Eine Kartoffel war da einst und die war groß und makellos rund.
Voller Saft und Festigkeit im Inneren.
Durchgehend braun und ohne jede Verwerfung die feste Schale.
Kein Wurm, der im Inneren seine Wege je grub; keine Schabe, die sich an der Hülle je gelabt hätte.
Größer und makelloser gerundet und unversehrt lag sie da, als all die anderen Kartoffeln, mit denen zusammen sie sich im Keller in einer Ecke häufte.
Ganz oben ihr Platz.
Wohlgemerkt.
Königskartoffel wurde sie deshalb und nicht ohne Grund – wie es sich den Lesenden leicht erschließt - von den anderen Kartoffeln genannt. Und sie selbst empfand dieses ebenso und recht selbstverständlich und nannte sich selbst entsprechend, wie die anderen sie riefen.
Ohne Scheu schaute sie herab von der Spitze des Kartoffelhügels ins weite Rund und betrachtete die Knollen, die unter ihr neben-, über-, durcheinander lagen.
Hunderte Kartoffeln sah sie da, die allesamt – dies Bild drängte sich ihr auf: schwebenden Blätter gleichend, welche ein morscher Ast verloren - durcheinander trudelten, sich manchmal zufällig berührend. Und wieder voneinander weg und weiter sinnlos rollten. Bis sich ihr Schicksal erfüllte und sie in Pfanne, Topf oder mittels Pürierstab endeten. Ohne Sinn, ohne Segen. Ohne Glauben und ohne Plan. Willenlos gewachsen, wehrlos geerntet, knechtend und entwürdigend gelagert. Am Ende widerstandslos verspeist und oft genug nicht einmal dieses, sondern in hoher Missachtung seitens der Köche ob fauliger Flecken gnadenlos im Mülleimer versenkt.
Alles trudelte und zitterte. Und seufzte mehr und mehr und wand sich zukunftsfern hin und her.
Nur die Königskartoffel auf der Spitze des Hügels – sie lag fest und stumm und bewegte sich nicht.
'Denn dies soll mein nicht Schicksal sein!', dachte sie im festen Verharren, 'nicht werde ich gekocht, gebraten und verzehrt! Nicht ohne Widerstand werde ich Topf und Pfanne begegnen!'.
Und sie dachte dies nicht nur, sondern sprach es aus.
Laut.
Zu laut?
Denn kaum gesprochen und das übliche Unverständnis der Knollen unter ihr geerntet; kaum also den Mund zu voll genommen und das Maul weit aufgerissen, da fühlte sich die Königskartoffel gepackt und ehe sie sichs versah, landete sie mit weiteren Kartoffeln in der Köchin Korb. Kartoffelbrei nämlich zu bereiten, das war der Köchin Sinn und Trachten und schon sah man sie der Kellertreppe und darüber dem Herde arbeitsamen Schrittes entgegen streben.
Kurz nur ließ sich die Königskartoffel vom resignierten Zagen ihrer Leidensknollen im Verbund des Korbes ergreifen. Genau so lange, bis die Köchin die Kellertreppe glücklichen Fußes überwunden und im Erdgeschosse, den Herd vor Augen, stand.
In glückverheißender Nähe der Tür nach draußen.
Da nahm die Königskartoffel hohen Schwung, ließ ihren versprechenden Worten die erfüllenden Taten folgen und überwand im wagenden Sprunge des Korbes Rand. Um als gleich auf eiliger Schale der freiheitsversprechenden Tür sich nähernd zu rollen. Zwar fasste die Köchin mit hastiger Hand nach der königlichen Kartoffel. Doch fehlend daneben ging der Griff und die altersgebeugten Beine des köchelnden Weibes ließen ernstliche Verfolgung der um die Freiheit rollenden Königskartoffel als ohne Aussicht auf zählbaren Erfolg unmissverständlich erscheinen.
„Was fliehst Du in rollender Eile? Das schälende Messer und kochende Wasser um Dich herum – dies ist doch Dein Sinn und Zweck!“ rief also die Köchin, statt von arthritischen Knien ernstlich gehemmte Verfolgung anzustrengen, der Königskartoffel hinterher.
