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1.Kapitel


DasErwachen
Ich wachte auf…
Wo war ich? Ich lag auf einer braunen, alten Couch. Das Zimmer in dem sich die Couch befand, war einfach eingerichtet. Die Wände, wie bei einem Baumhaus, aus einfachen Holzbrettern. Auf dem Boden lag ein alter Flickenteppich. In der Ecke befand sich eine kleine Küche neben der ein labil aussehender Tisch mit drei Stühlen stand. Von der Decke hin eine Hängematte und dahinter war eine Tür.
Es gab insgesamt fünf Fenster. Eins in der Küche, eins rechts und eins links von der Tür und die übrigen beiden an der gegenüberliegenden Wand. Ich versuchte mich aufzusetzen. Noch bevor mich die fremde Hand sanft zurück ins Kissen drücken konnte, bekam ich fürchterliche Kopfschmerzen.
„Au.“, sagte ich. Jemand lachte leise. Ich versuchte mich wieder aufzusetzen, doch die Hand drückte mich abermals auf die Couch. „Es ist sehr unhöflich sich einer Dame nicht vorzustellen. Selbst für einen Entführer!“, schnaubte ich. Die Stimme lachte wieder. „Pass bloß auf ich kann Judo!“, log ich meinen Kidnapper an. Jetzt brach die Stimme in schallendes Gelächter aus. „Arschloch!“, zischte ich wütend, doch das Lachen erstarb nicht. „Jetzt reicht‘s aber!“, sagte ich und versuchte mich abermals aufzusetzen. Die Kopfschmerzen blendete ich aus. Es gab wichtigeres. Zum Beispiel heraus zu finden wer der Idiot war, der hinter der Couch stand. Allerdings hatte mein Entführer schnellere Reflexe, als ich gedacht hatte, und schob mich abermals sanft zurück ins Kissen. „Wenn du mich nicht sofort gehenlässt, schrei ich!“, meinte ich und das Lachen erstarb. Endlich! „Das kann ich nicht!“, sagte eine männliche und recht jung klingende Stimme. Ich hielt mir die Ohren zu und schrie so laut ich konnte! „Psst!“, zischte mein neuer bester Freund und drückte mir seine Hand auf den Mund, um meinen Schrei zu ersticken. Ich war allerdings auch nicht von gestern und wusste was in so einem Fall zu tun war. Ich biss mit aller Kraft auf seine Finger. „Bullshit!!!“, fluchte er laut. Als er seine Finger aus meinen Mund zog, erkannte ich meinen Gebissabdruck auf ihnen. Hah! Ich schwang schnell meine Beine von der Couch und stand wankend vor meinem Kidnapper. Er war ca. 1,90 m groß. Hatte schwarze Haare, die ihm ins Gesicht fielen und dunkel grüne Augen. Er trug eine dunkle Röhrenjeans, Converse von All Stars und ein graues, enganliegendes T-Shirt mit V-Ausschnitt, unter dem sich seine Muskeln abzeichneten. Wenn er mich nicht entführ hätte, fänd ich ihn sehr sexy. Allerdings hatte er mich entführt und egal wie er aussah, er war ein ARSCHLOCH!!! Ich drehte mich um und wollte in Richtung Tür rennen. Doch als ich gerade erst einen Schritt gemacht hatte, knickste mein Fuß um und ich fiel nach hinten um. Starke Arme fingen mich auf. Na toll, das war‘s wohl mit flüchten. Ich seufzte resigniert. Mein ach so toller „Retter“ und Kidnapper verfrachtete mich wieder aufs Sofa. „Ich sollte mir lieber deinen Fuß ansehen.“, sagte er mehr zu sich selbst als zu mir. „Fas mich nicht an!!“, brüllte ich. Als er es doch tat schrie ich fast. „ICH HAB GESAGT DU SOLLST MICH NICHT ANFASSEN!!!“ Er schreckte zurück. „Hey, schon okay!“, sagte er. „Ich will nach Hause.“, bestimmte ich. „Pfft. Okay und wo wohnst du?“ „Äääh..“, stammelte ich. Scheiße wo wohnte ich? Ich konnte mich an nichts erinnern, außer dass ich Leah hieß, 16 ein halb war und von Natur aus rote Haare hatte. Aber nicht diese orangenen, sondern dunkelrote.
