Wieso ich so viel über mein Leben nachdenke?
Diese Frage ist eigentlich ganz leicht zu beantworten:
Zurzeit läuft einfach alles falsch, aber am Besten fange ich mal von vorn an.
Ich bin Clarissa Downhill, sarkastischerweise, aber fast alle nennen mich Claire. Bis vor ca. einem halben Jahr war mein Leben noch ganz normal, ich hatte gute Noten, Freunde und viel Spaß. Aber seit im November meine beste Freundin Melissa, genannt Mel, gestorben ist, hat sich mein Leben ziemlich verändert. Das Einzige, was mich im Moment noch am Leben hält, sind die Träume, die ich manchmal von ihr habe. Ich kannte sie schon, seit ich denken kann und genauso lange sind wir auch schon beste Freunde, das wird sich auch nie ändern. Wir waren sogar schon zusammen im Kindergarten, auch im Gymnasium waren wir in derselben Klasse. Wenn wir nicht in der Schule waren, saßen wir am Meer, haben geredet und die Möwen beobachtet. Seit sie nichtmehr da ist, habe ich mich ziemlich zurückgezogen und bin fast immer allein, wie jetzt gerade. Ja, deswegen bin ich allein, weil ich da am besten über mein beschissenes Leben nachdenken kann.
Mit Freunden mache ich eigentlich nur etwas, wenn mich meine Eltern zwingen, das ist nichtmehr so oft. Die ersten Monate haben sie mich fast jedes Wochenende gefragt, ob ich etwas mit meinen Freunden unternehmen möchte. Neuerdings haben sie, denke ich zumindest, es aufgegeben. Auch meine anderen Freunde kümmert es nicht mehr, wenn ich sage, dass ich nicht möchte und sie mich in Ruhe lassen sollen. Klar verstehe ich es, dass sie mich nicht mehr fragen, ob ich mitkommen möchte. Schließlich habe sie ja jedes Mal angezickt, aber meine Freunde verstehen es einfach nicht, wie man sich fühlt, wenn man den wichtigsten Menschen in seinem Leben verliert. Besonders schlimm ist es, wenn man auch noch dabei war, als die geliebte Person starb.
Ach, hatte ich das noch gar nicht erwähnt? Ja, ich war dabei, als Mel starb. Wir sind gerade von einer Party heimgefahren, als ein anderes Auto, eine rote Ampel übersah und in die Fahrerseite hineingekracht ist. Mel war sofort tot und ich? Ich hatte nur leichte Verletzungen. Bis heute wünsche ich mir immer noch, dass es mich anstatt Mel getroffen hätte. Das Schlimmste daran? Auf der Party waren wir nur, weil ich unbedingt wollte.
Schnips, schnips. "Claire hörst du mich?" Wie so oft in letzter Zeit reißt meine Klassenlehrerin Frau Johnson mich aus meinen Gedanken. "Frau Johnson, wieso sollte ich sie nicht hören? Sie stehen genau vor mir?!", sage ich mit genervter Stimme, aber warum sollte ich nett sein? Sie hat mich doch angesprochen, als ich einmal meine Ruhe hatte. "Claire, das könnte daran liegen, dass du gerade eben, als ich dich gefragt habe, ob du keinen Unterricht hast, mir keine Antwort gegeben hast."
Anscheinend habe ich mal wieder die Zeit vergessen. War gerade nicht noch Pause? Naja egal, im Unterricht höre ich sowieso nicht zu, weswegen ich zu meiner Lehrerin sage, dass mir schlecht ist, woraufhin sie mich heimschickt.
Ich gehe aber ans Meer, weil mich meine Eltern daheim anstressen würden, da ich schon wieder nicht in der Schule bin. In letzter Zeit bin ich oft krank oder ich schwänze die Schule, woraufhin meine Eltern mit Sicherheit kontaktiert werden. Als ich endlich, nach 20 Minuten am Meer ankomme, setzte ich mich auf die alte Bank. Dort beobachte ich die Möwen und muss an Mel denken, da wir sonst immer gemeinsam hier waren. Mich überkommt schon wieder die schlechte Laune, deswegen zünde ich mir eine Kippe an. Das ist auch etwas, dass ich seit Mels Tod mache. Wieso ich rauche? Dieses leicht schwindlige Gefühl, welches man bekommt, wenn man den Rauch tief in die Lunge inhaliert, ist einfach unbeschreiblich gut. Es lässt mich für kurze Zeit meinen Schmerz und die Trauer vergessen.
Auch ein Grund, weswegen ich immer öfter zum Alkohol greife. Ich mache das nicht, um cool zu sein. Sondern, wie schon gesagt, um meine Probleme für den Moment zu vergessen. Ja, ich weiß! Es ist keine Dauerlösung, aber gerade reicht es mir. Nach der Dauerlösung kann ich auch noch später suchen.
Als es zu dämmern anfängt, mache ich mich langsam auf den Nachhauseweg. Kaum schließe ich die Wohnungstür auf, stehen meine Eltern auch schon vor mir. Und schon beginnt das Familiendrama ...
"Clarissa kannst du uns sagen, wieso du jetzt erst nach Hause kommst? Die Schule hat angerufen und wollte wissen, ob du daheim angekommen bist, da du wegen Übelkeit früher gegangen bist. Wir mussten schon wieder deine Schule belügen!"
Ein bisschen Recht haben sie ja, ich hätte vielleicht kurz daheim anrufen sollen, dass ich noch ans Meer gehe. Ich wollte aber einfach nur meine Ruhe.
"Mum und Dad, ich wollte doch nur allein sein. Ihr wisst doch, wie schwer es mir fällt, seit Melissa nicht mehr da ist!" Ich denke, sie wissen es nicht ...
"Schatz, wir können es uns vorstellen, wie du dich fühlst. Wir machen uns aber einfach nur Sorgen um dich."
WOW, da kommen meine Eltern mal früh darauf. Jetzt bin ich schon 17 Jahre alt. "Ach, das fällt euch jetzt ein, nach 17 Jahren. Ihr habt euch doch nie Sorgen um mich gemacht. Ich war immer das liebe und brave Kind mit den guten Noten. Sobald ich mal nicht perfekt und nach euren Wünschen bin, regt ihr euch auf und macht euch Sorgen. Ihr wollt doch nur euer perfektes Vorzeigekind nicht verlieren!"
Ich lasse meinen Eltern nicht mal mehr die Chance, sich zu rechtfertigen, da ich sofort nach meiner Ansage in mein Zimmer renne. Ich war gerade vielleicht etwas zu extrem, da meinen Eltern schon den ganzen Tag arbeiten und daheim haben sie dann eine Tochter mit der sie nicht klarkommen. Meine Mutter ist Anwältin und mein Vater Arzt, da passe ich im Moment nicht wirklich dazu. Ich lasse mich auf mein Bett fallen, das war gerade zu viel für mich. Eine Spur aus salzigen Tränen läuft mir über die Wangen. Ich greife zu der Wasserflasche neben meinem Bett, in der Wodka ist, nehme einen kräftigen Schluck und versuche den heutigen Tag zu vergessen.
Texte: Franzi M.
Tag der Veröffentlichung: 30.04.2015
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