Cover

Leseprobe

DARK AGES SAMMELBAND

REICH DER FEEN

KATHRIN LICHTERS

INHALT

Einleitung

Dark Ages - Prinzessin der Feen

Widmung

Prolog

1. Irgendwo ankommen

2. Träume

3. Mr Fantastical

4. Feen oder so

5. Der Zirkel

6. Der Feen-Extra-Schnellkurs

7. Ausgestoßene

8. Aufbruch

9. Avalon

10. Der Verrat

11. Sagenland

12. Pferde und andere Katastrophen

13. Etwas, wofür es sich zu leben lohnt

14. Luana

15. Die Prinzessin kehrt heim

16. Zuhause

17. Annäherungen

18. Ciara

19. Gefahr

20. Gestaltwandlerin

21. Lily und Rian

Epilog

Dark Ages - Königin der Feen

Prolog

1. Das Glück der Erde …

2. … liegt nicht auf dem Rücken der Pferde

3. Pflichten einer Prinzessin

4. Der Elfenthronfolger

5. Angriff der Drachen

6. Dunkelheit

7. Königin?

8. Eine neue Reise

9. Eine tragische Liebesgeschichte

10. Das Goldene Tal

11. Imogen

12. Ein Bann

13. Hoffnung und Abschied

14. Bücher, Bücher, Bücher

15. Das Mondlichtfest

16. Verräter

17. Rettung für Rian

18. Rayanne

19. Megans Täuschung

20. Entscheidungen und ihre Konsequenzen

21. Knucker

22. Der Grüne Zirkel

23. Die Zeit der Dämmerung

24. Endgültiger Abschied

Epilog

Dark Ages - Kriegerin der Feen

Prolog

1. Wenige Monate später …

2. Einsamkeit

3. Der König kehrt zurück

4. Irrlichter oder die irren Lichter

5. Merlin

6. Magie

7. Nach Hause

8. Fluchtversuche

9. Marge

10. Gift?

11. Das Herz will, was es will

12. Visionen vom Tod

13. Die Zeit der Dämmerung

14. Begegnung mit Megan

15. Kians Entdeckungen

16. Überraschung

17. Unerwarteter Besuch

18. Familienzusammenkunft

19. Vom Schmetterling zur Raupe - Entlarvung

20. Aufbruch ins Ungewisse

21. Der finale Zug

22. Das Ende

23. Kian

24. Eine echte Mutter

25. Vaterqualitäten

26. Die große Schlacht

27. Dem Schicksal ein Schnippchen schlagen

Epilog

Nachwort

Bonusszenen aus Rians Perspektive

Danksagung

Über die Autorin

Bücher von Kathrin Lichters

EINLEITUNG

Liebe Leserin, lieber Leser,

ich freue mich sehr, dass du dich für meine Dark Ages Trilogie entschieden hast. Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich darauf hinweisen, dass es sich hierbei um einen Sammelband handelt, der alle drei Teile der bereits veröffentlichten Trilogie vereint. Diese sind bereits unter den Namen Dark Ages - Prinzessin der Feen, Dark Ages - Königin der Feen und Dark Ages - Kriegerin der Feen erschienen. Ich wünsche dir viel Spaß mit meiner Lily und ihren Gefährten.

Alles Liebe

Deine Kathrin

DARK AGES - PRINZESSIN DER FEEN

Für Antje,

meine liebste Freundin, meine Schwester,

meine andere Hälfte, die mein Leben um so vieles glücklicher macht.

Auf immer und ewig!

PROLOG

Es war dunkel und so finster, wie es in einer Nacht ohne Laternenlicht nur sein konnte. Sie blickte einer Gestalt entgegen, die sie kaum erkennen konnte. Einer Person, die sie ängstigen sollte. In Wahrheit zog es sie direkt zu ihr hin. Es drängte sie geradezu, ihr ungeachtet entgegenzulaufen, um … ja, um was zu tun?

Die Gestalt kam nun langsam auf sie zu. Sie kniff die Augen zusammen, um sie besser sehen zu können. An den breiten Schultern war auszumachen, dass es sich um einen Mann handelte. Er bewegte sich elegant, fast wie ein Panther, der seine Beute ins Auge gefasst hatte. Oder so grazil, als hätte er das gesamte Leben auf einem Drahtseil verbracht. Die Kapuze versteckte das Gesicht, welches sie so gern betrachten wollte. Sie konnte keine Haar- oder Augenfarbe erkennen, nichts, was es ihr möglich machen würde, ihn besser beschreiben zu können.

Sie spürte nur diese starke Anziehung, ganz so, als sei es lebenswichtig für sie, zu ihm zu gelangen.

1. IRGENDWO ANKOMMEN

Tiefblaue Augen öffneten sich abrupt.

Ihr Kopf lehnte schwer gegen das beschlagene Fenster und wurde ordentlich durchgeschüttelt. Der Regen trommelte unentwegt auf das Dach des Zuges, und das ständige Ruckeln ließ nicht zu, dass sie in einen tieferen Schlaf fiel. Wenn sie den Tropfen weiterhin lauschte, dann bewahrte sie das auch vor einer erneuten verwirrenden Begegnung mit ihm. Sie schloss die Augen, um sich einen Moment der Ruhe zu gönnen und die Menschen um sie herum auszublenden.

Für Ende Dezember war es ungewöhnlich warm. Das bedeutete, dass sie in keine weiße Schneelandschaft treten würde, sobald sie aus dem Zug stieg, sondern bloß in Pfützen. Draußen war es feucht und matschig. Ein Wetter, bei dem sich Lily wirklich nicht wohlfühlte. Das mühsam geglättete Haar kräuselte sich dann augenblicklich in alle Richtungen – und unwillkürlich dachte sie an Hermine aus Harry Potter und den Hogwarts Express. Wie gern hätte sie einer solch magischen Zukunft entgegengesehen, mit all den Geheimnissen und Menschen, die einen faszinierten. Eine ihrer besten Fähigkeiten war es, sich in eines ihrer geliebten Bücher hineinzuträumen. Manchmal war sie eine stolze Elizabeth Bennet, die Mr. Darcy mit allerhand Vorurteilen betrachtete und sich am Ende doch Hals über Kopf in ihn verliebte. Ein anderes Mal kam sie sich wie Isolde vor, die ihre Liebe für Tristan nicht zu verbergen vermochte. Natürlich hatte sie auch zeitgenössische Literatur gelesen. Sie bewunderte die große und außergewöhnliche Liebe von Bella und Edward oder kämpfte an Harrys Seite gegen Voldemort. Wenn es etwas gab, das sie einst tun wollte, dann war es, ebensolche Bücher zu schreiben. Sie wünschte sich, Helden auferstehen zu lassen, die bereit waren, alles für die einzig wahre Liebe zu opfern. Damit würde sie hoffentlich anderen Menschen Mut machen, so wie ihre Buchhelden das bei ihr geschafft hatten. Auch wenn ihre nächste Station nicht Hogwarts hieß, so war doch jedes Ziel besser als das, welches sie hinter sich ließ.

Sie seufzte leise, als sie an die Welt dachte, die sie gerade verlassen hatte. Eine Welt, in der ihre Mutter die erste Geige gespielt hatte, gefolgt von der London High Society und unzähligen Benimmregeln. Danach kamen allerhand Partys, mit Kaviar und Champagner und nicht zu vergessen: gesellschaftliche Verpflichtungen. Die war ihr Problem gewesen. Nein, vermutlich stimmte das nicht. Eigentlich war sie das größte Problem gewesen. Ihr ganzes Leben hatte sie nie den Erwartungen ihrer Mutter entsprochen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals irgendwelchen Vorstellungen gerecht geworden zu sein. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt, weil er ihre Mutter und sie kurz nach ihrer Geburt verlassen hatte. Wer verließ schon ein kleines Baby?

Wenn sie an die Zeit mit ihrer Mutter zurückdachte, die nicht nur aus Anstand und Benimmregeln bestanden hatte, wurde sie ganz wehmütig. Damals hatten sie noch in Cornwall in der Nähe von Onkel Liam und Tante Caitlin gelebt. Dies waren die glücklichsten Jahre in ihrem jungen Leben gewesen.

Ihre Mutter hatte jedoch unbedingt auf die Jagd nach einem ausgesprochen wohlhabenden Ehemann gehen müssen. Der sie dann auch noch nach London verschleppen und all ihre Träume hatte erfüllen müssen.

Harold war gewiss kein schlechter Typ. Er hatte für Jane die Türen zu etlichen vornehmen Clubs, Partys und Gesellschaften geöffnet. Als Gegenleistung liebte Jane ihn und machte ihn zur einzigen Priorität. Dieses Leben mochte Jane genügen, für Lily wurde es jedoch zur Tortur. Daran konnte auch die Geburt ihres Halbbruders Harry vor über acht Jahren, den sie trotz allem wirklich sehr lieb hatte, nichts ändern. Harry wurde allerdings ebenso nach den Vorstellungen seiner Eltern erzogen, und es wurde jetzt schon hinter vorgehaltener Hand von einer geplanten Verbindung zu Mr. Clearwaters Tochter Jenny getuschelt. Das stimmte Lily traurig, doch für Harry war das normal und in Ordnung. Er gierte danach, einst ein riesiges Unternehmen zu leiten. Vor allem freute er sich darauf, viel Geld auszugeben und sich jeden Luxus leisten zu können. Übelkeit stieg in Lily auf, und sie konnte nicht sagen, ob es an der Zugfahrt oder dieser Vorstellung lag.

Obwohl ihre Eltern diese Verbindung guthießen, Lily widerte es an.

Jedes Mal, wenn Lily ihre Meinung zu diesem Thema kundtat, verzog ihre Mutter geringschätzig den Mund und rümpfte die Nase. Ein Gesichtsausdruck, den Lily in der Vergangenheit häufig zu sehen bekommen hatte. Dieses Mädchen sollte ihre Tochter sein? Die seltsame, rebellische junge Frau, die die Last der gesamten Welt auf ihren Schultern zu tragen schien, sollte in ihre akkurate Welt passen?

Auch für sie hatte es schon einen Zukunftsplan gegeben. Harold hatte in ihr immer viel Potenzial gesehen, bereits als sie noch klein gewesen war. Die hellbraunen dicken Haare, die Porzellanhaut und die tiefblauen Augen mussten auf jeden Mann anziehend wirken. Einige hätten sie zur Frau haben wollen, und Lilys Zukunft wäre gesichert gewesen. Manchmal fragte sich Lily, ob die Londoner High Society noch im Mittelalter lebte. Die Vorstellung behielt Harold hartnäckig bei und sah mit Entzücken dabei zu, wie Lily weiblichere Rundungen bekam und erwachsen wurde. Allerdings nur so lange, bis sie sich das Haar schwarz färbte, die Augen dunkel umrandete und etliche Löcher in ihre Ohren und Nase bohrte. Die Kleidung wählte sie mit Bedacht. Sie legte sich durchlöcherte Hosen und dunkle T-Shirts in Übergröße zu, um ihren wohlgeformten Körper vor den möglichen Heiratsanwärtern zu verbergen. Nach all den Jahren hatte sie beinahe vergessen, ob sie dieses Outfit selbst mochte, oder nur ausgesucht hatte, um nicht in das perfekte Bild der Harolds (so nannte Harold sie alle spaßeshalber) zu passen. Die Nasenringe waren mittlerweile verschwunden, doch von der restlichen Maskerade hatte Lily sich bisher noch nicht trennen können. Es war Lilys Art, sich nicht an die Wünsche und Vorstellung ihres Umfelds anzupassen. Manchmal fragte sie sich, ob sie tatsächlich etwas dagegen hatte oder ihre Rebellion bloß Gewohnheit war.

Sie spürte den Blick des alten Mannes auf sich ruhen, der ihr gegenübersaß. Er musterte sie eingehend, ja beinahe neugierig. Ob er ihre Erscheinung verabscheute oder sie insgeheim bewunderte, vermochte Lily nicht zu sagen. Sie trug die bequemen Stiefel, die bis zu den Knien zugeschnürt waren. Da sie den ganzen Tag auf den Beinen sein würde, hatte sie angenehmes Schuhwerk für eine gute Idee gehalten. Außerdem vervollständigten eine Jeans, eine warme Jacke und eine graue Strickmütze, die ihr unordentliches Haar verborgen hielt, ihr Outfit. Die alte Baskenmütze thronte auf dem Kopf des Mannes. Seine Kleidung wirkte verschlissen und abgenutzt. Lily betrachtete seine Gestalt näher und verweilte bei den Händen, die eine durchweichte Zeitung festhielten. Sie waren gepflegt und makellos. Es gab keine Trauerränder, die man bei dieser Aufmachung erwartet hätte. Sie spürte, wie er sie unverhohlen anstarrte, und Lily wagte es, ihm ins Gesicht zu sehen. Gütige dunkle Augen und ein freundliches Lächeln sahen ihr entgegen. Sie konnte nicht anders und lächelte zurück.

„Möchten Sie auch mal in die Zeitung schauen?“, fragte er, und Lily schüttelte den Kopf.

„Nein danke, ich fürchte, sie würde keine weitere Lesung überstehen.“

Der Mann sah irritiert auf die zerknüllten Papierseiten Gegenstand in seinen Händen, als bemerke er erst jetzt, dass damit etwas nicht stimmte. Er wirkte jedoch keineswegs unzufrieden. „Auf dem Weg nach Hause?“

Lilys verwunderter Blick schweifte in die Ferne und fand prompt eine Antwort, die wahrer war als viele zuvor. „Nach Hause … ja.“

Der Fremde lächelte und überließ Lily ihren Gedanken. „Ich wünsche Ihnen alles Gute für die restliche Reise.“ Lily lächelte bloß und sah dann wieder fort.

Der Zug würde sie endlich in eine andere und hoffentlich bessere Welt führen. Dorthin, wo sie zuletzt wirklich glücklich gewesen war - nach Cornwall. Es hatte nicht viel gebraucht, damit sie ihren Willen bekam, um weit weg von ihrer Mutter leben zu können. Sie wurde leider erst in wenigen Monaten volljährig, und so hätten ihr noch etliche Teepartys bevorgestanden. Glücklicherweise war ihr die rettende Idee gekommen. Sie war mit ein paar Bekannten in die Cafeteria ihrer alten Schule eingebrochen und hatte dort alles verwüstet. Diese Menschen als Freunde zu bezeichnen, wäre albern gewesen, denn sie hatte sich ihnen bloß angeschlossen, um für genügend Ärger zu sorgen. Das hatte Jane schließlich den Rest gegeben. Sie hatte den Gedanken aufgegeben, dass aus der einzigen Tochter, dem hässlichen Entlein, einmal der schöne Schwan werden würde, den sie erwartet hatte. Lily erinnerte sich genau an die zusammengekniffenen Lippen, als Jane ihr den Telefonhörer gereicht und befohlen hatte, Onkel Liam anzurufen.

Liam war in all der Zeit Lilys einziger Lichtblick gewesen. Bei ihm hatte sie jedes Jahr zwei Wochen ihrer Sommerferien verbringen dürfen. Sie liebte dort einfach alles. Es war ruhig, es gab nicht so viele Menschen und am Allerwichtigsten: Es war überall grün. Es gab nichts Schöneres, als sich mit einem Buch ins Gras sinken zu lassen und bloß der Natur zu lauschen. In den zwei Wochen, die sie in Cornwall zu Besuch gewesen war, kehrte Frieden in ihre Seele. Sie hatte sich zu Hause gefühlt, als sei sie endlich irgendwo angekommen. Außerdem hieß man sie dort willkommen, und sie war kein hässlicher Klotz am Bein, der bei der Gesellschaft gern vertuscht wurde. Sie hatte nie verstanden, warum ihre Mutter sie nicht früher hatte gehen lassen wollen. Es war unübersehbar gewesen, dass Jane mit Lilys Verhalten alles andere als glücklich gewesen war. Dennoch hatte sie darauf bestanden, dass sie in London lebte.

Jetzt, wo es endlich so weit war, dass Lily nach Hause fuhr, fühlte sie sich seltsam. Weiterhin rastlos, als gehörte sie nirgendwo wirklich hin. Sie sollte eigentlich zuversichtlich und freudestrahlend im Zug sitzen, doch nichts davon traf zu. Irgendwann in den vergangenen Jahren hatte sie sich selbst verloren. Nun fürchtete sie sich, herauszufinden, was von ihr übrig geblieben war.

Aufgrund des lauten Schepperns hinter ihr zuckte sie zusammen, und sah sich instinktiv um. Eine junge Frau mit halblangen, braunen Haaren hatte ihre Tasche fallen lassen. Der Schaffner beeilte sich, ihr zur Hand zu gehen und alles zurück in den Behälter zu stopfen. Die Fremde schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Er grinste ihr dümmlich hinterher, als sie wieder Platz nahm.

Lily konnte den Gesichtsausdruck des Kerls durchaus verstehen, denn die Frau war sehr hübsch. Sie war zwar keine klassische Schönheit, dafür war sie zu klein und zierlich, doch ihre Gesichtszüge waren fein und zogen viele Blicke auf sich. Alles an ihr wirkte natürlich schön. Es war wohl eher die Ausstrahlung, die den Mann und jeden anderen Fahrgast im Zug in ihren Bann zog. Einen Moment begegnete sie ihren Augen. Hastig sah Lily fort, da sie sich beim Starren ertappt fühlte, meinte aber, dass die Frau zu ihr herüber lächelte. Hatte sie es sich nur eingebildet, oder hatte sie tatsächlich ein Tattoo um das linke Auge der anderen gesehen? Beim erneuten Hinsehen war nichts mehr davon zu erkennen. Irritiert entschloss sie sich, diesen Vorfall zu der Reihe von seltsamen Vorkommnissen zu schieben, die typisch für sie waren. Für die letzten Stunden Zugfahrt bis Plymouth schloss sie die Augen und wurde von den gleichmäßigen Geräuschen und Bewegungen in einen leichten Schlaf gewiegt.

Das abrupte Bremsen riss Lily aus ihrem Traum, und sie schreckte hoch. Da war er wieder gewesen … dieser Fremde. Er tauchte seit Monaten in ihren Träumen auf. Obwohl sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte, kam er ihr vertraut vor. Wobei sie keineswegs sicher sein konnte, dass sie ihn nicht kannte, denn sie konnte weder die Haarfarbe noch die Augenfarbe richtig erkennen. Dennoch übte er eine Anziehungskraft auf sie aus, die sie kaum in Worte zu fassen vermochte. Er sah sie stets nur an, bewegte sich dann langsam auf sie zu, und immer, wenn sie auf ihn zulaufen wollte, war er bereits verschwunden. Sie hatte schon öfter daran gedacht, zur Traumdeutung zu gehen, aber eigentlich glaubte sie nicht an so einen Schabernack.

Beinahe vergaß sie, dass es Zeit war, auszusteigen. Sie packte ihren Rollkoffer und eilte auf die geöffneten Türen zu. Gerade eben noch quetschte sie sich hindurch, ehe sie sich automatisch schlossen. Lily sah sich kurz um und beobachtete die Fremde, wie sie die Treppe hinuntersprang. Dafür kamen zwei ihr nur zu vertraute Menschen auf sie zu. Die Erleichterung, die sie bereits herbeigesehnt hatte, überkam sie endlich, und sie stürzte freudig auf ihren Onkel und ihre Tante zu.

„Lily“, rief Caitlin freudestrahlend und fiel ihr buchstäblich um den Hals. „Wie geht es dir?“

Lily nickte und stimmte in ihr Lachen ein. Caitlin drückte sie an sich und machte nur zögerlich für ihren Mann Platz. Liam zog Lily in die Arme und hielt sie dort einen Augenblick länger fest, als wäre er ebenso erleichtert wie sie. Ein beruhigendes Gefühl. Ihre größte Sorge, den beiden zur Last zu fallen, hatte sich in dem Moment in Luft aufgelöst, als sie um einen Schlafplatz für die letzten Monate bis zu ihrer Volljährigkeit gebeten hatte. Liam und Caitlin waren ziemlich aus dem Häuschen gewesen und hatten sofort begonnen, mit ihr Pläne zu schmieden.

Liam hielt Lily eine Armlänge von sich fort und betrachtete sie eingehend. „Wie ich sehe, ist viel Zeit vergangen seit deinem letzten Besuch. Du bist beinahe erwachsen.“

Liam deutete auf ihre Nase.

„Und den bist du auch endlich losgeworden, was? Ich dachte schon, diese Phase würde nie vorübergehen.“ Er grinste breit, und Lily wusste, dass er es nicht so meinte. Das ein oder andere Tattoo trug er ebenfalls auf der Haut, wie sie nur zu genau wusste.

„Das kann ich allerdings nicht erwidern. Ihr seht noch so jung aus wie vor ein paar Jahren.“

Onkel Liam sah so frisch aus, als würde er zur Uni gehen und nicht schon seit einer ganzen Weile ein allseits bekanntes Pub führen. Seine blonden Locken kräuselten sich dank des feuchten Wetters genauso wie Lilys. Wäre er nicht ihr Onkel gewesen, hätte sie ihn sicher als gut aussehend empfunden.

Ihre Tante Caitlin war jedoch weit davon entfernt, bloß attraktiv zu sein. Sie war eine wahre Schönheit. Das klassische Abbild einer Irin. Sie hatte rote, dicke Haare, Sommersprossen auf der Nase und tiefgrüne Augen. Das Funkeln ihrer Augen zeugte von so viel Lebensfreude, dass sich Lily neben ihr wie eine graue Maus vorkam. Caitlin machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das macht nur die viele frische Luft!“

Lily hob die Augenbrauen. „Dann wäre Jane besser hier geblieben und hätte sich das viele Geld für die Chirurgen sparen können.“

„Verratet es ihr bloß nicht, sonst haben wir sie bald auch noch am Hals“, entfuhr es Liam, der kurz darauf losprustete, es allerdings als Hüsteln tarnte, nachdem er Caitlins strengen Blick aufgefangen hatte.

„Lasst uns zum Auto gehen. Vielleicht erwischen wir einen trockenen Moment“, schlug Caitlin vor, drückte ihrem Mann das Gepäck in die Hand und hakte sich bei ihr unter. Liam schnaubte, trottete ihnen aber folgsam hinterher.

„Erzähl uns erst einmal von den letzten Tagen in London. Wie waren deine Weihnachtstage mit den‚ Harolds‘?“, fragte Caitlin.

„Wie immer“, schwindelte Lily. Wäre es wie immer gewesen, hätten die vergangenen drei Tage beinhaltet, dass sie von einem Event zum nächsten geschleppt worden wäre. Nach ihrer Missetat hatte man auf ihre Anwesenheit verzichtet und sie allein in ihrem Zimmer gelassen. Das wollte sie ihrer Tante jedoch nicht gleich auf die Nase binden.

Diese sah sie höchstalarmiert an. „Was haben sie getan?“

Lily runzelte die Stirn. Allerdings war sie eine schlechte Lügnerin, das war sie schon immer gewesen. Den beiden Menschen um sich herum konnte sie aus irgendeinem unerfindlichen Grund nie etwas vormachen.

„Ach, nichts weiter! Ich hatte endlich mal ein Weihnachtsfest, das ich ganz für mich allein gestalten durfte.“

Liam und Caitlin tauschten wieder einen dieser Blicke, die in ihr das Gefühl hervorriefen, sie würde alles beschönigen. Lily wollte nicht, dass sie sich für etwas schuldig fühlten, für das sie nichts konnten.

„Du weißt, du hättest viel eher zu uns kommen können …“

Genau das, dachte sie und lächelte dankbar zu ihrem Onkel auf. „Ich weiß! Aber das hätte meine Mutter nie zugelassen. Ich fürchte, das gehörte zu meiner Strafe für … na ja, ihr wisst schon … Ehrlich gesagt, hatte ich so wenigstens Zeit, mich in Ruhe von meinem Leben dort zu verabschieden. Ohne die Harolds, wenn ihr versteht?“

„Wie lange hat das gedauert?“, fragte Liam mit einem verkniffenen Grinsen im Gesicht, welches Lily erwiderte.

„Höchstens fünf Minuten!“

Sie lachten ausgelassen, was die Stimmung wieder auflockerte und löste.

Endlich kamen sie bei Liams roten Geländewagen an, packten alles ein und fuhren los. Lilys Blick fiel auf die Bushaltestelle, an der ein schwarzer Pick-up parkte. Plötzlich schaute sie der sonderbaren Frau aus dem Zug direkt in die Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Lily, die Frau zu kennen, meinte sie sogar beim Namen nennen zu können. Ein Bild von einer Wiese mit vielen bunten Blumen tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Es war wie eine schöne Erinnerung aus einem anderen Leben, als wüsste sie genau, wer dort stand, und ein Gefühl tiefer Erleichterung überfiel sie. Ganz so, als hätte sie etwas Wichtiges, dass sie einst verloren geglaubt hatte, wiedergefunden.

Beinahe hätte Lily aus einem Impuls heraus die Hand zum Gruß erhoben, was sie, Gott sei Dank, gerade noch unterdrücken konnte. Denn wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, seicht und blitzschnell, war der Augenblick vorüber, und sie wäre sich schrecklich albern vorgekommen. Ein seltsames Gefühl blieb allerdings in ihr zurück, weil Liam sie im Rückspiegel eindringlich musterte. Auf der Fahrt zum Haus von Onkel und Tante versuchte Lily, alle Eindrücke in sich aufzusaugen. Wie hatten ihr die grünen Felder, die Hügel, die Bäume und die wilden Blumen gefehlt! Caitlin und Liam sprachen währenddessen über das Abendessen und die Pläne für den Jahreswechsel. Sie war so vertieft in die Umwelt, dass sie davon kaum etwas mitbekam. Sie bogen in die Kensington Road und hielten vor einem großen Holzhaus. Ihr entwich beim Anblick des neuen Zuhauses ein Seufzer. Es stand nahe am Wald, umringt von unzähligen Bäumen und Wiesen. Vielleicht war es ungewöhnlich für eine Frau ihres Alters, dass sie sich freute, in einem Kaff festzusitzen und keine festen Straßen unter den Füßen zu spüren. Doch nach Jahren im ‚Nebel‘ genoss Lily es, endlich mal ein paar Dinge klar betrachten zu können. In London war ihr alles meist grau, verschwommen und wild vorgekommen. Sie hatte sich getrieben gefühlt, als sei sie ständig auf der Suche gewesen nach der Nadel im Heuhaufen.

Es regnete in Bindfäden, und sie wappneten sich beim Aussteigen mit den Kapuzen davor, nicht nass zu werden. Liam trug ihren Koffer ins Haus und stellte das Gepäck im Flur vor der Tür zum Wohnzimmer ab. Lily zog die schlammbespritzten Schuhe aus, bevor sie weiter in den Wohnbereich hineinging und sich umschaute. Alles war noch genauso wie vor einem halben Jahr. Die Wände waren in einem sanften Gelb gestrichen und im gesamten Raum waren wunderschöne, große Pflanzen verteilt worden. Die Inneneinrichtung war hochwertig und modern. Durch das Fenster hatte man einen ausgezeichneten Blick auf den dahinterliegenden Wald. Vielleicht hätten die dunklen Bäume auf manche unheimlich gewirkt, doch Lily zogen sie bloß an wie das Licht die Motten. Ganz so, als wollten sie ihr ein Geheimnis anvertrauen. Ein Geheimnis, das sie betraf. Verträumt blickte sie hinaus. Wäre es trocken gewesen, wäre sie noch vor dem Auspacken hinausgelaufen, dessen war sie sich sicher.

Liam und Caitlin murmelten etwas in der Küche, die direkt ans Wohnzimmer grenzte. Lily beobachtete sie einen Augenblick, entschied aber dann, dass es sie nichts anging. Sie brauchte nicht lange zu warten, da kam ihr Onkel bereits zu ihr zurück. Er hatte seine Jacke anbehalten, und die hellblonden Haare standen in nassen, wilden Locken vom Kopf ab. Plötzlich wirkte er sehr jung, und Lily fragte sich unwillkürlich, wie er immer noch so aussehen konnte, als sei er Ende Zwanzig. Das war er schließlich schon gewesen, als sie damals von hier fortgegangen waren. Liams Haar war voll, ohne ein einzelnes graues Haar und zu einer dieser mit Gel geformten modischen Frisuren gestylt, die ihm zusätzlich ein jugendliches Erscheinungsbild verlieh. Sein ebenmäßiges Gesicht zeigte keine Spur eines Fältchens, was für einen Mann von Mitte Vierzig ungewöhnlich war. Ob das tatsächlich Auswirkungen der frischen Luft waren? Lily bezweifelte das stark. Es hatte ohnehin wie eine einstudierte Lüge geklungen.

„Dein Zimmer steht nach wie vor für dich bereit, Lilien.“ Er war der Einzige neben ihrer Mutter, der sie oft bei ihrem vollen Namen nannte. Sie wusste, das tat er im Gegensatz zu Jane nicht der Show wegen. Lilien hörte sich nach etwas Besonderem an, während Lily nach der Ansicht ihrer Mutter einfach nur gewöhnlich klang. Und Jane hatte allem Gewöhnlichen entsagt.