„Weiß ich nicht…“, sagte ich ihm wiederwillig. „Aha.“, meinte er nur dazu. „Ich kann mich an nichts außer meinen Namen, mein Alter und meine Haarfarbe erinnern.“, sagte ich kleinlaut. „Und was wäre dein Name, dein Alter und deine NATÜRLICHE Haarfarbe?“, fragte er und schaute mir direkt in die Augen. „Sag ich dir doch nicht! Immerhin bist du mein Kidnapper. Außerdem haben meine Haare von Natur aus diese Farbe!“, sagte ich trotzig und verschränkte die Arme vor der Brust. „Natürlich!“, spottete er. „Was?!“, fragte ich leicht verwirrt, da sich diese „natürlich“ auf mehrere Dinge beziehen könnte. „ Okay. Ich bin NICHT dein Kidnapper und NIEMAND kann solche Haare haben!“, antwortete er. „Natürlich! Ich! Und schließlich bin ich die, die bei dir ohne Gedächtnis aufgewacht. Nicht du bei mir!“, zischte ich. „Du lagst im Wald. Bewusstlos. Beim nächsten Mal lass ich dich einfach da liegen. Dann haben die Bären das Problem am Hals!!!“, knurrte er. „Fein. Das wäre mir lieber, als auf irgendeiner Couch von so ‘nem Psycho wie dir aufzuwachen. Ich wette die Bären sind netter!“, keifte ich zurück.
„Ja, wenn man es mag zerfleischt und getötet zu werden!“, schnaubte er. „Besser der Tod als du!“, zischelte ich. Meine Worte trafen ihn offenbar hart, denn er stand wortlos und mit starrem Blick auf und legte sich in die Hängematte. Den Rücken zu mir gewandt. Es tat mir nicht Leid. Immerhin war ER der Entführer und ER hatte angefangen. Nach einer halben Ewigkeit, in der ich seinen Rücken betrachtete, knurrte mein Magen. „Hunger?“, fragte er mich ohne sich umzudrehen. Seine Stimme klang hart und rau. „Ja.“, ich verkniff mir jeden Kommentar. Er stand auf und schlurfte zur Küche. Ich schaute ihm zu wie er das Essen vorbereitete. Genau erkennen konnte ich nicht was es war, aber anscheinend irgendwas Einfaches. Wie das Haus. Schlicht und einfach. Nach gut 10 min. kam er zu mir drückte mir einen Teller mit Suppe und einen Löffel in die Hand, und verschwand dann hinter der Tür. „Danke.“, murmelte ich als er die Tür geschlossen hatte. Ich hörte eine Dusche und schloss daraus dass es ein Bad war. Anscheinend war es ein sehr kleines Haus. In diesem Raum befanden sich nur zwei Türen. Eine nach draußen und eine ins Bad. Das Zimmer hier diente anscheinend als Küche, Ess-, Schlaf- und Wohnzimmer zugleich. Ich löffelte meine Suppe und stellte den leeren Teller auf den Boden. Dann starrte ich an die Decke und wartete darauf dass er aus dem Bad kam. Aber das schien er in dem nächsten Jahrhundert nicht mehr vorzuhaben.
Ich stand auf und humpelte zur Haustür. Ich öffnete sie. Draußen sah ich nichts als Baumwipfel und Himmel. Es war ein Baumhaus! Das Haus umgab eine Art Plattform. Ich ging zur Leiter und schielte runter. Ganz schön hoch. Das Haus befand sich ungefähr 10 – 15 Meter über dem Boden.
Unter normalen Umständen wäre ich hier niemals runter geklettert, aber entweder ich hau ab oder ich stell mich meinem depressiven Entführer. Ich nahm all meinen Mut zusammen und kletterte die Leiter runter. Es stellte sich als sehr langsam und schmerzhaft raus.