Kurz nur verringerte die ihre entschwindenden Umdrehungen und wandte sich gegen die Köchin:
„Ich bin eine Königskartoffel. Und Du, Köchin! Du kochst mich nicht zu Brei!“. Damit nahm sie weitere flüchtende Fahrt auf und entschwand durch die Tür, über die Wiese und bis hinein in des Waldes schützende Arme.
Ausgerollt und der erholenden Ruhe kaum wirklich gefrönt, da wurde die gewonnene Freiheit schon neuerlich begehrend bedroht.
Und zwar von manchen „Ahs“ und Ohs“, welche schlappernd nur unterbrochen wurden durch hirnerschütterndes Grunzen und auch speichelsprühendes Schmatzen.
Um wandte sich die Königskartoffel und schaute in das zahnbewehrte Antlitz eines borstentragenden Wildschweins. Eines Wildschweines, dass begehrlich schaute mit freundlichem Blicke, dabei den Boden mit gespaltenem Hufe scharrend und auch mit geringeltem Schwanz das eigene Hinterteil peitschend.
„Oh, was bist Du doch für eine wonnigliche!, ah, fette!!, große feiste Kartoffel!!! Ich fresse Dich. Ich Fress Dich! Ich FRESSE Dich jetzt gleich roh und mit aller Schale ringsherum!“
Schon waren die spitzigen Zähne im sich aufreißenden Rachen weit voneinander entfernt - nur um im allernächsten Augenblick zermalmend erneut aufeinander zu treffen! - da warf sich die Königskartoffel ein Halbrundes zur Seite. Dann beschleunigte sie aus dem Stand. Ein Knappes neben ihr traf der hornhautbewehrte Rüssel des Schweines in den Dreck und schlossen sich triefende Kinnladen krachend um nichts anderes als nackte Erde. Die überraschende Fehlung musste überwunden und auch der Staub im Maule herunter geschluckt werden, ehe sich das Wildschwein, wachen Auges umblickend, sich der Königskartoffel erneut zuwenden konnte. Die hatte unterdessen schon ein erquicklich Stück Weges zwischen braune Schale und borstigem Schwein gebracht und hielt mit hastender Hochgeschwindigkeit auf zwei Baumstämme zu, die in nur engen Durchlass gewährenden Abstand voneinander standen und ausreichend Festigkeit versprachen. Kurz vor des Durchlass' Enge minderte die Königskartoffel ihr hastiges Rollen genügend, um dem folgenden Schweine gleichzeitig sichere Verfolgung als auch unmögliche Bremsung des Schweinegalopps zu vermitteln.
Dann schlüpfte sie zwischen den Stämmen hindurch. Knapp hinter hier wurden die Wurzeln der Bäume bis in die lichtenen Wipfel schwer erschüttert, als das Wildschwein ohne entsprechende, Unverletzlichkeit versprechende, Geschwindigkeitsminderung in die Hölzer krachte.
Nicht half dem Schwein die panzernde Hornhaut über der Schnauze. Nicht spitzige Zähne, denn die steckten im Holze und mancher brach ab davon mit knirschendem Geräusch. Und so musste das borstige wilde Schwein zu Boden gehen, dabei alle Viere von sich streckend. Jammernd rief es der Königskartoffel mit röchelnder Stimme hinterher: „Aber Du bist doch eine Kartoffel und gefressen zu werden mit spitzigen Zähnen, verschlungen vom gähnenden Rachen – dies ist doch Dein Sinn und Zweck!“
Die Königskartoffel harrte bewegungslos in sichernder Entfernung und betrachtete das borstige Desaster.
Dann rief sie dem Wildschwein ins blutende Angesicht:
„Ich bin eine Königskartoffel! Die Köchin hat mich nicht gekocht und Du Wildschwein: Du frisst mich auch nicht!“
Dann wandte sie sich ab und rollte ihrer Wege.
Unaufmerksam und in Gedanken versunken.
Und so konnte die Königskartoffel mit Mühe nur zum Stillstand kommen, ehe sie – fast wäre es durchbohrend geschehen – von einer spießigen Phalanx schmerzlich zum Verharren gebracht worden wäre.