„Wir dachten, du packst in Ruhe aus und kommst mit Caitlin in zwei Stunden ins Mollys zum Essen? Ich muss jetzt schon wieder los. Ist das in Ordnung für dich?“ Liam gehörte das Mollys, ein Pub, etwa zwei Straßen entfernt. Es hatte sich einst im Besitz seines Vaters befunden, Lilys Großvater, den sie leider nie kennengelernt hatte. Genauso wenig wie den eigenen Vater. Der Begriff ging auf den Namen seiner ersten großen Liebe zurück. Es mochte auf viele befremdlich wirken, dass ihr Onkel der Vaterfigur am nächsten kam.

Lily wurde es warm ums Herz, als ihr klar wurde, dass er sich extra Zeit genommen hatte, um sie vom Bahnhof abzuholen. Liam wollte gerade gehen, als sie ihn zurückrief. „Liam? Ich wollte noch mal danke sagen, dass ich bei euch bleiben darf.“

Er lachte leise, dann wurde er ernst. „Du hast schon immer hierher gehört. Dein Platz war stets hier bei uns, und so wird es auch bleiben.“ Einen Augenblick betrachtete er sie eingehend, ehe er nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger über sein Kinn strich. Sein Zögern verunsicherte Lily. „Um eine Sache bitte ich dich allerdings.“ Er hielt kurz inne und sah zu Boden. „Geh nicht allein in den Wald. Vor allem nicht in der Dunkelheit.“

Verwirrt sah sie hinaus. „Warum denn das? Ich war immer allein draußen. Du weißt, ich kenn‘ mich aus …“

Eilig winkte Liam ab. „Das ist es nicht! In letzter Zeit gab es hier nur … seltsame Vorkommnisse. Wir denken, es sind Wölfe oder irgendwelche anderen wilden Tiere dort unterwegs. Einige Menschen wurden bereits verletzt.“ Sein Blick richtete sich wieder auf ihr Gesicht, und er sah ihr fest in die Augen. „Sehr schwer verletzt.“

Lily betrachtete den Wald und fühlte nach wie vor die starke Anziehungskraft, die von ihm ausging. Sie seufzte und blickte wieder in Liams wachsame, blaue Augen. „Gut. Ich geh nicht allein dorthin.“

„Versprich es mir!“, bat ihr Onkel, und sie nickte zögerlich. „Okay, wir sehen uns später. Ich werde Bill beauftragen, das größte Willkommensessen zu zaubern, das du je gesehen hast.“

Damit wandte er ihr den Rücken zu und verschwand im Flur. Lily blickte ihm nachdenklich hinterher, bis Caitlin durch den geöffneten Küchenbereich auf sie zukam. „Komm, lass uns jetzt deine Sachen auspacken. Ich helfe dir dabei.“

Sie folgte ihr in die erste Etage mit den drei Zimmern. Eins war ein Büroraum, in dem Liam seine Abrechnungen des Pubs erledigte. Zwischen den Räumen lag ein geräumiges Bad mit Badewanne und Dusche. Lily erklomm die letzten Stufen hinauf zum Dachgeschoss. Dies war der absolut schönste Raum im ganzen Haus, und sie fragte sich jedes Mal, warum das nicht das Schlafzimmer von Caitlin und Liam war.

„Es war immer schon dein Zimmer. Niemals hätten wir es für uns nutzen wollen“, sagte Caitlin, als hätte sie ihren Gedanken gelauscht. „Wir hätten uns deine Heimkehr nur viel eher gewünscht.“

Lily wurde verlegen. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand Wert darauf legte, sie bei sich zu haben. „Ich fühle mich seit Langem ganz wie zu Hause. Danke, wirklich!“

„So hätte es schon immer sein sollen“, murmelte Caitlin und deutete dann auf zwei Kartons. „Die hat deine Mutter mit dem Eilkurier hierhergeschickt. Sie kamen heute Morgen an.“

Sie starrte darauf und konnte es nicht fassen. „Sie konnte es wohl kaum abwarten, mich und all diese Sachen so schnell wie möglich loszuwerden, was?!“ Bitterkeit war in den vergangenen Jahren zu einem stetigen Begleiter geworden, und das brennende Gefühl verwundert sie nicht, das ihr galleähnlich die Kehle hochkroch. Sie wollte sich ranmachen, die Kartons zu öffnen, als Caitlin sie an die Schulter fasste und zurückhielt.

„Vielleicht wollte sie nur, dass du dich wohlfühlst und alle Sachen um dich hast, die dir etwas bedeuten.“ Caitlin seufzte.

Schöne Worte und eine ebenso schöne Vorstellung, doch die Zeit in Harolds Haus hatten Lily von solchen Hoffnungen gänzlich befreit. Caitlin hatte keine Ahnung, wie kalt es in ihrem alten Zuhause wirklich gewesen war. Das hatte Lily nun endgültig hinter sich gelassen. Sie hatte nicht vor, jemals dorthin zurückzukehren.

„Ich weiß, Liam lässt nur selten ein gutes Haar an deiner Mutter …“

Als Lily in Caitlins Augen sah, entdeckte sie Kummer darin, und eine große Sorgenfalte breitete sich auf der Stirn ihrer Tante aus.

„Vergiss aber nicht, dass sie trotzdem deine Mutter ist, und es womöglich gute Gründe dafür gibt, dass sie so geworden ist.“ Nur einen Wimpernschlag später war ihre Tante wieder ganz die Alte. „Nun aber genug davon!“ Entschlossen schüttelte Caitlin den Kopf, sodass die roten Locken wippten. Sie war eine dieser unglaublich glücklichen Frauen, die im Alter eher schöner zu werden schienen als zu verwelken. In den großen, grünen Augen blitzte der Schalk. „Was hältst du von einem Frauenabend? Wir könnten im Pub essen gehen und es uns danach hier zu Hause gemütlich machen? Ich will alles über die letzten Monate bei den Harolds wissen. Gibt es neue Gerüchte? Fruchtsäurepeelings, die schiefgegangen sind oder Ähnliches? Vielleicht auch irgendwelche Skandale der Oberschicht, die ich nicht glauben werde?“

Lily stimmte in das Gelächter mit ein, und die trüben Gedanken waren wie fortgewischt. Es ging gar nicht anders. Caitlins Lachen war einfach ansteckend. Sie packten die Bücher in das freistehende Regal und räumten die Klamotten in den Schrank. Alles in diesem Raum war hell und geräumig. Große Fenster gaben den Ausblick auf den Wald frei und würden die Sonne ins Zimmer lassen, sollte es jemals aufhören zu regnen. Die Wände waren hier sonnengelb gestrichen und mit seltsam, verschlungenen Linien und Mustern verziert. Lily hatte sich hier immer besonders wohlgefühlt, und doch war da diese leise zaghafte Stimme in ihrem Kopf, die diesem Gedanken widersprach. Bilder einer Blumenwiese tauchten vor ihrem inneren Auge auf, die sie heute bereits schon einmal betrachtet hatte.

2. TRÄUME

Während Lilys erster Tage in Plymouth regnete es ununterbrochen, was es ihr beinahe unmöglich machte, ins Freie zu gehen. Genau genommen tingelte sie bloß in Liams Geländewagen zwischen ihrem neuen Zuhause und dem Pub hin und her. Einmal war sie mit Caitlin in den nahegelegenen Einkaufsmarkt gefahren, um Lebensmittel zu kaufen. Es störte Lily nicht, dass sie nichts weiter erlebte. Sie genoss die Ruhe, die sie umgab. Sie musste keine seltsamen Gespräche am Handy anderer mit anhören, keine Schlägereien schlichten oder Eifersuchtsdramen ertragen.

Dafür schien sie überaus willkommen in der kleinen Gemeinde zu sein, in der Caitlin und Liam schon so lange wohnten. Jede Person, die sie traf, begrüßte sie überschwänglich und kannte sie sogar beim Namen. Selbst im Pub, wo sie regelmäßig aushalf, fühlte sie sich ungewohnt wohl. Lily war froh darüber, etwas zurückgeben zu können, auch wenn das bedeutete, dass sie mit mehr Menschen zu tun haben würde, als ihr im Allgemeinen lieb war. Es war nicht so, als mochte sie keine Kontakte. Vielmehr stimmte bloß selten die Chemie zwischen ihr und den anderen, sodass sie ihre Zeit lieber allein verbrachte. In London hatte sie nur wenig mit den Mädchen in ihrem Alter gemein gehabt, deren Themen Jungs, Make-up, die neueste Mode-Kollektionen und nochmal Jungs waren. Geistreiche Unterhaltungen waren meist tabu, und Lily hatte selten ausreichend Geduld für das pubertäre Kichern übrig, das bei den traubenähnlichen Mädchenansammlungen vorherrschte, sobald irgendein Kerl auftauchte. Obwohl sie fürchtete, auch hier kaum Freunde zu finden, hoffte sie insgeheim, vielleicht doch ein paar Kontakte zu ihren zukünftigen Kommilitonen knüpfen zu können. Alle waren freundlich zu ihr, und keiner wollte sie anbaggern oder stellte irgendwelche unangenehmen Fragen. Lily war glücklich und freute sich auf jeden neuen Tag, bevor sie abends in einen tiefen Schlaf fiel.

Allerdings waren ihre Träume nach wie vor unruhig und verwirrend. Jede Nacht kehrte der fremde Mann zurück, der sie anstarrte und auf sie zuging, und Lily fühlte sich beinahe heimgesucht. Ihn umgab eine düstere Aura, und nach jeder Begegnung mit ihm war sie seltsam aufgekratzt und rastlos. Das Gefühl, auf der Suche nach etwas zu sein, war danach übermächtig. Als sei ihr etwas Entscheidendes entgangen, was zum Greifen nahe gewesen war. Diese Empfindung verflog nach einem starken Kaffee am Morgen meist wieder, und so stürzte sie sich in einen neuen Tag.

Die Stimmung im Hause von Liam und Caitlin schien allerdings mit jedem Tag, den Lily dort verbrachte, abzukühlen. Caitlin und auch Liam gingen äußerst behutsam mit ihr um und erweckten wirklich den Eindruck, froh darüber zu sein, dass sie bei ihnen war. Sobald sie annahmen, sie sei in eins ihrer Bücher abgetaucht, stritten sie über alles Mögliche. Diesmal versuchte sie zu lauschen, doch die Stimmen von Caitlin und Liam waren so gedämpft, dass sie unmöglich den Zusammenhang der losen Worte verstehen konnte. Nie zuvor hatte sie solche Unstimmigkeiten zwischen den beiden bemerkt. Aus unerfindlichen Gründen wurde sie jedoch die Befürchtung nicht los, dass sie wegen ihr stritten. Nachdem Liam das Haus verlassen hatte, fragte Lily ihre Tante danach, was zur Folge hatte, dass Caitlin betont gute Laune heuchelte, und Lily vom gezwungenen Dauergrinsen eine verspannte Wangenmuskulatur bekam.

Am Silvestermorgen herrschte allgemeine Betriebsamkeit. Das Pub veranstaltete eine Party mit Livemusik, und es gab noch tausend Dinge, die erledigt werden mussten. Lily und Caitlin waren voll eingespannt. Bisher hatte Sie kein großes Interesse an diesem Feiertag gehabt. Hier jedoch, in der neuen Welt und der Zukunft voller Möglichkeiten, freute sie sich auf ihren persönlichen Neustart. Sie fuhr mit Liam in den Pub, um die Band beim Aufbau der Boxen und Mikrofone zu unterstützen. Liam kaufte währenddessen noch einige Schnapsvorräte ein. Ein Transporter stand bereits vor der verschlossenen Tür, als Lily mit übergezogener Kapuze aus Liams Auto stürzte. Sie schloss den Laden auf, bevor sie bis auf den Slip nass würde. Die Bandmitglieder kletterten ebenfalls in Windeseile aus dem Auto und stürmten im gleichen Tempo auf die geöffnete Tür zu. Das Licht wurde angeschaltet, und sie öffnete die Fenster, damit der Rauch vom vorangegangenen Abend abziehen konnte. Geschäftig ließ sie Wasser in das Spülbecken ein, um ein paar Aschenbecher auszuspülen, und achtete nicht auf die ein- und ausgehenden Menschen. Erst, als eine glockenhelle Stimme sie direkt ansprach, sah sie auf und erstarrte.

Vor ihr stand die Frau aus dem Zug. Sprachlos starrte Lily sie an und registrierte erst am Ende des Satzes, dass die Fremde mit ihr gesprochen hatte. „Entschuldige … ich war … nicht ganz …“

„Bei dir?“, half sie belustigt nach. Lily nickte und sah das einnehmende Lächeln auf ihrem Gesicht. „Das Wetter macht mich auch ganz gaga …“ Sie grinste, während Lily sie fortwährend anstarrte. Sie hatte hellbraunes Haar, intensiv grüne Augen, die unnatürlich wirkten, und ein freundliches Gesicht. Auch aus der Nähe sah sie nicht wie die klassische Schönheit aus, die einen von diversen Modemagazinen anblickten. Aber ihre Ausstrahlung war derart anziehend, dass ihr Erscheinungsbild Lily regelrecht umhaute. „Ich hätte gern ein Wasser, wenn ich schon hierbleiben könnte?“

Wie selbstverständlich griff sie nach einem Glas und einer Flasche Wasser. „Nun, die Party beginnt erst in ein paar Stunden, wenn du so lange warten willst …“

„Ach, das Wichtigste habe ich natürlich gar nicht erwähnt. Ich sagte ja … gaga. Ich helfe euch heute Abend! Ich gehöre zur Crew. Ich bin übrigens Ciara“, stellte sie sich gutgelaunt vor.

Irritiert heftete sie den Blick auf einen Punkt hinter Ciara. „Davon hat mein Onkel mir gar nichts erzählt.“

Das war bei dem Trubel und dem Durcheinander auch keine große Verwunderung. Dennoch zweifelte Lily an Zufällen wie diesen. Zuerst begegneten sie sich im Zug, und jetzt standen sie sich ausgerechnet im Mollys gegenüber?

Einen Augenblick lang schien Ciara ihren Einwand als Ablehnung zu deuten, denn sie holte Luft, ehe sie erklärte: „Liam und ich haben das erst gestern Abend festgemacht. Wahrscheinlich hat er es in der Hektik vergessen.“

Lily nickte, bis ihr einfiel, dass sie sich selbst noch gar nicht vorgestellt hatte.

„Du bist also Lilien, Liams Nichte. Ich glaube, wir sind uns schon im Zug begegnet, oder?“

„Lily … nenn mich einfach Lily. Ja, du bist mir auch aufgefallen.“

„Wie witzig, du mir auch. Wenn das nicht auf eine großartige Freundschaft hoffen lässt.“ Sie grinste, prostete ihr mit dem Wasserglas zu und plapperte sogleich weiter. Im Hintergrund fuhr die Band damit fort, die Kabel an die Boxen anzuschließen und alles an seinen Platz zu rücken. Trotz ihrer Skepsis konnte sich Lily Ciaras Wesen nicht entziehen, ganz ähnlich wie bei ihrer Tante. Ciara erzählte von der Uni, auf die Lily in wenigen Tagen auch gehen würde. Erleichtert stellte sie fest, dass Ciara ebenfalls Englische Literatur und Mythologie gewählt hatte. Zufall? Oder schenkte das Schicksal ihr tatsächlich eine Freundin? Jemand, der sie nicht verhöhnte, weil sie zum wiederholten Male Romeo und Julia oder Ein Sommernachtstraum von Shakespeare las. Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Zumindest teilten sie ihre Faszination für Legenden und Sagen, in denen sie sich immer schon vergraben hatte, um aus der konservativen Welt ihrer Mutter zu flüchten.

Die beiden Frauen holten gemeinsam die Gläser aus dem Keller, damit sie später noch mit dem Spülen hinterherkamen. Dabei berichtete Ciara von ihrem Urlaub in London und konnte sich vor Begeisterung nicht mehr bremsen, was in Lily unangenehme Erinnerungen hervorrief. Sie hatte sich wohl etwas anmerken lassen, denn Ciara legte den Kopf schief und sah ihr forschend ins Gesicht. „Du teilst diese Meinung offenbar nicht?“

„Dieses London, von dem du da redest, habe ich so nie kennengelernt“, erklärte Lily kurz angebunden, wurde innerlich jedoch ruhiger. „Es ist schön, dass es dir so gut gefallen hat.“ Unbedacht legte sie eine Hand auf Ciaras Arm. Augenblicklich tauchten Bilder vor Lilys innerem Auge auf. Eine grüne Wiese mit zwei kleinen Mädchen in langen weißen Kleidern, die lachend Fangen spielten. Sie sah einen Garten voller Lilien, ein Gesicht, das ihr schrecklich vertraut vorkam. Lily zog die Hand sofort zurück, als hätte sie sich verbrannt. Erschrocken betrachtete sie erst ihre Finger, dann Ciara und schließlich ihre Handinnenfläche, die merkwürdig kribbelte. Ein betont unschuldiger und fragender Ausdruck stand Ciara ins Gesicht geschrieben. „Stimmt was nicht?“

Lily hatte etwas gesehen. Etwas, das man normalerweise nicht sah, wenn man jemanden berührte.

„Das war seltsam“, murmelte sie, und Ciara musterte sie interessiert.

„Nur ein Stromschlag. Ich habe ihn auch gespürt. Wir sind wohl beide elektrisch aufgeladen, was?“ Ciara lachte und schwebte an ihr vorbei. Misstrauisch sah Lily der neuen Freundin hinterher. Irgendetwas stimmte hier nicht. Was war nur los mit ihr? Drehte sie jetzt völlig durch? Oder verlor sie den Verstand? Liam kam zu ihr und unterbrach ihre wirren Gedanken.

„Alles in Ordnung bei dir, Lily? Gut, dass ihr an die Ersatzgläser gedacht habt. Wenn ich dich nicht hätte …“ Er wirkte so erleichtert, als er die frisch gespülten Gläser auf dem Tisch stehen sah, dass er Lilys Grübelei damit vertrieb. „Ich kann nicht verstehen, wie deine Mutter dich gehen lassen konnte.“ Er drückte sie kurz und rau an sich und gab ihr überschwänglich einen Kuss auf den Scheitel. Sie würde wahrscheinlich immer ein Freak bleiben, egal, wo sie nun lebte.

Später, in all dem Trubel und Lärm, blieb ihr keine Zeit mehr, sich näher mit dem Geschehenen zu beschäftigen. Ciara scherzte nach wie vor mit ihr herum. Allerdings achtete sie penibel darauf, ihr nicht mehr zu nah zu kommen, sodass Lily ahnte, dass sie sich das keineswegs bloß eingebildet haben konnte. Der Andrang im Pub war riesig, es war laut und unüberschaubar. Der Zigarettenqualm vernebelte ihr die Sicht, und sie kam mit der Getränkebestellung kaum noch hinterher. Liam und Caitlin begrüßten die ältere Gesellschaft freundschaftlich, die mittlerweile am Tresen saß. Ciara hingegen schien jeden jungen Menschen im Pub mit Namen und der dazugehörigen Hintergrundgeschichte zu kennen. Am Anfang, als noch nicht so viel los gewesen war, hatte sie Lily noch aufgeklärt, wer die Zicke, die Sportskanone oder wer einfach ein liebenswerter Nerd war. Ihr war der Kopf fast geplatzt, auch wenn sie sich weiterhin bemühte, konzentriert zuzuhören. Jetzt war es allerdings so voll und unübersichtlich, dass sie die sture Arbeit am Zapfhahn zu schätzen wusste.

Lilys Aufmerksamkeit wurde, trotz der Menschenmenge um sie herum, plötzlich auf eine Gruppe junger Erwachsener gelenkt, die gerade das Mollys betraten. Zuerst konnte sie nicht genau sagen, was sie an sich hatten, dass sich Lily dazu entschloss, ihre selbst erschaffene Blase zu verlassen. Die Gruppe bestand aus vier Männern und einer Frau, alle etwa im gleichen Alter wie sie. Ihre Köpfe waren wegen des Regens von Kapuzen bedeckt, sodass Lily kaum ein Gesicht erkennen konnte. Was sie allerdings sah, war, dass Ciara auf sie zuschoss und wildgestikulierend auf einen der Männer einredete. Ob das ihr Freund war? Vielleicht hatten sie einen Streit? Er hatte ihr den Rücken zugewandt, dennoch gierte Lily förmlich danach, nur einen winzigen Moment einen Blick von ihm erhaschen zu können. Sie fürchtete bereits, unhöflich zu sein, indem sie derart offensichtlich zu ihnen hinüber starrte, doch sie war nicht fähig fortzusehen. Dann versteifte sich seine Gestalt, als hätte Ciara etwas Schockierendes gesagt, dabei hatte Ciara mitten im Wortschwall innegehalten. Ihr Blick glitt gezielt an ihm vorbei und hin zu Lily. Was der Ausdruck in Ciaras Augen bedeutete, konnte sie nicht einschätzen. War es Irritation oder Unglaube?

Entgegen all ihren Hoffnungen wandte er sich nicht zu ihr um, sondern schaute so rasch über seine Schulter, dass sie nichts außer einem stoppeligen Kinn erkennen konnte. Er sagte kurz etwas zu Ciara, woraufhin sie auf ihre Füße blickte, und stürmte dann rücksichtslos und rempelnd, beinahe fluchtartig aus dem Pub. Einige riefen ihm entrüstet hinterher.

Lily fühlte sich peinlich berührt, weil sie ihn derart offensichtlich angestarrt hatte. Beschämt sah sie sich um und erkannte, dass sie sich im Fokus der Gruppe befand, und hielt den Atem an. Die Ausdrücke in ihren Mienen konnten unterschiedlicher nicht sein und reichten von Neugier bei einem der Männer über Skepsis bis hin zu Feindseligkeit bei der Frau. Im nächsten Augenblick waren sie auch schon dabei, sich weiter durch die Menschenmenge zu arbeiten, und Lily stieß den angehaltenen Atem aus. Sie legte die Hand über ihr wild klopfendes Herz und schloss für einen Moment die Augen. So aufgewühlt hatte sie sich noch nie gefühlt.

Das waren genug Verrücktheiten für einen Tag, dachte sie und versteifte sich kurz, als Caitlin ihr einen Arm über die Schultern legte.

„Mach mal eine Pause! In einer Stunde ist der Jahreswechsel, und du solltest vorher noch etwas Kraft tanken. Meinst du nicht?“

Dankbar für die herbeigesehnte Ablenkung nickte Lily und machte sich auf den Weg zum Hinterhof. Sie brauchte jetzt wirklich dringend frische Luft, um den Kopf freizubekommen. Sie schnappte sich schnell eine Jacke aus dem Aufenthaltsraum und wusste bei all der Unordnung nicht, ob es die eigene oder die von Caitlin oder Ciara war, die sie sich gegriffen hatte. Es war Caitlins Parfüm, das ihr in die Nase stieg, als sie in den Mantel schlüpfte. Lily störte das nicht, deshalb öffnete sie die stabile Eisentür zum Hof und sog die kühle Luft Cornwalls in die Lungen. Das tat gut! Die Kapuze zog sie über ihren Kopf, um sich vor dem prasselnden Regen zu schützen, und atmete ein paarmal tief durch. Ein verächtliches Schnauben entwich ihr, ehe sie über sich selbst lachte. Ob es hier jemals aufhören würde zu regnen? Und würde sie irgendwann einmal diese Verrücktheiten hinter sich lassen?

Der Hinterhof war klein und beherbergte die üblichen überfüllten Mülltonnen, leere Bierkästen und alte Fässer, wodurch ein schaler Biergeruch in der Luft hing, der ihr Übelkeit verursachte. Unerklärlicherweise wurde es dunkler. Natürlich war es unmöglich, denn es war bereits tiefste Nacht, und die dicke Wolkendecke schirmte Plymouth von dem Mond und den Sternen ab. Außer den Laternen in der Nähe gab es keinerlei Lichtquelle, allerdings brannte davon keine mehr. War der Strom ausgefallen? Von drinnen ertönte der rockige Sound der Band, sodass ein Stromausfall ausgeschlossen war und kaum zur Erklärung dienen konnte.

Mit einem Mal spürte Lily, dass sie nicht mehr allein war. Es war bloß ihr Instinkt, der sie warnte, indem sich ihre Nackenhaare aufrichteten. Wie von selbst griff sie an den Metallknauf der Tür und zog daran, doch nichts tat sich. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie war schon mehrfach an dem Abend hinausgegangen, um den Müll zu entsorgen, und da war die Tür auf dem Rückweg immer offen gewesen.

Im Ernst jetzt? Vor Furcht feuchte Hände, die am Knauf abrutschten. Auf ihren Sarkasmus war stets Verlass, etwas, was ihre Mutter an ihr gehasst hatte. Entweder hast du was Sinnvolles zu sagen, oder du hältst deinen Mund, junges Fräulein, waren Janes Worte gewesen. Das junge Fräulein hatte Lilys Brechreiz besonders auf die Probe gestellt. Hatte Liam nicht etwas von wilden Tieren gesagt? Und verletzten Menschen? Nun doch um einiges panischer rüttelte sie am Türknopf und klopfte heftig gegen die Tür. Selbstverständlich hörte sie aufgrund des Lärms keiner. Unter der Jacke brach Lily der Schweiß aus. Ein Rascheln war zu hören. Sie schaute sich nach allen Seiten um. Natürlich. Ganz wie im Horrorfilm. Sie hielt bei dem Versuch inne, die verriegelte Tür aufzubekommen, weil sie wusste, dass dieses Vorhaben sowieso aussichtslos war. Das seltsame schlurfende Geräusch jagte ihr einen eiskalten Schauder über den Rücken, dennoch nahm sie all ihren Mut zusammen und wandte sich um. Ihre Augen konnten nichts in der Dunkelheit erkennen, und sie machte sich gedanklich eine Notiz, Liam den Hinweis zu geben, dass Licht auf einem dunklen Hinterhof immer eine gute Idee war. Augenblicklich erahnte sie zwei Personen, die sich langsam auf sie zubewegten. Zwei dunkle Gestalten, deren Umrisse nur schemenhaft zu erkennen waren. Wie pathetisch. Glühende Hitze brannte unerwartet auf Lilys Haut, nur knapp unter ihrer Halsmulde. Sie griff an die Stelle und bekam die Kette zu fassen. Die Lilie glühte auf ihrer Handinnenfläche und leuchtete hell.

„Was zum Teufel …?“, murmelte sie, erinnerte sich dann jedoch an die nahende Bedrohung und stöhnte innerlich auf. Wie konnte ihr hier nur so etwas passieren? Immerhin war sie einigermaßen unbeschadet aus London herausgekommen, wo Gewaltverbrechen eher zur Tagesordnung gehörten, oder etwa nicht? Aber nein, das war so typisch für Lily. Keine andere schaffte es, sofort die Verbrechensrate der Stadt hochzujagen. Sie musste einen hysterischen Lachanfall niederkämpfen. Auch das entsprach ganz ihrem Charakter. Sie lachte in den unpassendsten Momenten wie auf Beerdigungen oder kurz, bevor sie von zwei dunkel gekleideten Verbrechern ermordet wurde. Doch irgendwo hatte sie einmal gehört, dass es immer besser war, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen - ähnlich wie bei aggressiven Hunden.

Sie bemühte sich um einen festeren Stand und hielt Ausschau nach etwas, das sie nutzen konnte, um sich zu wehren. Da war jedoch nur Caitlins knallbunter Regenschirm mit den weißen Schäfchen, den sie dort offenbar stehen gelassen hatte. Ob der sich als Waffe eignen würde? Ein erneuter Lachanfall kämpfte sich ihre Kehle hoch, als Lily im Geiste die Überschrift eines Zeitungsartikels durch den Kopf schoss: Frau schlägt zwei Vergewaltiger mit knallbuntem Regenschirm in die Flucht. Nichtsdestotrotz umfing sie den Schirmgriff fest.

Die vermummten Gestalten kommunizierten in einer fremden Sprache miteinander, oder waren es bloß Laute? Lily konnte sich nicht erinnern, eine solche Redeweise jemals gehört zu haben, denn sie bestand eher aus zischenden und rollenden Lauten. Sie waren zudem sehr leise gesprochen, sodass sie schon versucht war, die beiden aufzufordern, doch bitte deutlicher zu sprechen. Das tat sie natürlich nicht. Sie war ja nicht lebensmüde, nur sarkastisch. Stattdessen hielt sie den Schirm abwehrend vor ihren Körper. Die Gestalten blieben unerwartet stehen, und Lily beflügelte das Gefühl, Eindruck gemacht zu haben.

