges Mädchen, ihre Babys zu Hause zur Welt zu bringen. Da hat ihr niemand rein geredet, sie konnte alles so machen, wie sie es für richtig hielt und wie es für sie und das Baby am besten war. Ich muss allerdings zugeben, dass ich mich das nicht trauen würde. Aber das zeigt auch wieder überdeutlich, dass wir eine ganz normale natürlich Entbindung gar nicht mehr wollen. Wir können nicht mehr damit umgehen, weil die Medien uns immer wieder vor Augen führen, welchen Risiken man sich aussetzt. Man ist nicht mehr werdende Mutter, sondern Patientin. Man wird krank gemacht. Ich finde die Medizin gehört dahin, wo sie wichtig ist. Nämlich zu Frauen, die darauf angewiesen sind, weil sie, aus welchen Gründen auch immer, eine Risikoschwangerschaft hatten und damit das Risiko für Geburts Zwischenfälle gegeben ist. Aber anderswo hat sie nichts zu suchen. Es gibt sogar Kliniken, wo Frauen den Kaiserschnitt wählen können, wie ein Stück Torte in der Konditorei. Da hört wirklich alles auf. Ich habe auch so eine Bekannte. Kaiserschnitt, weil eine Entbindung unter Narkose doch so viel angenehmer ist. Die Probleme kommen dann hinterher, aber da denkt niemand darüber nach. Was sind das bloß für Ärzte?"

"Das sind Männer, Christina. Wahrscheinlich glauben sie auch noch, sie tun den Frauen einen echten Gefallen."

"Ja, sie verkaufen es ja auch so."

"Du lieber Himmel, wenn ich euch Frauen so höre, bin ich wirklich froh, dass ich nicht Gynäkologe bin. Ihr würdet glatt über mich herfallen."

"Wieso? Gynäkologen muss es auch geben. Sie sollen nur nicht so übertreiben."

"Darf ich mal vom Thema ablenken? Was treibt dich zu uns, Christina?”, schalte ich mich ein.

"Eigentlich bin ich rübergekommen, weil ich mich zum Mittagessen einladen wollte. Wie sieht es aus?"

"Gleich fertig. Da wir gekocht haben, wäre es nett, wenn du das Tischdecken übernimmst." Bernd lacht Christina verschmitzt an.

"Mach ich gleich, aber erstmal muss ich euch Tina für einen Augenblick entführen. Hast du einen Moment Zeit?"

"Ja, komm. Wir gehen in mein Arbeitszimmer."

"Na, dann decke ich doch schon mal den Tisch," erklärt Bernd, während er uns die Küchentür aufhält.

"Was gibt es denn, Christina?"

"Ich habe gestern mit Hans gesprochen."

"Oh, was sagt er?"

"Wir werden keinen Neuanfang starten. Das gibt es wohl auch nur in Liebesfilmen. Ich werde also das Baby alleine großziehen. Hans hat sich allerdings bereit erklärt, Alimente zu zahlen. Das ist wohl auch das Mindeste, was ich erwarten kann. Er will dieses blonde Etwas heiraten, wenn die Scheidung durch ist. Ich kann es immer noch nicht fassen, wie schnell er eine Neue hatte.“

"Belastet dich die Tatsache, das er wieder heiratet?"

"Wenn ich ehrlich bin - ja! Irgendwie liebe ich ihn immer noch, Tina. Sonst wäre ich auch ganz sicher nicht schwanger."

"Ich hoffe, ich habe dich nicht zu etwas gedrängt, was du nicht wirklich wolltest?"

"Nein, Tina und wenn ich es dir noch ein dutzend Mal und öfter sagen muss. Ich bin froh, dass du mir den Kopf zurechtgerückt hast und es ist die absolute Wahrheit, wenn ich dir sage, dass ich mich trotz allem auf das Baby freue."

"Ich bin froh darüber, Christina. Wenn du Hilfe brauchst, lass es mich wissen. Ich bin immer für dich da."

"Ich weiß, Tina. Ich bin froh, eine so gute Freundin zu haben."

"Trotzdem verstehe ich Hans nicht. Er wird wieder Vater und er ist schließlich maßgeblich beteiligt daran. Ich finde ihn irgendwie egoistisch."

"Ich weiß nicht. Man kann nichts erzwingen, Tina. Wir hatten uns ja wirklich auseinandergelebt und ich bin nicht unschuldig daran. Ich wollte ihn öfter zu Hause haben, als ihm möglich war und das Ende vom Lied ist, dass ich ihn dadurch ganz verloren habe."

"Ich kann einfach nicht glauben, dass es nur daran gelegen hat. Es sind doch immer beide Seiten daran beteiligt."

"Ja, du hast recht. Ich sollte aufhören, die Schuld nur bei mir zu suchen. Auf Dauer bekommt mir das auch nicht. Ich wünschte, du könntest mir etwas von deinem Optimismus abgeben."

"Nimm dir so viel du brauchst. Davon habe ich reichlich."

"Du bist ein verrücktes Huhn."

"Das habe ich heute schon mal gehört."

"Gehen wir Mittagessen, bevor Bernd uns den Kopf abreißt, weil das Essen kalt wird?"

"Ja, lass uns gehen. Stopf dir vorher die Hosentaschen mit einer Portion Optimismus voll."

"Schon passiert! Ich komme wieder, um Nachschub zu holen."

"Mach das!"

 

 

 

 

 

Kapitel 70

 

 

 

Mein Geburtstag ist schon wieder dran. Ich wundere mich, wie jedes Jahr, wie schnell die Zeit vergeht. Und das, obwohl ich nach wie vor zum Nichtstun verdammt bin. Früh am Morgen werde ich liebevoll von meiner Familie geweckt. Die Kinder müssen zur Schule und in den Kindergarten und wollen mich vorher noch mit ihren Geschenken und dem selbst gebackenen Kuchen überraschen.

Mir geht es nicht gut. Ich habe Schmerzen und flüchte wieder ins Schlafzimmer, um mir meine Injektion zu machen und mich noch ein bisschen hinzulegen. Michael folgt mir und setzt sich schließlich auf meine Bettkante: "Ich hoffe, dass du bald wieder fit bist, Tinchen. Ich hätte dir zum Geburtstag gerne absolute Schmerzfreiheit geschenkt, aber leider weiß ich nicht, wo ich sie hernehmen soll."

"Mach dir keine Gedanken, Michael. Ich schaffe das schon irgendwie. Es muss ja irgendwann wieder besser werden, schlechter geht ja kaum noch, jedenfalls momentan mal wieder."

"Hier sind noch ein paar Päckchen für dich. Sie sind letzte Woche bereits gekommen. Zum Glück ist es mir gelungen, sie vor dir zu verstecken."

Michael stapelt vier Päckchen vor mich hin. Eines kommt aus Kalifornien von meinem Bruder. Es enthält zwei Geschichtsbücher, die sich ausschließlich mit der Geschichte des amerikanischen Bürgerkrieges befassen, und zwar aus Sicht der Nordstaaten.

Ein Päckchen kommt aus Afrika und enthält nicht nur Glückwünsche und Geschenke von Ingo und Peter, sondern auch etliche Briefe von unseren Freunden dort.

Ein weiteres Päckchen kommt aus Delhi von Thomas und Sheriyah. Neben einer wundervollen Perlenkette enthält es jede Menge selbstgemalter Bilder von meinen beiden Neffen Daniel und Ullrich.

Schließlich öffne ich noch das Päckchen von Hsan. Auch er hat an meinen Geburtstag gedacht und ich bin gespannt, was in dem Päckchen drin ist. Es ist ein Kräuterbuch. Auf unzähligen Seiten sind chinesische Kräuter und ihre Bedeutung für den menschlichen Organismus erklärt. Es gibt Ernährungsratschläge und Hinweise, wie die Kräuter zubereitet werden sollten. Aber der Clou des Ganzen ist, dass Hsan zahlreiche Randbemerkungen in das Buch geschrieben hat. Manchmal muss ich über seine Hinweise und Tipps ein bisschen schmunzeln, aber mit diesem Buch hat er mir einen ungeheuren Schatz zukommen lassen. In dieser Kompaktheit bekommt man in Deutschland keine Bücher über chinesische Kräuter und ihre Heilkräfte. Ich bin restlos begeistert.

Am Nachmittag erscheinen Filius und Melissa und drücken mir ebenfalls ein Geschenk in die Hände. Es ist groß und schwer und ich bin gespannt, was sich in dem Paket verbirgt. Als ich den letzten Bogen Papier abgewickelt habe, kennt meine Freude keine Grenzen mehr. In dem Paket befindet sich eine Salzkristall - Lampe. Ich bin total aus dem Häuschen. Seit längerem wünsche ich mir schon eine, war aber immer zu geizig mir gegenüber, um selbst eine zu kaufen.

"Ich hoffe, du freust dich." Filius legt zärtlich seine Arme um meinen Hals und küsst mich auf die Stirn, so wie ich es sonst bei ihm mache.

"Ich freue mich wahnsinnig darüber, ihr beiden."

"Hsan sagt, Salzkristall-Lampen beeinflussen die Seele positiv und halten negative Strahlungen ab. Ich weiß ja nicht so recht. Aber die Hauptsache ist, dass du dich freust."

"Ja, das tue ich wirklich. Ich werde die Lampe in meinem Arbeitszimmer aufstellen."