Eine speerbewehrte Phalanx, die sich bei nähernder Betrachtung als ein Igel heraus stellte, welcher gerade die Ergebnisse unwürdiger Abrüstungsverhandlungen mit zähnetragenden Füchsen demonstrierte. Und der das verteidigende Stachelkleid nicht etwa friedfertig anlegte, als er die Königskartoffel bemerkte. Nein und ganz im Gegenteil – noch weiter reckten sich bohrende Spieße der braunen Schale in geordneten Reihen entgegen. Dann entschlüpften den schmalen Lippen des defensiven Tieres die geflügelten Worte: „Oh welch prächtig Kartoffelstück. Mit Wonne will ich es auf die Spitzen nehmen und über offenes Feuer halten bis es ganz und gar zu Bratkartoffeln geworden ist. Welch Labsal soll es sein, für mich und meine Frau, nach jenem erheiternden Wettlauf mit dem Hasen!“.
Sprachs, und die Stachel rückten im Gleichschritt vor, Schale und Tieferes der königlichen Kartoffel scharf bedrohend.
„Gemach!“, sprach da die Königskartoffel, Einhalt gebietend, „Ließ der Fuchs nun seine Zähne brechen, dann wolltest Du ihn weiter sprechen. So tu ein weitres voran und mit Verlaub: Nimm Du erst Deine Stacheln, leg sie an und glaub: meine Schale sei dann wonniglich des Igels Spitzen Raub.“
Verwirrt blinzelte der Igel aus kurzsichtigen Augen ob des moralisierenden Sprechens von rundem Gemüse und jene kurze aufmerksamkeitsgeminderte Irrung genügte der Königskartoffel und schon war sie seitwärts entrollt. Ein Blick noch auf kleinwinzige Igelbeine, die zudem hemmend gekrümmt und dünn, und gemächlich rollte sie von hinnen oder von dannen. Nun gleichgültig wohin, denn nichts blieb dem genarrten Igel, außer resignierend hinterher zu rufen:
„Aber Du bist eine Kartoffel. Am Spieße röstend zu stecken – dies ist doch Dein Sinn!“
Die Königskartoffel lächelte ein wenig in die Schale hinein und antwortete:
„Der Fuchs ist ein Fuchs. Der Igel ein Igel. Ich aber bin eine Königskartoffel. Die Köchin hat mich nicht gekriegt und das Wildschwein hat mich nicht gekriegt. Und Du: Du, Igel, kriegst mich auch nicht!“.
Nicht lange danach – die Königskartoffel rollte gerade mühselig einen Hügel hinan und befand sich kurz vor der Kuppe – da traf sie auf einen Hasen. Und dieser Hase war ein bedauernswerter Hase. Denn er war sehr erschöpft und rang auf zitternden Beinen nach entfliehendem Atem.
„Nun, was ist Dir denn atemverschlagend widerfahren, dass Du keuchest mit zitternden Lefzen und schweißüberlaufenen Seiten?“, fragte die Königskartoffel inwendig verwundert, „Hetzte der Jäger Dich mit mordenden Kugeln? Kamen bellende Hunde über Dich?“.
„Hunde? Jäger? Wo?“, angstvoll sah der Hase sich um, ehe er erleichtert bemerkte, dass nichts von alledem hasengefährdend nahte, So sprach er, sorgenfrei nun, wiewohl ehrlich betrübt: „Der Igel wars. Er forderte mich zu wettlaufendem Vergleich. Ich sah herab zu meinen schnelligen Läufen und nahm lachend an. Und verlor! Viele Male hintereinander!Schmach erfüllt mich und Zittern ist in meinem Geläuf.“
Kopfschüttelnd sah man den Hasen stehen.
Dann aber sah der Hase, was vorm Hasen stand und er sah es mit aufblitzend begehrlichem Blicke, denn Hunger fuhr im gar mächtig durchs Gedärm ob der eben stattgefundenen hitzigen Jagd mit Frau und Herr Igel. Die Königskartoffel erschaute ebenfalls und begann ohne weiteres Zögern unauffällig der zuobersten Spitze des Hügels und dem darauffolgenden geschwindigkeitserhöhenden Abhang zuzustreben.