Eine dritte Person landete wie aus dem Nichts zwischen ihr und den Fremden und stellte sich ihnen breitbeinig entgegen. Anschließend sprach sie in ähnlicher Weise mit ihnen, allerdings viel lauter und unüberhörbar wütend. Als sie auch noch eine Art Schwert zog, flüchteten die beiden anderen Typen rasch. Irgendetwas an ihrem Retter wirkte vertraut … Tiefe Erleichterung überkam Lily. Ihr Verstand warnte sie jedoch. Wer wusste schon, wer diese Person war? Womöglich ging von ihm die wahre Gefahr aus?

Der Fremde drehte sich zu ihr um, und plötzlich verspürte Lily die Anziehung, der sie heute schon einmal begegnet war. Ähnlich der Anziehungskraft, die sie zum Wald zog oder der, die sie in ihren Träumen bemerkte. Ihr Traum! Augenblicklich wusste sie, wer da vor ihr stand. Diese Szene hatte sie bereits vor sich gesehen und nicht nur einmal. Wie oft hatte sie in den vergangenen Monaten von diesem Moment geträumt? Unzählige Male und jetzt war es so weit. Endlich würde sie erfahren, wer es war, und was das alles zu bedeuten hatte.

Vielleicht würde sie aber auch bloß erkennen, dass sie irre war und dringend ihren Kopf untersuchen lassen musste.

Ihr Atem stockte, als er sich langsam und mit geschmeidigen Schritten auf sie zubewegte. Die breiten Schultern, die von einer dunklen Jacke verborgen waren, und die schmalen Hüften gaben deutliche Rückschlüsse darauf, dass es sich um einen Mann handelte. Fassungslos starrte sie auf das Bild, das sich ihr bot. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie glauben, dass es der gleiche Mann war, der im Pub mit Ciara gestritten hatte. Aber wie …?

Langsam löste sich die Anspannung, und sie machte einen unsicheren Schritt auf ihn zu. Dabei zitterten ihre Beine und drohten fast nachzugeben. Außerdem erinnerte sich Lily daran, was jedes Mal in ihren Träumen geschah, wenn sie auf ihn zugehen wollte, und hielt inne. Sie hörte ihn derb fluchen. Verwundert beobachte sie, wie er in seine Tasche fasste, und sie einen Moment lang bloß ansah, bevor er ihr etwas ins Gesicht pustete. Dabei murmelte er wieder eine Menge seltsamer Worte, und vor Lilys Augen tanzten kleine Funken. Ihre Beine gaben nach, sodass sie nach hinten fiel und hart mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Kurz öffnete sie noch einmal die Augen. Sein Gesicht tauchte über ihr auf und sah auf sie hinunter. Lily erkannte graue Augen und helle Haare, die unter der Kapuze hervorlugten, ebenso wie einen blonden Dreitagebart, der sich um seine wohlgeformten Lippen zog. Dann wurde alles schwarz - schwarz wie die endlose Nacht.

Lily kam langsam zu sich und lag weich und bequem. Dank der Bettdecke fühlte sie sich sicher und geborgen. Sie öffnete die Augen einen Spaltbreit und blickte in die Dunkelheit. Etwas raschelte, und sie richtete sich alarmiert auf. Ein stechender Schmerz jagte durch ihren Kopf, und sie griff sich an die Stirn. Erschrocken fuhr Caitlin zu ihr herum und stürzte auf sie zu.

„Lily, mein Gott! Endlich bist du wach“, stieß sie aus. Caitlin schloss sie fest in ihre Arme, und sie entspannte sich.

Die Angst war noch nicht versiegt, ebbte jedoch etwas ab, als Caitlin die kleine Nachttischlampe anschaltete. Lily befand sich in ihrem Zimmer und in Sicherheit.

„Was ist passiert? Wie bin ich hierhergekommen? Der Mann …“

Beruhigend legte Caitlin eine Hand auf Lilys Schulter. „Es ist alles in Ordnung, mein Schatz. Du bist nur gestürzt.“ Sie lächelte gezwungen, als kosteten ihr diese Worte enorme Kraft.

Entschlossen, den eigenartigen Vorkommnissen auf den Grund zu gehen, schüttelte sie Caitlins Hand ab und schob die Bettdecke von sich, um aufzustehen. „Nein, nein … da waren zwei Gestalten … Ich konnte sie nicht genau erkennen, aber sie haben in einer seltsamen Sprache gesprochen. Und der Mann! Wo ist er? Er hat mit ihnen geredet und mich vor ihnen beschützt.“ Lily runzelte die Stirn und war auf einmal nicht mehr gänzlich davon überzeugt, dass er wirklich ihr Retter gewesen war. Schließlich war sie danach in Ohnmacht gefallen … Dieses glitzernde Pulver … Er hatte ihr etwas entgegen gepustet.

„Glaube ich zumindest“, fügte sie beunruhigt hinzu.

Caitlins Augen drückten große Sorge aus, doch als sie mit ihr sprach, beruhigte sie sich. „Hey Kleines, das hast du sicher nur geträumt … Du hast dir ziemlich heftig den Kopf gestoßen …“

„Du meinst, ich habe mir das alles bloß eingebildet?“ Prüfend starrte sie ihre Tante an. Caitlin sah ihr nicht in die Augen und nickte, allerdings wurde Lily das Gefühl nicht los, dass sie log. Lily schüttelte den Kopf. Sie war sich so sicher gewesen … Sie schrak erneut hoch. „Wer hilft Liam denn gerade?“

Caitlin lachte, und die Tür zu Lilys Zimmer wurde aufgestoßen. Liam stand im Türrahmen, und sie blickte von einem besorgt dreinblickenden Onkel zu der erheiterten Tante.

„Du hast die Silvesternacht verschlafen … wie auch den ganzen nächsten Tag.“

„Das kann doch alles nicht wahr sein! Ich habe also einen Tag lang geschlafen? Einfach so?“ Sie sank zurück in die Kissen und legte einen Arm über ihre Augen.

Liam ließ sich neben sie aufs Bett sinken. „War eben ein aufregender Jahreswechsel.“

„Ich hoffe, dass das kommende Jahr nicht ganz so turbulent wird, wie das alte geendet hat“, flüsterte Lily beschämt. Sie glaubte, etwas verpasst zu haben, denn Liam und Caitlin wechselten einen seltsamen Blick miteinander.

„Wie fühlst du dich jetzt?“, fragte Liam und legte seine eiskalte Hand auf ihre Stirn, mit der er zuvor im Gefrierschrank gewühlt haben musste, so kalt wie sie war.

„Bis darauf, dass ich starke Kopfschmerzen habe, ist alles in Ordnung.“ Lilys Bauch knurrte. Zerknirscht sah sie zu ihrem Onkel auf. „Offenbar könnte ich ein ganzes Schwein auf Toast essen.“

Caitlin stand auf. „Ich besorge dir zu essen und etwas gegen deine Kopfschmerzen.“

Nach kurzem Zögern erzählte Lily Liam noch einmal von den letzten Minuten des gestrigen Abends, bevor alles schwarz geworden war. Auch er schrieb das Geschehene ihrer blühenden Fantasie und ebenfalls der leichten Kopfverletzung zu. „Wer glaubt schon an seltsame dunkle Wesen, die sich in einer unbekannten Sprache verständigen? Oder an einen geheimnisvollen Retter, der dir auf unerklärliche Weise vertraut vorkommt? Obwohl du weder seinen Namen kennst, noch ihn wirklich beschreiben kannst?“

Lily hatte dem nichts mehr entgegenzusetzen. Dennoch verhielt sich Liam irgendwie komisch. Er war ungewöhnlich ruhig und machte auch keine Scherze so wie sonst. Er saß einfach nur neben ihr und nahm ihre Hand in seine. Väterlich strich er darüber. „Du bist so besonders, Lilien! Das warst du schon immer gewesen, und deine Fantasie ging gern mit dir durch.“

Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Was sagte man zu so etwas?

Caitlin kam mit einem Teller Sandwiches, einer Teekanne mit drei Tassen und einer Schmerztablette zurück. Sie lümmelte sich zu ihnen aufs Bett und breitete alles vor ihnen aus. Es waren genau solche Momente, die diese Familie zu etwas Besonderem für Lily machten. Es war mitten in der Nacht, und sie veranstalteten ein Picknick in ihrem Bett. Sie hatte sich selten so wohl gefühlt und war einfach nur glücklich.

Lily erblickte in ihren Träumen erneut den Mann in derselben Situation des Silvesterabends, der sie seit Wochen in ihren Träumen verfolgte. Diesmal rannte sie nicht auf ihn zu, sondern wartete ab, bis er zu ihr kam. Er beugte sich über sie, und sie konnte seine vollen Lippen erkennen, die von kurzen Bartstoppeln umgeben waren. Seine Augen waren von einer so satten graublauen Farbe, dass sie sie sofort an das Meer kurz vor einem Gewitter erinnerten. Der Rest seines Gesichtes blieb durch die dunkle Kapuze verborgen. Lily wollte schon danach greifen, um ihn vollständig betrachten zu können, doch da blickte er sie an, ganz aufmerksam und intensiv. Sie irritierte der Ausdruck in seinen Augen so sehr, sodass sie nicht zu atmen wagte. Er machte leise Sch-Laute und strich ihr mit der Hand über die Augen, was sie erneut in tiefe Dunkelheit hüllte.

Irgendwann tauchte ein anderes Gesicht über ihr auf. Nun war es nicht das des vertrauten Mannes, sondern ein viel, viel älteres Erscheinungsbild. Sie befand sich immer noch in ihrem Zimmer und schaute hinauf an die mit Holz verkleidete Decke. Auch dieser Mann war ihr nicht unbekannt. Sie konnte sich jedoch nicht erinnern, woher sie ihn kannte. Als er ihren Blick erwiderte, waren seine Augen so gütig, dass sich Lily sofort geborgen fühlte. Sie versank erneut in Dunkelheit und wurde erst am frühen Morgen von den Sonnenstrahlen geweckt.

Endlich war sie ausgeschlafen und erholt. Ihr Kopf tat kaum noch weh, und sie stellte sich an eines der Fenster, durch das sie auf den Wald blicken konnte. Zu guter Letzt hatte es aufgehört zu regnen. Die Sonne stand tief und leuchtete durch die Blätter der Büsche und Bäume auf eine Weise, wodurch sie in einem besonders intensiven Grün erstrahlten. Auf den Feldern hing noch der Tau. Eine tiefe Ruhe überkam Lily, und die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Alles, was sie in ihren Träumen gesehen hatte - Der Fremde, der ihr so vertraut war, und der Ältere - Sie waren real.

Sie träumte nicht nur vor sich hin. Sie sah tatsächlich etwas. In diesem Fall hatte sie Dinge beobachtet, die geschehen sollten oder längst geschehen waren, während sie ohne Bewusstsein gewesen war. Ihr Unterbewusstsein förderte die Erinnerungen zutage, an die sie nicht mehr denken sollte. Irgendjemand wollte, dass sie vergaß. Es ging etwas vor sich, da war sich Lily sicher. Denn die merkwürdigen Vorkommnisse, die in den wenigen Tagen seit ihrer Ankunft geschehen waren, konnten kein Zufall sein. Sie dachte an das komische Verhalten ihres Onkels und ihrer Tante, das Auftauchen von Ciara und an diese Träume sowie dieser Fremde, zu dem sie sich derart stark hingezogen fühlte, obwohl sie keine Ahnung hatte, wer er war. Was das auch immer sein sollte, nun hatte es endgültig ihre Neugierde geweckt, und sie würde dem auf den Grund gehen.

3. MR FANTASTICAL

Voller Tatendrang begann Lily, sich für den ersten Uni-Tag vorzubereiten. Sie war wild entschlossen, das Leben in Cornwall voranzutreiben, und kam deshalb schon mit einer gepackten Tasche zum Frühstückstisch hinunter. Caitlin und Liam blickten sie erstaunt an. Aus einem nicht klar zu erkennenden Grund war die Stimmung ungewöhnlich frostig. Ganz anders als in der vergangenen Nacht.

„Du willst heute zur Uni gehen?“ Perplex über Lilys Spontanheilung schüttelte Liam den Kopf. „Nein, nein. Du solltest dich lieber noch ausruhen. Gönn dir doch einen weiteren Tag zum Ausschlafen. Die Uni läuft dir ja nicht weg.“

Lily blieb standhaft, goss Kaffee in ihren Thermobecher und ließ sich nicht beirren. „Liam, ich habe fast zwei Tage lang nur geschlafen. Ich habe das dringende Bedürfnis, endlich in mein Leben zu starten. Bitte, lass mich dich nicht erst überreden müssen.“

Er schaute unzufrieden in den Kaffeebecher. „Ich finde das nicht richtig. Sag doch auch mal was dazu, Caitlin!“

Diese verschränkte jedoch nur die Arme vor der Brust. „Ich dachte, ich solle mich raushalten und dürfe nichts mehr sagen?“ Eisige Kälte lag in ihrer Stimme. Dieses Verhalten war untypisch für ihre Tante, und Lily fragte sich, was zwischen ihnen vorgefallen war. Die Sorge, dass es etwas mit ihr zu tun haben musste, nahm wieder zu. Sie sah von einem zum anderen und überlegte, was sie darauf antworten sollte. Stattdessen nutzte sie den Moment lieber zum Verschwinden. Kurz bevor sie die Jacke vom Haken nahm, kam ihr allerdings der Gedanke, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie am besten zur Uni kam. Das hatte sie aufgrund der Hektik der vergangenen Tage nicht bedacht.

„Ähm Leute, … entschuldigt … Ich habe keinen Schimmer, wie ich von hier wegkommen soll“, gab sie kleinlaut zu, als sie erneut die Küche betrat.

„Ich dachte mir schon, dass du nicht weit kommen wirst“, erwiderte Liam siegessicher.

Caitlin kam ihr unerwartet zu Hilfe. „Ich fahr dich, Lily.“ Sie warf ihrem Ehemann einen bösen Blick zu, den er mit frostiger Miene ertrug.

Im Auto herrschte ungewohnte Stille, und Lily wusste nicht, ob es ihr zustand, Caitlin nach ihren Problemen zu fragen. Sie brütete während der gesamten Fahrt darüber nach, fällte allerdings keine Entscheidung. Als sie auf dem Uniparkplatz hielten, blieb sie einen Moment länger sitzen, um Caitlin die Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen.

„Soll ich dich später auch wieder abholen? Du kannst mich einfach anrufen“, bot diese jedoch nur an.

„Nein, ich nehme den Bus. Ich komm schon klar. Dankeschön!“ Sie winkte unbeholfen und kletterte vollgepackt aus dem Wagen.

Nachdem Caitlin das Auto rückwärts aus der Parklücke rangierte, bremste sie noch mal scharf ab und öffnete das Fenster. „Lily?“ Sie sahen sich einen Moment an. „Alles wird gut werden, ich verspreche es dir. Hab einen schönen ersten Tag.“ Winkend fuhr sie davon, und Lily atmete erst einmal ganz tief durch. Nun fühlte sie sich wieder so müde wie in der vergangenen Nacht und fürchtete schon, ihren Zustand falsch eingeschätzt zu haben. Der willensstarke Teil in ihr straffte jedoch bereits die Schultern und zwang sich, weiter zu gehen. Sie fragte etwas herum und folgte dann den Wegweisern zum Sekretariat. Sie brauchte noch einen Zeitplan für ihre Vorlesungen und eine Wegbeschreibung des Hochschulgeländes.

Die schnippische Sekretärin gab ihr nur kurze und knappe Antworten und beschwerte sich dann lautstark und leider berechtigt darüber, dass sie sich nicht früher erkundigt hatte. Danach beachtete sie Lily nur noch mit ebenso viel Interesse, wie sie einem Insekt entgegen gebracht hätte.

Was für ein toller Start. Sie knirschte mit den Zähnen. Eigentlich hatte sie einen besseren ersten Eindruck hinterlassen wollen. Fluchtartig verließ sie das Büro und rannte sogleich in jemanden hinein, weil sie so in ihre Unterlagen vertieft gewesen war. Sie blickte hoch und erkannte grüne Augen und nahm die starke Präsenz der anderen Frau vor ihr wahr. Das blonde Haar fiel ihr in sanften Wellen über den Rücken, und die feingeschwungenen Brauen zogen sich vorwurfsvoll zusammen. Lily betrachtete sie eingehend und stellte dabei fest, dass sie sich schon einmal begegnet waren. Am Silvesterabend in Liams Pub. Sie gehörte zu den Freunden von Ciara und warf ihr nur einen äußerst wütenden Blick zu. Lily konnte sich nicht erklären, womit sie den Zorn der Fremden auf sich gezogen hatte.

„Entschuldi…“, begann sie, wurde jedoch sofort schroff unterbrochen.

„Kannst du nicht aufpassen?“, herrschte die Schönheit sie an.

Offenbar hatte auch sie nichts für neue Studenten übrig. Sie sammelten beide schweigend ihre Unterlagen zusammen und entfernten sich voneinander, ohne ein weiteres Wort miteinander zu wechseln. Das war definitiv keine Begegnung, die Lily so schnell wiederholen wollte.

Verzweifelt suchte sie den Raum der ersten Vorlesung und fand ihn dann mithilfe einiger mehr oder weniger hilfsbereiten Kommilitonen, kurz bevor die Stunde begann. Sie setzte sich auf einen Platz möglichst weit hinten und versuchte, Ordnung in ihre chaotische Blättersammlung zu bekommen. Sie hatte jetzt Mythologie - und auf diese Lehrstunde war sie wirklich gespannt. Es gab doch nichts Schöneres auf der Welt, als bis zum Hals in einem Märchen oder einer Legende zu stecken. Ohne Probleme konnte mit dem Lesen eines guten Buches ein ganzer Tag an ihr vorüberziehen. Es ging stets um Liebe, Kampf und Tragik.

Endlich betrat der Universitätslehrer den Raum und zog augenblicklich die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich. Zuvor hatte es noch lautes Stimmengewirr gegeben, das jetzt aber abrupt endete. Der Professor war zwar schon in die Jahre gekommen, dennoch ging von ihm eine Präsenz aus, die nicht zu beschreiben war. Er wirkte würdevoll und weise, ohne jedoch dabei das Aussehen eines Großvaters zu haben. Er war viel eher elegant und wie ein typischer Brite gekleidet. Unter seiner grauen Anzugjacke trug er eine passende Weste und hatte in der Westentasche eine Taschenuhr versteckt, die er gerade herauszog. Sein Haar war vollständig ergraut und im Nacken zu einem Zopf zusammengefasst. Das Gesicht war von Falten übersät, aber die Augen wirkten hellwach, beinahe stechend. Sein Blick glitt über die versammelten Studenten, bis er Lily fokussierte. Als sich ihre Blicke trafen, schnappte sie unwillkürlich nach Luft.

Das war er! Er war der bekannte Mann aus ihrer neuesten Erinnerung. Und nicht nur das: Sie hatte auch im gleichen Zug mit ihm gesessen, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Warum war ihr das nicht eher aufgefallen? Er war der alte Herr aus dem Zug mit der Zeitung und der Baskenmütze.

Welche Erklärung gab es wohl für diesen Zufall? Für jemanden wie sie, die nicht wirklich an Zufälle glaubte, war das sehr verwirrend. Sie seufzte innerlich auf und wich seinem forschenden Blick aus. Wieso war sie bloß solch ein Freak?

„Oh, ein neues Gesicht. Sie müssen entschuldigen, aber ich habe ein fotografisches Gedächtnis, was in meinem Alter eindeutig Vorteile hat.“

Ein Lachen ging durch den Hörsaal, und selbst Lily konnte sich seinem Charme nicht entziehen, deshalb lächelte sie schüchtern zurück. Unverkennbar hatte er diese Wirkung auf all ihre Kommilitonen.

„Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle? Mein Name ist Sir James Mac Calaghan. Ich unterrichte hier an der Universität das Fach Mythologie. Mythologie ist meine Leidenschaft, die mich schon das ganze Leben lang begleitet. Bei Ihnen ist das ähnlich, nehme ich an?“ Die Frage war direkt an Lily gerichtet, und sie hasste die allgemeine Aufmerksamkeit, die ihr dadurch zuteilwürde.

Sie hatte Glück. Just in diesem Moment öffnete sich die Tür des Hörsaals, und eine Gruppe weiterer Zuhörer stürzte lautstark hinein. Sofort richtete sich das Augenmerk auf den Tumult, und sie vergaß zu atmen.

Die Freunde von Ciara und ihm platzten herein. Sie erkannte Ciara und die Frau von vorhin wieder. Doch Lily hatte keine Blicke mehr für sie. Der junge Mann mit dem blonden Haar, das strubblig vom Kopf abstand und an dessen Arm die Schönheit hing, nahm ihre gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie wusste sofort, dass er sowohl der Mann aus ihren Träumen, als auch vom Hinterhof war. Sie hätte etliche Dinge nennen können, wie etwa den beeindruckenden Körperbau, den grazilen Gang oder das ausdrucksstarke Kinn. Es waren die Augen, die sie dazu brachten, ihn wie eine Idiotin anzustarren. Sie hatten eine so seltene Farbe, dass wohl jeder normale Mensch davon ausging, dass er Kontaktlinsen trug. Es waren nicht nur die äußerlichen Merkmale, die ihr versicherten, dass er der Mann aus ihren Träumen war. Diese merkwürdige Anziehungskraft zog sie wieder zu ihm, ganz so, als wären sie Magnete, und Lily glaubte, dass er sie ebenfalls wahrnahm. Denn sein Blick glitt zielstrebig vom Professor herüber zu ihr. Beinahe sofort wandte er sich von ihr ab und tat so, als hätte es diesen Moment des Erkennens nicht gegeben.

Gut aussehend war nicht das richtige Wort, um ihn zu beschreiben. Er war kein klassischer Sportlertyp mit Zahnpastalächeln. Er war auch nicht einer dieser sympathischen Anzugmänner, die einer Maus eine Katze verkaufen konnten und die sie aus der Gesellschaft ihrer Mutter gewohnt war. Er wirkte verwegen, beinahe unnahbar und eher wie ein wilder Krieger. Ganz so, als dulde er kein „Nein“ als Antwort, und als müsse er sich buchstäblich durchs Leben kämpfen. Lily fielen seine mittelblonden Haare auf, die eine wilde Unordnung darstellten. Sein Gesicht war ohne Frage attraktiv, doch auch geheimnisvoll und gefährlich. Zumindest hinterließ es diesen Eindruck bei ihr. Ihre Kommilitonen schienen das jedoch anders zu sehen, denn sie grölten und pfiffen anerkennend durch den Hörsaal. Lily war irgendetwas Entscheidendes entgangen.

Professor Mac Calaghan war keineswegs imponiert von der Show der Gruppe. Das konnte sie seinen Augen förmlich ablesen, obwohl er die jungen Männer und Frauen mit einem Lächeln bedachte. „Mister Brady, wie ich sehe, genießen Sie Ihren Auftritt in vollen Zügen. Setzen Sie sich doch, bevor es Ihr Letzter ist. Außerdem würde ich gern mit meinem Unterricht fortfahren.“

Der Angesprochene wechselte einen amüsierten Blick mit dem Professor, schien jedoch kaum beeindruckt von der Zurechtweisung zu sein. Gelassen setzte er sich ans andere Ende des Hörsaals, so weit von Lily entfernt, wie es eben ging. Zumindest waren das ihre Gedanken, für die sie sich sofort genierte. Warum sollte sie der Grund für irgendetwas sein, was dieser Brady tat? So vermessen war sie nicht. Es umgaben ihn, neben Ciara und der arroganten Schönheit von vorhin, noch drei junge Männer. Allesamt waren sie gut gebaut und scharrten sich wie Bodyguards um ihn herum. Lily bemühte sich, die Gruppe nicht allzu sehr anzustarren.

„Wir wollen mal nicht gleich so theatralisch werden, Mister Mac Calaghan“, entgegnete er mit einer dunklen, melodischen Stimme.

Lily riss entsetzt die Augen auf. Niemals hätte sie sich so etwas getraut. Er schien sich jedoch nichts daraus zu machen, was andere über ihn dachten.

„Wenn dir die Theatralik zu viel ist, kannst du dir gern einen anderen Hörsaal suchen, Rian!“ Der Ton des Professors war schneidender und duldete keinen weiteren Widerspruch.

Rian. Rian Brady. Endlich kannte sie den Namen des anziehenden Fremden. Sie überlegte gerade, ob sich die beiden wohl näher kannten, weil der Professor ihn plötzlich geduzt hatte, als sie ihren eigenen Namen vernahm.

„Just in diesem Moment war ich dabei, mich unserer neuen Studentin zu widmen und mich ihr vorzustellen, als wir so rüde von diesen vermaledeiten Raufbolden unterbrochen wurden. Bitte entschuldigen Sie, Miss Jones.“

Allesamt wandten sie sich erneut Lily zu, die augenblicklich errötete.

„Äh … kein Problem“, sagte sie nur so leise, dass es im Saal zu tuscheln begann.

„Wie ist denn Ihr Vorname, Miss Jones?“

Sie war irritiert. In London hatten sich die Professoren keinen deut um sie geschert, genau genommen um keinen der Studenten. Sie hatten den Saal betreten, etwas aufgeschlagen und dann einen Monolog geführt, der so manche Müdigkeit herausgefordert hatte.

„Lily. Ich heiße Lily.“

„Ich denke, das ist nicht Ihr richtiger Name?“

„Nun, es ist der Name, mit dem ich normalerweise angesprochen werde. Aber eigentlich heiße ich Lilien“, antwortete sie wahrheitsgemäß.

„Wie die Blume …“, rief jemand, und allgemeines Gelächter erklang.

„Wundervoll“, murmelte Lily mehr zu sich selbst. Sie entschied, beim nächsten Mal noch weiter hinten, am besten hinter einem dieser großen Kerle, zu sitzen.

„Nun, Mr. Finnigan, wissen Sie denn, was der Name wirklich bedeutet?“, fragte der Professor den Ruhestörer herausfordernd. Sein Lächeln blieb ungetrübt.

„Na, er hört sich doch nach der Blume an?“

Mac Calaghan gab sich offensichtlich alle Mühe, nicht mit den Augen zu rollen. „Und welche Bedeutung hat nun diese Blume?“

„Woher soll ich das wissen? Ich bin schließlich kein Biologe.“ Wieder ertönte Gelächter, und Lily wäre am liebsten im Erdboden versunken.

Ein gewinnendes Lächeln breitete sich auf Professor Mac Calaghans Gesicht aus. „Nun, Sie irren sich. Der Sinngehalt des Namens geht weit in der Geschichte zurück, unserer eigenen Geschichte. Für viele Menschen ist die Namensgebung ein kostbares Geschenk. Die Bedeutung lässt auf die Lebenspfade der Personen schließen. Nehmen wir Miss Jones als Beispiel. Lilien ist ein bedeutsamer Name. Die Lilie steht für Reinheit und Keuschheit.“

Ein wieherndes Lachen erfüllte erneut den Raum, und Lily zog den Kopf weiter ein. Angestrengt starrte sie auf ihre Schnürsenkel. Es war kaum möglich, sie noch mehr zu blamieren.

„Vor allem aber steht sie für Schönheit, Licht, Helligkeit, kurz gesagt: für das Gute.“

„Warum verwendet man dann die Lilien auch auf Beerdigungen?“, fragte jemand, und Lily traute sich, wieder aufzuschauen.

Ihr Blick suchte den Raum ab und traf auf Rians. Seine Augen schienen undurchdringlich, und er wandte sich schnell ab.

„Weiße Lilien sind in der griechischen Mythologie ein Symbol des Todes. Aber nicht für jeden bedeutet der Tod etwas Schreckliches. Der Tod symbolisiert nur den Aufstieg in eine höhere Ebene. Deshalb finden sich diese Blumen häufig auch auf Beerdigungen und Trauerfeiern wieder. Allerdings finden sie auch bei Hochzeiten Verwendung. Die Lilie sollte jedoch nur mit äußerster Bedachtsamkeit weitergegeben werden, denn hat sie einmal ihr Herz vergeben, ist es eine Liebe auf ewig.“ Professor Mac Calaghan lächelte sie an und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Haben Sie noch einen weiteren Namen, Miss Jones?“

Lily stockte der Atem, und sie fixierte den Professor mit den Augen. Was sollte das alles bloß? „Liara. Ich heiße Lilien Liara.“

„Du Ärmste“, kam es gleich wieder aus mehreren Richtungen.

Sie hatte ihren Zweitnamen stets seltsam gefunden, aber er hatte ihr dennoch gefallen. Er war ungewöhnlich und anders als alles andere um sie herum.

„Wollten deine Eltern dich quälen?“, rief derselbe Junge aus der letzten Reihe und lachte. Sie bemerkte, dass die Gruppe um Rian sie aufmerksam betrachtete.

„Du hast ja keine Ahnung“, murmelte sie.

„Die Göttin Liara war auch die Göttin des Friedens. Ihre Bestimmung war es, den Friedenszustand zu erhalten und die Menschen mit Hoffnung zu stärken. Ihr Name ist sehr bedeutsam und kraftvoll. Seien Sie stolz darauf, Miss Jones – und lassen Sie sich bloß nichts Anderes einreden.“ Der Professor hielt inne und lenkte die Aufmerksamkeit auf sich. „Wer will mir noch seinen Namen nennen?“

Viele Arme schossen sofort in die Höhe. Damit würde die Stunde wohl genug Unterhaltung bieten.