"Stell sie besser ins Schlafzimmer. Du sollst sie anmachen, wenn du meditierst. Hsan sagt, dann ist das Licht der Kristall-Lampe am effektivsten."

"Na gut, dann stell ich sie ins Schlafzimmer. Woher weißt du das überhaupt alles? Hast du etwa mit Hsan telefoniert?"

"Klar! Er macht sich übrigens Sorgen um dich.“

"Das weiß ich."

"Wenn es nach ihm ginge, würde er dich nach Peking einfliegen lassen und dich die nächsten sechs Wochen in seinem Krankenhaus einsperren. Ich soll dir ausrichten, du kannst ihn jederzeit anrufen."

"Das ist nicht Neues, Filius. Ich nerve Hsan schon genug."

"Ich glaube, du kannst ihn gar nicht nerven. Er ist immer ganz begeistert, wenn du dich bei ihm meldest."

"Na, wenn das so ist, dann kann ich ja beruhigt sein.“

Am Spätnachmittag klingelt das Telefon. Es ist Christoph, meine Kur Bekanntschaft.

"Wieso weißt du mein Geburtsdatum?", frage ich erstaunt.

"Stand auf deinem Therapiepass. Ich habe mir das Datum dann in meinen Notizkalender geschrieben, damit ich es nicht vergesse."

"Das ist wirklich lieb von dir, mich anzurufen. Wie geht es dir?"

"ich arbeite wieder, und zwar ohne Einschränkungen. Keine Schmerzen mehr und auch sonst geht es mir ziemlich gut. Wie geht es dir?"

"Na ja, so gut wie dir geht es mir nicht. Ich werde ganz neidisch, wenn ich dich so höre."

"Kämpfst du immer noch mit Schmerzen?"

"Ja. Es ist wie verhext. Ich kann anfangen, was ich will, es bringt überhaupt nichts."

"Kann ich dir irgendwie helfen?"

“Nein, das kannst du nicht. Aber ich freue mich, dass du angerufen hast."

"Ich wollte mich eigentlich schon früher bei dir melden, aber ich brauchte - wie soll ich das sagen - ich brauchte einen gewissen Abstand. Es klingt vielleicht albern, aber ich hatte mich wirklich in dich verliebt. Aber du wolltest ja nicht."

"Ich liebe meinen Mann und meine Kinder, Christoph. Es tut mir leid, wenn ich in dir Gefühle geweckt habe, die ich nicht erwidern kann und will.“

"Ich mag deine Ehrlichkeit und ich bin ja auch darüber hinweg, sonst hätte ich dich heute nicht angerufen. Dein Mann ist zu beneiden. Ich habe mir nie Gedanken über eine Ehe gemacht, aber bei dir hätte ich vielleicht schwach werden können."

"Es ist müßig, darüber nachzudenken, Christoph."

"Du hast recht, aber es war immerhin ein Traum und das Träumen ist ja nicht verboten. Ich wünsche dir alles Gute, Tina. Vielleicht laufen wir uns ja mal wieder über den Weg."

Ich höre, wie Christoph den Hörer auflegt, während ich noch dastehe und den Hörer unschlüssig in der Hand halte. Schließlich lege auch ich den Hörer auf die Gabel zurück. Im gleichen Moment legt Michael mir eine Hand auf den Rücken und dreht mich sanft zu sich um.

"Bist du schon lange da?"

"Lange genug."

"Man belauscht die Telefongespräche anderer Menschen nicht."

"Ja, ich weiß. Liebt er dich?"

"Ich fürchte - ja."

"Und Bernd?"

"Wie kommst du jetzt auf Bernd?"

"Ich stelle einfach nur fest, dass es da ein paar Männer in deinem Leben gibt, die mir meinen Platz streitig machen wollen."

"Niemand macht dir deinen Platz streitig, am allerwenigsten Bernd."

"Und du selbst?”

"Ich habe meinen Platz schon vor langer Zeit gefunden. Ich muss nicht mehr darüber nachdenken, wo ich hingehöre. Im Übrigen ist das ein sehr schönes Gefühl und ich bin dankbar dafür."

"Liebe hat unterschiedliche Gesichter. Bist du sicher, dass du mich liebst, oder ist das schon die Macht der Gewohnheit?"

"Ich weiß zwar nicht, was heute in dir vorgeht, aber ich habe Schmetterlinge im Bauch, wenn ich an dich denke. Mir fehlt etwas, wenn du nicht da bist. Ich liebe dieses Kribbeln im Körper, wenn du mich küsst. Außerdem fühle ich mich sicher und geborgen in deiner Nähe. Ich liebe dich, mit jeder Faser meines Körpers und ich finde nicht, dass wir darüber überhaupt diskutieren müssen."

"Aber Bernd ..."

"Müssen wir wirklich über Bernd reden? Ja, er liebt mich, aber er hat auch respektiert, dass ich dich liebe und seine Zuneigung niemals erwidern kann und will. Bernd ist mir wichtig, Michael. Er ist ein Freund - nein! Er ist mehr als nur ein Freund. Er hat mir Halt gegeben und ist für mich da und er stellt gewiss keine Ansprüche."

"Du meinst, er ist dann da, wenn ich nicht da bin, um dich aufzufangen?"

"Ja! Wenn es das ist, was du hören willst - ja! Ich bin froh, dass er mir ein so guter Freund ist und du würdest hier jetzt nicht mit mir stehen, wenn er ein weibliches Wesen wäre. Was ist denn heute los mit dir? Bisher dachte ich immer, es wäre für dich kein Problem, wenn ich auch männliche Freunde habe. Habe ich mich geirrt?"

"Nein, Tina. Mein Gott, ich wollte dich nicht kritisieren oder den eifersüchtigen Ehemann hervorkehren. Es war mehr die Einwirkung von Filius, der vorhin feststellte, dass er eine sehr attraktive Mutter hat, die offenbar noch gewisse Anziehungskräfte auf das andere Geschlecht aus übt. Ich habe ehrlich gesagt, nie so drüber nachgedacht. Ich war mir immer so sicher, dass du zu mir gehörst. Aber du bist für andere Männer durchaus eine interessante Frau und das hat mich - ja ich weiß nicht ... Man kann nicht sagen, verunsichert, aber ... Findest du, dass wir eine gute Ehe führen?"

"Daran habe ich nie gezweifelt, Michael. Es hat noch keinen Tag in unserem Leben gegeben, an dem wir uns nichts zu sagen gehabt hätten. Wir streiten nicht, jedenfalls nicht wirklich. Wir lieben und respektieren uns und wir wissen doch beide, wo wir hingehören. Ich bin überzeugt, dass wir eine gute Ehe führen. Es gibt in der Tat Männer in meinem Leben, die ich nicht missen möchte. Ich hege und pflege die Freundschaft zu ihnen, weil sie mir wichtig und wertvoll ist. Aber du bist der Mann, mit dem ich leben möchte, mit dem ich Abends schlafen gehen und Morgens wieder aufwachen will. Du bist der einzige Mann, der mir so viel bedeutet, dass ich alt mit ihm werden möchte. Vielleicht liegt es an mir. Vielleicht sollte ich dir öfter sagen, wie sehr ich dich liebe und wie viel du mir bedeutest."

"Ingo hat mir im Dezember gesagt, Frauen wollen immer wieder neu erobert werden. Er sagt, man soll sich nie ganz sicher sein."

"Mein Bruder ist ein kluger Mann, das hätte ich nicht gedacht. Dann erobere mich doch ganz neu."

"Ich bin so albern, Tina. Kannst du mir verzeihen?”

"Was soll ich dir denn verzeihen?”

"Dass ich dir nicht genug vertraue."

"Nur wer zweifelt, kann auch ehrlich lieben!"

"Ein großes Wort!"

"Von einem großen Mann: Casanova."

"Hat er auch gezweifelt?"

"Sein ganzes Leben lang. Er hat nie die Frau gefunden, die ihm wirklich etwas bedeutet hätte. Entsprechend einsam ist er auch gestorben."

"Dann bin ich ja ein Glückspilz, dass es dich gibt."

"Ich liebe dich, Michael. Vergiss das nicht."

"Eigentlich muss ich mich geschmeichelt fühlen, dass es Männer gibt, die meine Frau so anziehend finden, dass sie sich in sie verlieben."

"Nun, es gibt auch Frauen, die dich anziehend finden. Ich für meinen Teil bin dann immer froh, dass ich schon mit dir verheiratet bin, was nicht unbedingt heißt, dass das Kämpfen ein Ende hat. Aber ich habe auf jeden Fall Heimvorteil."

"So siehst du das?"

"Genauso und du ja auch. Weißt du noch, wie du nach meiner Kur gesagt hast, Christoph täte dir leid?"

"Ja, weil er dich wieder hergeben musste und ich mit dir verheiratet bin und dich behalten darf."

"Du hast keinen Grund zu zweifeln, Michael. Meine Liebe zu dir ist absolut ehrlich und bedingungslos und was Bernd anbelangt: Er ist für mich wie ein großer Bruder und ich habe den Eindruck, dass er damit sehr gut leben kann."

"Ich kann es auch, Tina. Ich liebe dich!"

"Dann lass uns jetzt bitte zur Tagesordnung übergehen. Ich habe Gäste."

"Ja, sofort." Zärtlich legt mein Mann seine Arme um mich und küsst mich. Ich kuschel mich in seine Arme und fühle mich so wohl, wie schon lange nicht mehr. Es gibt nichts schöneres, als die Liebe eines anderen Menschen zu spüren.

