Charlotte stand jetzt zum 5. Mal vor dem Kleiderschrank, nur um wieder nicht entscheiden zu können, was sie am Abend anziehen sollte. Sie war sich ohnehin nicht sicher, ob das alles eine gute Idee war. Auf was hatte sie sich da eingelassen, man hörte soviel von irgendwelchen schrecklichen Dingen, die einem zustossen konnten, schließlich kannte sie den Typen ja gar nicht.
Himmel, ich bin paranoid, dachte sie. Sie trafen sich ja nicht in einem weit abgelegenen, dunklen Wald, sondern in einer gut besuchten Cocktailbar mitten in der Stadt. Dort würde er wohl kaum über sie herfallen. - Und trotzdem...
Charlotte seufzte und ließ den Schrank, Schrank sein. Sie ging hinüber in ihre kleine Küche und setzte Teewasser auf. Ihr Blick fiel aus dem Fenster. Die Sonne verschwand erneut wieder einmal hinter schweren, schwarzen Wolken und fast im gleichen Moment schlugen dicke Regentropfen an die Scheibe. Das Wetter war genauso unentschlossen, wie sie selbst. Charlotte sah hinaus in den trostlosen Novembertag. Die letzten Blätter, die noch an den Bäumen gehangen hatten, klebten jetzt nass und hässlich braun auf dem Asphalt. Der November war mit Abstand der schlimmste Monat im ganzen Jahr. Grau, trostlos und kalt und man wusste ganz genau, dass es noch Monate so bleiben würde. Charlotte seufzte noch einmal und drehte sich dann ihrem Herd zu, um sich einen Tee aufzugiessen. Sie nahm ihren Becher und setzte sich ins Wohnzimmer. Seit etwas mehr als einem halben Jahr lebte sie alleine hier.
Eigentlich war Raimund ja ihre ganz grosse Liebe gewesen, aber im Laufe der Zeit hatten die beiden sich immer weniger zu sagen und wenn, dann stritten sie miteinander. Charlotte hätte noch nicht einmal erklären können, warum eigentlich. Es war einfach passiert. Eines Tages hatte sie sich dann von Raimund getrennt. Nein - das stimmte nicht - er hatte sich von ihr getrennt. Wieder einmal hatte sie etwas zu nörgeln gefunden, das Ganze war ausgeartet und schliesslich hatte Raimund seine Jacke von der Garderobe gerissen und war aus der Wohnung gestürmt. Er war nicht zurück gekehrt. Noch nicht einmal, um seine Sachen zu holen, die hatte Ulli, ein Freund von Raimund abgeholt. Sie wusste nicht, wo Raimund abgeblieben war; seit diesem Streit hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Aber es hatte keinen Sinn, ihm hinterher zu trauern. Es war besser nach vorn zu schauen und sein Leben zu leben.
Deshalb war sie auch in diesen Chat gegangen. Mit irgendjemand musste man doch reden - oder schreiben. Man wurde sonst ja völlig verrückt. Irgendwann würde man noch Selbstgespräche führen. Natürlich, sie hätte vielleicht auch mit Kollegen etwas unternehmen können, aber die waren alle in irgendwelchen mehr oder weniger glücklichen Beziehungen oder sogar verheiratet und man selbst stand dann alleine ein bisschen dumm daneben. Die mitleidigen Gesichter in der Firma hatten ihr schon gelangt, als sie berichtete dass sie ab sofort ein Single war.
Im Chat hatte sie dann diesen Typen kennengelernt, ganz anders als Raimund. Fröhlich, unkompliziert, vielleicht auch ein bisschen verträumt, aber doch mit beiden Beinen im Leben. Seit vier Monaten chatteten sie jetzt regelmässig und waren sich dabei immer näher gekommen. Er hatte ihr soviel Verständnis entgegen gebracht und nun wollten sie sich endlich einmal treffen, sich gegenüber stehen und schauen, ob vielleicht mehr daraus werden könnte.
Ein Foto hatte sie von "Stranger", so nannte er sich im Chat, noch nicht gesehen. Er hatte keines und so waren sie überein gekommen, gesichtslos zu bleiben. Hoffentlich erkannte sie ihn heute Abend wirklich, ganz sicher war sie sich nicht. Aber da er auch nicht wusste wie sie aussah, fühlte sie sich ein bisschen sicherer. Wenn er ihr nicht gefiel, würde sie einfach gehen und er wüsste noch nicht mal, dass sie dort gewesen war.
Texte: Kerstin Borger
Tag der Veröffentlichung: 10.10.2021
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Widmung:
Gewidmet meinem Bruder Ralf, weil wir uns ähnlicher sind, als wir manchmal glauben.