Nach der Vorlesung war Lily gerade dabei, ihre Sachen zusammenzuraffen, als sie jemand leicht an der Schulter berührte. Es war Ciara. Sie lächelte sie freundlich an und umarmte sie dann flüchtig. Lily sah erneut ein Bild von einer Wiese voller Lilien in sich aufsteigen, was aber augenblicklich wieder verschwand.

„Ich bin froh, dich zu sehen. Ich habe mir echt Sorgen um dich gemacht. Wie geht’s dir denn? Alles wieder im Lot?“

Lily schmunzelte und winkte ab. „Ja, mir geht es gut! Ich war nur richtig ausgeknockt. Ich habe offenbar fast zwei Tage durchgeschlafen.“

Ciara schien nicht besonders beeindruckt zu sein. „Und wie fandest du deine erste Vorlesung bei Mr. Fantastical?“

„Mr. Fantastical?“, echote Lily und runzelte die Stirn.

„So wird er von den Studenten genannt. Er ist etwas skurril, wird aber von allen verehrt.“

Lily legte sich ihre Jacke über den Arm und nahm in dem Moment den Rest von Ciaras Clique neben ihnen wahr.

„Ciara? Kommst du?“, fragte die Blonde jetzt, die schon wieder an Rians Arm hing.

„Darf ich euch vorstellen? Das sind meine Freunde und Mitbewohner. Kay, Naomi, Eric, Gary und Rian. Und das ist meine Freundin …“

„Wer sie ist, wissen wir ja jetzt alle“, fiel Rian Ciara scharf ins Wort. Er wirkte abweisend und kühl, was Lily nicht wirklich verstehen konnte. „Ciara!“, forderte er sie erneut eindringlich zum Weitergehen auf. Die Beiden schauten sich sekundenlang in die Augen, als fochten sie einen geheimen Kampf aus. Sie sah zwischen ihnen hin und her.

Ciaras Blick wanderte zu ihr, und sie flüsterte: „Tut mir leid. Ich muss los.“

Lily war dermaßen vor den Kopf gestoßen, dass sie sich zusammenreißen musste, um nicht loszuweinen. Wie verrückt! Eigentlich war sie nicht so nah am Wasser gebaut. Rian legte den Arm um diese Naomi und stolzierte davon, ohne weiter von ihr Notiz zu nehmen. Sie starrte fassungslos hinter ihnen her und ließ sich auf den nächsten Platz sinken.

Das wäre natürlich auch zu schön gewesen …, dachte sie. Auf einmal fühlte sie sich seltsam erschöpft und stützte den Kopf auf den Arm ab.

Jemand räusperte sich neben ihr. „Na, na, na! Warum denn so traurig?“

Sie blickte in sanfte braune Augen, die freundlich auf sie hinabsahen. Mister Mac Calaghan. Lily war gar nicht aufgefallen, dass er noch da war.

„Ich bin es gewohnt, übersehen zu werden. Aber ich hatte den Glauben, dass sich etwas ändern würde … an einem Ort wie diesem hier.“ Sie lächelte zaghaft und fragte sich, warum sie ihm das überhaupt erzählt hatte. Er war ihr völlig fremd und noch dazu ihr Professor.

Mac Calaghan hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und wippte leicht auf den Fußballen. „Ah … Hoffnung! Hoffnung ist immer gut. Die brauchen wir heute mehr denn je. Außerdem bewirkt sie, dass sich etwas ändert. Man muss es nur wollen.“

Lily wich seinem Blick aus und starrte auf die riesige Tafel hinter dem Pult. „Danke. Ich weiß auch nicht … Ich bin sonst nicht so empfindlich.“

„Wir haben alle unsere schwachen Momente, und das ist auch Mister Bradys Problem. Er hat Schwächen, denen er sich einfach nicht stellen will.“

Lily lächelte ihn dankbar an, was er freundlich erwiderte, wodurch sich die Falten um seine Augen vertieften. „Sie sollten wirklich los und sich möglichst einen Platz ganz hinten im Hörsaal von Professor O’Donnallys verschaffen. Die Studenten in der ersten Reihe brauchen Regenschirme, um seinem Speichel zu entgehen, wenn Sie verstehen, was ich meine?“ Er sagte das so vergnügt, dass Lily kichern musste, aber auch schnell ihre Sachen ergriff.

„Danke, Sir!“

„Ach, und Lilien? Bitte seien Sie vorsichtig.“

Ohne sich die Zeit zu nehmen, näher über die seltsame Warnung nachzudenken, flitzte Lily auch schon die Flure entlang.

Nachdem sie durch mehrere Gänge geirrt war und zweimal den falschen Hörsaal erwischt hatte, kam sie nur kurz vor dem Professor an. Verzweifelt musste sie feststellen, dass alle Plätze in den hinteren Reihen bereits besetzt waren.

„Was für ein Tag! Wie könnte er noch schlimmer werden?“, murmelte Lily.

Das Gekicher einiger Kommilitonen erregte ihre Aufmerksamkeit, und sie begegnete dem Blick von Rian Brady. Er saß umgeben von seinen Gefolgsleuten auf einem der hinteren Plätze und ließ sich gerade etwas von der Schönheit ins Ohr flüstern, woraufhin er hämisch lachte. Warum hatte sie nur darauf bestanden, ausgerechnet heute in das neue Leben zu starten?

Leise vor sich hin fluchend, nahm sie einen willkürlichen Platz ein und wappnete sich vor dem Speichel des Professors. Sie ignorierte das spöttische Getuschel hinter ihr, spürte jedoch plötzlich, wie jemand ihr mit einem Bleistift in den Rücken pikte. Zu ihrer Verwunderung und Freude blickte sie Ciara entgegen, die direkt hinter ihr saß.

„Achte einfach nicht auf sie“, wisperte sie mit aufmunternder Miene.

Bevor Lily etwas darauf erwidern konnte, räusperte sich der Professor vernehmlich, und sie bekam eine Kostprobe dessen, wovor Mac Calaghan sie gewarnt hatte. Gedanklich machte sie sich eine Notiz, nie wieder zu spät in die Vorlesung von O‘Donnallys zu kommen.

Die Zeit kroch ewig dahin, und sie freute sich auf die naheliegende Pause. Sie hatte sich ein Sandwich mitgenommen und kaufte in der Cafeteria einen Kaffee dazu, ohne sich noch einmal nach Ciara und dieser seltsamen Gruppe umzusehen. Sie war schon völlig in ihr Buch Tristan und Isolde vertieft, als sie sich den Weg zum Ausgang bahnte. Instinktiv wich sie allen Hindernissen und entgegenkommenden Studenten aus.

„Hey, Lily! Komm, setz dich doch zu uns.“ Das war Ciaras Stimme.

Lily sah perplex auf und direkt in Rians Gesicht, der alles andere als begeistert wirkte. Diese Empfindung schien er mit Naomi zu teilen. Sie schüttelte den Kopf, lächelte Ciara aber, dankbar für die Einladung, an. Einen weiteren Korb vertrug sie heute tatsächlich nicht.

Wenn sie eine Sache in London gelernt hatte, dann war es die, sich selbst genug zu sein. Und was sollte das schon? Sie hatte Tristan und Isolde. Sie war nie wirklich allein. Was gab es Schöneres, als diese tiefe Liebe mitzuerleben? Auch wenn das vielleicht zum zwanzigsten Mal war. Lily konnte nie genug von diesen Legenden bekommen. Sie waren immer ihr Halt gewesen in einer Welt, in die sie nicht hineinzupassen schien.

Den Blick auf ihr zerlesenes Buch gerichtet, wandte sie sich von den anderen ab und flüchtete nach draußen, wo ihr die kühle Luft entgegenschlug. Dort suchte sie nach einem geeigneten Plätzchen. Es hatte die Tage zuvor so viel geregnet, dass sie froh war, endlich wieder im Freien sein zu können. Sie ging etwas abseits an den Waldrand, legte ihre Tasche auf den Boden, der noch nass war, und setzte sich darauf. Sie biss hungrig in ihr Sandwich und genoss den frischen Duft des Grases und der Bäume um sich herum. Das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der Blätter im Wind waren wie eine nur für sie gespielte Melodie. Sie lauschte ihrer eigenen Stimme im Kopf, die beinahe auswendig aus Tristan und Isolde vorlas. Ihre Haut sog jeden Sonnenstrahl auf, und eine innere Ruhe überkam sie, nach der sie sich in den vergangenen Stunden verzweifelt gesehnt hatte.

Eine Weile campierten noch andere Leute um sie herum, doch irgendwann begannen die einzelnen Vorlesungen, und Lily, die eine Freistunde hatte, blieb einsam auf der Wiese zurück. Ein paar Wolken zogen auf und verdeckten die Sonne, was sie frösteln ließ. Augenblicklich war es so kalt, wie es zu dieser Jahreszeit zu erwarten war. Irgendetwas hatte sich jedoch verändert, denn die Eiseskälte, die kleine Rauchwölkchen vor Lilys Mund zauberte, kam zu plötzlich. Zuerst wusste sie nicht, was es war. Dann wurde es ihr klar.

Die Melodie war verstummt. Kein Vogelgesang und kein Rascheln der Blätter war mehr zu hören. Lily überlegte schon, sich nach drinnen zu begeben, als sie eine fremde Stimme vernahm. Sie sah auf und blickte um sich, konnte aber niemanden sehen. Sie spürte die Kette ihrer Mutter wieder heiß auf ihrer Haut brennen und betrachtete den Anhänger auf ihrer Handinnenfläche. Sein Leuchten war so hell, dass sie den Blick abwenden musste.

Was war das denn schon wieder?

„Indrigum lassolo …“

Sie erkannte die seltsame Sprache vom Silvesterabend wieder, dann nahm die weibliche Stimme auf einmal Züge an, die sie verstand. „Komm her … folge mir … folge den Spuren deiner Vorfahren … ich kann dir Antworten geben … auf all deine Fragen …“

Abrupt stand sie auf und ließ ihr Buch ins Gras fallen, ehe sie wie hypnotisiert ihren Blick auf die Bäume richtete. Irgendwo in ihrem Hinterkopf hörte sie Liams leise Warnung und die ihrer Mutter, dass sie nie mit Fremden mitgehen sollte. Die Verlockung des Waldes war so unglaublich stark, dass es unmöglich war, ihr zu widerstehen. Ihr Instinkt warnte sie weiterhin, woraufhin Lily zögerte.

„Du sehnst dich nach deinem Vater … nach Antworten, warum er dich verließ … ich kann dir all das geben, wenn du mir nur folgst … in der Menschenwelt ist es mir nicht erlaubt, Gestalt anzunehmen und mich gefahrlos zu bewegen …“

In der Menschenwelt? Das hörte sich in Lilys Ohren vernünftig an … Und auch wieder ganz und gar verrückt. Äste knackten. Lily sah auf und fand sich unter den ersten Baumkronen des Waldes wieder, ohne dass ihr bewusst gewesen war, dass sie auch nur einen Schritt getan hatte. Zwei vermummte Personen traten aus den Schatten der Bäume hervor.

Es waren dieselben Figuren wie in der Silvesternacht.

„Ist sie es? Kians Tochter? Bringt sie mir!“

Plötzlich war die Stimme laut und deutlich zu hören und jagte Lily eine Heidenangst ein. Sie klang keineswegs mehr verlockend und umschmeichelnd wie vorhin, sondern gierig und eiskalt.

Ihr Instinkt gewann endlich die Oberhand, und sie rannte wie der Teufel in Richtung Uni-Gelände. Ein seltsames Knirschen ertönte, und etwas schlang sich um ihre Knöchel, was sie abrupt zu Fall brachte. Sie rappelte sich auf, wurde jedoch von etwas daran gehindert, aufzustehen. Panik überkam sie, denn riesige Baumwurzeln wickelten sich stramm um ihre Beine und Arme, sodass sie sich nicht rühren konnte.

Wurzeln? Lily wehrte sich mit Leibeskräften, was vergebens war. Die feinen Äste rankten sich um ihre Gliedmaßen und umfingen ihren Körper immer weiter, bis sie vollkommen regungslos am Boden lag. Die Gestalten näherten sich ihr, und sie riss die Augen auf in unbändiger Furcht vor dem, was sie ihr antun würden. Die dunklen Umhänge gaben keinen Blick auf die Wesen frei. Wie unwirklich!

„Seht nach, ob sie das Mal hat“, hörte sie eine körperlose Stimme zischen, und eine der Figuren fasste mit den Händen grob in Lilys Nacken.

In unpassenden Augenblicken wie diesem, wo sie zwischen Panik und Hysterie einen schmalen Grat entlang balancierte, neigte Lily schon immer dazu, unangemessene Witze zu reißen oder zu lachen. Momentan kamen ihr spontan die Dementoren aus Harry Potter in den Sinn. Sie war beinahe enttäuscht, als sich diese Befürchtung nicht bestätigte.

Grob schoben die fremden, behandschuhten Hände Lilys Haare aus dem Nacken und suchten ihn nach etwas ab. Sie konnten anscheinend nichts finden und tasteten deshalb weiter ihren Körper ab.

„Sie muss es sein! Wieso hätte der Zirkel sonst so einen Wirbel um sie veranstaltet?“ Es schien, als sprach die Stimme mehr zu sich selbst als zu jemand anderem.

Auf einmal hörte Lily die fremde Sprache wieder, ein triumphierendes Lachen ertönte und hallte durch den ganzen Wald.

„Ich wusste es. Ein mieser Trick deines Vaters, aber schlussendlich bin ich ihm auf die Schliche gekommen … bringt sie her … bringt sie zu mir!“

„Wir müssen diese Einladung leider ausschlagen!“ Eine neue Stimme erklang hinter ihr. Sie wandte den Kopf gerade weit genug herum, dass sie Rian erkennen konnte. Er stand mit einem Schwert, einer wahrhaftigen Waffe, hinter ihr und schritt auf die Gestalten zu.

„Weg von ihr“, zischte eine andere Person, die Lily wesentlich vertrauter war. Ciara hatte ebenfalls ein Schwert gezogen und stand direkt neben ihr. Sie wirkte hochkonzentriert und sehr wachsam, als sie die dunklen Gestalten tiefer in den Wald zurückdrängte. Sie hörte das Getrappel weiterer Füße, die auf dem Waldboden Äste zerbrachen. Sie konnte sich aber nicht weiter herumdrehen, weil die Ranken sie noch immer gefesselt hatten.

„Rian … Rian Brady. Wie schön, dass du deiner Pflicht dem König zuliebe doch nachgehst. Hast du dein Schicksal, das Sagenland zu zerstören, endlich angenommen? Bring Guineveres Tochter zu mir, und ich verspreche, dass ich dir das schenke, was dein Herz am meisten begehrt.“

Rian zögerte nicht einen winzigen Augenblick. „Also werdet ihr Euch selbst hinrichten? Denn das ist es, was ich im Moment am meisten begehre.“ Seine Stimme klang barsch und kalt.

„Im Moment mag das zweifellos so sein … aber ich schwöre dir, eines Tages wirst du anders über mein Angebot denken. Das Angebot gilt auch dann noch. Überlasse sie mir, und ich werde meinen Teil der Abmachung einhalten.“

Rian zuckte zusammen, und er nahm eine kämpferische Position ein. Hätte Lily noch den geringsten Zweifel gehabt, dass Rian ihr Retter in der Silvesternacht gewesen war, wäre er hiermit ausgemerzt worden. Diese Haltung war unnachahmlich. Aber warum trugen sie Schwerter, um sich zu verteidigen? Wenn sie irgendwelche Agenten waren, warum zum Teufel hatten sie dann keine Schusswaffen? Wären Pistolen nicht wesentlich handlicher?

„Es gibt keinen Deal, Schätzchen! Wir werden uns nur noch einmal sehen, und das wird der Tag sein, an dem ich dir mein Schwert durch dein schwarzes, eiskaltes Herz ramme.“

„Wir werden sehen. Wir werden sehen. Diese Worte habe ich schon einmal gehört!“

Die dunklen Gestalten rannten tief in den Wald hinein. Hämisches Gelächter begleitete sie.

Einer der Männer aus Rians Gruppe wollte ihnen hinterherrennen, doch Rian hielt ihn zurück.

„Was zum Teufel …? Warum lassen wir sie entkommen?“, fragte der Mann mit den breiten Schultern brüskiert. War das Gary? Oder Eric? Lily konnte sich nicht mehr daran erinnern.

„Sie sind es nicht wert“, entschied Rian und drehte sich zu dem Mann um.

„Eben. Sie sind es nicht wert zu leben. Zwei Aasgeier weniger, die uns das Leben schwer machen können.“

„Eric, vergiss nicht, was sie zu dem gemacht hat, was sie sind. Wir verschonen sie und damit basta!“ Das Thema schien für Rian beendet zu sein, doch Eric wandte sich wutschnaubend von ihm ab. „Außerdem haben wir, was wir wollten“, sagte Rian und blickte hinüber zu Lily, der es schlicht und ergreifend die Sprache verschlagen hatte.

Irgendetwas an seinen eigenen Worten schien Rian nicht zu gefallen, denn er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und Kay, an den sich Lily besser erinnerte, prustete los. Auch Ciara grinste breit, während Naomi mit einem bitteren Ausdruck im Gesicht die Arme vor der Brust verschränkte.

„Ähm … wenn ihr grad nichts Anderes vorhabt, vielleicht könntet ihr mir dann hier kurz zur Hand gehen?“, bat Lily und sah zu Ciara hoch, die sich sofort neben sie hockte.

„Aber natürlich! Ich bin aber auch ein Schussel.“

„Wenn man genauer darüber nachdenkt, wer hier von Wurzeln gefesselt wurde, geht der erste Preis für den größten Schussel wohl eindeutig an mich.“

Ciara lachte glockenhell und durchtrennte daraufhin mit einem geschickten Hieb ihres Schwertes die Wurzeln an Lilys Armen und Beinen. Im Anschluss half sie ihr auf und hielt sie fest, als glaube sie, Lily würde in Ohnmacht fallen. Alle sahen ihr forschend ins Gesicht. Offenbar dachten auch sie ähnlich darüber.

„Geht’s dir wirklich gut?“, hakte Ciara nach.

„Ich versuche, mir einzureden, dass es meiner Beinahe-Gehirnerschütterung zu verdanken ist, dass sich meine Visionen bewahrheiten.“

„Deine Visionen?“, fragte Gary aufgeregt.

Lily atmete tief durch. „Oder Träume … ich weiß auch nicht, was das alles in meinem Kopf ist. Ich weiß nur, dass ich in letzter Zeit ziemlich viele Déjà-vus hatte …“

„Erzähl mir davon“, verlangte Rian, der diesmal nicht unfreundlich war, sondern begierig auf ihre Ausführung wartete.

„Ich denke, nachdem du mir schon zweimal zur Hilfe geeilt bist, wäre es nur fair, wenn du mir zuerst ein paar Fragen beantworten würdest, oder nicht?“

Rian fuhr sich mit der Hand durchs Haar und trat ein paar Schritte von ihr zurück. „Gerade, weil ich dir zweimal das Leben gerettet habe, denke ich, dass du am Zug bist. Betrachte es als Akt deiner Dankbarkeit, Prinzessin.“ Er spie das letzte Wort mit solcher Verachtung aus, dass Lily vor ihm zurückwich. Dieser böse Blick, mit dem er sie bedachte, war Furcht einflößend, doch sie hielt ihm stand. Nachgeben war für ihn offenbar keine Option.

„Tja, Pech!“ Sie zuckte mit den Achseln. „Von mir erfährt hier nämlich keiner irgendwas.“ Auf wackeligen Beinen, aber entschlossen, ging sie in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie hatte sich mutiger angehört, als sie sich tatsächlich fühlte, und fragte sich, woher sie die Kraft nahm, Rian die Stirn zu bieten. Allerdings war sie immer schon gut im Pokern gewesen – zumindest, wenn sie mit Liam gespielt hatte.

„Lily!“, rief Ciara ihr nach, doch sie achtete nicht auf sie.

„Ganz schön tough!“ Gary lachte anerkennend.

„Deine verdammte Sturheit hätte sie beinahe zweimal das Leben gekostet. Ich lasse das nicht noch einmal zu. Ich bringe sie jetzt zu Mac Calaghan“, fauchte Ciara Rian an, der seinerseits wilde Verwünschungen ausstieß. Ciara holte Lily kurz darauf ein und hielt sie am Arm fest. „Du kommst mit mir!“

Sie schaute überrascht in Ciaras Augen. „Danke!“, sagte sie dann erleichtert und ließ sich von der neuen Freundin ins Unigebäude führen. Dankbar, von ihr gestützt zu werden.

„Ziemlich gut geschauspielert übrigens. Ich wüsste nicht, ob ich den Mumm gehabt hätte, Rian so auf die Palme zu bringen.“

Lily quittierte das Lob mit einem schmallippigen Lächeln. Diese ganze Sache setzte ihr mehr zu, als ihr lieb war.

Gemeinsam gingen sie ein paar der leeren Flure entlang. Die Vorlesungen waren in vollem Gange und alle Studenten in den Hörsälen. Ciara stoppte vor einer Tür, an der Mac Calaghans Name stand. Sie machte sich nicht die Mühe anzuklopfen, was sie gerade tadeln wollte, als sie auch schon mitgeschleift wurde. Ein angenehmer Duft schlug ihr entgegen, als sie den Raum betraten, und Lily blickte sich neugierig um. Alles war in einem sehr altertümlichen Stil eingerichtet, ganz so, als hätten sie eine Zeitreise unternommen. Es gab alte Truhen, die mit bunten Farben bemalt waren, ungewöhnliche Glasgefäße, in denen goldene, Sirup ähnliche Flüssigkeiten vor sich hin blubberten, und allerhand unbekannte Gerätschaften. Plunder hätte ihre Mutter es genannt und als unwürdig abgestempelt, doch Lily fühlte sich sofort wohl. Sie wusste, dass es Menschen gab, die eine Schwäche für Antiquitäten hatten und dafür eine Menge Geld ausgaben, und ihr Professor gehörte offenbar dazu. Sie betrachtete alles neugierig und war nicht sicher, ob sie sich in einem Chemielabor oder einem Professorenzimmer befand. Viele, sogar sehr viele Bücher standen in den Regalen, deren Einbände anscheinend schon Hunderte Jahre alt waren. Der Professor besaß so viele davon, dass sie sich ebenso überall im Raum, auf dem Sofa, dem kleinen Tischchen daneben und sogar auf dem Boden stapelten. Es gab kaum Möglichkeiten, um sich irgendwo hinzusetzen.

Mac Calaghan, von dem Lily nicht wusste, wie er ihr helfen sollte, wenn sie verrückt wurde, saß hinter dem Schreibtisch und blickte mit scharfem Blick über die Brillengläser hinweg zu Ciara. War er vielleicht gleichzeitig Psychologe und konnte Geisteskranke heilen? Seine Augen fokussierten sie danach sofort. Er erhob sich eilig und kam auf sie zu. „Was ist geschehen?“

„Na ja, da waren Wurzeln, die mich gefesselt haben …“, murmelte Lily, noch immer unter Schock.

Mister Mac Calaghan blickte irritiert zwischen Lily und Ciara hin und her. Lily konnte es ihm unmöglich übel nehmen. Sie war mindestens so wirr im Kopf, wie er aussah.

„Es gab wieder einen Zwischenfall“, sagte Ciara, als erkläre das bereits alles.

Zu Lilys Überraschung nickte er nur. Was übersah sie bloß? Ciara stützte Lily immer noch und führte sie nun zu dem kleinen Sofa, dem einzigen freien Plätzchen, und drückte sie in die Polster.

„Eine seltsame Stimme in meinem Kopf …“, stammelte sie, um sich irgendwie zu beruhigen.

„Ist sie übergeschnappt?“, fragte Mac Calaghan und kratzte sich am Kopf, doch Ciara sah sie bloß mitfühlend an.

„Dementoren … aber normale Hände …“, murmelte Lily weiter vor sich hin.

„Oder hat sie schon wieder Kontakt mit Feenstaub gehabt?“ Der alte Mann ergriff Lilys Kinn und sah ihr prüfend in die Augen.

„Jetzt sind Sie aber übergeschnappt … Feenstaub! Pft“, empörte sie sich.

Er lächelte, als er offenbar erkannte, dass sie nur den Schock zu überwinden versuchte.

„In den furchtbarsten Momenten reagiere ich völlig unangebracht. Ich kann einfach nichts dagegen tun. Fragen Sie mal meine Mutter nach der Beerdigung von Harolds Großtante. Sie musste mich aus der Kirche werfen und hat danach überall herumerzählt, ich hätte ein Drogenproblem.“

Sprachlos und ohne weiteren Kommentar nahm er diese Information zur Kenntnis und wandte sich erneut an Ciara. „Erzähl mir genau, was geschehen ist.“

„Wir haben sie aus der Cafeteria beobachtet. Irgendwann war sie verschwunden, und kurz darauf haben wir sie dann im Wald gefunden. Ihre Stimme hat zu ihr gesprochen … es ging alles ziemlich schnell.“ Ein entschuldigender Ton schwang in Ciaras Stimme mit, und Lily fragte sich, wieso sie sich daran die Schuld gab.

„Sie hat also Kontakt zu ihr aufgenommen?“ Der Professor nickte ruhig und ging eine Weile nachdenklich im Raum auf und ab. „Dann weiß sie es jetzt.“

„Du hast die Wurzeln vergessen und die vermummten Gestalten, die mich verschleppen wollten, Ciara.“

Mac Calaghan hielt inne und musterte Lily interessiert. „Nicht immer ist die größte Gefahr zum Greifen nah, Lilien. Was hat die Stimme zu dir gesagt?“

Warum fragten sie das alle? Sie wurde wahnsinnig, das war eine Tatsache, und spielte es dann wirklich eine Rolle, was die Stimme ihr gesagt hatte? Ihr schwante, dass mehr an der Sache dran war und beschloss, endlich in die Offensive zu gehen. „Viel lieber würde ich jetzt ein paar Antworten von Ihnen bekommen.“

Wie aufs Stichwort ging die Tür auf, und Rian stolzierte mitsamt seinem Gefolge herein. Lily schnaubte verächtlich.

„Na, Prinzessin, wieder beruhigt?“ Er wandte sich an Mac Calaghan. „Haben sie es dir erzählt?“

Der Professor nickte. „Zumindest habe ich einen groben Überblick. Ich bin aber auch an den Details interessiert.“

„Sie hat Visionen und ordentlich Pfeffer im Hintern“, sagte Gary, und Mac Calaghans Blick zuckte überrascht zu ihr.

„Ihr wisst schon, dass ich anwesend bin, oder?“ Lily sah von einem zum anderen. Am liebsten wäre sie explodiert, begnügte sich jedoch damit, Rian anzufunkeln. „Du und deine Arroganz fehlen mir jetzt gerade noch. Ich bin es wirklich leid, dass ihr alle so tut, als sei ich ein belangloses Mädchen, das keine Antworten verdient hat. Du stehst hier derart herablassend und redest über mich, anstatt mir endlich zu sagen, was vor sich geht. Ich höre Stimmen in meinem Kopf. Sie werden so laut, dass sie im ganzen Wald zu hören sein müssen. Ich habe Visionen, und du, du tauchst immer wieder in ihnen auf und rettest mein verdammtes Leben. Und dann, wenn ich dir gegenüberstehe, bist du nur herablassend und kalt. Warum rettest du denn dann meinen Arsch, wenn ich dir doch völlig unwichtig bin?“

„Du verstehst das falsch, Lily. Du bist ganz und gar nicht belanglos“, besänftigte Ciara sie mit Vorsicht.

Überrascht von dem unerwarteten Wutausbruch, hielt Rian kurz inne und wich ein klein wenig vor ihr zurück. Er räusperte sich. „Okay … nun, um zu deinen Visionen zurückzukommen …“

Sie biss die Zähne fest aufeinander und stampfte mit dem Fuß auf.

„Hast du grade etwa mit dem Fuß aufgestampft?“, fragte er mehr belustigt als ärgerlich nach. „Wie alt bist du? Drei?“

Das brachte das Fass für Lily endgültig zum Überlaufen, und sie sprang auf ihn zu. Sie hatte ohnehin schon das Gefühl, durchdrehen zu müssen. Sie stürzte wutentbrannt auf ihn, und Rian versuchte, sie mit den Händen abzuwehren. Bei der Berührung seiner Haut verspürte Lily einen leichten elektrischen Schlag, und Bilder stürmten auf sie ein. Sie sah in sein Gesicht, das ihrem unglaublich nah war und den traurigsten Ausdruck in den Augen hatte, den sie je an irgendjemandem gesehen hatte. Seine Hände umfingen ihr Gesicht, und er schaute sehnsüchtig auf ihre Lippen. Dann verschwamm das Bild, und sie sah ihn in Kampfposition vor sich stehen, ganz so, als wollte er sie hinter seinem Rücken beschützen.