 

Kapitel 71

 

 

 

Ende Januar habe ich einen Termin bei einem Rheumatologen. Mein Orthopäde hatte mir eine Untersuchung dort ans Herz gelegt, um eine rheumatische Erkrankung ausschließen zu können, insbesondere auch im Hinblick auf mein ständig schmerzendes Knie. In der Praxis des Rheumatologen muss ich nicht lange warten. Gerade bin ich fertig mit dem obligatorischen Fragebogen, als ich auch schon aufgerufen werde. Ein junger Mann steht in einer offenen Tür und hält mir seine Hand hin: "Guten Morgen! Ich bin Dr. H. Erzählen Sie mir, was Sie zu uns führt."

Ich bete wieder einmal meine Anamnese herunter. Ungeduldig hört Dr. H. mir zu. Als ich fertig bin, schüttelt er unwillig den Kopf:

"Was wollen Sie nun bei mir?“

"Ich bin hier, um eine rheumatische Erkrankung ausschließen zu lassen."

"Das ist doch wirklich albern. Sie haben kein Rheuma. Sie stehlen mir lediglich meine Zeit. Wie kommt ihr Orthopäde bloß auf die Idee, Sie hierher zu schicken? Was soll das bringen?"

"Vielleicht hätten Sie ja wenigstens die Güte und würden die Blutuntersuchungen veranlassen, die notwendig sind, um eine rheumatische Erkrankung auszuschließen."

"Wenn Sie darauf bestehen. Aber deswegen hätten Sie mich wirklich nicht belästigen müssen. Das kann jeder Internist."

Dr. H. verweist mich an seine Sprechstundenhilfe und verschwindet, ohne sich zu verabschieden. Ich bin mal wieder restlos bedient.

Nach der Blutabnahme bekomme ich noch einen Becher für Urin in die Hand gedrückt mit dem Hinweis, dass sich die Toilette am Ende des Flures befindet, dann bin ich entlassen.

Mittlerweile bin ich solche Ärzte gewöhnt. Diese Frechheiten perlen langsam an mir ab. Mein Ärger hält nicht mehr so lange an wie früher.

 

Einige Tage später sitze ich Dr. E. in seinem kleinen Sprechzimmer gegenüber. Vor ihm steht der obligatorische Cappuccino, vor mir ein Becher mit dampfendem grünen Tee. Dr. E. betrachtet mich nachdenklich mit gekrauster Stirn.

"Ich habe wahrhaftig über Sie nachgedacht. Sie sind mit Abstand die netteste und charmanteste Patientin, die ich je gehabt habe, aber Sie sind dummerweise auch die komplizierteste. Normalerweise liebe ich die Herausforderung, aber bei Ihnen muss ich leider das Handtuch werfen."

"Wollen Sie damit sagen, Sie werden mich nicht weiter behandeln?"

"Oh nein! Wo denken Sie hin. Ich wollte damit sagen, dass ich ambulant keine Chance sehe, dass wir beide auf den grünen Zweig kommen. Ich möchte Sie stationär aufnehmen. Ich weiß zwar noch nicht, was ich dann mit Ihnen anstellen soll, aber ich werde darüber nachdenken. Im Augenblick ist ohnehin kein Bett frei. Ich will Sie hier so schnell wie möglich haben, aber ich fürchte, es wird vier Wochen dauern, bis ich ein Bett für Sie frei habe."

"Sie haben mich nicht gefragt, ob ich das überhaupt will."

"Das muss ich nicht! Ich weiß, dass Sie wollen. Was wollen Sie denn sonst auch machen?"

"Da haben Sie wohl recht. Und was machen wir jetzt die vier Wochen über?"

"Nichts mehr. Sie nehmen weiterhin das Tramal und das Metamizol und ich rufe Sie an, sowie ich ein Bett frei habe. Einverstanden?"

"Habe ich eine andere Wahl?"

"Nein!"

Nun muss ich doch lachen und nicke: "In Ordnung. Dann werde ich also stationär kommen, wenn Sie der Ansicht sind, dass das mehr bringt."

"Lassen Sie sich von Dr. L. eine Einweisung ausstellen. Vielleicht geht es ja auch schneller mit dem Bett. Ich werde Sie anrufen und Sie sollten sozusagen abrufbereit sein."

"Na gut."

Zu Hause berichte ich beim Abendessen Michael von meinem Gespräch mit Dr. E.

"Weißt du, dass ich das ganz schön belastend finde, dass dieser Mann nicht mehr weiter weiß? Was soll denn werden, wenn der auch keine Möglichkeit sieht, dir zu helfen. Willst du dein ganzes Leben lang Medikamente in dich hineinstopfen, nur damit du halbwegs beweglich und schmerzfrei bist?"

"Wenn mir nichts anderes übrig bleibt."

"Und was ist mit deinem Job? Das kannst du unter dieser Voraussetzung abhaken. Du schaffst es hier nicht mal, einen Wäschekorb problemlos anzuheben, wie willst du da arbeiten gehen?"

"Ich weiß nicht, was ich machen soll, Michael. Wenn ich im Rettungsdienst nicht mehr arbeiten kann und es sieht ja wohl so aus, dann muss ich mir etwas Neues schaffen. Ich weiß nicht was, aber ich werde jetzt ernsthaft darüber nachdenken. Es ist ja nicht so, dass ich keine Alternativen hätte. Ich habe durchaus akzeptable Angebote vorliegen. Vielleicht nehme ich eines davon an und werde in meinen Studienbereichen arbeiten. Dann habe ich wenigstens nicht umsonst studiert und promoviert. Ich muss mir die Angebote noch mal in Ruhe ansehen und darüber nachdenken, welches unter welcher  Voraussetzung interessant genug wäre."

"Tja, dann werden wir wohl bald eine Wissenschaftlerin in der Familie haben. Was schwebt dir vor? Geschichte oder Literatur?"

"Wenn möglich, beides. Wäre doch gut, wenn ich es miteinander verbinden könnte. Ich habe da ein interessantes Angebot von einem Verlag in Hamburg. Ich könnte bei den Konditionen, die sie mir einräumen, sogar zu Hause arbeiten. Das wäre eine Alternative für mich. Ich werde mich mit den zuständigen Leuten mal in Verbindung setzen."

"Bieten sie dir ein festes Gehalt?"

"Ja, das ist auch eine Voraussetzung."

"Und könntest du ohne Patienten leben?"

"Das werde ich dann wohl müssen. Auf der anderen Seite sehe ich auch nicht ein, warum ich mir den Rücken noch kaputter machen sollte, als er ohnehin schon ist."

"Ja, das sehe ich auch so. Aber lass dir Zeit mit einer Entscheidung. Du musst nichts über den Zaum brechen."

"Ich weiß, mein Schatz. Ich werde mir alles in Ruhe anhören und dann darüber nachdenken. Dann werden wir nochmal darüber reden."

"Das ist ein Wort! Ich werde jetzt ins Arbeitszimmer gehen. Ich habe noch einiges an Korrespondenz zu erledigen. Hast du Lust, mir Gesellschaft zu leisten?"

"Ich scheuche die Kinder ins Bad und dann komme ich. Ich könnte noch ein bisschen lesen. Ich habe da noch ein paar Fachzeitschriften rumliegen, in die ich noch nicht hineingesehen habe."

"Schön! Dann bis gleich, Liebes."

Nachdem ich die Kinder angetrieben habe, duschen zu gehen, verziehe ich mich in Michaels Arbeitszimmer in den Schaukelstuhl und studiere eine Fachzeitschrift.

Nach einer Weile trudelt Sarah ein, frisch gewaschen und im Nachthemd.

"Papa, ich habe heute eine Schlange gesehen."

"Hmhm," antwortet Michael ein bisschen unkonzentriert.

"Darf ich eine Schlange haben?"

"Ja, warum denn nicht? Von mir aus."

"Michael!" Empört betrachte ich meinen Mann, dem Sarah jetzt um den Hals gefallen ist. Ein wenig irritiert sieht er mal zu mir, mal zu Sarah.

"Was denn?"

"Du hast Sarah gerade eben erlaubt, dass sie sich eine Schlange halten darf!"

"Das würde ich doch nie tun."

"Hast du aber gerade."

"Ich habe überhaupt nicht gehört, was sie gesagt hat."

"Warum antwortest du ihr dann?"

"Papa, ich darf jetzt eine Schlange kaufen? Wann denn?"

"Sarah, ich habe die Frage gar nicht richtig verstanden. Du kannst keine Schlange haben."

"Warum denn nicht? Eine Würgeschlange, die beißt auch nicht, hat Katja heute im Kindergarten gesagt."

"Sarah, ich finde, eine Schlange gehört in die freie Natur - in den Dschungel zum Beispiel. Die würde sich bei uns gar nicht wohl fühlen. Das wäre Tierquälerei."

"Ich mache es ihr auch ganz gemütlich."

"Sarah, du müsstest die Schlange einsperren. Glaubst du wirklich, die Schlange würde sich wohlfühlen?"

" Ja!"

"Nein, Sarah. Die Schlange hätte schreckliches Heimweh nach Afrika oder Südamerika oder wo auch immer sie zu Hause ist. Würdest du es gut finden, wenn dich jemand einfach mitnimmt und dich weit weg von uns irgendwo einsperrt?"

"Nein!"

"Siehst du, die Schlange auch nicht. Also möchtest du jetzt immer noch eine haben?"