Unten angekommen hörte ich leise eine Stimme. Seine Stimme. Er sang unter der Dusche!!! Ich lachte leise. Was er sang konnte ich von hier nicht verstehen.

Trotzdem kam mir die Melodie bekannt vor… Ooh. Das war so verdammt süß!
Na toll. Jetzt war mein Entführer auch noch „süß“. Ich ekelte mich selbst an.
Aber gut singen konnte er…
„Hallo! Der Kerl ist ein Psycho!!!“, ermahnte ich mich und humpelte davon.
Nach ungefähr 12 Metern stolperte ich über eine Baumwurzel. Fluchend und den Dreck von meinen Kleidern klopfend, stand ich auf und erschrak gleich darauf.
Vor mir stand niemand anderes als mein Entführer. Er war offenbar über meinen Flucht Versuch Nummer 2 belustigt. „So einfach las ich dich nicht gehen!“, grinste er schelmisch „Hier gibt es viel zu viele Bären, Jäger und echte Entführer. Außerdem weist du gar nicht wohin du musst!“
„Du musst dir keine Sorgen um mich machen. Ohne dich komme ich besser zurecht.“, giftete ich ihn an. Sein Lächeln erstarb und er wurde genau so hart und grob wie vorhin. Er packte mich am Arm und zog mich vorwärts. „Komm!“, sagte er mit rauer Stimme.
Ich lies mich von ihm wegziehen. Wiederstand war zwecklos. Dafür war er zu stark.
Als wir wieder ihm Haus waren schubste er mich in Richtung Sofa und schloss die Tür ab.
Ich legte mich auf die Couch. Gesicht in Richtung Wand. Arschloch.
Ich schloss die Augen. Heute würde ich nicht mehr fliehen können.
In der Nacht wachte ich auf. Ich hörte ihn wieder singen. Vorsichtig damit er nicht mitbekam das ich wach war, drehte ich mich in seine Richtung. Ich öffnete meine Augen leicht und bekam mit wie er, auf einem Küchenstuhle sitzend, Gitarre spielte. Er sang leise um mich nicht zu wecken. Ich konnte nicht verstehen was er sang.
Die Melodie war genauso traurig und schön wie die von heute Abend. Ich schloss die Augen wieder und lauschte seiner Stimme. Irgendwann schlief ich ein, von seiner Stimme in den Schlaf gewiegt.

Ich lief die Einfahrt zu seinem Haus hoch.
Es war weiß und modern. Mit vielen Fenstern.
An der Haustür angekommen, klingelte ich. Nach einiger Zeit öffnete die Mutter meines besten Freundes. Ihr Gesicht war Tränen überströmt. Warum weinte sie?
„Er ist weg!“, schluchzte sie und drückte mich an ihren stämmigen Busen „er ist für immer weg.“
Ich verstand nicht. Warum sollte er weggehen? Wir kannten uns seit dem Kindergarten. Warum sollte er weggehen? Seine Mutter löste sich von mir und hielt mir einen Brief entgegen. Auf dem Brief stand mein Name. Ich nahm ihn entgegen, drehte mich um und ging wortlos davon. Ich war verwirrt. Warum weinte seine Mutter? Das war doch nur ein Scherz?! Warum sollte er weggehen? Drei Straßen weiter setzte ich mich auf den Bordstein und öffnete den Brief. Darin lag ein Stück Papier. Aus einem Spiralblock. Die, die er immer verwendet hat. Mit den blauen Linien. Auf das Papier waren vier Worte geschrieben: „Es tut mir Leid“ Ein ungeheurer Zorn stieg in mir hoch. Keine Träne wollte ich um ihn weinen. Um ihn, der sich mein Freund nannte, mein allerbester Freund, und dann einfach verschwand. Wie konnte er nur?! „Ich hasse dich!“, zischte ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor „Ich will dich nie wieder sehen, du falsche Schlange.“ Ich stand auf und schaute noch ein letztes Mal auf den Brief. „Ich hasse dich!!! Hast du gehört? ICH HASSE DICH!!!“, schrie ich laut und zerriss den Brief. Ein paar Passanten drehten sich verwundert um. Natürlich war es nicht normal ein neunjähriges Mädchen solche Worte sagen hören. Doch das war mir gleich. Ich spürte nur meinen Hass. Und das riesige Loch, dort wo mein Herz sein sollte. Ich warf die Briefteile auf den Boden und rannte nach Hause. Meine Eltern waren nicht da. Wie immer. Sie waren arbeiten. Wie immer. Manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt noch wissen dass sie eine Tochter haben.