Beim nächsten Bild lag er blutüberströmt auf der Erde und röchelte leise. Sein Blick war auf sie geheftet. Eine siedend heiße Welle von Emotionen strömte über sie hinweg.

Dann löste etwas die Verbindung, und Lily schreckte vor ihm zurück. Geschockt starrte Rian sie an. Sie sackte auf dem Boden zusammen und blieb erschöpft liegen. Fassungslos sahen alle zwischen den beiden hin und her.

Mac Calaghan trat vor und kniete sich neben sie. Er nahm Lilys Hand in seine und legte eine Hand auf ihre Stirn. Bei dieser Berührung tauchten erneut Bilder vor ihrem inneren Auge auf, die den Professor in jüngeren Jahren zeigten. Zumindest war sein Haar noch nicht ganz so ergraut wie jetzt, und er lächelte auf sie hinab. Ein Licht erhellte den Raum, und ihr Kopf drohte, zu zerplatzen. Der Schmerz war so schlimm, dass sie fürchtete, Rian auf die Schuhe zu spucken. Ein schwacher Laut entwich ihr, woraufhin er sie eilig losließ.

„Das reicht erst einmal. Warum gehst du nicht schon mal zum Zirkel zurück, Rian“, befahl er.

Überraschend nachgiebig nickte Rian und floh förmlich aus dem Raum. Zum ersten Mal folgten die anderen ihm nicht. Es schien, als warteten sie auf weitere Befehle von dem Professor.

„Kay, bleib bei ihm … so nah, wie er es eben zulässt. Und ihr anderen sucht die Umgebung ab, ob noch weitere Schatten hier herumschwirren.“

Alle bis auf Ciara gingen eilig hinaus. „Darf ich bleiben? Ich lasse sie ungern noch mal allein.“

Nach kurzer Überlegung stimmte er zu. „Wenn Lily …“

„Ja, bitte bleib! Ich brauch dringend jemanden Vertrautes um mich herum.“ Sie halfen Lily hoch, und sie ließ sich erneut zittrig auf dem Sofa nieder.

Dann begann der Professor wieder hin und her zu laufen, was Lily nur nervöser machte. „Ich denke, es wäre nicht klug, sie noch länger im Unklaren zu lassen. Andererseits würde ich das Versprechen Liam gegenüber brechen. Dennoch … es geht schließlich um ihre Sicherheit. Sie haben sie innerhalb weniger Tage zweimal aufgespürt und beobachten jeden unserer Schritte …“, murmelte er vor sich hin.

Ciara hielt Lilys Hand beruhigend in ihrer, unterbrach den Redefluss des Professors dabei jedoch nicht. Ihre Berührung ließ bloß wieder eine Blumenwiese auftauchen.

Irgendwann hielt Mac Calaghan inne, eilte zu ihr und kniete vor ihr nieder. Er schien einen Entschluss getroffen zu haben.

„Gut … es ist so weit. Du musst endlich alles erfahren. Zumindest den wichtigsten Teil … Wo fange ich bloß an?“, fragte er mehr zu sich selbst.

„Wie wäre es mit dem Anfang?“, schlug Lily unverhohlen vor. Was es auch war, was er zu berichten hatte … Wenn er Licht ins Dunkle bringen konnte, wollte sie auch alles wissen.

„Also gut. Lilien … was weißt du über die Legenden der Feen?“

4. FEEN ODER SO

Aus großen Augen starrte Lily Mac Calaghan sekundenlang an. Dann prustete sie los. „Im Ernst jetzt?“

Das Gesicht des Professors blieb ausdruckslos. Es war keinerlei Regung, geschweige denn Belustigung darin zu lesen. Lily klopfte ungeduldig gegen ihren Schenkel und hielt dann inne.

„Ernsthaft? Feen? Diese kleinen niedlichen Wesen, die in Nimmerland leben? Tinkerbell würde mir da spontan einfallen oder wird sie nicht auch Naseweis genannt?“ Wie immer redete sie Unsinn, sobald sie nervös wurde.

Mister Mac Calaghan stand auf und lief wieder hin und her. Damit brachte er sie noch ganz aus dem Konzept. „Ich sage meinen Studenten immer, dass jedes Fabelwesen, alle Legenden und jede Sagengeschichte irgendwo ihren Ursprung haben und genauso ist es auch. Vor vielen Tausend Jahren haben die Elfen, Feen und viele andere Wesen in Frieden im Sagenland zusammengelebt.“

„Sagenland?“, echote Lily ungläubig.

Der Professor nickte bestätigend. „Sie führten ein Leben, das dem unseren hier sehr ähnlich war.“ Ciara schenkte ihm einen ironischen Blick, und Mac Calaghan lächelte. „Nun ja, vielleicht auch nicht. Wahrscheinlich war es im Allgemeinen sorgloser, und es wurden viel mehr Partys gefeiert, als die Menschen es tun. Das ist jedoch unwichtig. Den König der Elfen nennt man seit jeher Oberon. In den hier bekannten Geschichten wird er oft der Erlkönig genannt.“

„Aber der war doch böse? Oder Moment … das war doch das Gedicht von Goethe, oder nicht?“

Er lächelte nachsichtig. „Lass es mich erklären, dann wirst du es besser verstehen. Unsere Welt existiert nicht für die Menschen. Sie ist verborgen, und es würde den Rahmen sprengen, dir diesen komplexen Zusammenhang jetzt zu erläutern. Manchmal bin ich selbst nicht sicher, ob ich es richtig verstanden habe, und ich bin bedeutend älter als du. Nun ja, jedenfalls wurde das Reich damals von den drei großen Fabelwesen regiert. Die Elfen, die Feen und die Gelehrten beherrschten als mächtigste magische Wesen das Sagenland. Einer von ihnen war der Feenkönig Salomon. Er war ein friedlicher Mann, allerdings hatte er viele Prinzipien. Zum Beispiel war er immer dafür, das Land gemeinsam zu führen, doch er wollte auch die Menschen mit einbeziehen. Der Oberon hingegen war anderer Meinung. Er fürchtete den Starrsinn der Menschen und ihren Hang zu extrem religiösen Ansichten. Nicht ganz unbegründet, wenn du mich fragst.“ Er zwinkerte ihr zu. „Jedenfalls stimmte der Gelehrte, der Dritte im Bunde, für den Feenkönig, und es gab ein Zerwürfnis zwischen den Dreien. Da ein Krieg drohte, zogen sich die Gelehrten endgültig auf die Erde zurück und lebten dort im Verborgenen. Salomon und der Oberon hingegen führten einen verheerenden Krieg gegeneinander. Das Sagenland wurde während des Konfliktes in zwei Bereiche aufgeteilt. Das goldene Tal, indem die Elfen lebten, und den grünen Zirkel, das Reich der Feen. Es war schrecklich und gab damals sehr viel Leid und Tod. Dann eines Tages wurde der Oberon krank, und beide Seiten waren bereit, eine Allianz zu gründen. Hast du bis hierher alles soweit verstanden?“

„Hört sich nach einer tollen Geschichte an.“ Lily schüttelte den Kopf, denn sie glaubte ihm kein Wort. „Drei mächtige Fabelwesen: Gelehrte, Feen und Elfen. Es kommt zum Krieg zwischen den Elfen und den Feen. Der Oberon wird krank und möchte Frieden?“

Der Professor ließ sich von ihrer Skepsis nicht abhalten und erzählte weiter, während er zu seinem Schreibtisch schlenderte und sich mit seinem Gesäß dagegen lehnte. „Der Oberon wusste, dass seine Zeit bald vorüber sein würde und dass er den Krieg unmöglich bis zu seinem Tod gewinnen konnte. Er mochte viele Fehler gehabt haben, aber er wollte seinem Sohn die Bürde dieser Fehde nicht auferlegen. Somit gab er nach und schlug eine Vereinigung der Königreiche vor. Salomon hatte eine Tochter, Guinevere, und der Thronfolger des Oberons hieß Artus.“ Mac Calaghan hielt inne und gab Lily damit die Möglichkeit, etwas zu sagen.

„Moment, aber doch nicht der Artus, oder?“

Er lächelte und nickte, ehe er auf ihre Tasche deutete, aus der Tristan und Isolde herausragte. „Deine Begeisterung für Legenden kommt uns sehr gelegen, muss ich gestehen. Gehe ich also recht in der Annahme, dass du die Geschichte um Artus und Guinevere kennst?“

„Nun ja, es gibt viele Versionen …“

„Die Wahrheit, beziehungsweise das, was unser Volk glaubt, ist, dass Salomon, der Feenkönig, damals seine Tochter in Begleitung seiner mutigsten Krieger ins goldene Tal entsandte, damit Guinevere und Artus zueinanderfinden konnten. Bis dahin hatten die beiden mächtigen Herrscher alles gut durchdacht. Doch das älteste Gesetz aller Welten hatten sie nicht berücksichtigt. Die Liebe geht immer ihren eigenen Weg - denn Guinevere hatte ihr Herz längst an einen der Krieger ihres Vaters verloren.“ Er hielt inne und wartete offenbar, ob Lily die Antwort wusste.

„Lancelot“, antwortete Lily sofort.

Der Professor klatschte in die Hände, als hätte sie aus dem Kopf heraus die Wurzel aus Pi berechnet. „Ja, genau. Die beiden waren zusammen groß geworden und hatten sich lange Zeit zuvor ineinander verliebt, bevor alle aufbrachen, um den Bund mit den Elfen zu schließen. Als nun die Verbindung mit Artus vorgesehen wurde, waren die beiden Liebenden völlig verzweifelt, wie du dir sicher vorstellen kannst. Doch sie betrachteten es als ihre Pflicht, das Volk aus dem Krieg zu retten, und so brachte Lancelot seine Geliebte zu ihrem zukünftigen Ehemann. Guinevere heiratete den Thronfolger und lebte mit ihm zusammen im goldenen Tal. Einige Jahre verschaffte das den ersehnten Frieden, und als der Oberon gestorben war, übernahm sein Sohn Artus wie geplant seinen Thron. Er war ein guter und gerechter Herrscher für beide Völker, sodass sogar die Gelehrten zurückkehrten und ihn ebenfalls als König akzeptierten. Es war nicht zuletzt Guineveres Güte und ihrem großen Herzen zu verdanken, dass sich die Elfen und Feen nicht mehr als Feinde betrachteten. Auch wenn sie für ihren Ehemann und König tiefen Respekt empfand und ihn auf andere Art verehrte, so war sie nicht fähig, Artus zu lieben, wie er sie liebte. Guineveres Herz gehörte nach wie vor Lancelot.“ Mac Callaghan seufzte und pausierte einen kurzen Moment. „Dieser hatte nach der Heirat seiner Geliebten lange Zeit zurückgezogen im Wald gelebt, um sich von Guinevere fernzuhalten. Dabei begegnete er einer anderen Fee namens Megan, die Artus` Halbschwester war und sich in ihn verliebte. Doch auch er war nie imstande, diese Liebe zu erwidern. Das beschwor Megans Eifersucht und ihren Zorn herauf, sodass sie sich der dunklen Magie hingab. Sie erschuf eine Armee aus verstoßenen Elfen und Feen, die rachsüchtig waren, und stattete sie mit großen und ungewöhnlichen Kräften aus. Das Ziel war, Guinevere zu töten, damit Lancelots Herz für sie, die dunkle Fee, frei wurde. Lancelot erfuhr jedoch von ihren Plänen und kehrte zum goldenen Tal zurück, um den König und vor allem seine Liebste zu warnen. Dort wurde er in die sogenannte Tafelrunde des Königs aufgenommen. Es gab keinen mutigeren und besseren Krieger als ihn. Der Anblick der Geliebten entfachte von Neuem die Liebe zueinander, und sie taten das Unverzeihliche: Sie hintergingen den König.“

Mac Calaghan blickte Lily tief in die Augen, als wartete er auf ihre Reaktion. Doch sie lauschte nur gespannt seinen Worten.

„Artus war von Natur aus ein wesentlich gütigerer Elf, als sein Vater es je gewesen war, und doch gibt es für jedes Wesen Dinge, die es nicht ertragen kann. Dieser Betrug gehörte für Artus dazu. Er hatte Guinevere vom ersten Augenblick an aufrichtig geliebt, und als sie ihn hinterging, vergiftete sie sein Herz damit für immer. Er tötete Lancelot nach der Schlacht und schloss sich mit der dunklen Fee zusammen. Guinevere wurde gefangen genommen und später auf die Erde verbannt. Megan verlangte nach wie vor Guineveres Tod, weil sie Lancelots Herz gestohlen hatte, und dieser nun tot war. Doch Artus brachte es nicht über sich, seine Frau zu töten.“

Obwohl Lily entschlossen gewesen war, die Geschichte nicht zu sehr an sich heranzulassen, rührte sie sie zutiefst. „Und was geschah daraufhin im Sagenland?“, fragte sie und sog jedes weitere Wort begierig in sich auf. Auch wenn sie nicht daran glaubte, dass es real war, so war es dennoch eine Geschichte, die ihr gefiel.

„Es herrschte viele lange Jahre Dunkelheit im Sagenland. Die Feen lebten als Sklaven unter den Elfen, und es war viel zerstört worden. Irgendwann überließ der alte und kranke Artus den Feen einen kleinen Teil der Welt, in dem sie nicht in Gefolgschaft leben mussten.“

„Warum hat er das getan?“

„Man wird nur spekulieren können, und sicher kann man nie sein. Ich möchte gern glauben, dass er vor seinem Tod bereute, seinen Rachedurst an einem ganzen Volk ausgelassen zu haben.“

Lily blickte nachdenklich auf ihre Schuhe und spürte die wachsamen Blicke auf sich. „Was geschah mit Guinevere? Ich meine, sie hatte ja alles verloren, oder nicht?“

Mac Calaghan zögerte kurz, bevor er weiter sprach. „Ihre einzig wahre Liebe war tot und ein Leben in der Menschenwelt war auch nicht einfach, wenn man stets im Sagenland gelebt hatte. Doch sie hatte etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Sie war schwanger und bekam eine Tochter von Lancelot, die sie hier bei den Menschen aufwachsen ließ.“

Lily atmete tief durch und wusste nicht, welche ihrer hundert Fragen sie zuerst stellen sollte. „Und das soll ich euch glauben? Ich meine, das hört sich sehr nach einer Geschichte an, die sich gut in einem Buch machen würde, aber in Wirklichkeit …“

„Das sind genau die Zweifel, die ich prophezeit habe. Aber sieh doch: Irgendwoher stammen all die Legenden. Es gibt seit Jahrhunderten verstoßene Elfen und Feen oder auch Gelehrte, die unter den Menschen leben und als Schriftsteller und Dichter ihre Märchen erzählen. Natürlich wird nie von den Menschen erwartet, dass sie diese als wahr anerkennen, denn wir bleiben lieber im Verborgenen.“

Lily zögerte und sah nun zu Ciara. „Du bist also eine Elfe?“

„Nein, ich bin eine Fee. Eigentlich lebe ich im Grünen Zirkel“, sagte sie und lächelte, während sie immer noch Lilys Hand festhielt.

„Es liegt nicht an mir, dass ich eins auf den Schädel bekommen habe und mir das hier alles nur einbilde, oder? Vielleicht träume ich auch wieder? Oder drehe ich doch grade durch, und ihr müsst mich in die Klapsmühle bringen?“, fragte Lily zweifelnd und legte die Hand an die eigene Stirn, um sich auf Fieber zu prüfen.

„Ich weiß, das alles ist viel und schwer zu glauben. Es war aber wichtig für deine Sicherheit, dass du bislang nichts von unserer Existenz wusstest“, erklärte der Professor und sah ihr aufmunternd ins Gesicht.

„Angenommen, das ist wahr: Was hat das alles mit mir zu tun?“, stellte Lily die entscheidende Frage, vor deren Antwort sie sich ziemlich fürchtete.

„Nun …“ Mister Mac Calaghan zögerte, als überlege er, wovon er ihr wie viel erzählen durfte, „Du trägst ebenfalls Feenblut in dir.“

Perplex wandte Lily den Kopf in seine Richtung. „Feenblut?“ Sie schnaubte ungläubig. „Ihr habt die Falsche erwischt. Ganz eindeutig! Ja, ich bin ein seltsamer Freak, der nirgendwo reinpasst, aber ganz sicher bin ich nicht besonders genug, um eine Fee zu sein.“ Damit ließ sie Ciaras Hand los, stand auf und schritt auf die Tür zu, um endlich aus diesem bösen Traum zu erwachen. „Wo bitte ist die versteckte Kamera? Das kann alles bloß ein wahnwitziger Scherz sein!“

Statt den Raum eilig zu verlassen, wie sie es eigentlich vorgehabt hatte, verharrte sie vor der Tür. Irgendetwas hielt sie zurück, und Lily konnte nicht einmal genau sagen, was es war. Eine unsichtbare Barriere? Oder ein Bann? Jetzt schnappte sie endgültig über. Doch es stimmte. Sie konnte sich keinen Meter vorwärts bewegen. Unsicher schaute sie zu Ciara und dem Professor, der eine betont unschuldige Miene zur Schau trug.

„Möglicherweise ist das der beste Beweis überhaupt? Hast du je daran gedacht, dass der Grund, warum du nicht hierher passt, der ist, dass du eben nicht in diese Welt gehörst? Du bist als Mensch vielleicht seltsam, weil du einfach keiner bist. Du hast unter ihnen gelebt und versucht, dich ihnen anzupassen, aber dich nie wirklich wohlgefühlt. Richtig?“

Lily schwieg, was für Mac Calaghan offenbar eine stille Zustimmung war, denn seine Miene war siegessicher.

„Ja, ich habe das Leben bei meiner Mutter gehasst, aber bei Caitlin und Liam fühle ich mich durchaus sehr wohl.“

Daraufhin brach ihr Professor in raues Gelächter aus, und ihr kam blitzartig ein Gedanke. „Liam und Caitlin …?“, murmelte sie und war wie vor den Kopf gestoßen.

„Ja, sie gehören zu uns. Liam wird mir einen ziemlichen Vortrag darüber halten, dass ich es dir gesagt habe. Er wollte es längst selbst tun, aber er wusste nicht wie.“

Bedrückt schloss sie die Augen und kam sich wie eine Idiotin vor. War denn überhaupt irgendetwas echt?

„Du glaubst mir immer noch nicht, Lilien Liara Jones?“

„Wie sollte ich auch?“ Resigniert ließ Lily die Schultern hängen.

„Was ist mit den Bildern, die du siehst, wenn du mich berührst? Oder mit den Vorahnungen, die dich verfolgen? Was ist mit Rian, den du in deinen Träumen gesehen hast? Das kannst du unmöglich als Unsinn abtun?“, fragte Ciara geradeheraus, und Lily wich verblüfft zurück.

„Stopp, Ciara! Es gibt einen Weg, es ihr zu beweisen, ohne sie gleich mit allem zu überfallen. Lass es mich dir demonstrieren!“

„Und wie wollen Sie das anstellen?“ Lily verschränkte die Arme vor der Brust.

„Jedes Feenmädchen wird nach der Geburt mit einem Mal versehen, ganz ähnlich einer Tätowierung. Wenn du diejenige bist, die ich beschützen soll, dann hast du dein Mal auf der linken Schulter.“

Lily schüttelte den Kopf. „Sie haben eindeutig die Falsche. Da ist ganz sicher nichts. Das kann ich Ihnen versichern.“

Der Gedanke war vollkommen absurd. Sie hatte ganz sicher keine Tätowierung. Das wäre ihr doch in den vergangenen achtzehn Jahren irgendwann einmal aufgefallen. Erwartungsvolle Blicke ruhten auf ihr, und sie schnaubte ergeben. „Fein! Dann sehen wir eben nach“, sagte sie, zog die Strickjacke aus und schlüpfte aus dem T-Shirt, bis sie nur noch im Unterhemd und BH vor ihnen stand. Um diesem Irrenhaus endlich zu entkommen, hätte sie sich auch bis auf den Slip ausgezogen! Sie schob den linken Träger von der Schulter und wandte ihnen langsam den Rücken zu.

Ciara keuchte überrascht auf, und ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf Mac Calaghans Gesicht aus. Lily sah den beiden an, dass ihr offenbar in den vergangenen Jahren etwas entgangen sein musste. Aber da man sich selbst auch selten auf den Rücken schaute, war das schwer zu sagen. Es kam Bewegung in den alten Professor, und er schob einen Standspiegel aus der hinteren Ecke des Büros zu ihr hin. Er positionierte ihn so, dass sie sich von hinten betrachten konnte. Doch bereits, bevor sie erneut über die Schulter sah, wusste sie, dass es stimmte. Sie erkannte die Wahrheit in sich selbst. Die Anziehungskraft zum Wald, die Visionen, die Bilder, die sie sah, sobald sie Ciara oder Rian berührte, die unmögliche Anpassung an die Welt ihrer Mutter. All das wurde mit einer einzigen Sache erklärt: Sie trug Feenblut in sich.

Dann blickte sie in den Spiegel und staunte über das, was sie da sah. Feine Linien in einem blassen Grünton zogen sich über ihre nackte Schulter und endeten in einer Lilie. Es war wunderschön, sah beinahe lebendig aus. „Das war eben noch nicht da. Wie kann ich das übersehen haben?“

Mac Calaghan wirkte zufrieden. „Ganz einfach: Wir wenden eine Art Magie an, die uns hilft, von den Menschen nicht erkannt zu werden. Du wusstest nichts von unserer Welt und hast nicht daran geglaubt. Deshalb blieb es dir verborgen.“

Lily sah in Ciaras Gesicht und registrierte nun auch das Mal um ihr Auge, das sie schon einmal dort gesehen hatte. „Das hattest du eben noch nicht!“

„Doch, die ganze Zeit schon. Aber jetzt glaubst du an uns, deshalb siehst du es.“ Ciara lächelte.

„Im Zug … Da gab es einen Moment, in dem ich es gesehen habe. Zumindest habe ich das angenommen …“

„Wahrscheinlich hat dich der Umstand, dass du zurückgekehrt bist, empfänglicher für den Glauben an uns gemacht. Kinder haben dieses Vertrauen oft noch in sich und können unsere Male und die Magie um uns sehen. Deswegen glauben sie schließlich auch an den Weihnachtsmann oder Monster unter den Betten.“

„Wenn ihr von Magie sprecht, denke ich an die Hexen von Salem oder Harry Potter, womit wir der Sache mit den Dementoren wieder näherkommen …“

Ciara kicherte. Nein, du kannst nicht zaubern, hörte Lily sie antworten, aber sie hätte schwören können, dass Ciara dabei nicht die Lippen bewegt hatte.

„Wie … wie hast du das gemacht?“ Sie riss perplex die Augen auf.

Ihre neue Freundin grinste sehr selbstzufrieden. „Das ist eine unserer Gaben.“ Sie blickte fragend zu dem alten Mann, der lächelnd abwinkte.

„Das kannst du ihr viel besser erklären, als ich es je könnte. Ich bin schließlich nur ein alter Kauz, der nicht einmal mehr Magie ausübt.“

Lily sah den Professor fasziniert an, ließ sich aber von der Neugier auf Ciaras Erzählung ablenken.

„Wir besitzen keine Zauberkraft im eigentlichen Sinne, aber jede Fee verfügt über bestimmte Eigenschaften. Eine seltene Fähigkeit ist beispielsweise, in Gedanken kommunizieren zu können, ohne dass andere es hören. Eine Gabe von dir ist, dass du durch eine Berührung von Menschen Dinge bildlich vor dir sehen kannst. In der Bar zum Beispiel hast du in mir gelesen. Ich habe nicht gedacht, dass du das könntest, weil du schließlich keinerlei Übung hast. Doch an dem Abend habe ich auch einen Teil deiner Vision von Rian gesehen. Es gibt noch weitere Fähigkeiten. Gary hat Heilkräfte, Naomi spürt Schatten auf, und ich kann Gefühle beeinflussen. Es ist keine ausgeklügelte Wissenschaft, sondern sehr individuell.“

Lily staunte. Das musste sie erst einmal verarbeiten. Noch einmal begutachtete sie das Abbild auf ihrer Schulter ausgiebig im Spiegel, ehe sie sich wieder anzog, erneut neben Ciara Platz nahm und die Hand in ihre legte. Sie schloss die Augen und betrachtete die Bilder von Ciara. Ein lachendes Kind winkte Lily zu, und da erkannte sie auch das Mal um ihr Auge. Das musste Ciara als kleines Mädchen sein. Sie öffnete die Augen. „Ich bin also eine Fee, ja?“

Ciara nickte.

„Und du bist nicht nur irgendeine Fee. Du bist die Prinzessin des Grünen Zirkels, König Kians Tochter“, verkündete der Professor.

Die Erleichterung darüber, nicht verrückt zu sein, wechselte sich mit heilloser Panik ab.

„Prinzessin? Ihr wollt mich verarschen“, brachte sie hervor und schüttelte den Kopf. Dann brach sie in Gelächter aus.

„Ich glaube, das war zu viel des Guten“, sagte Mac Calaghan und wechselte einen amüsierten Blick mit Ciara. „Jetzt schnappt sie über. Hilf ihr, bitte.“

Ciara nahm Lilys Hände in ihre und blickte ihr tief in die Augen. Schlagartig fühlte sich Lily ganz weich und schläfrig.

„Ich habe euch gewarnt. Ich reagiere völlig unangemessen“, murmelte sie.

„Oh, das finde ich nur gerecht. Wenn mir plötzlich jemand erzählen würde, ich sei Elefantendompteur, würde ich mich wahrscheinlich ebenfalls auf dem Boden wälzen vor Lachen.“

Sie mochte den alten Mann sehr.

„Meinst du, ich kann dir noch eine Sache erklären, bevor wir dich zu Liam und Caitlin bringen, und er mich beschimpfen kann, weil ich es ihm vorweggenommen habe?“

Lily nickte und konnte sich nur schwer vorstellen, dass Liam jemandem jemals böse sein würde. Außerdem beschlich sie so ein Gefühl, dass er insgeheim sogar froh sein könnte, es ihr nicht selbst sagen zu müssen.

„Dein Vater, König Kian, ist der Herrscher des Grünen Zirkels. Des Teils, den Artus vor vielen Jahren für die Feen freigegeben hat. Es gab schon vor Kians Geburt eine Prophezeiung, dass eines Tages eine Fee geboren werden würde, die das Land wieder vereinen könnte. Lange Zeit entsprangen dieser Blutlinie nur Männer und alle warteten sehnsüchtig auf die erlösende Prinzessin. Dein Vater wurde für eine Weile in die Menschenwelt verbannt. Dort traf er deine Mutter. Die beiden verliebten sich, und er hoffte darauf, auf der Erde mit ihr leben zu dürfen. Erst als sie dann schwanger wurde, erkannte er, dass sie ebenfalls Feenblut in sich tragen musste. Denn du musst wissen, dass es für Feen unmöglich ist, sich mit einem Menschen fortzupflanzen. Doch zur gleichen Zeit wurde sein Vater vergiftet und starb, sodass Kian zurückkehren musste, um den Thron zu besteigen. Er hat lange mit sich gerungen, doch es war seine Pflicht, das Volk, so gut es ging, vor der dunklen Fee zu beschützen.“

„Warum hat er meine Mutter und mich nicht einfach mitgenommen?“

Der alte Mann sah plötzlich aus, als wäre er um hunderte Jahre gealtert. „In der Zeit erforschten dein Vater und ich die Blutlinie deiner Mutter. Es stellte sich heraus, dass sie eine Nachfahrin Guineveres ist. Da wussten wir, dass du die prophezeite Prinzessin bist und Kian wurde klar, dass er davorstand, die härteste Entscheidung seines ganzen Lebens treffen zu müssen. Er durfte euch auf keinen Fall in die Sagenwelt zurückbringen, denn dort hättet ihr euch ständig in Lebensgefahr befunden. Die dunkle Fee, die einst in Lancelot verliebt gewesen war…“

„Megan?“, warf Lily ein, und der Professor nickte.

„Sie trachtet immer noch nach deinem Leben. Denn der Prophezeiung nach bist du diejenige, die ihre Herrschaft und ihre Existenz auf ewig vernichten kann. Dein Vater wartete deine Geburt ab. Wir versahen dich mit einem Mal, und er verließ euch dann schweren Herzens. Er wusste, wenn niemand von deinem Dasein Notiz nehmen würde, könntest du ein gefahrloses Leben führen. Aber wie das so ist mit Plänen, gehen sie nicht zwingend auf. So auch dieser nicht. Megan hatte überall die Hände im Spiel und spann ihr Netz aus Intrigen weiter, um die alleinige Macht zu behalten. So erfuhr sie erst vor einigen Monaten von dir und setzte seitdem alles daran, dich in die Finger zu bekommen. Doch dank deiner Mutter und ihrem neuen Mann warst du so fern ihres Einflusses, dass du lange Zeit in Sicherheit warst. Dein Vater, König Kian, sendete seine Krieger des Grünen Zirkels aus, um dich zu beschützen, und hier sind wir nun.“ Er deutete auf sich und Ciara und lächelte Lily dabei an.