"Nein, wenn sie traurig ist, dann will ich keine mehr."

"Na siehst du. Und jetzt gehst du ins Bett. Du könntest ja vielleicht von einer Schlange träumen, dagegen habe ich nichts."

"Schade! Gute Nacht, Papa! Mama?"

"Ja?"

"Glaubst du auch, dass die Schlange traurig wäre?"

"Ja, das glaube ich allerdings. Siehst du, Tiere haben auch eine Seele. Sie können genauso traurig sein und Schmerzen empfinden wie wir Menschen. Du möchtest sicherlich niemandem wehtun, oder?"

"Nein! Gute Nacht, Mama."

Als Sarah das Arbeitszimmer verlassen hat, dreht Michael sich zu mir um.

"Sag mal, glaubst du wirklich, dass eine Schlange traurig sein kann?"

“Hunde können es doch auch, warum dann nicht auch eine Schlange?"

"Ach Zaubermaus, mit dir habe ich schon was Besonderes bekommen. Ich liebe dich!"

Ich muss lächeln und stehe auf, um meinen Mann zu umarmen. Ich finde, das hat er sich jetzt verdient.

 

Bei meiner nächsten Akupunkturbehandlung bitte ich meinen Orthopäden um eine Einweisung. Verblüfft betrachtet er mich: "Sie wollen eine Einweisung? Wofür denn?"

"Für die stationäre Schmerztherapie. Dr. E. hat das Handtuch geworfen, was die ambulante Behandlung anbelangt. Er hofft, stationär mehr zu erreichen."

"Das tut mir jetzt ehrlich leid. Selbstverständlich stelle ich Ihnen die Einweisung aus. Was will er denn machen?"

"Ich weiß es nicht. Allerdings wusste er es selbst noch nicht."

"Na, da bin ich ja gespannt. Hoffentlich nutzt es auch was."

"Ja, das müssen wir nun wohl abwarten."

"Ich drücke Ihnen die Daumen. Wann will er Sie denn aufnehmen?"

"Er ruft mich an, sowie er ein Bett frei hat."

"Dann bleibt uns ja nichts anderes übrig, als es abzuwarten."

"Dann war ich mittlerweile bei diesem Rheumatologen."

"Ach ja, was sagt er denn?"

Ich berichte Dr. L. von meinem kurzen Besuch in der Praxis des Rheumatologen. Dr. L. betrachtet mich sprachlos und schüttelt dann unwillig den Kopf: "Also, das ist doch wirklich eine Frechheit. Die haben es wohl nicht mehr nötig zu arbeiten. Das tut mir wirklich leid, dass Sie da nun wieder so eine unangenehme Erfahrung gemacht haben. Es ist wirklich nicht zu glauben, was es für Kollegen gibt. Tut mir wirklich leid."

"Machen Sie sich nichts draus. Ich habe es verkraftet."

"Also da schicke ich wohl besser auch keine Patienten mehr hin. Sie sind ja auch nicht die erste, die dort schlechte Erfahrungen gemacht hat."

Als ich an diesem Tag nach Hause komme, stehen Koffer im Flur. Ingo ist eingetroffen. Also hat alles wie geplant mit seinem Urlaub geklappt.

Im Wohnzimmer sitzt nur Michael und liest in einer Zeitschrift.

"Wo ist denn Ingo?"

"Hallo, mein Schatz. Dein Bruder hat seine Gattin ins Krankenhaus gebracht. Die Freude war zu groß und so haben die Wehen eingesetzt."

"Was? Wie lange sind sie denn schon weg?"

"Zwei Stunden sicher."

"Was soll ich denn jetzt machen?"

"Was du machen sollst? Abwarten bis Ingo sich meldet, was denn sonst."

Abwarten ist gut. Ungeduldig warte ich darauf, dass endlich das Telefon klingelt. Es dauert. Stundenlang wage ich mich nicht aus dem Wohnzimmer, vor Angst, ich könnte das Telefon überhören. Gegen zehn Uhr abends klingelt es endlich. Michael betrachtet mich schmunzelnd, als ich fast schon mit einem Hechtsprung ans Telefon stürze. Es ist wirklich Ingo.

"Ingo, erzähl schon."

"Es ist alles bestens. Wir haben einen gesunden kleinen Jungen. 3100 Gramm und 52 cm und er heißt Felix."

"Ingo, das ist ja wundervoll. Ich gratuliere dir und Camille und mir selbst zum kleinen Neffen."

"Du bist verrückt, kleine Schwester, aber ich liebe dich. Ich bleibe noch bei Camille, bis sie eingeschlafen ist, und dann komme ich nach Hause. Bleibt einer auf?"

"Ja, sicherlich. Bis dann."

Überglücklich falle ich Michael um den Hals.

“Er heißt Felix. Ich freue mich so."

Kopfschüttelnd schließt mein Mann mich in seine Arme.

"Du tust gerade so, als hättest du das Baby bekommen, Zaubermaus. Aber ich freue mich ja auch. So ein kleiner Erdenbürger ist schon was besonderes."

Schöner hätte dieser Tag wohl kaum zu Ende gehen können.

 

Kapitel 72

 

 

 

Es dauert tatsächlich fast vier Wochen, bis mich Dr. E. anruft und mir den Aufnahmetermin mitteilt. Wie abgesprochen, finde ich mich den Montag darauf morgens um acht auf der Station ein. Ich werde zu meiner Freude, auf der gynäkologischen Station untergebracht. Dr. E. hat im ganzen Haus verteilt Belegbetten. Aber die Station, auf der ich aufgenommen werde, ist mir bereits von einem anderen Aufenthalt her vertraut.

Ich melde mich im Schwesternzimmer und werde plötzlich von hinten an der Schulter gepackt und umgedreht. Jan B. umarmt mich kräftig und sieht mich dann prüfend an: "Auf dich habe ich schon gewartet. Herzlich willkommen! Ich freue mich, dich zu sehen."

"Jan, hallo! Bernd hat mir schon erzählt, dass du hier arbeitest. Dass wir uns allerdings so schnell über den Weg laufen, damit habe ich nicht gerechnet."

"Ich bin dein behandelnder Arzt, jedenfalls solange du stationär hier bist."

"Du arbeitest in der Schmerztherapie?"

"Ja, Teilzeit. Ich teile mir den Arbeitsplatz mit einer Kollegin, Frau Dr. M., wirst du wahrscheinlich auch noch kennenlernen. Ein Drittel meiner Dienstzeit verbringe ich in der Schmerztherapie, ein Drittel in der Anästhesie und ein Drittel im Rettungsdienst. Das ist eine interessante Aufteilung, das kannst du mir glauben."

"Hört sich gut an."

"Ist es auch. Man kann hier enorm viel lernen. So, lass dir von Schwester Anne dein Zimmer zeigen. Wenn ich richtig orientiert bin, ist es Zimmer sechzehn. Ich komme dann in einer halben Stunde, um dich aufzunehmen. Reicht dir die Zeit, um dich einzurichten?"

"Na klar, dann bis gleich."

Schwester Anne nimmt mich unter ihre Fittiche und stellt mich in Zimmer sechzehn auch gleich meiner Bettnachbarin vor. Ich bekomme das mittlere Bett zugeteilt und soll es mir gemütlich machen.

"Hallo, ich bin Hella. Wir können doch Du sagen, oder?"

"Ja, natürlich. Ich bin Tina." Ich reiche der jungen Frau meine Hand.

"Bist du schon lange hier?"

“Eine Woche."

"Weswegen? Oder ist das jetzt zu neugierig?"

"Nein, gar nicht. Ich habe Migräne. Eine Form, die nicht in den Griff zu kriegen ist. Aber Dr. E. gibt sich alle erdenkliche Mühe."

"Ja, er ist wahnsinnig nett und einfühlsam."

"Dr. B. ist aber auch sehr nett. Kennst du den schon?"

"Den kenne ich schon länger."

Wir müssen unser Gespräch unterbrechen. Hella wird zur Therapie abgeholt und so bleibe ich alleine zurück.

Es dauert nicht lange und Jan taucht auf.

"Ich hoffe, ich habe nichts vergessen. Auf jeden Fall werde ich dir erst mal Blut abzapfen. Das kennst du ja schon. Mache ich ja nicht zum ersten Mal bei dir."

"Stimmt, ich hoffe nur, dass du es heute besser kannst, als beim ersten Mal."

"Bestimmt, ich hatte eine tolle Lehrerin. Wann sind wir eigentlich das letzte Mal zusammen gefahren?"

"Eschede."

"Oh ja, du hast recht. Wie kommst du damit zurecht?"

"Womit?"

"Mit den Nachwirkungen von Eschede."

"Ich habe keine Probleme damit. Und wie geht es dir?"

"Ich wache manchmal nachts auf, weil ich Albträume habe. Ich habe Hilfe gesucht bei einem KIT

(Krisen-Interventions-Team). Hat aber nicht allzu viel gebracht. So nach und nach kann ich es verarbeiten, aber es dauert. Kennst du Daniel Z. noch?"

"Ja, er hat nach Eschede aufgehört."

"Er hat sich umgebracht, weil er mit den Bildern von Eschede nicht mehr leben konnte und niemand da war, der bereit war, sich mit ihm auseinanderzusetzen."

"Mein Gott, das habe ich nicht gewusst."

"Das Wahnwitzige an der Sache ist, dass er sich vor einen Zug geworfen hat. Er war sofort tot."

"Schrecklich. Wie konnte es passieren, dass ihn keiner auffangen konnte?"