Ich holte den Schlüssel, aus meiner Jeans-Tasche und schloss auf. Ich rannte hoch in mein Zimmer, kramte alles was ich von ihm hatte heraus und warf das ganze Zeug in einen Pappkarton. Das Foto von uns Beiden auf dem Jahrmarkt, die alte Supermann-Actionfigur, die er mir geschenkt hatte und den anderen Schrott. Ich klemmte mir den Karton unter den Arm und verließ das Haus.
Ich wandte mich Richtung See. Der See lag neben dem kleinen Waldstück. Dort angekommen kletterte ich auf ‚unseren‘ Baum. Ich robbte langsam vorwärts, auf den Ast der am weitesten ins Wasser ragte und schubste den Karton in den See. „Lebewohl! Darauf das wir uns nie wiedersehn!“, flüsterte ich. Ich hielt mir die Nase zu und sprang ins Wasser. Der Aufprall war hart, doch schon umspülte mich das Wasser. Ich öffnete die Augen und konnte schemenhaft erkennen wie meine Erinnerungen an ihn tiefer und tiefer in den See sanken. Ich tauchte auf und schnappte nach Luft. Ich war eine gute Schwimmerin und erreichte das Ufer in zwei Minuten. Ich trottete in meinen nassen Klamotten durch unser Dorf nach Hause. Mit diesem Teil meines Lebens hatte ich abgeschlossen. Ihn weggesperrt. Und mit ihm ein Stück meines Herzens.

Ich schreckte hoch. Neben der Couch stand einer Teller mit Pfannkuchen. Als ich den Teller aufhob, merkte ich dass ein Zettel darunter lag. Ich nahm ihn in die Hand und las: „Bin eine Weile weg. Essen ist noch im Kühlschrank. Türen und Fenster sind Abgeschlossen.“
„Aha.“, ich war zu müde für Fluchtversuche.
Die Pfannkuchen waren kalt, schmeckten aber genauso gut. Den leeren Teller stellte ich in die Spüle.
Ich öffnete den Kühlschrank. „Ja, von wegen ‚Essen ist im Kühlschrank‘. So ein Idiot!“, murmelte ich, als ich den Inhalt des Kühlschranks begutachtete. Ein Stückchen Gurke, ein Six-Pack Bier und drei Scheiben Wurst. Ich nahm mir ein Bier, auch wenn ich den Geschmack nicht ausstehen konnte.
Ich nippte daran. Bäh! Es schmeckte widerlich! Ich trank es bis zur Hälfte leer und stellte die Dose auf den Tisch. Was ich jetzt bräuchte wer ein Energy-Drink oder Kaffee. Ich war hundemüde.
Ich ging ins Bad. Ich putzte mir mit der Zahnbürste meines Entführers die Zähne und duschte dann ausgiebig. Ich nahm mir ein Handtuch und wickelte mich darin ein. „Der muss doch hier irgendwo seine Klamotten rumliegen haben.“, murmelte ich. Ich ging zurück ins Wohnzimmer und schaute mich um. Kein Schrank. Ich hörte das Schloss klicken. Ich wirbelte herum und mein Entführer trat ein. Er stellte einen Korb mit Essen auf den Tisch, neben meinem Bier, ab und sah mich verwundert an.