„Eins verstehe ich nicht … nein, das ist gelogen. Ich begreife so ungefähr eine Million Dinge nicht, aber wie ist es möglich, dass dieselbe dunkle Fee, die schon vor Generationen gelebt hat, auch jetzt noch am Leben ist? Ich meine, mein Vater ist der wievielte König seither? Und ich denke, Artus hat auch einige Nachfolger gehabt.“

Mac Calaghan klatschte in die Hände. „Ich bin froh, dass du solch eine aufmerksame Fee bist. Das ist allerdings gar nicht so leicht, zu beantworten. Ich bin ein Gelehrter, ein Zauberer, wenn du so willst. Wir leben um einiges länger, als ihr Feen und Elfen es tut, und um ein Hundertfaches ewiger, als ein Mensch lebt.“

„Aber die dunkle Fee ist doch eine Fee, oder nicht?“, unterbrach Lily ihn etwas ungeduldig und biss sich verschämt auf die Unterlippe.

Er schien jedoch eher begeistert über ihren Eifer zu sein. „Richtig, gut aufgepasst! Megan hat sich der dunklen Magie verschrieben und ist einen Pakt mit den bösen Mächten eingegangen. Sie hat ihre Sterblichkeit aufgegeben, um so die dunklen Kräfte zu erlernen. Sie muss den Tod nicht mehr fürchten.“ Der Professor schnaubte. „Auf der Erde würde man das Voodoo oder Nekromantie nennen. Sie hat sich mit Mächten eingelassen, für die sie einen hohen Preis zahlt. Aber ich zweifele immer noch daran, dass sie nicht sterben kann.“

Lily schüttelte verwirrt den Kopf. „Ich kenne einige Menschen, die alles für die Unsterblichkeit tun würden. Ist das wirklich ein Opfer? Wenn sie weder Angst vor Krankheiten noch vor dem Tod haben muss?“

„Es gibt Schlimmeres als den Tod. Glaube mir, Prinzessin. Wenn man so alt ist, wie ich bin und noch werden kann, dann sehnt man den Tod geradezu herbei.“ Mac Calaghans Gesicht verdunkelte sich, als erinnere er sich an etwas Bestimmtes, und Lily wandte eilig den Blick ab. „Wenn man seine Freunde und die Liebe des Lebens bis in den Tod begleitet, und man trotz der starken Magie, die man besitzt, nichts dagegen tun kann, wünscht man sich, sterblich zu sein.“ Einige Sekunden herrschte Stille, bis er plötzlich wieder der Alte war und ihr zuzwinkerte. „Aber wir haben alle unseren Platz und eine Aufgabe zu erfüllen. Das Schicksal lässt uns nicht eher vom Haken, bis wir es erfüllt haben.“

„Und Megan will mich also töten?“

„Hab keine Angst“, hörte sie die Stimme von Ciara wieder in ihren Gedanken, weil sie wahrscheinlich spürte, dass sich Lily fürchtete.

„Du hast sie bereits kennengelernt, vorhin im Wald. Sie kann sehr überzeugend sein.“

Lily sog erschrocken die Luft ein. „Ihr meint, sie war dort?“

„In irgendeiner Form war sie es. Du musst wissen, sie verfügt über Kräfte, die kein Gelehrter je anwenden würde oder könnte. Dass sie mit dir so direkt kommunizieren konnte, heißt, dass sie dort war. Vielleicht in der Erscheinungsweise eines Vogels oder eines Baumes. Denn in menschlicher Gestalt kann sie das Sagenland nicht verlassen, dafür sorgt die Oberin von Avalon.“

Die Worte richteten in Lilys Kopf ein heilloses Durcheinander an.

„Und nun bitte ich dich, mir genau zu erzählen, was Megan zu dir gesagt hat.“ Forsch kam er auf Lily zu und hockte sich wieder vor ihre Füße. Eine Geste, die Demut bewies, was ihr bei dem Altersunterschied seltsam vorkam. Doch sie erfüllte seinen Wunsch und erzählte alles, was passiert war, bevor die anderen dazu gestoßen waren. Der Professor hörte aufmerksam zu und verzog keine Miene.

„Sir?“, fragte sie irgendwann leise und bedrückt.

„Nenn mich doch bitte James“, bat er, und Lily starrte ihn fassungslos an.

„Nein, das geht doch nicht!“

Mac Calaghan lachte. „Eigentlich wärst du diejenige, die wir mit Eure Majestät anreden müssten.“

„Du bist schließlich die Prinzessin. In unserer Welt bedeutet das mehr als in dieser“, erklärte Ciara.

„Oh, bitte, bloß nicht. Ich bin einfach nur Lily.“

„Nun gut, Lily, dann bin ich nur James. Ich bin nämlich nicht länger bloß dein Uniprofessor.“ Der alte Mann lächelte gütig und milderte ihre Unbehaglichkeit.

„Wenn meine Mutter ebenso wie ich Feenblut in sich trägt, warum ist sie dann so ganz anders als ich?“ Sie erinnerte sich an die riesige Kluft zwischen ihr und Jane.

„Womöglich war sie auch mal anders, dir ähnlicher. Aber dein Vater hat sie ohne eine Erklärung zurückgelassen. Vielleicht wusste sie selbst nicht, was sie ist. Er hat ihr nie vom Sagenland erzählt. Und bedenke, wie verletzt sie durch das Verschwinden deines Vaters gewesen sein muss. Ich denke, sie hat das Beste aus eurem Leben gemacht.“

„Das hat sie wohl. Nur ich war eine maßlose Enttäuschung für sie.“

Ciaras Berührung bewirkte, dass sich Lily ein wenig wohler fühlte, als hätte sich ihr Leben nicht gerade völlig auf den Kopf gestellt.

„Vielleicht erinnerst du sie einfach zu sehr an etwas, das sie vergessen möchte.“

Lily dachte kurz darüber nach und zuckte dann mit den Achseln. Egal, was Jane dazu bewogen hatte, es änderte nichts an ihren vergangenen Jahren und den Gefühlen zu ihrer Mutter, die vor allem aus Verbitterung bestanden. Ein schwacher Trost war es dennoch. Plötzlich kam ihr ein schrecklicher Gedanke. „Und … Liam? Ist er wirklich mein Onkel?“

James wirkte zerknirscht. „Nicht im leiblichen Sinne. Er wurde damals hier mit seiner Frau postiert, um deine Mutter und dich im Auge zu behalten. Er stellte sich als Bruder deines Vaters vor. Allerdings ist Liam einer von Kians engsten Freunden, und Kian vertraute ihm das Kostbarste an, das er besaß: das Leben seiner Tochter. Es war wichtig für ihn, dass sich jemand vor Ort um dich kümmert. Aber ich glaube, das sollten dir Liam und Caitlin lieber selbst erklären.“

Lily war unentschlossen, denn es gab noch so vieles, was sie wissen wollte.

„Ich weiß, du hast unzählige weitere Fragen, doch zunächst müssen wir Liam und Caitlin davon in Kenntnis setzen, dass du Bescheid weißt. Ich werde mich wohl warm anziehen müssen.“ Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

Auf dem Rücksitz des schwarzen Pick-ups, den Lily schon am Bahnhof gesehen hatte, war es aufgrund des Lederbezugs unbequem. Während der Fahrt fiel es ihr mit einem Mal unglaublich schwer, die Augen aufzuhalten. Sie fühlte sich ausgelaugt und regelrecht matschig im Kopf, so als hätte ihr Sturz mehr angerichtet, als sie ursprünglich angenommen hatte. Verwirrt stellte sie fest, dass es beinahe Abend war, als sie bei Liam und Caitlin ankamen. Die Zeit war viel schneller vergangen, als sie bemerkt hatte. Trotz all der Fragen, die die neuesten Ereignisse aufwarfen, kam sich Lily zum ersten Mal nicht absonderlich oder verrückt vor. Sie empfand es eher so, als hätte endlich jemand Licht ins Dunkle gebracht.

Dass sie nun mehr Details kannte, beruhigte sie, wobei sie nicht sicher war, ob Ciara da eventuell ihre Finger im Spiel hatte. Sie saß auf dem Rücksitz neben Lily und blickte aus dem Fenster, ohne jedoch Lilys Hand loszulassen. Das wäre Lily sicher unangenehm gewesen, wenn sie nicht eben erst erfahren hätte, dass sie auch eine Fee war. Es konnte nichts geben, was das Ganze noch verrückter machen würde. Außerdem fühlte sich Ciaras Nähe richtig an. Aber Lily hatte das Gefühl, dass hinter alldem mehr steckte. Unerwartet tauchte ein Bild vor ihrem inneren Auge auf, das sie kein bisschen einordnen konnte.

Es regnete, und sie tat nichts, um sich davor zu schützen. Sie sah hinaus ins Grüne und war seltsam aufgewühlt. Sie konnte unmöglich sagen, was sie derart aufgebracht hatte, dass sie im prasselnden Regen stehen musste, um sich zu beruhigen. Dann erblickte sie Ciara, die etwas abseits von ihr stand und sie eindringlich ansah …

Lily war anscheinend eingeschlafen, denn als sie wachgerüttelt wurde, blickte sie in Ciaras besorgtes Gesicht. „Lily, wach auf. Hast du eine Ahnung, wo Liam und Caitlin sein könnten? Haben sie dir irgendetwas gesagt?“

Sie wusste sofort, dass etwas nicht stimmte, und war augenblicklich hellwach. Ihr Traum war vergessen. „Was ist passiert?“

James saß nicht im Auto, und sie suchte etwas, woran sie sich orientieren konnte. Sie standen vor Liams Pub, doch es war verschlossen. Es gab keinen Tag, an dem es je geschlossen hatte. Liam hatte jeden Abend geöffnet, selbst wenn nur drei Gäste kamen. Das war seltsam, und sofort stieg Unruhe in ihr auf. Sie dachte an den vorangegangenen Morgen, an den Streit zwischen Liam und Caitlin und daran, dass sie gefahren war, obwohl Liam gewollt hatte, dass sie zu Hause blieb. „Nein. Ich meine, ich dachte, sie seien hier. Der Pub hat doch nie zu. Meinst … meinst du, ihnen ist etwas zugestoßen?“

Ciara schwieg, was wiederum Antwort genug war. Lilys Hals fühlte sich an wie zugeschnürt.

Die Tür des Pubs öffnete sich, James kam heraus und stieg zu ihnen ins Auto.

„Nichts. Es ist niemand da. Ich habe alle Räume abgesucht. Aber es sieht nicht danach aus, als wenn heute jemand dort gewesen wäre.“ Er startete den Wagen. „Auch kein Feind“, fügte er mit einem bedeutungsvollen Blick über den Rückspiegel zu Ciara hinzu. Das sollte sie wohl besänftigen. Doch eine dunkle Vorahnung beschlich Lily. Irgendetwas stimmte hier nicht.

„Möglicherweise sind sie einfach zu Hause geblieben?“ Ein schwacher Versuch von Ciara, Hoffnung zu verbreiten.

James schüttelte den Kopf. „Hier ist was faul.“ Er wendete und fuhr in dieselbe Richtung, aus der sie gerade erst gekommen waren.

„Aber warum fahren wir nicht zu mir nach Hause? Vielleicht haben sie mir eine Nachricht hinterlassen?“

James sah in den Rückspiegel und tauschte einen Blick mit Ciara. „Ich fahre zum Zirkel. Da bist du in Sicherheit, Lily.“

„Nein, das kommt nicht infrage! Ich will nach Hause, und zwar sofort. Ich muss nach Liam und Caitlin sehen. Ich kann sie doch nicht einfach hier zurücklassen!“

Der Professor ging nicht auf ihre Einwände ein. „Wir können dieses Risiko nicht eingehen. Vielleicht ist das eine Falle. Ciara, ruf Rian an und schick ihn zu Liams Haus.“ Er war um einen gelassenen Gesichtsausdruck bemüht, allerdings sahen seine Augen seltsam starr und besorgt aus.

„James, bitte, ich muss zu meiner Familie. Sie sind alles, was ich noch habe.“

Verzweiflung und das Gefühl vom freien Fall, etwas, dass sie beim Umzug nach London schon einmal erlebt hatte, überkamen sie. Liam und Caitlin waren, seit sie denken konnte, ihr Anker in einer Welt, in der sie sich wie ein Fremdkörper vorkam. Sie konnte sie unmöglich einfach zurücklassen, wenn diese unheimliche Megan, in welcher Form auch immer, hinter ihnen her war.

„Ich sagte: Stopp!“ Damit riss sie die Tür auf und war bereit, aus dem fahrenden Auto zu springen. Mit quietschenden Reifen kam der Wagen zum Stehen, wofür Lily sehr dankbar war. Sie war schließlich nicht lebensmüde.

James wandte sich zu ihr um. „Lily, bitte verstehe uns doch. Es ist zu gefährlich, dich jetzt dorthin zu bringen. Ich weiß, dass du dich schrecklich fühlst …“

„Schrecklich? Die Einzigen, denen ich ansatzweise am Herzen liege, sind verschwunden. Ich werde meine eigene Sicherheit nicht über Menschen stellen, die ich liebe.“ Sie stieg aus dem Wagen, und James tat es ihr gleich. Entschlossen stiefelte sie in die entgegengesetzte Richtung.

„Das stimmt so nicht“, erwiderte James ruhig, doch Lily ignorierte ihn geflissentlich und ging weiter. „Du liegst sogar sehr vielen Wesen am Herzen. Aus genau diesem Grund sind wir hier: um dich zu beschützen. Rian, Kay, Gary, Naomi, Ciara und Eric sind Krieger deines Vaters, seit sie geboren wurden. Es ist ihr Schicksal, dir Schutz zu gewähren. So wie es umgekehrt deines sein wird, uns zu retten. Du bist unsere einzige Hoffnung, Lily!“

„Und was würdet ihr von einer Prinzessin halten, die bei der ersten Gefahr nur die eigene Haut rettet?“

James seufzte, wirkte aber plötzlich auch unentschlossen, was Lily Zuversicht schenke. Sie wusste, dass sie sich nie gegen ihn würde behaupten können. Er war zwar viel älter als sie, aber nichts an ihm sah schwach oder gebrechlich aus.

„Diese beiden sind meine Familie, und ich kann sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen, um irgendwo ein Volk zu retten, dessen Land nicht mal auf einer Weltkugel eingezeichnet ist.“

Er machte zwei behutsame Schritte auf sie zu und lächelte. „Ich bin äußerst beeindruckt von deiner Loyalität. Doch … Lily, bitte verzeih mir. Liams und meine Hauptsorge lag nur darin, dass du am Leben bleibst. Das ist das Einzige, was für Liam und Caitlin zählt.“ Er hob eine Hand an die Lippen, als wollte er ihr einen Handkuss zuwerfen, und pustete. Staubähnliche Partikel flogen ihr entgegen, und alles um sie herum wurde schwarz.

Verfluchte Scheiße …, dachte sie noch und verlor das Bewusstsein.

5. DER ZIRKEL

Das Erste, das Lily wahrnahm, als sie langsam wieder zu sich kam, war eine schöne Stimme. Sie lauschte den Worten.

„Drum lass Geduld uns durch die Prüfung lernen, weil Leid der Liebe so geeignet ist, wie Träume, Seufzer, stille Wünsche, Tränen, der armen kranken Leidenschaft Gefolge.“

Lily schmunzelte, als sie die Textpassage sofort erkannte. „Shakespeare?“, krächzte sie mit trockener Kehle und wandte den Kopf zu Ciara um, die ihr aus dem Buch vorgelesen hatte. Die neue Freundin lächelte nur und legte es zur Seite.

„Was ist passiert?“, fragte Lily, bis die Erinnerungen plötzlich zurückkehrten. Ruckartig setzte sie sich auf und wollte schon aus dem Bett springen. „Liam! Ich muss zu ihm und Caitlin.“

Ciara ergriff sofort ihren Arm. „Lily!“

„Ich kann meine Zeit nicht im Bett vertrödeln. Ich muss zu ihnen!“

Der Griff ihrer Freundin wurde fester. „Lily!“ Sie hatte unerwartete Kraft für so eine schmale, zierliche Person.

Endlich hielt Lily inne und ahnte schon, was sie hören würde. Sie sah Ciara unverwandt in die Augen und wartete, dass Ciara etwas sagte. „Nun sag es schon!“

„Sie sind fort!“ Ciaras Blick heftete sich auf sie.

„Wie meinst du das? Fort?“

„Der Zirkel war bei euch zu Hause, und es sah alles ganz unauffällig aus. Es gab keine Spur von Liam und Caitlin. Nichts, bis auf das hier.“ Ciara hielt Lily das Buch hin, aus dem sie ihr vorgelesen hatte. Ein Briefumschlag lag darin, der noch verschlossen war. „Er war in diesem Buch hier versteckt.“

Tiefe Traurigkeit überkam sie, dennoch bemühte sie sich, die Tränen zu verbergen. Sie nahm den Brief, wandte Ciara den Rücken zu, setzte sich im Schneidersitz zurück auf das Bett und öffnete ihn.

„Lilien, ich weiß, ich hätte dir selbst alles erklären sollen. Ich hätte dir Rede und Antwort stehen müssen, aber wie das immer so ist mit uns Männern: Ich habe ständig auf den richtigen Zeitpunkt gewartet und zu spät gemerkt, dass es ihn nicht gibt. Ich hatte Angst davor, wie du reagieren würdest. Caitlin ist deswegen ziemlich wütend auf mich und macht mir die Hölle heiß. Ich bin ein Idiot. Wir mussten untertauchen, weil wir enttarnt wurden, viel eher, als wir gedacht hatten. Leider konnten wir dich nicht mitnehmen, weil wir dich mehr in Gefahr gebracht hätten, als du ohnehin schon bist. Wenn du das liest, gehe zu James Mac Calaghan – ich habe einen Brief für ihn beigefügt. Er wird dir alles sagen, was du wissen musst, und sie werden dich beschützen, so, wie ich es hätte tun sollen. Aber egal, was du hörst, vergiss niemals, dass alles echt war. Pass auf dich auf!

Dein Onkel Liam“

Lily legte den Brief zur Seite und spürte Verzweiflung in sich aufsteigen. Sie war allein – ganz allein. Die Tränen kamen, und sie konnte nichts mehr tun, um sie aufzuhalten. Schweigend ergriff Ciara ihre Hand und streichelte über ihren Handrücken. Nach einer ganzen Weile wischte Lily ihre Tränen fort. „Was soll ich jetzt nur tun? Was passiert mit mir?“

Nachsichtig schüttelte Ciara den Kopf. „Du bleibst natürlich hier. Bei uns!“

Lily schaute zweifelnd um sich. „Ich fühle mich so allein …“

„Sei dir ganz sicher, du bist alles andere als das. Ich bin da!“

Lily lächelte bei den Worten ihrer Freundin. „Wo genau ist eigentlich hier?“ Sie saß auf einem antiken Himmelbett mit leuchtend gelben Vorhängen und passender Bettwäsche. Sie fühlte sich plötzlich in ein anderes Jahrhundert versetzt, ganz so wie zuvor in James` Büro. Die Möbel waren aus antikem Holz und mit Messing verziert. Lily traute ihren Augen nicht, als sie den Frisiertisch an der gegenüberliegenden Wand erblickte. Vor ihrem inneren Auge sah sie Elizabeth Bennet oder Elinor Dashwood, ihre Heldinnen aus ihren liebsten Jane Austen Romanen, in Korsetts und Unterröcken davor Platz nehmen.

Ihr Blick traf auf den von Ciara, die sie aufmerksam musterte. „Wir sind in unserem Rückzugsort vom Zirkel. Hier wohnen wir, wenn wir dich nicht grade bewachen.“ Sie kicherte bei den letzten Worten, und die Grübchen standen der jungen Fee ausgesprochen gut.

„Sind Liam und Caitlin in Gefahr?“

Ciaras Gesichtsausdruck wurde ernst. „Wir wissen es nicht. Wahrscheinlich hatten sie einen oder mehrere Notfallpläne und sind ins Sagenland zurückgekehrt. Das hoffen wir jedenfalls.“

„Das ist mir nicht genug“, sagte Lily leise und musste neue Tränen zurückhalten.

„Das begreife ich, aber James glaubt, dass sie aus gutem Grund geflohen sind und keine Wahl hatten. Vielleicht befürchtete Liam, dass Megan dich mit ihrer Gefangennahme erpressen würde. Du musst eins versuchen zu verstehen: Liam und Caitlin wurden nicht zufällig von König Kian ausgesucht, um dich hier zu beschützen. Sie sind ausgezeichnete Krieger und noch besser darin unterzutauchen.“

„Können wir nicht versuchen, sie zu finden?“

Mit einem Kopfschütteln zertrat Ciara den Keim der vagen Hoffnung. „Wenn sie untergetaucht sind, haben wir keine Chance, sie zu finden. Darin liegt auch nicht unsere Aufgabe“, erklärte sie geduldig. Lily entzog ihr die Hand.

„Es ist mir egal, was euer Auftrag ist!“ Sie war wütend. Wütend auf Liam, dass er ihr nie etwas gesagt hatte, auf ihre Mutter, auf ihren Vater, auf diesen arroganten Rian, auf James. James, der ihr irgendwas entgegen gepustet hatte und sie damit außer Gefecht gesetzt hatte. Empört richtete sie sich auf. Das konnte doch nicht sein ernst sein! Wollte er ihr jetzt jedes Mal, wenn sie nicht spurte, ein Knock-out-Mittelchen geben und sie damit lahmlegen? Nicht mit ihr. Sie hatte ihrer Mutter nicht gestattet, ihr Leben zu kontrollieren, dann durfte es dieser alte Knilch erst recht nicht!

„Wo ist er? Wo ist James?“ Lily wartete Ciaras Antwort nicht ab, sondern hastete zur Tür hinaus, um auf dem Gang unschlüssig stehenzubleiben.

Sie befand sich in einem langen, schmalen Flur, der ganz altertümlich von Fackeln erhellt wurde. Ohne zu überlegen, folgte sie ihrem Instinkt und den Geräuschen, die gedämpft an ihr Ohr drangen. Sie hörte leise Schritte hinter sich, achtete jedoch nicht weiter auf Ciara, die ihr höchstwahrscheinlich auf den Fersen war. Wenig später kam sie an eine Tür, hinter der die Stimmen lauter wurden, und öffnete sie energisch. Sechs verdutzte Gesichter wandten sich ihr zu.

„Dornröschen ist erwacht“, hörte sie einen der Anwesenden sagen.

Lily fixierte ihr Ziel und rannte auf James zu. „Solltest du jemals wieder dieses … dieses Zeug bei mir anwenden, um mich ruhig zu stellen, schwöre ich, dass ich … ich mich an nichts mehr halten werde, was ihr von mir wollt. An nichts! Dann scheiß ich auf die Prophezeiung, auf vereinigte Völker und vor allem auf meinen sogenannten Vater. Ihr könnt ihm gern einen Gruß ausrichten, während ich mich bei erster Gelegenheit auf und davon machen werde. Und glaubt mir, ich bin ebenfalls gut darin, mich unsichtbar zu machen.“

Lilys Wut verrauchte so schnell, wie sie gekommen war. Ganz so, wie sie es von sich gewohnt war. Schwer atmend wartete sie seine Reaktion ab.

„In Ordnung!“, erwiderte er unbeeindruckt.

Lily hatte nicht erwartet, dass er ihr so schnell den Wind aus den Segeln nehmen würde. Sie fühlte sich auf einmal kindisch und albern, vor allem, als sie sich der anderen um sich herum bewusst wurde. Rian saß auf der Fensterbank eines hohen Fensters und schaute sie aufmerksam an, während Kay und Gary eher belustigt wirkten.

„Ich sagte doch, die Kleine hat Feuer“, meinte Gary anerkennend.

Naomi saß mit verschränkten Armen in einem großen Ohrensessel und fixierte sie mit düsterem Blick. Einzig von Ciara fühlte sie sich nicht unangenehm beobachtet.

„Ich bin auch angenehm überrascht … Eine mutige und kämpferische Prinzessin ist sehr vielversprechend“, erwiderte James.

„Und macht uns mehr Probleme“, schimpfte Naomi. Lily fragte sich, warum sie sich ihr gegenüber so feindselig verhielt. „Womit habt ihr mich schon wieder ausgeknockt? Was ist das überhaupt für ein Zeug?“

„Feenstaub!“, antwortete Kay in ruhigem Ton, Eric lachte. Sein Blick traf offenbar Ciaras, und er verstummte abrupt.

„Entschuldige, aber ich vergesse immer, dass du die einfachsten Dinge nicht weißt“, fügte er zerknirscht hinzu und hob schuldbewusst die Schultern. Dann stocherte er auf seinem Teller rum, auf dem nichts Appetitliches zu finden war.

„Feenstaub ist eine unserer leichtesten Waffen. Er wirkt einschläfernd, je nach Intensität ist der Gegner davon so benommen, dass er später nichts mehr davon weiß.“

„Dann ist es quasi eine Droge?“

„Nein, es macht weder abhängig noch bringt es einen dazu, Dinge zu tun, die man nie tun würde. Außer vielleicht laut zu schnarchen“, witzelte Gary und warf sich zielsicher eine Traube in den Mund.

„Das war auch das Zeug, wodurch ich an Silvester ohnmächtig geworden bin, richtig?“ Lilys Blick wanderte zu Rian, der nur mit den Achseln zuckte.

„Ja, er hat es bei dir angewendet, damit du so lange wie möglich unbehelligt hier leben kannst. Du solltest dich an nichts aus der Nacht erinnern, was offenbar nicht wirklich gut geklappt hat.“

Lily nickte Ciara dankbar zu und sackte erschöpft neben sie auf dem kleinen Sofa zusammen. Wie auch im Schlafzimmer war hier ebenfalls alles sehr altertümlich eingerichtet. Allerdings gab es einen Flat-Screen-Fernseher, Handys und Telefon. „Wir haben ein paar deiner Sachen mitgebracht. Sie stehen im Schlafzimmer unter dem Bett“, erklärte James.

Sie ahnte, dass da noch etwas war, das sie vor ihr verheimlichten, denn alle blickten angestrengt aneinander vorbei. Jedoch war sie nicht sicher, ob sie so schnell mit der nächsten Hiobsbotschaft zurechtkommen würde. Deswegen fiel es ihr nicht schwer, die restlichen Fragen hinunterzuschlucken. Jede Nachfrage bedeutete Auskünfte, die Lily womöglich noch mehr Probleme bescheren würden, oder Antworten, die sie nicht wissen wollte.

„Schicksal … es fällt mir schwer, daran zu glauben. Sind es nicht unsere Entscheidungen, die unser Leben leiten?“

Plötzlich blickte Rian Lily auf eine Weise an, als hätte sie laut seinen Namen gerufen oder etwas Beeindruckendes gesagt. Zu Lilys Leidwesen sah er wie schon am vorangegangenen Tag umwerfend aus. Seine Haare hingen in wilden Strähnen um sein Gesicht, als hätte er sie mit viel Aufwand so drapiert. Allerdings schätzte sie ihn viel eher so ein, dass er sich gar nicht erst die Mühe machte, sein Haar zu kämmen, was sein Äußeres noch unwiderstehlicher machte. Lily fand es ungerecht, dass einige mit einer natürlichen Schönheit gesegnet worden waren und sich nicht groß um ihr Aussehen kümmern mussten, andere hingegen Stunden des Tages vergeudeten, um halbwegs passabel auszusehen. Eilig wandte sie den Blick von ihm ab. Was tat sie bloß? Er war bislang nur ungehobelt und gemein zu ihr gewesen und hatte ihre Bewunderung keineswegs verdient.

„Ich wäre zum Beispiel nicht hier, hätte ich mich nicht dazu entschieden, eine Cafeteria zu demolieren“, sagte sie schlicht und lächelte bei den anerkennenden Pfiffen der Jungs.

„Nun, ich denke, jetzt wo sich unsere Prinzessin ausgeschlafen hat, können wir endlich besprechen, wie es weitergeht.“ Es war das erste Mal, dass Rian sich zu Wort meldete, und Lily verdrehte die Augen. Er nervte sie mit seiner herablassenden Art, und sie entschied, ihn schrecklich zu finden. Für ihren Geschmack hatte es heute genug peinliche Wutausbrüche gegeben und so gab sie sich damit zufrieden, ihm die kalte Schulter zu zeigen.

„Das werden wir auch tun müssen, denn hier sind wir ganz offensichtlich nicht sicher.“ James sah nachdenklich aus. „Ich denke, wir bleiben bei unserem ursprünglichen Plan.“

Alle nickten.

„Der da wäre?“

„Wir bringen dich dorthin zurück, wo du hingehörst“, antwortete Naomi schnippisch und rollte mit den Augen. „Ins Sagenland natürlich. Bist wohl nicht die Hellste, was?“

„Naomi!“, rief Ciara.