"Es hat ihn niemand ernst genommen. Er hätte wahrscheinlich in psychiatrische Behandlung gehört, aber nachdem er nicht mehr zum Dienst erschien und schließlich kündigte, fühlte sich keiner mehr für ihn zuständig. Ein schlimmer Fehler, den sich alle vorwerfen müssen, die mit ihm zu tun hatten. Ich kann mich da leider auch nicht ausschließen.“

"Das ist wirklich furchtbar."

“Denk nicht darüber nach, Tina. Es ist passiert und wir können es nicht rückgängig machen. Das klingt vielleicht schlimm, aber es ist nun mal so. Können wir uns jetzt mit deiner Anamnese beschäftigen?"

"Ja, natürlich."

"Ich habe hier deine gesamten Befunde. Du hast jawohl alles eingereicht, was da war. Sogar die Befunde aus deiner Kindheit und wenn ich mir die so ansehe, dann hast du ja wohl nichts ausgelassen. Kann es sein, dass du dich irgendwann mal fürchterlich vorgedrängelt hast?"

"Muss wohl so gewesen sein."

"Lass mich mal sehen: lebensbedrohliche Peritonitis, lebensbedrohliche Allgemeine Sepsis, lebensbedrohliche Meningitis und das gleich zweimal, lebensbedrohlicher anaphylaktischer Schock nach einer Monoembolex und eine lebensbedrohliche Magenblutung. Nicht schlecht, Herr Specht! Irgendwie ist mir beim Lesen ganz anders geworden. Ich weiß nicht so recht, ob ich dir über den Weg trauen soll. Wir haben über dich gesprochen und du bist sogar dem großen Meister unheimlich und das will was heißen."

"Eigentlich hatte ich vor, mich gut zu benehmen."

"Ja, tu es bitte, mir zuliebe!"

"Ich werde mich bemühen!"

"Danke!"

Nach erfolgter Aufnahme werde ich von Schwester Anne in die Ambulanz zur Schmerztherapie geschickt. Frau Dr. K. begrüßt mich herzlich. Ich kenne sie bereits von meinen ambulanten Terminen und mag sie sehr. Ein bisschen unsicher sieht sie mich an und entschuldigt sich dann, weil sie erst in meine Unterlagen sehen muss, um herauszufinden, was Dr. E. in letzter Zeit mit mir angestellt hat.

"Na schön, dann mache ich jetzt die Blockade und hänge Ihnen eine Infusion an. Morgen sehen wir dann mal, ob wir den Behandlungsplan umstellen."

Ich sitze mit zusammengebissenen Zähnen da, während Frau Dr. K. mir die Injektionen in die Sakral Fugen verabreicht. Eine ausgesprochen schmerzhafte Prozedur, die ich nicht besonders liebe.

"Es tut mir leid, dass ich Sie so ärgern muss. Letzte Woche hat der große Meister mal an mir rumgedoktert, seitdem weiß ich, was ich meinen Patienten antue."

"Hatten Sie etwa auch Rückenschmerzen?"

"Ja und das nicht zu knapp. Man sollte nicht glauben, wie weh so ein Rücken tun kann. Mir hat es jedenfalls gereicht. Seit wann haben Sie jetzt die Probleme mit dem Rücken?"

"Seit Oktober '98. Seitdem haben die Schmerzen auch noch nicht wesentlich nachgelassen."

"Oh, wie schrecklich. Mir haben die drei Tage gereicht und ich war halbtot und habe den Meister um Hilfe angefleht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie man das so lange aushält."

"Es geht irgendwie. Ich weiß zwar auch nicht so genau, wie ich es mache, aber es geht."

"Okay, dann lasse ich Sie jetzt in Ruhe. Das heißt, ich müsste noch die Infusion anhängen. Möchten Sie eine Braunüle für länger oder sollen wir Ihnen jeden Tag eine Neue legen?"

"Nein, ich hätte gerne eine auf Dauer."

"Wohin?"

"Auf den Handrücken, bitte, da stört sie nämlich am wenigsten."

"Dann werde ich es mal versuchen."

Wie die meisten Ärzte staut auch Frau Dr. K. am Oberarm und kommt zu keinem nennenswerten Erfolg.

"Ich komme nicht in die Venen rein. Vielleicht sollte ich mir doch eine andere Stelle suchen."

"Stauen Sie doch mal am Unterarm, das ist meistens effektiver, wenn man in den Handrücken will."

"Also, ich weiß nicht."

"Tu, was sie sagt. Sie weiß absolut, wovon sie redet."

Erstaunt drehen wir uns beide um. Jan lehnt in der Tür und betrachtet uns lächelnd.

"Ehrlich, du kannst von ihr wirklich noch was lernen."

"Wieso haben sie davon denn Ahnung?"

"Sie ist Rettungsassistentin, und zwar eine verdammt gute."

"Danke für das Kompliment, Jan."

"Oh, das habe ich absolut ernst gemeint."

"Na, dann bedanke ich mich erst recht."

Frau Dr. K. hat auf unsere Hinweise jetzt wirklich am Unterarm gestaut und staunt nun darüber, wie deutlich die Venen auf dem Handrücken hervortreten: "Also, ich muss ehrlich sagen, das habe ich nicht erwartet. Den Trick hat mir aber auch noch niemand verraten."

"Ja, Christine, man lernt nichts Gescheites. Dazu muss man erst in den Rettungsdienst gehen."

"Das ist nichts für mich, Jan."

Während Frau Dr. K. ohne Probleme die Braunüle legt, betritt der große Meister, Dr. E., das Behandlungszimmer.

"Hallo! Ich wollte Sie doch wenigstens begrüßen. Dr. B. wird für die Dauer Ihres Aufenthaltes ihr zuständiger Arzt sein. Ich hoffe, das ist für Sie in Ordnung?"

"Ja, sicher."

"Heute Mittag legen wir Ihnen dann den Katheter."

"Du willst einen Katheter legen?" Frau Dr. K. sieht Dr. E. an, als wäre er plötzlich nicht mehr Zurechnungsfähig.

Aber ich gucke wahrscheinlich nicht viel anders.

"Ja, sicher! Deshalb ist sie doch hier."

"Toll, warum sagt mir das denn keiner? Ich habe jetzt die Blockade gemacht."

"Die schlägt doch nicht an, das haben wir doch nun wohl zur Genüge durch. Jan kann nachher den PDK legen. Du musst mal sehen, wie du Zeit dafür findest." Damit ist der Meister verschwunden.

"Das ist doch nicht wahr. Jetzt habe ich Sie ganz umsonst mit den Injektionen gequält. Also, ich weiß nicht, was ich dazu jetzt sagen soll?"

"Ich habe leider auch nicht gewusst, was er vorhat, sonst hätte ich es Ihnen gerne gesagt."

"Tut mir ehrlich leid. Machst du jetzt gleich das Infogespräch, Jan?"

"Klar, wo ich einmal hier bin."

Also betet Jan mir die unzähligen Risiken herunter, die so ein Periduralkatheter (PDK) in sich birgt. Ich höre mit gemischten Gefühlen zu. Einige Male habe ich beim Legen eines PDK zugesehen, aber dabei nie in Erwägung gezogen, dass es mich mal erwischen könnte.

"Jetzt kenne ich die Risiken. Erzählst du mir jetzt auch die Vorteile oder gibt es keine?"

"Doch, natürlich gibt es Vorteile. Wir werden dir über den PDK Lokalanästhetika verabreichen. Du wirst kein Gefühl mehr in den Beinen haben, es ist eben eine Teilanästhesie, wie man sie auch zu OPs der unteren Extremitäten einsetzt. Es hat aber den Vorteil, dass du während der Dauer der Anästhesie schmerzfrei bist. Außerdem ist es möglich, dir über den PDK Schmerzmittel zuzuführen. Wir werden dann einfach sehen, was effektiver ist und entsprechend verfahren. Der PDK wird zweimal am Tag bestückt, das heißt zweimal am Tag erhältst du die notwendigen Medikamente über den PDK, morgens früh und abends gegen acht Uhr. Abends kommt dann der diensthabende Anästhesist aufs Zimmer, morgens machen wir das in der Schmerzambulanz."

"Schön und wann willst du ihn legen?"

"Gleich nach dem Mittagessen."

"Erfreuliche Aussicht."

'"Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein. Wenn du willst, kannst du jetzt wieder nach oben und dich in dein Bett legen. Versuch, dich zu entspannen, umso leichter wird das Legen des PDK's."

"Danke für den freundlichen Hinweis."

Als ich mein Zimmer wieder betrete, ist inzwischen auch das Bett an der Tür belegt. Eine junge Frau mustert mich neugierig und hält mir nach eingehender Prüfung die Hand unter die Nase: "Hallo, ich bin Anna. Und du?“

"Tina, grüß dich. Wann bist du gekommen?"

"Vor einer Stunde. Warum bist du hier?"

"Probleme mit dem Rücken und du?"

"Ebenso. Eine Entzündung der Iliosakralfugen."

"Ehrlich? Was macht dein Arzt dagegen?"

"Nichts! Warum fragst du?"

"Weil ich auch eine habe und es offenbar keine Therapievorschläge gibt."

"Dann sind wir ja Leidens Schwestern. Wie lange hast du die Probleme schon?"

"Seit Oktober '98, wobei die Entzündung der Iliosakralfugen erst im Juli '99 festgestellt wurde. Und wie sieht es bei dir aus?"