Ich blickte genervt zurück. Bloß nicht anmerken lassen, dass dir das gerade total peinlich ist. Er errötete ganz leicht und schaute weg. „Hast du was zum anziehen?“, fragte ich genervt. „Ja.“ Seine Stimme war mehr ein Flüstern. Er ging zur Hängematte und kniete sich darunter. Dann löste er ein paar Dielen. Unter ihnen kam seine Gitarre, ein Paar Päckchen Zigaretten und ein Haufen Wäsche zum Vorschein. Er reichte mir ein Hemd, eine Hose und einen Gürtel. Ich verdrückte mich mit den Sachen ins Bad.
Frisch umgezogen und die nassen Haare provisorisch mit Zahnseide zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, kam ich aus dem Bad. Er saß auf der Couch. Die Zigarette in der einen, MEIN Bier in der anderen Hand. Als ich den Raum betrat schaute er mich kurz an und nahm dann noch einen Zug. „Kannst du nicht draußen rauchen?!“, fragte ich ihn mürrisch. Wenn man davon absah das die ‚Beziehung‘ zwischen uns nie besonders gut war, war die Stimmung doch ziemlich abgekühlt.
Als Antwort auf meine Frage schaute er mich mit einem solang-du-deine-Beine-unter-meinem-Tisch-hast-Blick an und zog eine Augenbraue hoch. Er nahm einen Schluck Bier und starrte an die Decke.
Idiot!
Ich lies mich auf einen Küchenstuhl fallen. Es schien nicht so, als wollte er in naher Zukunft noch was Vernünftiges tun. 15 Minuten langweilte ich mich. Dann versuchte ich ein Gespräch in Gang zu bringen. Besser redete ich mit meinem Entführer als mich zu langweilen.
„Wie heißt du?“, fragte ich.
Er sah mich etwas erstaunt, aber dennoch gleichgültig an. „Ich verrat dir meinen Namen, wenn du mir deinen verrätst.“, antwortete er kühl. Ich überlegte. Wenn ich in nur meinen Vornamen verriet?! Mehr kann ich eh nicht verraten. Außer mein Alter, aber das erzähl ich ihm nie.
Also antwortete ich: „Leah. Mit ‚h‘!“ Jetzt schien er sichtlich erstaunt. „Was is? Findest du meinen Namen seltsam?“, schnauzte ich ihn an.
„Äääh... nein…aber ich hätt nicht damit gerechnet, dass du ihn mir verrätst.“, gestand er „Ich heiße Phil.“ Phil…der Name kam mir bekannt vor. Als hätt ich ihn schon mal gehört. Vor langer Zeit. Er kam mir…wichtig vor. Yeah! Mein Entführer war also wichtig! Ich schaute auf meine Hände. Mir fielen sieben gerade Narben, an der Unterseite meines linken Unterarms, auf. Sie sahen aus, wie von einem scharfen Küchenmesser. War ich echt so depressiv?! Die eine war noch nicht ganz verheilt, während andere sehr alt aussahen. Ich runzelte die Stirn. ‚Phil‘ folgte meinem Blick. Er wirkte erschrocken und seine Augen weiteten sich. Ich drehte meinen Arm um. Es war mir unangenehm wie er meine Wunden betrachtete. Meine depressive Seite. Warum sollte ich mich ritzen? Das war so surreal. Wenn ich so überlege, wirkt hier alles total surreal. Aaah! Ich werde noch wahnsinnig!! Ich stand auf und trat gegen den Stuhl. Dieser kippte zur Seite. Mein Entführer – oh, pardon. Phil – sah mich erneut erstaunt an. Da fiel mir eine neue Idee ein. „Hat ich was dabei, als du mich im Wald ‚gefunden‘ hast?“, fragte ich Phil. „Eh… ja. Einen iPod.“, antwortete er und kramte in seinen Hosentaschen. Schließlich holte er einen roten iPod mit schwarzen Kopfhörern raus. Ich schaltete ihn an, in der Hoffnung was über meine Persönlichkeit rauszufinden. Mist! Der Akku war leer. Ich ließ mich an der Wand hinab gleiten. Ich schaute an die andere Seite des Raums und bemerkte aus den Augenwinkeln dass Phil mich anstarrte. Anscheinend hatte er mich die ganze Zeit beobachtet.