Da entflatterten auch schon dem weichen Hasenmaul die erwarteten Worte, während er unruhig um die Königskartoffel herum sprang:
„Nach Nahrung heischt der Hunger mir im Gedärm. Was bist Du doch für eine prächtige Kartoffel, dass ich an nichts anderes mehr denken kann. In Streifen will ich Dich schneiden und mit Blattwerk versehen. Sollst mir sättigender Kartoffelsalat sein.“
„Halte nur kurzzeitig noch ein, bevor inwendig ich Dich fülle.“, antwortete die Königskartoffel und schob sich an den Rand des Abhangs heran, „Nicht nur Dein Gedärm verlanget nach marinierter Nahrung. Nein und zudem muss des Hasen Ehre wiederhergestellt werden. So höre denn und vernimm aus meinem Munde: ich entrann dem rasenden Igel und rollte ihm auf hurtiger Schale von hinnen. Fang Du mich, der ich den Igel bezwang und Dein Hasenherz wird erleichternde Ruhe finden“.
Dies leuchtete dem kurzwinkligen Verstande des Hasen ein, während die Königskartoffel ihrerseits am Ende des Hanges ein Haus erblickte.
Vor dem Haus eine Bank. Auf der Bank ein Mädchen mit langem schwarzen Haar. Bleichheit schneite von ihrem Antlitz und machte sie wie Engel schön. Gekleidet war sie wie in ständiger Trauer schwarz, umwogt von Schleiern stumm machender Melancholie.
Langsam rollte die Königskartoffel an, um zu täuschen. Der Hase hüpfte aufgeregt umher, dabei in nichts mehr als dem eigenen Herzen gleichend.
Es war soweit, die Königskartoffel sah dem Hasen ins Antlitz:
„Ich bin eine Königskartoffel, Hase! Die Köchin vermochte es nicht mich zu kochen, das Wildschwein nicht mich zu fressen, der Igel konnte mich nicht spießen! Und Du, Hase: Du kriegst mich auch nicht!“.
Dann verharrte die Königskartoffel kurz, brüllte aus Leibeskräften: „Jäger!“ und stürzte vorwärts den rasenden Abhang hinunter.
Erschreckt sprang der Hase einmal ums eigene Rund, dann tobte er, sich mehrfach überschlagend der rollenden Kartoffel hinterher.
Und knapp wurde es und knäpper. Bang wurde es der Königskartoffel und bänger. Doch ehe es zu spät sein konnte für königliche Kartoffel, erkannte der Hase, dass er mitnichten nur einer Königskartoffel auf den enteilenden Fersen war, sondern in der Tat sich genauso geschwind auf menschliche Behausung zu bewegte.
Kurz gesagt: Aufs Hasenherz war Verlass, denn die Erkenntnis machte den Hasen mit allen vier Läufen derartig gewaltig bremsend, das eine Staubwolke sich erhob und tiefe Spuren sich in den erdigen Boden gruben.
Die Königskartoffel hingegen, mehrfach sich nun schon die Freiheit erkämpft wie das Leben, rollte in Freiheit aus und kam genau vor den Füßen des schwarzgehaarten Mädchens zum Stillstand.
Das Mädchen schaute auf aus melancholieverhangenen Augen und seufzte leise.
„Du bist eine sehr schöne Kartoffel. Du Kartoffel Du. Eine Königskartoffel, möchte ich meinen.“.
Erneute seufzte sie leicht und sie sprach weiter, diesmal hinein ins Nirgendwo:
„Hunger treibt mich um seit langer Zeit. Und dürfte ich denn nur – Du könntest mir ein lieblich Kartoffelpuffer sein. Würdest's gestatten Du, so könnt ich mich laben; stillen den drängenden Hunger mir. Doch ach... und weh... Bleib also Königskartoffel, denn Dein Sein will ich nicht brechen Dir, um meines Hungers willen.“
Damit senkte sie die dunklen Augen und wandte sich weg von der Bank und dem Hause zu.
Da sprang lächelnd die Königskartoffel mit einem Satz dem Mädchen in den Schoß, noch ehe die enteilen konnte und sprach ihre letzten königlichen Worte in dieser ihrer Kartoffelwelt:
„Aber bitte schön recht cross. Denn dies ist meines Lebens ganzer Sinn und Trachten!“
Texte: frei nach Busch, Nexö und den Grimms
Tag der Veröffentlichung: 02.05.2010
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