"Seit '96 habe ich die Probleme."

"Das sind ja rosige Aussichten."

Wir werden unterbrochen, weil jemand an die Tür klopft. Gleich darauf steht Jan im Zimmer und erklärt Anna, dass er bei ihr jetzt den PDK legen möchte und die Schwester sie gleich abholen würde.

"Sie wollen den legen? Warum denn nicht Dr. P.?"

"Weil der nicht da ist. Aber ich schwöre, ich kann das auch. Ich habe bereits dreimal einen gelegt, da kann also nicht mehr viel schiefgehen." Damit verschwindet Jan wieder. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.

"Hat er das ernst gemeint?"

"Nein, Anna. Er ist ein Spaßvogel, wenngleich man für seine Scherze geboren sein muss."

Es dauert fast zwei Stunden, bis Anna in unser Zimmer zurückkehrt. Gut gelaunt liegt sie im Bett und strahlt Hella und mich an.

"Dir geht es jawohl gut. Wie war es denn?", erkundige ich mich.

"Dieser Mann ist unfähig! Der hat vielleicht rumgestochert, bis der endlich drin war. Aber es hat ja dann doch noch geklappt. Und jetzt tut es auch nicht mehr weh."

Schwester Andrea erscheint auf der Bildfläche, um mich abzuholen.

"Wenn Sie wollen, dürfen Sie bis in den OP laufen, Sie können aber auch im Bett liegen bleiben. Mir ist alles recht."

"Na gut, dann laufe ich, solange ich noch kann."

Es dauert nicht lange und wir betreten einen kleinen OP-Raum. Jan ist bereits anwesend und nickt mir aufmunternd zu.

"Du brauchst nicht auf den Tisch zu klettern. Ich mache das am Bett. Du musst dich also nur auf die Bettkante setzen. Das hier ist Markus, er ist OP-Pfleger und ausschließlich für dich da. Er wird dich nach dem Legen des PDK's noch eine halbe Stunde hier überwachen. Aber keine Sorge, ich bleibe in der Nähe."

Markus hilft mir auf die Bettkante und stellt eine Fußbank unter meine Füße, während Jan das Bett nach oben pumpt.

"Sag mal, machst du zu Hause eigentlich Stufenlagerung?"

"Ja, warum fragst du?"

"Weil du dafür hier das falsche Bett hast. Du brauchst ein chirurgisches Bett. Markus, vielleicht können wir das Bett eben noch mal tauschen. Willst du mal nachsehen, ob wir im Flur noch eines stehen haben?“

"Haben wir, ich hol es."

Also wird mein Bett getauscht und dann kann Jan endlich loslegen.

"Hat deine Zimmergenossin irgendetwas über meine Künste gesagt?"

"Ja! Sie hat gesagt, du hast rumgestochert."

"Oh nein! Ich habe gewusst, dass ihr euch austauscht. Leider hat sie recht. Ich habe wirklich rumgestochert. Irgendwie bin ich nicht reingekommen. Hoffentlich geht das bei dir besser."

"Das hoffe ich auch.“

"Ich mache jetzt die Lokalanästhesie und dann warten wir ein paar Minuten. Anschließend punktiere ich mit einer Spinalkanüle und schiebe dann den PDK rein, vorausgesetzt, ich komme dahin, wo ich hin will. Wenn der Katheter liegt, erhältst du eine Testdosis Carbo und dann sehen wir weiter. Die Lokalanästhesie haben wir schon mal. Ich hoffe, es war nicht schlimm."

"Ich habe nichts gemerkt."

"Sag mal, hast du eigentlich die Einverständniserklärung unterschrieben?"

"Nein. Du hast mir ja keine gegeben."

"Hättest du da nicht auch mal dran denken können. Jetzt aber schnell, bevor es Ärger gibt. Wo habe ich das Ding denn? Ach, hier!"

Jan hält mir ein Formular und einen Kugelschreiber unter die Nase.

"Das ist mir ja auch noch nie passiert."

Ich reiche ihm das unterschriebene Formular zurück und Jan nickt mir zu.

"Danke! Das hätte echt ins Auge gehen können. Aber auf den Schreck können wir jetzt auch weitermachen."

Jan schreitet wieder zur Tat und ich spüre kaum etwas von den Manipulationen an meinem Rücken. Nach einer Weile ist Jan zufrieden.

"Also, der PDK liegt jetzt. Ich nähe ihn jetzt mit zwei Stichen fest. Die Betäubung müsste noch ausreichen, wenn nicht, melde dich gleich, dann spritz ich nochmal nach."

Das Nähen erweist sich als ausgesprochen unangenehm, die Betäubung klingt bereits ab. Ich sage nichts, denn die Spritze würde auch pieksen und zwei Stiche sind nun wirklich nicht die Welt.

"So, Tina, das wars."

"Das hast du super gemacht. Danke!"

"Ich danke dir. Du hast toll mitgemacht. Leg dich jetzt hin und dann spritze ich dir die Testdosis Carbo."

"Soll ich sie nicht erst mal anschließen?", fragt Markus an.

"Ja, mach das. Ich muss das Carbo sowieso noch aufziehen. Tina, ich tue Morphin mit in die Injektion. Versuchen wir es mal mit fünf Milligramm."

Nachdem Markus mich verkabelt hat, verabreicht Jan mir die Testdosis. Die Testdosis ist nötig, um das Risiko eines plötzlichen kompletten Atemstillstandes auszuschließen. Sollte der Katheter nicht richtig liegen, könnte das passieren. Wenn nach Eingabe der Testdosis nichts nennenswert Beunruhigendes geschieht, kann man davon ausgehen, dass der Katheter richtig liegt und den Rest des Medikamentes verabreichen.

Ich spüre keine Einschränkung der Atmung oder eine Blockade der Brustmuskulatur und so erhalte ich nach einer angemessenen Wartezeit den Rest des Medikamentes.

Im gleichen Augenblick spüre ich, wie meine Beine immer wärmer werden. Irgendwann spüre ich außer dem warmen Gefühl nichts mehr. Meine Beine sind komplett betäubt und auch der ständige Schmerz ist nicht mehr zu spüren.

"Wie geht es dir?" Jan betrachtet mich mit einem Lächeln.

"Danke, gut."

"Soll ich dir etwas zum Schlafen geben?"

"Nicht nötig, danke."

"Na gut. Ich bin in einer halben Stunde wieder hier und wenn dann alles in Ordnung ist, kannst du zurück auf Station. Solange leistet dir Markus Gesellschaft. Bis dann."

Jan streichelt meine Schulter und geht. Ich schließe die Augen und versuche, mich zu entspannen. Es gelingt mir nicht so recht. Das fehlende Gefühl in meinen Beinen stört mich. Irgendwie kann ich nicht damit umgehen. Ich liege auf dem Rücken und kann mich nicht auf die Seite drehen, weil die Beine einfach nicht mitmachen. Markus bemerkt meine Unruhe.

"Ist irgendetwas nicht in Ordnung?"

"Es stört mich, dass ich kein Gefühl in den Beinen habe. Ich würde mich gerne auf die Seite legen, aber das geht nicht, weil die Beine nicht mitmachen. Hast du eine Ahnung, wie lange das anhält?"

"Zwei bis vier Stunden."

"Na prächtig!"

"Vielleicht hättest du dir doch was zum Schlafen geben lassen sollen. Ich kann Dr. B. anpiepsen. Noch ist es nicht zu spät."

"Nein, lass nur. Das geht ja mal vorbei."

"Genieß doch einfach die Tatsache, dass du keine Schmerzen mehr hast. Zumindest im Augenblick."

"Ja, das sollte ich wohl tun."

Ich bin froh, als nach fast vier Stunden langsam das Gefühl wieder in die Beine zurückkehrt. Während Anna die Betäubung geradezu genossen hat, hat sie mich enorm belastet. Ich kann damit nicht umgehen und bin nörglig wie ein Kleinkind.

Gegen fünf Uhr Nachmittags taucht Dr. K. zur Abendvisite auf.

"Na, ihr Katheter Mädels, wie geht es euch?"

"Ich kann nicht auf die Toilette!", jammere ich.

"Weil Sie nicht aufstehen können?"

"Nein, das geht ja inzwischen wieder. Meine Blase blockiert total, dummerweise ist sie aber voll."

Frau Dr. K. hebt meine Bettdecke an und tastet meinen Unterbauch ab.

"Ja, die ist voll, ganz eindeutig. Was sollen wir machen? Einmalkatheter?"

“Ich habe nichts dagegen. Im Augenblick gibt es nur Argumente, die dafür sprechen."

Frau Dr. K. lacht auf und nickt.

"Ich sage Schwester Andrea Bescheid. Können Sie sich eben mal auf die Seite drehen? Ich möchte mir gern den PDK ansehen."

Gehorsam drehe ich mich auf die Seite. Frau Dr. K. stößt im gleichen Moment einen entsetzten Schrei aus.

"Ist der PDK rausgerutscht?", frage ich erschrocken nach.

"Nein, der sitzt 1A, aber Sie schwimmen in ihrem Blut fast weg."

"Was? Das habe ich nicht gemerkt."

"Ist aber so. Sie haben massiv nachgeblutet. Wir werden jetzt ihre Blase entleeren und dann nehme ich Sie mit runter in die Ambulanz und verpasse Ihnen einen Druckverband. Und dann werden wir hoffen, dass die Blutung zum Stehen kommt."