„Lass gut sein, Ciara. Da stehe ich drüber“, sagte Lily und erntete dafür einen weiteren giftigen Blick von Naomi.

„Das ist mir doch alles einfach zu blöd hier!“, murmelte Naomi und stürmte hinaus.

Lily zwang sich, sie zu ignorieren. Sie stand auf und holte tief Luft. „Wir gehen also ins Sagenland? Dahin, wo ich hingehöre, ja?!“

Gedankenverloren blickte sie aus einem der großen Fenster, blendete alles aus und fragte sich, wer sie eigentlich war. War sie Lily? Einfach nur Lily? Oder war sie eine Fee? War sie wirklich eine Prinzessin? Eine richtige Prinzessin - vom Schicksal ausgesucht, eine Welt zu retten, die es in ihren Augen bis vor ein paar Stunden noch gar nicht gegeben hatte? Oder war sie all das zusammen? Wie sollte sie das bloß herausfinden?

Lily hatte nie viele Pläne für die Zukunft gemacht. Sie hatte gewusst, was sie studieren wollte, aber darüber hinaus waren es eher schwammige Überlegungen gewesen. Hatte sie je daran gedacht, wo sie leben wollte? Ob sie sich eine Familie wünschte oder sich ähnlich wie Jane Austen für ein einsames Leben mit ihren Geschichten vorstellte? Lily hatte keine Ahnung, was sie überhaupt sein oder werden sollte, und jetzt würde man sie gleich in ein ganz fremdes Land führen, wo ihre Karten nochmal völlig neu gemischt werden würden?

Draußen war es mittlerweile dunkel geworden, und es hatte wieder zu regnen begonnen. Was sollte sie ihrer Mutter sagen? Wahrscheinlich würde es sie sowieso nicht interessieren. Waren Eltern nicht dafür da, den Kindern ihren Platz zuzuweisen? Wieso war keins ihrer Elternteile wirklich gut darin gewesen? Lily seufzte und blickte auf den Brief in ihrer Hand hinunter, den sie die ganze Zeit festgehalten hatte. Was sollte sie tun? Die einzigen Menschen, die sich um sie gesorgt hatten, waren fort, und sie konnte nur noch hoffen, sie irgendwann wiederzusehen.

Sie musste noch einer weiteren Tatsache ins Auge blicken: Sie war weder hier in der sogenannten Menschenwelt zu Hause, noch irgendwo sonst. Sie hatte keinen festen Platz und keinen Anker. Also was hatte sie schon zu verlieren? Nichts. Sie besaß nichts, was sie hier hielt, und wenn sie ohnehin in Gefahr war …

„Du bist in Gefahr. Du würdest ohne uns nicht mal eine Woche überleben“, sagte Rian, der neben sie getreten war.

Lilys Nackenhaare stellten sich auf, als er sich ihr so sehr näherte. „Liest du etwa meine Gedanken?“

Er schüttelte den Kopf und wirkte bedauernd. „Nein, das ist keine meiner Gaben. Du kannst deine Gedanken nur mit Ciara teilen, weil ihr auf eine bestimmte Art miteinander verbunden seid. Vielleicht seid ihr auf ähnliche Weise vernetzt wie Kay und ich, das wissen wir noch nicht.“

„Was heißt verbunden?“

Rian sah sie aufmerksam an, als wäre sie ein seltenes Insekt, das er noch nie zuvor gesehen hatte. „Kay und ich haben unser Blut getauscht. Es verbindet Feenkinder in jungen Jahren und schafft eine Verbindung, die bestimmte Vorteile mit sich bringt. Kay und ich sind fast unbesiegbar im Kampf geworden, denn wir machen symbiotische Bewegungen. Er ist meine Rückendeckung und ich seine.“

Lily wandte sich um. Kay war allerdings fortgegangen. Genau genommen waren alle fort. Nun wurde es Lily schwer ums Herz. Sie blickte in Rians Gesicht, der nicht mehr ganz so abweisend wirkte, wie sonst. „Wo sind denn alle hin?“

„Sie wollten dir Zeit zum Nachdenken geben.“

„Und du? Warum bist du noch hier?“

Rian versteifte sich augenblicklich, als hätte sie einen wunden Punkt getroffen. „Vielleicht, weil ich dich irgendwie verstehen kann. Ich bin, seit ich denken kann, ein Waisenkind gewesen. Der einzige Vater, an den ich mich erinnern kann, ist deiner. Mein Zuhause ist das Heim, welches du eigentlich hättest haben sollen. Kian, dein Vater, ist ein beeindruckender Mann und ein noch besserer König. Ich wüsste nicht, wie man seine Unnachgiebigkeit, die Diplomatie und die Barmherzigkeit jemals übertreffen könnte. In meinen Augen gibt es keinen gütigeren Herrscher als ihn.“ Rian stützte seinen Arm am Fensterrahmen ab und blickte in die Dunkelheit hinaus.

Lily machte es gleichermaßen traurig wie froh, dass er ihren Vater so viel besser kannte als sie. Es war sicher schlimm gewesen, niemanden zu haben, der zu einem gehörte. Das musste schrecklich für Rian gewesen sein. Sie stellte sich einen kleinen blonden Jungen vor, der hilflos auf der Erde saß. Sie war glücklich, dass sich ihr Vater Rian angenommen hatte, und doch stichelte sie die Eifersucht ein wenig.

„Du solltest wissen, dass dein Vater genauso gehandelt hat, wie es jeder tun würde. Wie ich es ebenfalls getan hätte, wäre ich je in eine solche Situation geraten.“

Lily zögerte. „Ich bin mit dem Gedanken aufgewachsen, dass er mich verlassen hat, mich nicht gewollt hat. Deswegen fällt es mir schwer zu glauben, dass er das alles tat, um mich zu schützen. Er hätte mich das doch vielleicht wissen lassen können … irgendwie?“

Rian schüttelte den Kopf und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Fensterbrett neben sie, so konnte er sie direkt ansehen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und die Muskeln traten unter dem kurzen Shirt hervor. Es war keine abweisende Geste, vielmehr machte er den Eindruck, als müsste er seine Arme festhalten, damit sie nichts Anderes taten. Spürte er etwa auch diese magische Anziehungskraft zwischen ihnen? Ständig bekämpfte sie den Drang, ihm mit der Hand die Haare aus der Stirn streichen zu wollen, von anderen Dingen ganz zu schweigen. Dabei hatte sie entschieden, ihn nicht zu mögen! Oder ob sie nur lästig für ihn war? Lily hatte nie etwas für hilflose Frauenzimmer übrig gehabt, die ständig beschützt werden mussten.

„Er wusste, dass du nur eine winzige Chance hattest, Megan zu entkommen. Diese Chance bestand darin, dass sie und niemand sonst von dir erfahren durfte. Das bedeutete, dass er nicht bei dir sein konnte“, erklärte Rian und brachte Lilys Gedanken wieder zum ursprünglichen Thema zurück. Dann grinste er breit. „Und mal ehrlich, hättest du das im Ernst so einfach hingenommen? Du hast unsere Vorsätze schon in London ganz schön auf den Kopf gestellt, ganz zu schweigen von deinem Auftritt hier.“

Lily kniff die Augen zusammen. Auch wenn sie glaubte, dass es kein Vorwurf war, fühlte sie sich dazu gedrängt, sich zu rechtfertigen. „Nun … da ich kein Teil eures Plans war, konnte ich mich auch nicht daran halten. Nicht wahr?“

„Eins zu null für dich, Prinzessin.“ Jetzt wirkte der Kosename nicht mehr ganz so herablassend, sondern vielmehr neckend. Rian blickte ihr in die Augen. Lily sah eine feine Narbe auf seinem Wangenknochen, so nah war sie ihm inzwischen gekommen.

„Du hast im Wald mit dieser bösen … äh … mit Megan gesprochen. Was genau hat sie damit gemeint, dass sie dir geben würde, was du am meisten begehrst?“

Offenbar war das die falsche Frage gewesen, denn sie spürte augenblicklich, wie er sich wie eine Schnecke in sein Schneckenhaus zurückzog und seine Maske auflegte. Seine Gesichtszüge wirkten angespannt, und das Grinsen wurde spöttisch. „Eine ziemlich private Frage für ein erstes Gespräch, oder nicht, Prinzessin?“

Sie würde keine Antwort bekommen, darüber war sie sich im Klaren. Deshalb wandte sie sich von ihm ab. „Es fühlt sich nicht so an. Ich meine, als wäre es unser erstes Gespräch …“ Lily sah sich nochmal zu ihm um, um sicherzugehen, dass ihr seine Reaktion nicht entging.

Rian blieb nachdenklich im Wohnzimmer zurück und blickte erneut aus dem Fenster, ganz so, als erwartete, er dort jemanden zu sehen, ehe Lily den Raum schweren Herzens verließ.

Lily betrat das Schlafzimmer, aus dem sie zuvor geflüchtet war, und sah in ein erwartungsvolles Gesicht. Ciara saß im Schneidersitz auf dem riesigen Bett und machte große Augen, als sie Lily erblickte.

„Da bist du ja endlich. Ich wollte schon gucken kommen, ob Rian dir an die Gurgel gegangen ist.“

Sie konnte nichts dagegen tun und lächelte. „Nur beinahe! Ganz schön grimmig der Gute. Bei Gelegenheit musst du mir unbedingt erklären, was ich ihm Schreckliches angetan habe, dass er solche Launen in meiner Gegenwart hat. Das ist ja beängstigend.“

Ciara wirkte nicht halb so amüsiert, wie Lily es erwartet hatte.

„Hab ich ihm etwa tatsächlich was getan?“

Ciara schüttelte leicht den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Es geht vielmehr um ihn selbst und sein Bild von sich. Deine Anwesenheit weckt nur … sagen wir einfach, die Verantwortung für dich lastet schwer auf seinen Schultern. Er ist immerhin der Anführer unseres Zirkels.“

„Das verstehe ich nicht. Ich meine, was habe ich denn mit ihm und seinem Selbstbild zu tun? Er kennt mich doch gar nicht.“

Ciara klopfte auf den Platz neben sich. „Das erklär ich dir ein anderes Mal. Du hast für heute genug zum Nachdenken erhalten. Sieh dir lieber mit mir diese Castingshow an … Ich liebe sie einfach und kann nicht genug davon bekommen.“

Lily grinste über Ciaras sehnsüchtiges Seufzen. Sie selbst hatte durch die Überschwemmung jeglicher TV-Kanäle in den vergangenen Jahren die Nase gestrichen voll von Shows dieser Art, setzte sich aber dennoch dazu. Heute gab es zumindest eine besondere Veränderung für sie. Noch nie zuvor hatte sie eine Folge mit einer Freundin angesehen. Sie lehnte sich gegen das Bettgestell und nahm dankbar, aber auch verblüfft das Sandwich entgegen, das Ciara ihr unaufgefordert hinhielt.

„Wow, ich bin beeindruckt. An diesen Gedankenscan könnte ich mich gewöhnen. Du bist echt eine gute Fee. Wie bei Aschenputtel.“

Ciara kicherte und vertiefte sich in den nächsten Auftritt. Lily blickte skeptisch auf das Sandwich, ehe sie sich räusperte.

„Nun, ich kenne ein paar Geschichten über Feen … eine davon besagt, dass man kein Essen von Feen annehmen soll. Es ist nicht bekömmlich für uns Menschen. Was ist davon zu halten?“

Ciara sah Lily aus großen Augen an.

„Ich frage nur, bevor mir nachher noch ein dritter Arm wächst, oder so.“

Ciara wieherte vor Lachen. Nachdem sie sich beruhigt und die Lachtränen aus den Augenwinkeln gewischt hatte, erklärte sie: „Das gilt nur für Menschen. Doch wir haben beinahe einen ganzen Tag damit verbracht, dir klar zu machen, dass du kein Mensch bist.“

„Und wie ist das mit Tanzen? Oder mit dem Versprechen, das man einer Fee niemals geben sollte?“

Ciara schüttelte grinsend den Kopf. „Nun, bei dir hört sich das ja an, als wären wir gemeingefährlich. Das mit dem Tanzen ist ganz einfach erklärt. Wenn wir einen Menschen zum Tanzen in unsere Welten ausführen, vergehen auf der Erde bedeutend mehr Jahre. Wir leben länger. Dadurch besteht für den Menschen die Gefahr, sein Leben zu vertrödeln. Und die Sache mit den Versprechen … wir sind wirklich ein nachtragendes Völkchen. Aber wir offenbaren uns schon seit Jahrhunderten keinem menschlichen Wesen mehr. Und nicht zu vergessen: DU BIST EINE FEE und somit keiner Gefahr ausgesetzt! Du zählst höchstens selbst zu der Bedrohung.“

Lily hob beschwichtigend die Hände, als Zeichen, dass sie begriffen hatte. „Den Teil mit ‚Ich bin eine Fee‘ habe ich jetzt verstanden. Was allerdings nicht heißt, dass ich es schon fassen kann.“ Nachdem sie sich satt gegessen hatte, überkam sie wieder die Erschöpfung der vergangenen Tage, was sie vor ihrer Freundin nicht verbergen konnte.

„Du solltest schlafen und dich ein wenig ausruhen. Übermorgen geht es los, und du brauchst jede Kraftreserve, die du aufbringen kannst. Es wird ein langer Weg bis zum Grünen Zirkel.“

„Du meinst, es gibt keinen Direktflug?“, scherzte Lily, und Ciara lachte.

„Nein, nur eine Überfahrt mit dem Schiff und dann geht es auf altertümlichen Wegen dorthin.“ Sie machte eine Geste, die einen Pferderitt darstellen sollte.

Lily kniff in Verzweiflung die Augen zusammen und stöhnte. „Oh, bitte, sag das nicht, ich kann doch gar nicht reiten!“

„Das klappt schon.“ Ciara winkte ab.

„Du hast mich noch nie in der Nähe von Pferden gesehen. Sie mögen mich nicht …“

Ciara grinste nur. „Schlaf nun! Und mach dir darüber keine Sorgen, sondern beschränk dich immer auf das, was gerade ansteht. Du musst dich jetzt erholen. Also los, husch ins Bett. Soll ich den Fernseher ausmachen?“

Lily versuchte, ihrer Freundin gedanklich eine Nachricht zu übermitteln, schüttelte allerdings dann den Kopf und kuschelte sich aufs Kissen. Eine Weile lauschte sie dem Lied der nächsten Teilnehmerin und ließ ihren Gedanken schließlich freien Lauf.

„Nein, Rian und Naomi sind kein Paar“, sagte Ciara plötzlich, und sie riss die Augen auf. „Naomi hätte das aber gern.“

Lily errötete und zog die Bettdecke fester um ihre Schultern. Daran würde sie sich auch erst noch gewöhnen müssen.

Eine Burg lag vor ihr, die auf einem Felsen hoch über dem Meer aufragte. Die Wellen stießen mit voller Wucht gegen das Gestein. Die Sonne wurde von einzelnen Wolken verdeckt, sodass alles von einem grauen Schleier überzogen zu sein schien. Es war, als sei sie schon einmal dort gewesen, viele Jahre zuvor. Sie blickte in Rians Gesicht, der sie lächelnd ansah. Sie sah ihm tief in die Augen, die die Farbe des tosenden Meeres hatten. Er umfing ihre Wange und streichelte sie mit dem Daumen. Eine Welle der Zärtlichkeit überschwemmte sie.

Der nächste Tag begann so, wie der vorangegangene geendet hatte - mit Regen. Als Lily erwachte, erdrückten sie die neuesten Ereignisse fast, und sie blieb wie gelähmt im Bett liegen. Sie war dankbar, dass sie allein war und sich der Verzweiflung hingeben konnte.

Abgesehen davon, dass ihre gesamte Welt von heute auf morgen auf den Kopf gestellt worden war und die einzigen Verwandten vom Erdboden verschluckt worden zu sein schienen, gab es da auch noch etwas anderes, das ihr Kopfzerbrechen bereitete. Sie hatte sich bemüht, alles vor sich herzuschieben. Doch nun schien der Augenblick gekommen, sich den Gefühlen zu stellen, die auf sie einstürmten.

Das musste alles ein Traum sein, wahrscheinlich eher ein Alptraum, denn sie konnte unmöglich eine Fee sein. Das waren Fabelwesen, und sie schmückten Geschichten mit Fröhlichkeit, Anmut und Feinfühligkeit aus. Nichts davon traf jedoch auf sie zu. Und noch viel weniger konnte sie eine Prinzessin sein. Das war einfach nicht möglich! Sie war keine Heldin, sie konnte niemals die Fähigkeit haben, Völker zu vereinen. Das alles jagte ihr schreckliche Angst ein. Sie hatte schon Mühe damit, sich nicht vor einem ganzen Hörsaal voller Studenten zu blamieren. Wie sollte sie da in den Augen eines ganzen Volkes bestehen können, ganz zu schweigen von ihrem Vater? Sie würde eine riesige Enttäuschung für ihn sein, und dabei hatte sie gedacht, dass sie das alles schon hinter sich hätte. Immerhin lebte sie seit jeher mit dem Gedanken, dass er sie nicht gewollt hatte. Nun würde sie dieses Erlebnis erneut durchmachen müssen.

Es klopfte an der Tür, und Lily war versucht, sich tot zu stellen.

„Komm schon, Prinzessin! Raus aus den Federn. Du bekommst einen Feen-Extra-Schnellkurs.“ Ausgerechnet Rian würde sie jetzt so vorfinden - wie peinlich! Sie hatte noch keine Zähne geputzt, die Haare nicht gekämmt, noch sonst irgendwas der morgendlichen Hygiene erledigt. Eilig wischte sie über ihr tränennasses Gesicht.

„Los jetzt. Ich hab auch Kaffee dabei.“

Lily dachte an den köstlichen Duft von gerösteten Kaffeebohnen und blickte sehnsüchtig zur Tür.

„Ich komm‘ einfach rein, wenn du bei drei die Tür noch nicht aufgemacht hast.“

„Das wagst du nicht!“, rief sie, schlug sich die Hand jedoch vor den Mund, weil sie ja nun verraten hatte, dass sie bereits wach war. Sie konnte sein breites triumphierendes Grinsen regelrecht vor sich sehen.

„Wenn ich Grund zu der Annahme hätte, dass du in der Gewalt von ein paar Kobolden oder Schatten wärst, wäre ich sogar dazu verpflichtet.“

„Was würde James davon halten? Oder mein Vater? Wenn du unaufgefordert in das Schlafzimmer eines Mädchens eindringen würdest, wäre das wohl nicht sehr gentlemanlike, oder?“

„Sie würden es sogar als meine Pflicht ansehen, und einige dieser Mädchen wären zutiefst enttäuscht, wenn ich es nicht täte“, sagte er leise. „Eins!“

Lily traute diesem Kerl durchaus zu, dass er die Drohung wahrmachte, stand in Sekundenschnelle auf ihren Füßen und rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn durchs Zimmer.

„Zwei!“

Hektisch kämmte sie sich mit den Fingern durch die langen Haare, was die Sache jedoch nur noch schlimmer machte. Sie hechtete zur Tür, als er gerade „Drei!“ rief, und sich die Türklinke bewegte. Hastig öffnete sie und blickte Rian grimmig an. Allerdings musste sie auch den Impuls unterdrücken, sich in seine Arme zu werfen, weil er heute noch besser aussah. Immer wieder wurde sie von der plötzlichen Anziehungskraft zwischen ihnen überwältigt, und sie musste sich regelrecht am Türrahmen festkrallen.

Rian grinste noch breiter, als er sie sah. „Du siehst aus wie eine Medusa.“

„Arsch!“ Damit wollte sie ihm die Tür wieder vor der Nase zuschlagen, doch Rian war schneller.

„Deine Laune gleicht ebenfalls einer Medusa. Wie beängstigend.“ Er schob die Tür weit auf und folgte Lily ins Zimmer, wo sie sich grummelnd nach einer Bürste umsah. „Du weißt ja, was man über Enten sagt, oder?! Wenn es watschelt wie eine Ente, aussieht wie eine …“ Weiter kam er mit den Ausführungen nicht, denn Lily schnitt ihm das Wort ab.

„Gerade du willst mir, was über Launenhaftigkeit erzählen? Du scheinst da auch schizophren veranlagt zu sein.“

Rian wirkte belustigt. „Das hab ich schon öfter gehört. Nun komm und lass dich in unsere Geheimnisse einweihen, Prinzessin.“

Lily seufzte und wandte ihm den Rücken zu.

„Lass mich raten. Dir jagt es eine Heidenangst ein, die Verantwortung zweier Völker zu tragen?“

Sie zuckte bei seinen Worten zusammen. „So ungefähr. Woher weißt du das nun schon wieder?“

„Du bist nicht die Einzige mit einer gewissen Verantwortung. Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Ich sage nur: Willkommen im Club!“

Um von dem ernsten Thema abzulenken, das ihnen bislang nur Streit gebracht hatte, stemmte Lily die Hände in die Hüften und wandte sich ihm zu. „Wieso kommt es mir andauernd so vor, als würdest du meine Gedanken lesen?“

„Nein, wie ich schon sagte, gehört das leider nicht zu meinen Gaben …“

„Was sind dann deine Fähigkeiten?“, fragte sie. „Und bevor du wieder damit anfängst, ich finde nicht, dass diese Information zu privat ist.“

„Glaub mir, Prinzessin, so gut kennen wir uns noch nicht, dass ich dir meine Gaben vorführen würde.“ Rian grinste anzüglich und ließ sich in einen Sessel fallen, der mit reichlich Kleidungsstücken von Ciara dekoriert war. Das schien ihn jedoch nicht weiter zu stören. Er wirkte absolut lässig und cool. Ihr stockte der Atem, während sie ihn betrachtete. Seine Kleidung bestand aus einfachen, locker sitzenden Jeans und einem schwarzen T-Shirt, das etwas hochgerutscht war und einen schmalen Streifen leicht gebräunter Haut freigab. Unter dem Shirt deuteten sich Muskelstränge an und ließen erahnen, wie durchtrainiert er sein musste. Lily schluckte hart und wandte den Blick hastig wieder ab.

„Worin liegt dann deine Verantwortung?“, hakte Lily nach, um sich von seinem Anblick abzulenken. Plötzlich war es sehr ruhig im Raum.

„Nun …, du bist meine Verpflichtung. Meine Aufgabe ist es, dich heil und gesund zu deinem Vater zurückzubringen. Deshalb solltest du möglichst in einem Stück dort ankommen. Ich weiß nur noch nicht, wie das klappen soll. Denn du bringst dich ständig in Gefahr und machst mir das Leben damit wirklich reichlich schwer.“

Lily grinste breit. „Tut mir leid, dass das keine Gondelfahrt für dich wird.“

Rian winkte ab. „Da werde ich schon mit fertig.“ Er sagte das sehr selbstsicher. Sie hätte alles dafür gegeben, auch etwas mehr Selbstvertrauen zu haben.

„Du hast mir Kaffee versprochen! Wo genau ist der? Hast du ihn in deiner Hosentasche versteckt? Oder machst du einem Mädchen immer falsche Versprechungen?“, neckte sie ihn, was ihr überraschend leicht fiel.

„Du hast ja keine Ahnung! Die Frauen aller Welten fliegen auf mich, da muss ich schon mal zu nicht ganz legalen Mitteln greifen, um sie aus dem Bett zu kriegen …“

Lily glaubte ihm sofort und empfand einen leichten Stich der Eifersucht. Wie albern, schimpfte sie sich selbst. „Dann komm, du Casanova. Bring mich dahin, wo der Kaffee ist. Danach bin ich aufnahmefähig, versprochen.“

Rian sah sie stirnrunzelnd an. „Bist du sicher? Mit dem Vogelnest auf dem Kopf würde ich ja nirgendwohin gehen.“

Sie warf ein Kissen nach ihm, blickte aber unsicher in den Spiegel. Rian lachte übermütig und warf es zu ihr zurück.

„Seid ihr dann endlich fertig?“, fragte eine Person hinter ihnen mit schneidender Stimme.

Sie wandten sich ihr zu und erkannten Naomi, die mit verschränkten Armen im Türrahmen stand und deren Laune wohl auch der Medusa ähnelte. Rian sprang auf und folgte Naomi stillschweigend. Auf dem Weg nach draußen zwinkerte er ihr noch einmal zu.

Lily blieb zurück, rettete, was zu retten war, und folgte dann ihrem Instinkt und dem Geruch von frischen Waffeln. Sie durchquerte den Wohnbereich vom Vorabend und lief einen schmalen Flur und ein paar Treppenstufen entlang, bis sie Gelächter hörte und die Tür öffnete. Das Lachen verstummte abrupt, als sie eintrat.

„Hi!“

„Morgen, Schneewittchen“, sagte Ciara und grinste sie mit vollem Mund an. Sie hatte eine Schüssel mit Cornflakes in der Hand und lehnte an einem hohen Barhocker.

„Hey, Dornröschen … auch endlich wach?“ Diese Begrüßung kam von Kay, der sich soeben eine Waffel in den Mund schob. Mit verschränkten Armen stand Naomie hinter Rian, der sie mit gleichgültiger Miene erfolgreich auf Abstand hielt. Ihrer Miene nach zu urteilen, hatte sie sich immer noch nicht beruhigt.

Lily beschloss, sich davon nicht den Tag verderben zu lassen, und vermied es daher, einen der beiden anzusehen. „Wen muss ich bestechen, um einen Kaffee zu bekommen?“

„Ein Kuss von dir würde als Anzahlung vollkommen reichen“, erwiderte Gary, der aus einem angrenzenden Raum im hinteren Bereich der Küche kam. Er feixte über Lilys verdatterte Miene. „Ich wollte immer schon eine Prinzessin küssen.“

„Und was ist, wenn du dich dann in einen Frosch verwandelst?“, fragte Lily schlagfertig.

Gary lachte und zeigte mit dem Finger auf sie. „Die Kleine gefällt mir. Obwohl ich mir sicher bin, dass die Geschichte anders war. Und ich wäre bereit, das Risiko einzugehen … denn du bist es sicher wert.“ Er schaute ihr tief in die Augen.

Sie wusste, dass er nur Witze machte und sie nicht ernsthaft anbaggerte. Nicht, dass er nicht ebenfalls gut aussah, auch wenn er mit den dunklen Haaren und seinen grünen Augen ein ganz anderer Typ als Rian war. Doch Lily spürte keinerlei Anziehungskraft und freute sich, dass er sie anscheinend einfach mochte.

Ciara tauchte neben ihr auf und strich ihr über den Arm. „Bist du sicher, Gary? Ich meine, sich nur von Fliegen zu ernähren, wäre das wirklich dein Traum?“

Der Angesprochene verzog das Gesicht und wandte sich wieder den Eiern und der Pfanne zu, die er in den Händen hielt.

„Was? Insekten sind doch meine Leibspeise …“ Ironie triefte aus jedem der Worte. Danach schaute er zwischen ihr und dem Frühstück hin und her. „Vielleicht warten wir damit wenigstens bis nach dem Essen.“

Ciara lachte und sah Lily in die Augen. „Vergiss den Verrückten! Guten Morgen, wie geht’s dir heute?“

Sie lächelte, als sie Ciara in ihrem Kopf hörte. Sie wusste, dass sie üben wollte. Angestrengt bemühte sie sich, ihre Gedanken an Ciara zu übermitteln. Die Freundin schüttelte allerdings bei Lilys verbissenem Gesichtsausdruck mit dem Kopf. „Du brauchst dich nicht so anzustrengen. Erinnere dich an gestern Abend … Da hat es erst geklappt, als du nicht drüber nachgedacht hast.“

Lily versuchte, sich zu entspannen, was in dieser Umgebung schwierig war. „Bist du sicher, dass ich wirklich eine Fee bin und in Gedanken mit dir reden kann?“

„Ja, absolut“, antwortete Ciara und grinste breit, woraufhin sie erfreut auf quietschte.

„Was ist denn mit euch los?“, fragten Gary und Kay wie aus einem Mund und schienen ziemlich erschrocken zu sein.

„Sie kann mit mir kommunizieren“, erklärte Ciara und ging um den Küchentresen herum, um eine Tasse mit Kaffee für Lily zu füllen. Sie gab etwas Milch hinzu und reichte ihr die Tasse herüber.

„Das ist ja unheimlich! Frauen, die über uns herziehen können, ohne, dass wir es mitbekommen.“ Gary hielt inne. „Obwohl … das ist auch echt heiß!“ Er rührte die Eier um und streute etwas Salz darüber.

Lily rollte mit den Augen und fühlte sich langsam wohler. Zwischen diesen ganzen seltsamen Dingen wie Feen, Königreichen, bösen Hexen, Prinzessinnen und Krieg, waren sie alle einfach ein paar junge Erwachsene, die Spaß miteinander hatten. Vielleicht waren diese Feen endlich Wesen, unter denen sie sich nicht wie ein Freak vorkommen würde?