Ich schnauzte ihn an: „Was glotzt du mich so an?!“ Er zuckte zusammen. Dann senkte sich sein Blick. Ich fing an, an die Decke zu starren. Wohlwissend dass ich nicht zur guten Stimmung beitrug.
Nach ungefähr zwanzig Minuten schaute ich zu ihm rüber. „Tschuldigung…“, murmelte ich leise, während ich beschämt meine Blick sank. Phil sah mich total erstaunt an. „Wie bitte?!“, fragte er verdattert.
Boah! Kann man es ihm denn nie recht machen?! Da entschuldige ich mich mal und er ist total verstört!! „Ich hab mich entschuldigt, du Depp!“, schnauzte ich ihn wieder an. „Das hab ich schon verstanden. Aber warum?“, fragte er. Man! Der Kerl regt auf. „Weil ich das Gefühl hatte, ich müsste mich entschuldigen. Tut mir leid, dass ich das getan habe!!“, bluffte ich zurück. „Oh.“, mehr hatte er dazu nicht zu sagen. Nicht ein: ‚Sorry, ich wollte dich nicht verärgern‘ oder so. Aber ganz ehrlich. Wenn er das wirklich gesagt hätte, wär ich genauso verärgert gewesen.
„Lass mich gehen.“, sagte ich plötzlich. Er schnaubte verächtlich.
„Nö.“, sagte er. Ich starrte ihn mit funkelnden Augen an. „Warum nicht, du Idiot?!“
„Erstens: weil du nicht gerade nett oder höflich bist. Zweitens: weil du doch eh keinen blassen Schimmer hast woher du kamst.“, entgegnete er.
„Warum?! Warum, sollte ich zu meinen Entführer freundlich sein?!“, fragte ich wütend.
„Zum letzten Mal! ICH HABE DICH NICHT ENTFÜHRT!!!“, jetzt war er wütend. Ich zuckte vor seinem Zorn leicht zurück. Ehe ich meine Courage wieder hatte, war er wieder gelassen und ruhig.
Er sah mich betreten an. „Tschuldigung! Aber ich habe dich nicht entführt.“, sagte er entschuldigend. Er grinste schief. „Jaja. Natürlich. Und ich bin in Wirklichkeit die Queen.“, murmelte ich.
Er stand abrupt auf und stampfte ins Bad, wo er die Tür hinter sich knallen lies.
„Arschloch.“, murmelte ich, stand auf und lies mich aufs Sofa plumpsen.
Im Bad fiel etwas runter. Ich hörte wie Phil unverblümt fluchte. Ich lächelte schwach.
Kurz hörte ich den Wasserhahn. Warum hatte er in einem BAUMHAUS eigentlich Wasser?
Ich sollte erst gar nicht fragen. Da die beleidigte Leberwurst wohl noch Stunden im Bad verbringen würde, ging ich in die Küche um etwas Essbares zu suchen. Die Einkäufe standen noch verpackt auf dem Tisch. Als ich die Tüte öffnete war ich entsetzt. Ein Päckchen Zigaretten, ein Sixpack Dosenbier, drei Paprikas, ein Ring Fleischwurst und eine Packung Cornflakes.
Von was ernährte sich der Kerl?! Ich Begann die Tüte auszuräumen. Ich entschied mich für die Cornflakes, als Mittagessen. Da ich keine Schüssel, geschweige denn Milch, finden konnte, aß ich die Cornflakes mit der Hand direkt aus der Packung. Nach ungefähr der Hälfte war mir schlecht. Hunger hatte ich trotzdem noch. Ich holte die Fleischwurst aus dem Kühlschrank, fand ein Messer und aß noch einen halben Ring Wurst. Natürlich hatte er Messer, aber keine Löffel.
Irgendwann kam mein Entführer aus dem Bad. Ich schaute kurz von meiner Fleischwurst auf.
Als er an mir vorbeilief, nahm er mir blitzschnell die Fleischwurst aus der Hand und biss herzhaft hinein. „Drecksack!“, fauchte ich, als er mir mein Essen stahl. Ich lief ihm hinterher, um es wieder zu ergattern. Leider war er größer und streckte den Arm so hoch, dass ich nicht an die Wurst rankam. Ich schlug ihn. Er lachte. „Du bist so ein Arschloch!“, zischte ich. „Das sagt man aber nicht. Entschuldige dich, vielleicht geb ich dir dann dein Mittagessen.“, lachte er. Toll, grade eben noch stocksauer und jetzt anscheinend nicht mehr nüchtern. Dieser Idiot. Trotzdem, mein Hunger siegte.
„Tschuldigung.“, flüsterte ich leise. „Ich konnte dich nicht hören. Was hast du gesagt?“, dieses Arschloch. „Entschuldigung…“, das du so ein Trottel bist. Er gab mir die Wurst in die Hand und tätschelte meinen Kopf. Aus meinen Augen schossen tödliche Blitze und sein Grinsen wurde breiter.
Er setzte sich auf die Couch. Ich mich auf den Boden, um nicht neben ihm sitzen zu müssen.
Sein Grinsen wurde noch breiter. Ich noch wütender. Mir vielen tausend Schimpfwörter für diesen Depp ein. Er zündete sich eine Zigarette an. Ich wurde noch wütender. Er grinste mehr.
Als ich die Wurst verspeist hatte und auf meine leeren Hände schaute, grinste er von einem zum anderen Ohr. Meine Wut war jetzt sogar noch größer als sein Grinsen. Ich stand auf, schaute ihn vernichtend an, beschimpfte ihn als ‚Arschloch‘, verschwand im Bad und knallte die Tür zu.
Ich schloss mich ein und legte mich in die leere Badewanne.
So blieb ich lange liegen. Als der Himmel hinter dem einzigen Fenster sich langsam schwarz färbte, klopfte es an die Tür. Ich blieb regungslos liegen und gab keinen Laut von mir.
„Leah. Komm raus. Ich koch dir auch was… bitte…“, drang Phils‘ Stimme gedämpft durch die Tür.
Das Wort ‚Bitte‘ aus SEINEM Mund zu hören, überraschte mich. Trotzdem blieb ich liegen.
„Ich tret die Tür ein.“, warnte er mich. Ich grinste. „Mach auf!“, forderte er „Ich zähl bis drei… eins…“
Ich rührte mich nicht. „...zwei…“, zählte er weiter. Ich bewegte mich noch immer nicht. „..drei!“, mit einem lauten Knall trat er die Tür ein. Ich bekam einen Lachanfall, als ich sah, wie er entgeistert die aus den Angeln gerissene Tür anstarrte. Dann mich. Er kam zu mir rüber, zerrte mich aus der Badewanne und zog mich ins Wohnzimmer. Dort verfrachtete er mich auf die Couch, wo ich mich weiter kringelte vor Lachen. Leise vor sich hinmurmelnd, ging er in die Küche und begann zu werkeln.
Mit zwei Schüsseln kam er schließlich zu mir. Wo hatte er die Schüsseln her? Ich hatte mich soweit beruhigt und nahm den Teller entgegen. Entgeistert sah ich auf den Inhalt. Wow. Er brauchte echt nicht viel zum Leben. Er hatte Bier und Cornflakes in eine Schüssel gekippt. Dazu hatte er noch kleingeschnittene Fleischwurst und Paprika reingetan. Er reichte mir einen Löffel und lächelte, als er meinen entsetzten Gesichtsausdruck sah. Er fing an das ‚Gemisch‘ zu löffeln. „Wenn du keinen Hunger hast, esse ich deins auch noch.“, sagte er mit vollem Mund. Ich schüttelte den Kopf. ‚Das‘ zu essen, war besser als verhungern. Vorsichtig kostete ich es. Es war erstaunlich gut. Nichts was ich freiwillig essen würde, aber wenn man keine Wahl hat... ich erbrach mich in meine Schüssel.
„Uh. Schmeckt es dir nicht?!“, stellte Phil ernüchternd fest. Ich stand auf brachte meinen Teller in die Küche und spülte ihn mit Wasser aus. „Oh, Entschuldigung. Wolltest du das noch essen?“, rief ich Phil aus der Küche zu. Ich hörte förmlich wie er lächelte.
„In meinem Schrank befinden sich noch Tüten mit Trockenfleisch.“, sagte er zu mir, als ich wieder ins Wohnzimmer ging. „Schrank?“, fragte ich. „Des Fach unter den Dielen.“, erklärte er.
Ich ging zu seinem ‚Schrank‘ und hob die losen Dielen Bretter an. In der hintersten Ecke fand ich drei Tüten Trockenfleisch. Ich holte eine heraus und schloss den Schrank wieder. Das Fleisch schmeckte ganz lecker. Jedenfalls besser als das Bier-Cornflakes-Zeug. Ich setzte mich neben Phil und wir aßen still unser Abendessen.
Ein Streifen von dem Trockenfleisch blieb übrig. „Darf ich?“, fragte Phil und nahm den letzten Streifen. Ich nickte. Er tunkte das Fleisch in das übrige Bier in seiner Schüssel. Ich verzog das Gesicht.
„Ist lecker.“, sagte er und hielt mir den tropfenden Streifen hin. Schlimmer als das Gebräu vorhin konnte es ja nicht sein. Ich nickte und biss ein bisschen ab. Ja, schmeckte ganz gut. Jedenfalls musste ich mich nicht übergeben. Er lächelte und biss noch einmal ab. Ich gähnte. Und lehnte mich an Phil.

Er grinste sein schiefes Grinsen und schluckte den Wurm. „Wääh!“, rief ich voller Ekel. Er zeigte mir seinen leeren Mund. „Gewonnen. Gib mir das Geld!“, grinste er. Ich griff in meine Hosentasche und zog fünf Euro raus. Widerwillig reichte ich ihm das Geld. „Komm. Ich geb ein Eis aus.“, versuchte er mich aufzumuntern. Ich nickte und lächelte. Er nahm meine Hand und wir rannten los. Am Dorfplatz ging mir die Puste aus. Ich blieb stehen und hielt mir die Seite. „Nicht schlapp machen. Wir sind doch gleich da.“, rief er von weiter vorne. „Depp!“, zischte ich als ich ihn eingeholt hatte. Wir gingen im normalen Tempo. Er tätschelte mir den Kopf, ich stach ihm mit dem Finger in die Seite. „Au!“, schrie er. „Upps.“, ich lächelt und er streckte mir die Zunge raus. Ich zeigte ihm den Vogel. Gleichzeitig fingen wir an zu lachen. Nach der Videothek bogen wir links ab. „Welche Sorte willst du?“, fragte er mich. Ich überlegte: „Mango. Und du?“ „Schokolade.“
Es war schönes Wetter, deshalb dauerte es bis wir unser Eis in der Hand hielten. „Du bist total verschmiert!“, lachte ich. Er wischte sich mit dem Arm über den Mund und zuckte mit den Schultern.
„Boah!“, rief er und rannte zum Schaufenster des Spielwarenladens. „Was?“, ich rannte ihm nach.
„Eine Supermanfigur!“, sagte er, das Gesicht an die Scheibe gedrückt. Ich verdrehte die Augen.
„Kannst du mir zwanzig Euro leihen? Ich gebe die auch morgen zurück!“, bettelte er.
„Na gut!“, ich zog zwei Zehner aus der Hosentasche. „Danke!“, er strahlte über das ganze Gesicht. Sein Eis war längst geschmolzen. Ehe ich mich versah war er im Laden verschwunden und ich musste lächeln.

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Tag der Veröffentlichung: 02.10.2011

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