"Und wenn nicht?"

"Darüber denke ich dann nach!"

Schwester Andrea legt mir den Einmalkatheter und kurz darauf fühle ich mich wieder besser. Eine übervolle Blase kann heftige Schmerzen auslösen. Ich bin froh, wenigstens diese Schmerzen so schnell wieder loszuwerden.

Schließlich rollt mich Andrea mit meinem Bett in die Ambulanz hinunter. Frau Dr. K. geht neben uns her und plaudert nett mit mir.

In der Ambulanz läuft uns Dr. E. über den Weg.

"Nanu, was ist denn jetzt los?"

"Die Einstichstelle des PDK blutet massiv nach. Ich wollte jetzt einen Druckverband anlegen. Willst du es dir ansehen?"

"Ja, gucken wir mal."

Dr. E. raubt mir meine Bettdecke und ich drehe mich wieder brav auf die Seite.

"Ach du liebes Bisschen! Wie waren denn die Gerinnungswerte?"

"Alle bestens. Überhaupt sind die Blutwerte optimal, geradezu langweilig normal."

"Wieso kann das dann so nachbluten?"

Ich höre, wie eine Tür geöffnet wird und jemand an mein Bett kommt. Es ist Jan, der ebenso wie Dr. K. und Dr. E. entsetzt ist über die Nachblutung.

"Wolltest du dich nicht gut benehmen? Du hast es versprochen, Tina!"

"Ich weiß. Ich habe keine Ahnung, was los ist."

"Na, dann können wir uns ja zusammentun, wir haben nämlich auch keine Ahnung."

"Hat es beim Legen Probleme gegeben?" Dr. E. betrachtet Jan fragend.

"Nicht die Spur. Es lief alles super und ging auch richtig schnell."

“Na schön, dann machen wir jetzt einen Druckverband und dann kann Conny eben mal das Bett frisch machen. So können wir sie mit einem frischen Verband nicht wieder reinlegen."

Ich darf aus dem Bett klettern und auf einer Liege Platz nehmen und nun kann ich auch die Ausmaße meiner Nachblutung in Augenschein nehmen. In meinem Bett steht eine große Blutlache. Nun kann ich auch die Entsetzensschreie nachvollziehen. Mir geht es auch nicht anders: "Oh Gott!”, rutscht es mir heraus.

"Nicht von schlechten Eltern, meine Liebe. Das ist bestimmt ein halber Liter Blut, der da zusammengekommen ist. Und es blutet immer noch. Wenn keiner nachgesehen hätte, wärest du glatt verblutet. Und das nach dem Legen eines PDK's, das schafft sonst auch niemand."

Ich erhalte einen Druckverband, Conny überzieht mein Bett frisch, befreit mich aus meinem eingesauten Nachthemd und steckt mich in ein Engels Hemdchen. Mein Nachthemd tropft, als hätte man es in einen Eimer Wasser getaucht.

Wieder zurück auf Station, habe ich nur noch den Wunsch zu schlafen und genau das tue ich auch. Ich bekomme nicht mehr mit, dass später am Abend Jan den Verband noch einmal löst, um zu kontrollieren, ob die Blutung zum Stehen gekommen ist. Ich schlafe einfach weiter und werde auch Nachts nicht wach. Endlich mal eine Nacht absolut schmerzfrei.

Am nächsten Tag maule ich Jan an, weil er mir wieder Carbo über den PDK verabreichen will. Ich hasse das fehlende Gefühl in meinen Beinen und bin überhaupt nicht begeistert. Aber Jan duldet keinen Widerspruch und so muss ich mich fügen.

Während ich die Testdosis noch gut vertragen habe, geht es mir nach Verabreichen des restlichen Medikamentes plötzlich immer schlechter. Ich habe den Eindruck, nicht richtig atmen zu können. Als Conny wieder einmal erscheint, um zu fragen, wie es mir geht, jammere ich dann auch entsprechend. Conny wirft einen prüfenden Blick auf den Monitor und macht auf dem Absatz kehrt. Gleich darauf kommt sie mit Jan im Schlepptau zurück.

"Was ist denn los, Tina?", fragt er mich und streichelt sachte über meine Stirn.

"Ich habe das Gefühl, ich kann nicht richtig atmen. Was ist los?"

"Die Sauerstoffsättigung liegt bei 89%, wir werden dir zwei Liter Sauerstoff geben. Der Blutdruck ist auch zu niedrig."

"Wie niedrig?"

"80/50 Hg, Tendenz fallend. Was ist los, Tina?"

"Das frage ich dich."

"Du bist tachykard. Wie weit reicht die Betäubung?"

"Weiß ich nicht."

"Dann machen wir den Kodan-Test."

Jan greift nach einer Flasche Kodan Spray und sprüht mir das Desinfektionsmittel in Höhe des Schlüsselbeins auf die Haut.

"Kalt?"

"Ja, was sonst?", frage ich genervt zurück.

Jan sprüht auf die Brust und schließlich etwas unterhalb der Brust auf den Rippenbogen.

"Das habe ich jetzt nicht so intensiv gespürt."

"Das habe ich mir gedacht. Die Betäubung ist zu hoch gestiegen. Dass du nicht richtig atmen kannst, liegt daran, dass bereits die Brustmuskulatur in Mitleidenschaft gezogen ist. Höher darf die Betäubung nicht steigen, dann müsste ich dich intubieren und dazu habe ich weder Zeit noch Lust, verstanden?"

“Gib mir das notwendige Zeug und ich mach's selbst."

"Ja, das traue ich dir sogar zu. Ich werde dir stattdessen jetzt eine Krankengymnastin holen, die mit dir Atemübungen macht. Weiterhin bekommst du Sauerstoff über die Maske und wenn der Blutdruck noch weiter fällt, er liegt jetzt bei 70/50 Hg, dann bekommst du auch noch Atropin von mir, da bin ich ganz großzügig. Irgendwie verstehe ich aber nicht, warum die Betäubung so hochgestiegen ist. Du hast exakt die gleiche Dosis erhalten wie gestern. Sammelst du das Zeug in deinem Körper? Das wäre dann eine Form von allergischer Reaktion, das sollte man im Auge behalten. Na ja, ich hole jetzt erst mal die Krankengymnastin."

Die Krankengymnastin setzt sich zu mir ans Bett und macht unermüdlich Atemgymnastik. Jan verabreicht mir zwischendurch noch Atropin, um meine Werte wieder in einen normalen Bereich zu bekommen und lässt uns dann wieder alleine. Ich stehe Ängste aus, aber irgendwann spüre ich, dass das Atmen wieder leichter wird - die Betäubung lässt nach.

Die Krankengymnastin verabschiedet sich von mir, während Jan an meinem Fußende steht und auf mich herunter sieht.

"Ich habe mit Dr. E. über dich gesprochen. Wir werden dir ab heute Abend nur noch Morphin über den PDK verabreichen. Das Risiko, dass du noch einen Atemstillstand hier erleidest, ist uns zu hoch. Was meinst du?"

"Tausend Dank. Ich hätte mir ohnehin kein Carbo mehr verabreichen lassen, jedenfalls nicht durch den Katheter."

"Hast du Angst gehabt?"

"Dreimal darfst du raten!"

"Es wäre dir nichts passiert. Wir hätten dich im schlimmsten Fall intubiert."

"Ja und bis dahin wäre ich vor Angst gestorben. Jetzt weiß ich wenigstens mal, wie sich Patienten mit akutem Sauerstoffmangel fühlen."

"Tut mir leid, Tina. Du hattest Angst und ich habe mir nicht die Mühe gemacht, es zu bemerken. Manchmal sind wir doch schrecklich oberflächlich."

"Schon gut, Jan. Es ist ja nichts passiert."

"Es tut mir wirklich leid, Tina. So etwas dürfte mir eigentlich nicht passieren. Aber dafür hast du jetzt ein Problem weniger: keine Teilanästhesie mehr. Wir probieren es jetzt mit Morphin und sehen mal, wie weit wir kommen."

"In Ordnung!"

Die nächsten Tage geht es mir ausgezeichnet. Dank dem PDK und das darüber verabreichte Morphin, bin ich absolut schmerzfrei. Ein wahrer Genuss, den ich schon lange nicht mehr kannte.

Am Freitagvormittag erklärt Jan mir, dass der Katheter am nächsten Tag gezogen wird.

"Du kannst dann am Sonntag nach Hause gehen. Es bringt nichts, nach dem Katheter noch was anderes zu versuchen. Heute Nachmittag haben wir dann das Abschlussgespräch. Du kannst so gegen vier unten sein. Wir sehen uns in Dr. E.'s Sprechzimmer, bis dann."

Anna betrachtet mich ein bisschen neidisch: "Dir hat der Katheter echt was gebracht."

"Ja, das hätte ich auch nicht erwartet. Mir geht es mit dem Katheter wirklich gut. Ich war schon seit ewiger Zeit nicht mehr schmerzfrei. Ohne den Katheter werde ich mich dann wieder umstellen müssen."

Am Nachmittag stehe ich wie verabredet um vier Uhr vor dem Sprechzimmer von Dr. E. Gleich darauf wird mir die Tür von Jan aufgehalten. Dr. E. steht auf, als ich das Sprechzimmer betrete und reicht mir die Hand.

"Hallo, schön dass Sie da sind. Wie geht es Ihnen?"

"Danke, sehr gut. Zumindest mit dem Katheter."

"Ja, darüber wollten wir mit Ihnen sprechen. Dr. B. hat mir berichtet, dass Sie mit dem PDK, nach anfänglichen Schwierigkeiten, sehr gut zurechtgekommen sind."

"Tina, wir haben darüber nachgedacht, ob es für dich nicht sinnvoll wäre, eine Medikamentenpumpe zu implantieren, über die du dann kontinuierlich das Morphin erhalten würdest."

"Eine Morphinpumpe?"

"Ja, es wäre für dich sicherlich eine Alternative. Es gibt natürlich keine Garantie, aber man könnte höchstwahrscheinlich absolute Schmerzfreiheit erreichen."

"Darüber muss ich erst nachdenken."

"Wir wollen dich auf keinen Fall drängen oder dich mit aller Gewalt überreden. Aber es wäre eine sinnvolle Maßnahme."

"Ich muss mich nicht sofort entscheiden?"

"Nein! Nimm die Anregung mit nach Hause und denk in Ruhe darüber nach. Besprich das mit deiner Familie und wenn du magst, auch mit deinem Orthopäden. Wenn du Fragen hast, dann kannst du uns jederzeit anrufen."

"Gut, dann werde ich das tun. In jedem Fall möchte ich mich bedanken. Im Großen und Ganzen war es eine sehr angenehme Woche."

"Mit einer Morphinpumpe könnte es von Dauer sein."

"Ja, danke!"

 

Mir ist jetzt nicht nach Gesellschaft, also verziehe ich mich nach draußen auf den Balkon. Es ist lausig kalt. Obwohl wir schon März haben, hat es geschneit und die Luft scheint vor Kälte zu klirren.

Etwa zehn Minuten sitze ich alleine auf dem Balkon, selbst die Raucher trauen sich bei dem Wetter nicht raus. Ich habe die Füße auf die Sitzfläche eines Stuhles gezogen und die Arme um die Knie geschlungen.

So sitze ich da, als Jan sachte meine Schulter berührt: "Hier steckst du also. Ich habe es mir ja gedacht, dass du hier draußen sitzt. Ist dir nicht kalt?"

"Nein."

"Was tust du denn hier draußen?"

"Nachdenken."

"Worüber?"

Ich sehe hoch und blicke direkt in Jans blaue Augen, die mich besorgt mustern.

"Jan? Kannst du mir bitte eine Frage beantworten?“

"Ja, natürlich. Frag mich!"

"Wird das wieder mit meinem Rücken? Ich meine, die Schmerzen - werden sie irgendwann wieder verschwinden?"

Jan seufzt und nimmt meine rechte Hand, die eiskalt ist.

"Du hast kalte Hände. Aber das ist ja auch kein Wunder, wenn du hier draußen im Kalten sitzt. Du holst dir noch den Tod hier."

"Könntest du bitte meine Frage beantworten? Müsst ihr Mediziner eigentlich immer um alles herumreden?"

"Das ist das erste, was wir auf der Uni lernen," lacht Jan mich an. Im Augenblick finde ich das nicht komisch, ich will eine Antwort, und zwar eine ehrliche.

Jan seufzt und streichelt meine Finger:

"Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass es nie wieder wird, Tina. Aber umgekehrt kann ich dir auch keine Hoffnung machen. Nach den Erfahrungen, die wir mit Schmerzpatienten gemacht haben, gehörst du zu den absolut Therapie resistentesten Patienten. Wahrscheinlich wird dir nichts auf Dauer helfen, aber die Morphinpumpe wäre eine Alternative. Eigentlich ist es die einzige Alternative, die wir dir anbieten können."

"Wenn ich die Schmerzen nicht loswerde, Jan, wie sieht es dann mit dem Rettungsdienst aus?"

"Es tut mir irgendwie besonders leid, dir das sagen zu müssen, Tina, aber ich sehe für dich keine Chance mehr. Allerdings kann man nicht wissen, wie es mit der Morphinpumpe funktioniert. Es kann durchaus passieren, dass du hundertprozentig schmerzfrei wirst und damit auch wieder Belastungsfähig, aber es kann auch passieren, dass die Medikamentenpumpe nur eine begrenzte Wirkung zeigt. Das würde bedeuten, dass du bei Belastung trotzdem Schmerzen hättest und in welchem Umfang, kann man nicht vorhersagen."

"Na ja, eigentlich weiß ich es ja schon ziemlich lange, dass das nichts mehr wird, aber ich wollte es mir nicht eingestehen.“

"Kann ich irgendetwas für dich tun?"

"Du hast viel für mich getan, Jan. Du warst bisher der Einzige, der den Mut aufgebracht hat, mir zu sagen, wie es ist. Danke!"

Ich umarme Jan und lasse ihn allein auf dem Balkon zurück.

Zurück im Zimmer betrachtet Anna mich fragend: "Na, was hat der große Meister gemeint?"

"Er rät mir zu einer Morphinpumpe."

"Und? Was wirst du tun?"

"Ich weiß es noch nicht. Aber ich werde darüber nachdenken."

"Eigentlich bist du ja ein Glückspilz, wenn er meint, dass das Aussicht auf Erfolg hat."

"Bin ich das?"

"Finde ich schon. Und wenn du überlegst, wie es dir mit dem Katheter ging? Du warst doch absolut schmerzfrei. Was willst du denn noch mehr?"

"Vielleicht wollte ich geheilt werden."

"Du stellst Ansprüche, meine Liebe."

"Die Morphinpumpe bedeutet für mich, dass man nur noch Symptombekämpfung betreiben kann. Ich weiß nicht, ob mich das zufrieden macht."

"Du wirst an dieser Krankheit nicht sterben, Tina. Aber du kannst mit der Morphinpumpe dein Leben wieder ein Stückchen Lebenswerter bekommen. Ich finde, dafür lohnt es sich allemal."

Ich antworte nicht mehr. Mein Blick wandert aus dem Fenster. Die Sonne geht leuchtend rot unter und färbt den Schnee. Wie flüssiges Gold sieht er aus. Ich lege meine heiße Stirn an das kühle Glas der Fensterscheibe und sehe in die untergehende Sonne.

Mein Leben könnte lebenswerter werden, sagt Anna.

Lebenswerter - hatte ich in den letzten achtzehn Monaten das Gefühl, mein Leben sei nicht lebenswert?

Nein, eigentlich nicht. Ich war manchmal verzweifelt und habe oft gedacht, ich sei mit meinen Kräften am Ende.

Irgendwie ging es aber immer weiter.

Manchmal schwebten über mir dunkle Sorgen Wolken, aber meine Kinder sorgten immer wieder dafür, dass die Sonne sich ihren Weg durch die Wolken bahnte. Ich habe manche Träne vergossen, aber nicht alle Tränen waren Tränen des Kummers. Mit meiner Familie und mit meinen Freunden, habe ich manche Freudenträne vergossen. Manche Träne, die ich geweint habe, waren nicht meinem Kummer zuzuschreiben, sondern dem Kummer meiner Freunde, an dem ich Anteil nahm. So habe ich Tränen vergossen über Timos Tod und über den entsetzlichen Gedanken, meine Freundin könnte ihr ungeborenes Baby töten und sich damit unglücklich machen.

Hin und wieder war ich seelisch am Boden, weil ich unzufrieden war mit mir und meinem Umfeld. Aber es hat immer wieder Menschen gegeben, die mir aus der trüben Stimmung heraus halfen. Es waren die gleichen Menschen, die auf der einen Seite ihren Kummer mit mir teilten und mir auf der anderen Seite dann auch wieder die Kraft verliehen, weiterzukämpfen.

Oft genug habe ich mich auch selbst am Kragen gepackt und aus dem Sumpf des Selbstmitleids herausgezogen. Selbstmitleid steht mir nicht besonders gut und ich bin auch ein viel zu positiver Mensch, um auf Dauer depressiv zu sein.

Mein Leben hat nie aufgehört, lebenswert zu sein.

Vielleicht war der Standard nicht mehr derselbe, wie vor meiner Erkrankung, aber ich habe gelernt umzudenken.

Eines jedenfalls ist klar: Ich brauche keine Morphinpumpe, um glücklich zu sein. Glück entsteht durch die Menschen, die für einen da sind und die einem nahestehen. Und davon habe ich reichlich.

Sie alle haben mir die Kraft und den Mut vermittelt, meinen Weg zu gehen. Er ist noch lange nicht zu Ende, aber mit Hilfe dieser Menschen, werde ich ihn weitergehen.

Darunter sind Menschen, die ich schon lange kenne und die mir nur noch mehr ans Herz gewachsen sind. Darunter sind aber auch Menschen, die ich vorher nicht kannte und die ich erst durch meine Erkrankung kennen und schätzen gelernt habe, wie zum Beispiel meinen Orthopäden und sein Team.

Sie alle sind mit mir bis hierher gegangen, haben mir bedingungslos zur Seite gestanden und waren für mich da, wann immer ich sie brauchte. Ich kann nicht in Worte fassen; was das für mich bedeutet.

Aber genau diese Menschen sind es auch, die mir den Mut geben, mein Leben neu zu gestalten und meinen Weg zu finden.

Über die Morphinpumpe werde ich nachdenken. Aber ich brauche sie gewiss nicht, um mein Leben lebenswerter zu machen oder um glücklich zu sein. Das bin ich auch so.

 

Impressum

Texte: Kerstin Borger
Cover: Ralf von der Brelie
Tag der Veröffentlichung: 16.10.2021

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