„Ich bin wirklich froh, dass ich deine Gedanken nicht hören kann, Gary! Wenn ich nur daran denke, was du regelmäßig für einen Mist von dir gibst, dann bin ich glücklich darüber, dir nicht den ganzen Tag im Kopf folgen zu müssen“, sagte Ciara und tätschelte Garys Arm, ehe sie den letzten Löffel Cornflakes in ihren Mund schaufelte.

Gary griff sich ans Herz und tat so, als erschrecke ihn diese Nachricht fürchterlich. „Das trifft mich jetzt aber … oh, Mylady …“

„Ignorier ihn einfach“, riet Ciara. „Hast du Hunger?“

Lily nickte und gesellte sich an Ciaras Seite. Ciara zeigte ihr, wo alles war, und sie kommunizierten fast nur noch in Gedanken, was die anderen interessiert verfolgten.

„Das ist echt unheimlich“, sagte Kay, der neben Rian auf einem Hocker am Küchentresen saß.

Kay war zwar wesentlich schmächtiger, beinahe schlaksig im Vergleich zu Rian, aber dafür waren seine Gesichtszüge feiner, ja, tatsächlich hübscher. Er hatte kurzes braunes Haar, das mit Gel in die Höhe gerichtet worden war. Der Oberlippenbart war gerade so voll, dass er nicht lächerlich wirkte. Doch Lilys Aufmerksamkeit galt sofort wieder Rian, der ihr ein Lächeln zuwarf und die grollende Naomi absolut ignorierte. Diese hatte sich völlig zurückgezogen und warf ihr aus der Ferne giftige Blicke zu. Allerdings versprühte sie zumindest nicht ihr Gift und hielt die Klappe. Das war immerhin schon mal ein Anfang.

Rian sah ihn belustigt an. „Frauen sind sowieso undurchschaubar für uns Männer, nur dadurch wird es noch viel grusliger.“

„Wo ist eigentlich James?“, fragte Lily Ciara.

„Er ist noch mal in die Uni gegangen, um einige Bücher und Utensilien zu holen. Er wird später zu uns stoßen.“

Lily fragte sich gerade, was ihr heute noch bevorstehen würde.

„Wir werden dich gleich ein wenig in unser Sagenland einführen. Gary wird dir so einiges über die Geschichte unseres Landes beibringen. Naomi wird dir zeigen, wie man sich kleidet.“ Ein genervtes Stöhnen drang aus Naomis Ecke, und Lily wurde schlecht. „Kay wird dich in Waffenkunde einweisen, und Rian wird dir ein paar Selbstverteidigungsgriffe demonstrieren“, erläuterte Ciara den Plan für den weiteren Tagesablauf.

„Und was machst du?“, fragte sie leicht besorgt, das alles allein durchstehen zu müssen.

„Ich bleibe natürlich bei dir, versprochen.“

Lily kam sich lächerlich vor, aber in Ciaras Gesellschaft erschienen ihr die anderen nicht so Furcht einflößend.

„Natürlich spielt sie deinen Babysitter“, zischte Naomi abwertend und starrte anschließend aus dem Fenster. Plötzlich hatte sie keinen Appetit mehr.

„Iss was, Lily! Lass dich von ihr nicht unterkriegen“, hörte sie die aufmunternden Gedanken ihrer Freundin.

„Was genau habe ich ihr eigentlich getan?“

Ciara schüttelte nur mit dem Kopf.

„Was tust du, wenn ich einfach nicht aufhöre, dich damit zu nerven?“

Ciara stöhnte. „Ich könnte die ganze Zeit `My Bonnie is over the ocean´ in meinen Gedanken singen.“

Lily rollte mit den Augen.

Ich erzähle es dir später in Ruhe. Jetzt ist nicht der richtige Augenblick dafür.“

Lily gab sich mit diesem Versprechen zufrieden und begann zu essen.

6. DER FEEN-EXTRA-SCHNELLKURS

Nachdem sie zu Ende gefrühstückt hatten, folgte Lily Ciara, Kay, Eric und Rian in ein angrenzendes großes Zimmer. Dieses war beinahe leer geräumt und nur ein paar Möbel standen an den Wänden und waren mit Tüchern verdeckt. Sie blickte auf den alten, antiken Holzboden hinab und betrachtete ihre Umgebung genauer. Insgesamt schien sich im Quartier niemand so recht Mühe damit zu geben, die Räume gemütlich zu gestalten. Es hing kein Bild an der Wand und bis auf diverse Waffen, Kleidungsstücke oder irgendwelche alltäglichen Gebrauchsgegenstände hatte Lily nirgends persönliche Dinge gesehen. Alle schienen hier, nicht lange Wurzeln schlagen zu wollen, und ihr wurde mulmig zumute. Immerhin war sie gerade erst in ihre Heimat Cornwall zurückgekehrt, und nun sollte sie schon wieder weiter? Doch was machte ein Zuhause erst so richtig zu einem? Es waren die Menschen, die einen umgaben. Allerdings waren diese Menschen fort. Lilys Herz zog sich bei dem Gedanken an Liam und Caitlin schmerzhaft zusammen. Ob es ihnen gut ging? Waren sie am Leben? Oder waren sie auf der Flucht? Würden sie sich eines Tages wiedersehen? So wohl sich Lily in Ciaras Umgebung auch fühlte, ersetzte die Freundin jedoch bei Weitem nicht die beiden, denen sie das bisschen Halt in ihrem Leben zu verdanken hatte.

Ciara und Rian ließen sich auf dem Holzboden nieder, Lily folgte Kay zu einem Schrank, den er öffnete und ein paar Utensilien zutage förderte. Er legte alles feinsäuberlich auf einem Tisch aus und schaute sie erwartungsvoll an. Für sie sahen die Dinge wie eine Sammlung antiker und gefährlicher Werkzeuge aus. Sie hatte bei einigen Auktionen von Harold zugesehen, bei denen er sehr altes Zeug versteigert hatte. All die Sachen hätten dort definitiv einen hohen Preis erzielt.

„Was weißt du denn bisher so über Waffen?“, fragte Kay.

„Ähm, … eigentlich nichts. Diesen Kurs habe ich in der Schule wohl geschwänzt.“ Lily lächelte über ihren Witz, doch Kay sah sie nur verständnislos an.

„Schon mal ein Schwert in der Hand gehalten?“

„Seit meiner letzten Duellierstunde nicht mehr“, scherzte sie weiter, doch keiner stimmte in ihr Kichern ein, sodass sie sich räusperte und um Ernst bemühte. „Ähm … nein.“

Kay stieß ein Schnauben aus. „Einen Dolch?“

„Nee.“

„Schon mal gegen jemanden gekämpft?“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Wie sieht‘s mit Selbstverteidigung aus?“

Lily schüttelte nur bedauernd den Kopf, und Kay wirkte fast verzweifelt.

„Wie ist das nur möglich?“, fragte er und sah missmutig in die Runde.

„Na ja, in unserer Welt gibt es eher Schusswaffen.“

Hoffnungsvoll schaute Kay ihr in die Augen, doch sie verneinte, bevor er sie fragen konnte, ob sie sich vielleicht damit auskannte. Enttäuscht ließ er den Kopf hängen.

„Also, ich fasse mal zusammen: Du hast noch nie gegen irgendjemanden gekämpft? Du hast keine Erfahrung mit Waffen aller Art und weißt vermutlich auch nicht, wie du ein Schwert halten musst?“

Lily stimmte zu und fühlte sich langsam nicht mehr wohl in ihrer Haut.

„Ich hab ja gesagt, dass sie nur ein Klotz am Bein ist“, ertönte eine Stimme aus dem hinteren Teil des Raumes.

Sie blickte zur Tür, die gerade ins Schloss gefallen war. Naomi war eingetreten und ließ sich elegant neben Rian nieder und streckte ihre schlanken, endlos langen Beine von sich, sodass sein Blick unweigerlich darauf fallen musste. Für Lilys Geschmack saß sie etwas zu nah bei ihm, und Naomis Gesicht wirkte längst nicht mehr so unzufrieden wie noch wenige Minuten zuvor. Wahrscheinlich ahnte sie, dass sich Lily furchtbar blamieren würde, und wollte die Show deshalb nicht verpassen. Lily wäre am liebsten davongelaufen, aber wohin hätte sie gehen können? Vor allem wäre sie sicher nicht weit gekommen. Wenn sie an die vermummten Gestalten dachte, die sie umbringen wollten, oder an die Stimme in ihrem Kopf, überkam sie Gänsehaut.

Ciara stand auf und trat neben sie. „Lass dich von ihr doch nicht verunsichern. Sie nutzt deine Schwäche nur aus, um sich selbst besser zu fühlen. Das ist keine Charakterstärke, sondern ein Makel. Konzentrier dich auf Kay. Er ist wirklich ein guter Lehrer.“ Mit Ciara neben sich schaffte sie es tatsächlich, Rian und Naomi auszublenden und sich auf Kay zu fokussieren.

„Ich weiß, dass du meine Gefühle ausbalancierst“, ließ Lily ihre Freundin wissen, die als Erwiderung nur breit grinste.

„Okay, klär mich bitte auf“, bat sie und wandte Naomi den Rücken zu.

„Also … Ich fürchte, wir müssen mit den einfachsten Dingen anfangen. Das hier ist ein Dolch.“ Kay hob eine Art Messer vor Lilys Nase, das aussah, als käme es direkt aus dem Mittelalter. Es war viel kleiner als die anderen Waffen, aber auch größer als ein übliches Küchenmesser.

„Er ist wie die meisten Waffen zweischneidig, und jeder sollte eigentlich einen Dolch bei sich tragen. Ich habe sogar zwei bei mir. Im Stiefel verstecke ich beispielsweise einen“, sagte er, hob sein rechtes Hosenbein an und zeigte den Dolch, dessen Griff aus dem Schaft ragte. „Sie sind besonders praktisch, wenn du nicht mit einem Angriff rechnest oder dein Schwert verloren hast. Du musst einfach fest und mit ordentlichem Druck zustechen. Unsere Haut ist überraschend fest. Du darfst nicht zögern. Manchmal hat man nur eine einzige Chance.“

„Der Nahkampf ist jedoch nichts für Ungeübte“, mischte sich nun Eric ein, den Lily beim Frühstück vermisst hatte. „Es gibt ein paar Punkte, die du treffen kannst, damit dein Angreifer mit Sicherheit schwer genug verletzt wird, und er dich nicht weiter attackieren kann.“ Er nannte ihr einige Stellen, an denen Arterien verliefen, die lebensnotwendig waren.

Lily schauderte. Sie hatte nicht vor, irgendjemanden umzubringen. Würde das etwa nötig werden? „Ihr sagt das so, als gehört das Töten für euch zum Alltag.“

Jedes Gesicht, in das sie nun blickte, wirkte überrascht. Nur Naomi sah sehr zufrieden aus.

„Moment … ihr wollt sagen, dass ich durchaus damit rechnen muss? Ich muss wirklich jemanden umbringen?“ Lilys Atem ging stoßweise. Sie griff sich panisch an den Hals und wandte sich von den Blicken der anderen ab.

„Lily!“ Fremde Arme fassten nach ihr und drehten sie behutsam um.

Sie schaute in graublaue Augen und entspannte sich. Sie hatte nicht bemerkt, dass Rian vom Boden aufgestanden und zu ihr gekommen war. Er hatte beide Hände um ihre Oberarme gelegt. Der Griff war fest, und Lily hätte sich keinen Millimeter rühren können. „Wir sind hier, um dich zu beschützen. Wir werden dafür sorgen, dass du sicher bist.“

Sie beruhigte sich augenblicklich. „Ich muss niemanden umbringen?“

Rian zögerte eine Weile, schüttelte dann jedoch den Kopf und legte ihn anschließend leicht schief, als erstaune ihn, was er sah. Hinter ihnen schnaubte jemand abfällig.

„Weißt du noch, was ich dir über meine Aufgabe gesagt habe? Du bist meine.“

Lilys Atem beruhigte sich, bis sie sich der Nähe zu ihm bewusst wurde und peinlich berührt zurückwich. Er ließ sie so plötzlich los, als hätte er sich verbrannt, und wandte sich ebenfalls ab. Ihre Zuschauer hatten die Szene gespannt verfolgt. „Gut. Dann gehe ich jetzt davon aus, dass das alles nur zu meinem Allgemeinwissen als Fee gehört.“ Die Umstehenden schauten sich betreten an. Daraufhin fuhr Kay damit fort, ihr die unterschiedlichsten Waffen und deren Anwendungen zu erläutern. Eric hielt sich mit blutrünstigen Äußerungen wie Ausbluten, Stoß ins Herz oder das Durchtrennen irgendwelcher Arterien zurück, wofür sie ihm dankbar war, weil sie es insgeheim befürchtet hatte. Sie hätte sonst nicht dafür garantieren können, dass sie ihr Frühstück nicht auf dem teuren Holzfußboden erbrach. Nachdem Kay ihr einen Dolch in die Hand gedrückt hatte und darauf bestand, dass sie ihn immer bei sich trug, sollte Rian ihr die Anwendung demonstrieren. Rian wollte allerdings, dass Lily zuerst einen echten Kampf zu sehen bekam. Deshalb machten alle Anwesenden Platz und zwängten sich in die hinterste Ecke des Raumes. Rian zog sein Schwert aus der Scheide, warf es in die Luft und fing es gekonnt wieder auf. Er stellte sich in Kampfposition auf und wartete darauf, dass Eric ihn angriff.

Dieser lachte herablassend. „Du musst immer vor den Ladys angeben, oder?“

„Wart‘ s nur ab“, erwiderte Rian und grinste noch breiter. Eric griff ihn unerwartet schnell an, und Lily zuckte bei dem Geräusch zusammen, das die beiden Schwerter beim Aufeinanderprallen erzeugten.

Rian reagierte blitzschnell, parierte gelassen jeden Hieb von Eric. Beide wirkten, als täten sie etwas Belangloses, so etwas wie Tanzen. Rian sprang dabei sogar aus dem Stand auf einen Tisch und wehrte jeden Schlag Erics ab.

„Rian ist unser bester Kämpfer“, erklärte Kay.

Lily war nicht wirklich überrascht, denn sie hatten schon in der Uni wie sein Gefolge gewirkt. Obwohl sie keine Ahnung davon hatte, wie ein guter Kämpfer auszusehen hatte, so wusste sie dennoch, dass Rian unglaublich begabt war. Er musste zudem sehr gut trainiert sein, denn er schaffte es jedes Mal, mit faszinierenden Sprüngen Erics Hieben geschickt auszuweichen und gleichzeitig Scherze darüber zu machen.

Nach einer Weile beendete er das Gefecht, indem er Eric lässig das Schwert aus der Hand schlug und ihn damit besiegte.

„So macht man das, Prinzessin, ich hoffe, du hast genau zugesehen“, frotzelte Rian und verbeugte sich vor ihr. Dabei grinste er von einem Ohr zum anderen.

Plötzlich wurde sie am Arm herum gewirbelt und fand sich fest an Erics Brust gepresst wieder. Er drückte einen Dolch an ihren Hals.

„Was unser lieber Anführer nur leider vergisst, ist, dass es nicht immer nur um den Kampf an sich geht. Er wird angreifbarer sein, wenn du in seiner Nähe bist.“

Die Sekunden verstrichen sehr langsam, und Lily vergaß zu atmen. Sie blieb reglos stehen und starrte mit angsterfüllten Augen zu Rian, der ebenso fassungslos zuerst in das Gesicht seines Freundes und dann in ihres blickte. Sie wartete geradezu auf den Moment, indem alle lachen und Eric sie freigeben würde. Doch keiner der anderen wirkte gelassen, sondern sie sahen genauso ungläubig zu Eric und ihr, wie Rian es tat.

„Lass. Sie. Los. Sofort!“ Rian biss die Zähne zusammen und baute sich zu seiner eindrucksvollen Größe auf.

Erics Griff wurde für eine Sekunde sogar noch härter und drückte die Klinge fester an die dünne, empfindliche Haut an ihrer Kehle. Sie wagte nicht, sich zu rühren, und war wie erstarrt, um keine Verletzung zu riskieren. Eric stieß den Atem stoßweise aus, und sie spürte nur zu genau jede Rundung seines Körpers an ihrer Rückseite. Eric jemals so nahe zu kommen, hatte nicht zu ihrem Plan gehört. Rian ging drohend auf sie zu, und schnell löste Eric seinen Griff und schubste sie in seine Arme. Er fing sie mühelos auf und hielt sie nun selbst fest an sich gedrückt, als müsse er sie vor Erics Anblick schützen. Seine Anspannung übertrug sich auf sie. Sie vergrub das Gesicht an seine Brust und sog seinen persönlichen und markanten Duft ein: ein schwacher Geruch von Aftershave, vermischt mit einem Hauch des Waldes. Das Gefühl von Vertrautheit und Geborgenheit überkam sie erneut, ganz so, als kenne sie es aus einer längst vergessenen Zeit. Rians Körper so nah an ihrem zu spüren, war zu ihrem Leidwesen keineswegs unangenehm.

„Ich wollte doch nur demonstrieren, dass auch unser Anführer noch etwas dazu lernen kann.“ Eric breitete unschuldig beide Arme aus, dennoch änderte sich an der Haltung der anderen nichts, und für Lily klang es nach einer schwachen Ausrede.

Rian strich ungeahnt behutsam über ihr Haar und übergab sie an Ciara, die sie sofort an sich zog. „Du hast einen Eid geleistet, der besagt, dass du unsere Prinzessin mit deinem Leben schützen und ihr nie auch nur ein Haar krümmen wirst“, sagte er, und in seiner Stimme schwang eisiger Ton mit.

„Ich dachte, hier ginge es ums Lehren. Komm schon, Rian, ich bin‘ s. Du kennst mich doch. Sieh sie dir an! Sie ist vollkommen unversehrt. Ich habe ihr kein Haar gekrümmt.“

„Darum geht es nicht. Sie soll uns vertrauen, sich sicher fühlen und nicht ständig einen Angriff aus den eigenen Reihen befürchten müssen.“ Rian hob etwas vom Boden auf und blickte Eric skeptisch und forschend in die Augen. „Aus irgendeinem Grund glaube ich dir nicht!“ Dann schoss er blitzschnell zu ihm hin und drückte ihn mit Wucht gegen die Wand.

Lily schnappte nach Luft.

„Wenn du sie noch einmal bedrohst, anfasst oder auch nur berührst, dann wirst du entehrt und verbannt. Ich persönlich werde es tun. Denke ja nicht, dass ich ein solches Verbrechen verzeihe. Das ist keine Warnung mehr, sondern ein Versprechen!“ Er ließ ihn abrupt los und wandte sich von ihm ab. Rians Miene war ernst und wirkte sehr, sehr wütend. „Und nun geh und übernimm Garys Wache!“

„Ja, mein Anführer“, erwiderte Eric bissig und mit brodelnder Wut. Dann verschwand er zur Tür hinaus.

Die allgemeine Anspannung legte sich urplötzlich, und Lily stieß den angehaltenen Atem aus.

„Das war …“, begann Kay, aber fand wohl nicht das richtige Wort.

Naomi eilte zu Rian und wollte, dass er sie ansah, doch er wehrte sie ab. Sein Blick war nur auf Lily gerichtet.

„Geht es ihr gut?“, fragte er an Ciara, die in sie hinein fühlte.

„Ja, alles gut“, antwortete Ciara, obwohl Rian immer noch sie ansah.

„Das war … krass!“, sagte Kay nun endlich und drückte damit die Gefühle der anderen Anwesenden aus. Ciara kicherte und warf ihm einen wohlwollenden Blick zu.

Die Tür ging erneut auf, und Gary stürmte herein. „Was ist denn bitte hier los? Eric ist wild fluchend an mir aus dem Haus gestürmt. Kann man euch keine Stunde aus den Augen lassen?“

Rian ignorierte Gary. „Kay, bitte folge ihm. Ich möchte ungern, dass er uns an der Nase herumführt.“

Der Angesprochene eilte ohne Einwände hinaus.

Rian wandte sich an Gary. „Er hat Lily bedroht.“

Gary schnappte nach Luft, und sein Blick glitt zu ihr.

„Es war wohl nur eine Art Demonstration“, erklärte sie unsicher.

„Du verstehst den Aufruhr vielleicht nicht ganz, aber der König ist bei uns Feen unantastbar. Es darf nicht mal das Wort gegen ein Mitglied der königlichen Familie erhoben werden.“ Ciara sah Naomi vielsagend an, fuhr dann fort: „In unserer Welt gelten andere Gesetze, und würden wir uns bereits im Sagenland aufhalten, hätte dein Vater Eric zu einem Gesetzlosen gemacht.“

„Was bedeutet das? Gesetzloser?“, fragte Lily.

„Nun, das ist ein Ausgestoßener“, antwortete Gary. „Er lebt in der Menschenwelt. Oder wird ein Anhänger der dunklen Fee, also von Megan.“

„Womöglich hat Eric es nicht so gemeint. Er wusste vielleicht nicht, dass dieselben Regeln auch für mich gelten. Er wollte bestimmt nichts Böses“, versuchte sie, die Situation zu retten.

„Ausgerechnet du, die gerade ein Messer am Hals hatte, trittst für ihn ein und stellst dich auf seine Seite?“ Kopfschüttelnd betrachtete Naomi sie.

„Unter Umständen stände dir etwas Demut auch ganz gut!“, erwiderte Lily ungewöhnlich scharf und war stolz auf sich, diese Frau endlich mal in ihre Schranken gewiesen zu haben.

„Okay, Ladys! Bevor es jetzt zum Schlammcatchen kommt, nehme ich das jetzt einmal als Aufhänger, um mit meiner Unterrichtsstunde fortzufahren. Oder wolltest du mit der Selbstverteidigung weitermachen, Rian?“, fragte Gary.

Der Angesprochene wirkte immer noch aufgewühlt und schüttelte nur den Kopf. Gary bedeutete Lily, ihm zu folgen, doch diese suchte den Blick von Rian, der sie aber nicht weiter beachtete. Deshalb folgte sie Gary seufzend und ohne Widerworte hinaus, hörte aber noch wie Rian zu Ciara sagte: „Bleib bei ihr! Lass sie ja nicht aus den Augen.“

Gary zeigte ihr den Weg in ein Schlafzimmer, welches ihm zu gehören schien. Der Raum war kleiner als ihrer und um einiges unordentlicher. Überall lag Zeug herum, diverse Klamotten zierten den Boden, und ein paar Waffen standen in die Ecke gelehnt an der Wand. Ansonsten gab es auch hier keine persönlichen Erinnerungsstücke.

„Wie viel weiß sie schon?“ Die Frage war an Ciara gerichtet.

„Die wichtigsten Eckdaten hat James ihr bereits erklärt, aber ich denke, wir sollten trotzdem ganz von vorn beginnen.“

Gary setzte sich eine Brille auf, die ihn optisch direkt in einen Nerd verwandelte, und Lily unterdrückte ein Lachen.

„Wie schön, dass du nach diesem Vorfall schon wieder so gute Laune hast, Prinzessin der Erlösung“, sagte er, grinste jedoch dabei. Er deutete auf den Sessel neben sich, doch sie entschied sich für den Boden und ließ sich im Schneidersitz vor ihm nieder. Ciara tat es ihr gleich.

„Nun, das Sagenland …“

„Entschuldigung, aber was passiert jetzt mit Eric?“ Der Gedanke, dass sie ihn verstießen, gefiel Lily ganz und gar nicht. Es ging ihr nicht aus dem Sinn, dass nur ihretwegen so eine Bestrafung folgen würde, vor allem, weil ihr im wahrsten Sinne des Wortes, kein Haar gekrümmt worden war. Sie fand das doch etwas hart. In Wahrheit behagte es ihr jedoch nicht, wieder eine Art Außenseiter in dieser Gruppe zu sein, weil sie in Watte gepackt werden sollte.

„Rian wird ihn ganz genau im Auge behalten. Wenn er noch mal die Regeln missachtet, wird Rian nichts Anderes übrig bleiben, als ihn zu verstoßen und nach Hause zu schicken.“

Lily betrachtete Gary nachdenklich. „Ist das nicht etwas hart? Vielleicht wollte er allen wirklich nur etwas demonstrieren?“

Gary zog sich die Brille von der Nase und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger. „Hör zu, Lily! Ich weiß du bist auf der Erde groß geworden. Du kennst unsere Gesetze nicht, ebenso wenig weißt du über unsere Lebenssituation Bescheid. Es ist kein einfaches Leben für uns Feen. Artus hat uns zwar ein Stück Land geschenkt, auf dem wir leben können, aber kontrolliert werden wir immer noch durch die Elfen. Sie lassen uns keine Waffen schmieden, aus Angst, dass wir uns dann damit gegen sie zur Wehr setzen könnten. Sie lassen uns nur einen Weg offen, um uns mit den Gelehrten zu beratschlagen. Wir dürfen keinen Handel betreiben, um uns mit ausreichend Essen zu versorgen. Kurz gesagt halten die Elfen uns klein und arm. Sobald wir mehr haben, als wir benötigen, könnte uns das einen Vorteil bringen, um zurückzuschlagen und uns das zu holen, was uns seit jeher gehört: Gleichberechtigung! Ein Land, das von einem einzigen König regiert wird und all unsere Interessen vertritt. Deshalb sorgen sie dafür, dass es nie dazu kommt. Wir dürfen uns keine Rückschläge erlauben, denn wir haben schon viel zu viele davon hinnehmen müssen. Deswegen schwört jeder Krieger des Zirkels den Eid, deinem Vater und somit dir zu dienen und hält sich auch daran. Es gilt, die Verräter rechtzeitig auszusortieren, damit wir nicht noch angreifbarer werden.“

Lily dachte über seine Worte nach. „Ist Eric wirklich ein Verräter?“

„Das wissen wir noch nicht.“

„Weiß Rian es denn?“, hakte sie nach.

„Nein. Er ist so schockiert, weil Eric zu seinen engsten Vertrauten zählt.“

„Nun gut!“ Abwechselnd sah Lily zu Gary und Ciara und klatschte entschieden in die Hände. „Dann werdet ihr ihm weiter vertrauen müssen. Hier bei uns Menschen gilt die Unschuldsvermutung, bis die Schuld bewiesen wurde.“

Gary lachte darüber, hielt aber inne, als er merkte, dass sie nicht scherzte. „So einfach ist das nicht! Diese Mission ist die letzte Hoffnung für die Feen, in Frieden leben zu können. Wenn wir dich nicht wohlbehalten zum Grünen Zirkel bringen, werden wir nie wieder in ein Leben voller Harmonie zurückkehren können. Daran würden wir zugrunde gehen.“

Lily zögerte, weil sie nicht wusste, wie stark sie ihre Meinung vertreten durfte. „Das mag sein, aber ich sehe das etwas anders. Womöglich ist das in eurem Zorn untergegangen. Misstrauen und Bestrafungen führen zu Ärger und noch mehr Zorn. Aus Zorn entstehen Rachegelüste und das erweckt ebenfalls das Böse. Jeder, den ihr als Gesetzlosen anseht, hat keinen Grund, euch die Treue zu halten und schon werden sie sich der dunklen Fee anschließen. Ein weiterer Feind, den ihr generiert habt, bringt euch herzlich wenig.“

„Gesprochen wie eine wahre Prinzessin“, ertönte eine Stimme hinter ihnen.

Lily wandte sich um und erkannte James, gefolgt von Rian und Naomi, die in Garys Zimmertür standen. Sie errötete und senkte den Blick. James` Augen glänzten voller Zuversicht und Respekt.

„Nun, dann hört auf eure Prinzessin. Denn vielleicht ist es an der Zeit, einen anderen Weg einzuschlagen. Der Letzte hat uns ja auch nicht besonders weit gebracht.“ Er wirkte zufrieden und lächelte Lily unentwegt an. „Das war wahrlich sehr weise von dir, Lily!“

Das Kompliment war ihr sichtlich unangenehm, doch James tat weiterhin so, als hätte sie das Rad neu erfunden.

„Danke, aber ich habe ja gar keine Ahnung davon, wie es in eurer Welt wirklich zugeht.“

James schüttelte den Kopf, als wolle er ihr sagen, dass das keine Rolle spielte. „Und das könnte das Entscheidende sein. Denn, was unser Land braucht, ist eine mutige und kämpferische Prinzessin mit ganz viel Herz. Auch wenn du unerfahren bist, so bist du, ganz wie deine Vorfahrin Guinevere, dazu geboren, eine Königin zu sein. Du wurdest allerdings nicht wie eine erzogen. Das war vielleicht das Beste, was dein Vater für dich tun konnte. Nun, Kay wird Eric zurückbringen, und ich werde ihm von deinen Worten berichten. Ihr werdet ihn im Auge behalten, aber er bleibt euer Gefährte, bis etwas anderes bewiesen ist. Jetzt können wir mit der Unterrichtsstunde fortfahren,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 16.05.2022
ISBN: 978-3-7554-1396-7

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /