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Leseprobe

DARK AGES

KÖNIGIN DER FEEN

KATHRIN LICHTERS

INHALT

Widmung

Prolog

1. Das Glück der Erde …

2. … liegt nicht auf dem Rücken der Pferde

3. Pflichten einer Prinzessin

4. Der Elfenthronfolger

5. Angriff der Drachen

6. Dunkelheit

7. Königin?

8. Eine neue Reise

9. Eine tragische Liebesgeschichte

10. Das Goldene Tal

11. Imogen

12. Ein Bann

13. Hoffnung und Abschied

14. Bücher, Bücher, Bücher

15. Das Mondlichtfest

16. Verräter

17. Rettung für Rian

18. Rayanne

19. Megans Täuschung

20. Entscheidungen und ihre Konsequenzen

21. Knucker

22. Der Grüne Zirkel

23. Die Zeit der Dämmerung

24. Endgültiger Abschied

Epilog

Und so geht es weiter …

Nachwort

Danksagung

Über Kathrin Lichters

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Für Nicky,

meine andere beste Freundin, die mir so ähnlich ist,

und mir mehr Rückhalt und Liebe entgegenbringt, als Worte beschreiben können.

PROLOG

Sie klammerte sich an seine Hand und war noch nicht bereit, ihn gehen zu lassen. Es wäre ihr vielleicht leichter gefallen, wenn dieser Abschied nicht für immer gewesen wäre. Dies war ihr letzter, gemeinsamer Augenblick. Niemals würde sie ihn wiedersehen. Ein vertrautes Gesicht tauchte neben ihr im Meer auf, diesmal erschrak sie kaum.

„Lasst los, Prinzessin! Er ist längst fort.“

Ihr Griff lockerte sich, und dann gab sie ihn frei. Ihr Blick folgte den Bahren über den endlosen Ozean, und die leise, traurige Musik im Hintergrund klang durch ihren gesamten Körper. Wie betäubt blieb sie im hüfthohen Wasser stehen und wagte nicht, sich nur einen Schritt fortzubewegen. Würde sie je wieder etwas anderes empfinden, als den unerträglichen Schmerz, der mit jedem Herzschlag durch ihre Adern gepumpt wurde? Sie hörte das Signal für die brennenden Pfeile dumpf in ihren Ohren nachhallen. Die Feuergeschosse flogen über sie hinweg. Kaum hatten sie die Bahren in Brand gesetzt, zuckte sie zusammen. Die lodernden Flammen stoben in den Himmel. Der Kummer überwältigte sie und tauchte ihr Leben in Dunkelheit.

DAS GLÜCK DER ERDE …

Ein irres Lachen riss sie aus dem Schlaf.

„Eure Hoheit? Prinzessin Lilien?“

Ruckartig hob Lily die Lider und richtete sich im Stuhl kerzengerade auf. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augenwinkeln und erblickte die Gestalt ihres Mentors, der sie betont streng ansah. Das Zucken seiner Mundwinkel konnte er jedoch nicht unterdrücken.

„James …“, murmelte sie und sackte sofort in sich zusammen. Sie strich sich über das Gesicht und fühlte sich wie gerädert. Gedanklich machte sie sich eine Notiz, dass es keine gute Idee war, ein Buch zu einem Kopfkissen umzufunktionieren. Sie streckte und reckte sich, und es knackte in ihrem Nacken.

„Sag mir, hast du etwa hier die Nacht verbracht?“ Amüsiert kam James auf den Schreibtisch zu. „Schon wieder?“

„Sieht wohl ganz so aus.“ Sie konnte ein herzhaftes Gähnen nicht unterdrücken.

James hob die Brauen und schenkte den Büchern kurz Beachtung, die über dem Tisch verteilt waren. Unterwasserwesen und ihre Fähigkeiten, Magie der Druiden und Geschichte der Elfen. „Wirst du jemals wieder in deinem Bett schlafen?“, fragte er vorsichtig.

Kian hatte vor ein paar Tagen einen ähnlichen Gesichtsausdruck aufgesetzt und ihr eine Strafpredigt gehalten. Wieso verstand keiner von ihnen, dass sie beinahe achtzehn Jahre aufzuholen hatte? Gedankenverloren blickte sie durch das Bibliotheksfenster auf das weite Meer.

Nicht einmal sechs Monate waren vergangen, seit sie James im Zug von London nach Cornwall gegenübergesessen hatte. Damals hatte sie keine Ahnung gehabt, dass ihr das größte Abenteuer ihres Lebens bevorstand. Sie war eine gequälte junge Frau gewesen, die das Leben und die darin vorkommenden Menschen größtenteils verachtet hatte. Ihrem Äußeren hatte sie keine große Bedeutung beigemessen und sich stets hinter dicken Wälzern versteckt. Erst durch den Gelehrten James und den restlichen Zirkelmitgliedern hatte sie von ihrer wahren Herkunft erfahren. Lily war König Kians Tochter und somit im Sagenland ebenfalls Herrscherin des Grünen Zirkels. Sie war für die Feen jedoch mehr als nur ein Mitglied der königlichen Familie. Sie war Guineveres Nachfahrin und demnach die prophezeite Prinzessin, die Elfen, Gelehrte und Feen vereinen und Frieden über das Sagenland bringen sollte.

Ein jahrhundertelang andauernder Krieg, ausgelöst durch Guineveres Verrat an dem Elfenkönig, hatte dazu geführt, dass sich die Feen immer noch in Sklaverei der Elfen befanden. Eine lange Zeit waren dieser Blutlinie nur männliche Feen entsprungen, bis König Kian unerwartet eine Tochter bekam und sich die Prophezeiung erfüllte.

Nicht jeder im Sagenland war ihr wohlgesonnen gestimmt. Die dunkle Fee Megan hegte einen uralten Groll gegen ihre Vorfahrin und trachtete Lily deshalb nach dem Leben. James und der Zirkel, eine kleine Gruppe ausgewählter Kriegerinnen und Krieger, hatten sie heimlich über einen beschwerlichen Weg in den Grünen Zirkel gebracht, und ein jeder von ihnen war dabei nur knapp dem Tod entkommen. Zu guter Letzt hatte Lily ihre Bestimmung angenommen und bewiesen, dass sie jedes Risiko wert gewesen war. Sie hatte ihnen beigestanden und tat auch jetzt alles, um die Feen in ihrem Freiheitskampf zu unterstützen.

Seither war alles anders geworden. Lily steckte ihre Nase mittlerweile nicht mehr bloß in Bücher, sie schlief sogar auf ihnen ein. Ihre Kleidung trug sie nicht mehr in Übergröße, und sie hatte sich ebenfalls von den schwarzgefärbten Haaren, den dunkelumrandeten Augen und den hochgeschnürten Stiefeln getrennt. Dennoch vermied sie es für eine Prinzessin angemessene Kleider zu tragen, für die sie gewiss von unzähligen Frauen beneidet worden wäre. Stattdessen fühlte sie sich in ihrer schwarzen Kriegerkleidung am wohlsten. All das machte Lily als zukünftige Herrscherin über den Grünen Zirkel für das einfache Volk zwar sympathischer, aber der Grund für ihre Weigerung war ein anderer. Sie wollte keine Königstochter sein. Sich in jeden Kampf zu stürzen und die Nase nach wie vor in die alten Lederbände der Bibliothek ihres Vaters zu stecken, war um einiges verlockender, als sich den Pflichten einer Prinzessin zu widmen.

Ihr Vater, James, Ciara und selbst Gary lagen ihr damit in den Ohren, dass sie mit dem Training und Studieren etwas langsamer machen sollte, aber sie verstand nicht, warum. Megans letzter Angriff lag zwar schon ein paar Monate zurück, und Lily wusste tief in sich, dass die dunkle Fee nur auf den geeigneten Moment wartete. Ihre Visionen hatten in den vergangenen Wochen zugenommen und führten ihr vor Augen, was ihr längst klar war, jedoch kein anderer hören wollte: Nicht sie war in unmittelbarer Gefahr, sondern all die Wesen, die sie am meisten liebte.

„Du brauchst wohl auch dringend eine Mütze voll Schlaf, was?“, fragte sie und betrachtete James.

Für den Augenblick war jeder Funke Amüsement aus seinen Augen wie fortgewischt. „Allzu viel habe ich davon nicht abbekommen. Das gebe ich zu.“

„Ist es wegen Megan und der grusligen Fertigkeit, ihre Gestalt zu wandeln?“, fragte Lily ihn beiläufig, weil sie wusste, wie sehr ihn diese Erkenntnis beschäftigte. „Was meinst du, hat sie getan, um eine solche Fähigkeit zu erwerben? Egal, welches Buch ich gelesen habe, nirgendwo ist die Rede von Gestaltwandlern.“

Wie zu erwarten, verdüsterte sich James Miene. „Sie muss einen sehr dunklen Pfad eingeschlagen haben, wenn sie in solch einer mächtigen Veränderung bewandert ist. Leider ist mir davon bisher nichts bekannt gewesen und du wirst in den alten Schriften garantiert nichts darüber finden, Lily. Diese Art der Literatur ist nicht im Besitz deines Vaters.“

„Gibt es niemanden, den du danach fragen könntest?“, fragte sie.

„Nun …“

„Also gibt es jemanden? Wer ist es? Warum bittest du ihn nicht um Hilfe?“

James zögerte, und sie ahnte, dass er etwas vor ihr verbarg. Sie hatte allerdings genug eigene Sorgen, um die sie sich kümmern musste, weswegen sie es aufgab, James wie eine Zitrone auszuquetschen. Sein Vater Merlin war sein Problem.

„Das wollte ich dir gerade mitteilen“, fuhr James überraschenderweise fort. „Aufgrund meiner Recherche der Gestaltwandler-Problematik und meines angespannten Verhältnisses zum Oberon werde ich noch heute aufbrechen.“

„Du bist nicht da?“ Lily konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen.

„Ich werde deine Geburtstagsfeier verpassen, Lily, und das tut mir leid.“

„Ach was, die habe ich völlig vergessen. Es ist nur … ich habe ein ungutes Gefühl, dem Oberon entgegenzutreten, wenn du nicht an meiner Seite bist.“ Verlegen blickte sie zu Boden.

„Das letzte Mal hast du das Zusammentreffen hervorragend gemeistert. Ich war nie stolzer auf dich.“ James breites Grinsen war ansteckend.

„Ich habe ihn ziemlich beleidigt, und Gillies hat mir eine lange Strafpredigt gehalten.“

„Wenn du mich fragst, wurde es höchste Zeit, dass ihm jemand gehörig die Meinung sagt. Deine Großmutter hat nicht das durchgemacht, was du erlebt hast, und erliegt dem Glauben, wir seien bloß zankende Kinder auf einem Spielplatz. Sie lebt nicht in dieser Welt, das ist ein gravierender Unterschied.“

„Und Megan? Was ist, wenn sie etwas plant?“

„Sie würde wohl kaum ihre stärksten Verbündeten in Gefahr bringen, oder?“, gab James zu bedenken. „An diesem Abend wird meine bloße Anwesenheit nur für Spannungen sorgen, außerdem sind deine Gefährten immer an deiner Seite, ebenso wie dein Vater. Er mag zwar harmlos aussehen, aber er weiß durchaus, mit dem Schwert umzugehen.“

„Ich werde erleichtert sein, wenn du wieder an unserer Seite bist!“

James lächelte. „Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Sag mal, hast du jetzt nicht deine Trainingseinheit mit Rian?“

Lily riss die Augen auf, und eine verräterische Hitze stieg in ihre Wangen. „Er ist zurück?“

Eifrig kämmte sie ihr wildes, verknotetes Haar mit den Fingern durch und räumte hektisch die Bücher auf dem Tisch hin und her. Jedes Gefühl von Abgeschlagenheit war wie weggepustet, was sicher an dem warmen Gefühl in ihrer Brust lag, das stets vorherrschte, sobald der Name Rian fiel. Er war der Krieger ihres Vaters, der sie ins Sagenland gebracht hatte und dafür abgestellt worden war, sie zu beschützen. Und doch war er so viel mehr. Trotz der Prophezeiung hatte sie diesen Weg der Bestimmung gewählt und Rians Angebot, mit ihm durchzubrennen, ausgeschlagen. Die Weissagung, die vor sehr vielen Jahren gemacht worden war, besagte, dass sich die Geschehnisse um Guinevere, Artus und Lancelot wiederholen würden. Es würde diese eine große Liebe geben, die alles vereinen oder zerstören könnte. Nur ein Mann würde das Herz der Prinzessin besitzen, und dieser Mann war Rian. Um Frieden über das Sagenland zu bringen und ihr Volk zu retten, war Lily bereit gewesen, ihre Liebe aufzugeben und eine Vermählung mit dem Elfenthronfolger in Betracht zu ziehen. Es wäre eine friedliche Lösung für alle, und doch zeichneten sich längst dunkle Wolken am Horizont ab. Diese Voraussage machte aus Lilys Leben im Grünen Zirkel eine Daily Soap. Sie verstand, dass sie Rians Herz gebrochen hatte, als sie nicht fähig war, alles hinter sich zu lassen, dennoch verkraftete sie seine regelmäßige Abwesenheit nur schwer. Es war ein fürchterliches Liebes-Drama, das Shakespeare nicht besser hätte beschreiben können.

„Ich mach das schon, Lily. Geh und lerne reiten. Das wäre für uns alle eine wahre Erleichterung.“

Sie streckte ihm kurz die Zunge raus und grinste. Eilig hastete sie aus der Tür hinaus und rief ein „Danke“ zu ihm zurück. Lily stolperte über einen Wäschewagen, riss einen Garderobenständer um und grüßte dabei noch rasch die Köchin. Warum war sie nur ständig so unfreiwillig komisch? Sie zog die Fettnäpfchen magisch an. Vielleicht lag es am Schlafmangel und an dem Kaffee, den sie noch nicht getrunken hatte, um das Defizit auszubalancieren? Womöglich hatten die anderen recht, und sie sollte eine Nacht Pause einlegen und in ihrem Bett schlafen. Jedes Mal, wenn sie die Bibliothek mit einer heißen Tasse Kaffee in der Hand betrat, hatte sie die feste Absicht, nur zwei Stunden vor dem Schlafengehen zu lesen. Daraus wurde meistens jedoch nichts.

Sie brauste um die Ecke und rannte in zwei Krieger ihres Vaters hinein, die sich lautstark empörten. Das war ihr allerdings egal. Sie eilte die Flure entlang und stieß die Tür zum Garten auf, um zu den Ställen zu gelangen. Sie war so voller Vorfreude, dass sie jede Vorsicht vergaß, mit Rian nicht allein sein zu dürfen.

Lily blieb abrupt auf dem Kies stehen und beobachtete die beiden absolut perfekten Wesen, die sich ebenfalls vor den Stallungen aufhielten. Ihre Sorge war umsonst gewesen, denn sie waren nicht allein. Genau genommen war sie der Eindringling einer vertrauten Situation. Rian und Naomi standen beieinander und hielten sich an der Hand. Rian lachte ungezwungen, während Naomi ihr langes Haar über die Schultern warf und ihm Blicke zuwarf, die verboten gehörten. Als wäre es das Natürlichste auf der Welt, sich auf diese Weise schmachtend anzusehen. Perfektion himmelte Perfektion an.

Mit einem Mal wurde Lily klar, dass Rian und sie so nie zusammen ausgesehen hatten. Er war umwerfend. Lily hingegen verbrachte Stunden damit, um wenigstens das Vogelnest auf ihrem Kopf zu bändigen und etwas Farbe in ihre Wangen zu bekommen. Sie war höchstens Mittelmaß. Neben Naomi kam sie sich seit jeher lächerlich vor. Diese Fee könnte jede Modelshow mit Leichtigkeit gewinnen und brachte jedem weiblichen Wesen Komplexe ein.

Die beiden wirkten so vertraut miteinander. Alles war so einfach für sie, und Lily hatte es unnötig kompliziert gemacht. Ihr Herz setzte aus, nur um im nächsten Augenblick heftiger zu schlagen und ihren Körper mit dem Gift der Eifersucht zu durchfluten.

„Lily“, rief da plötzlich jemand und durchkreuzte ihre Pläne, sich klammheimlich zu verdrücken. Sie biss die Zähne aufeinander und trat aus dem Schatten heraus. Der Person, die nun auf sie zu stolperte, hätte sie niemals böse sein können. Es war Marie, die in einem knielangen, gelben Kleidchen auf sie zustürmte. Marie war Erics Schwester, einem Krieger des Zirkels, der Lily zuerst an Megan verraten hatte, um das Leben seiner Schwester nicht zu gefährden. Zum Schluss hatte er allerdings sein Leben geopfert, um sie alle zu retten. Seitdem hatte Lily es sich zur Aufgabe gemacht, für die kleine Marie zu sorgen.

„Sieh nur, sie ist fertig“, rief Marie freudestrahlend und hielt ihr einen Stofffetzen entgegen. Sie rannte in ihre Arme und ließ sich einmal von ihr im Kreis drehen, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Maries Körper vibrierte regelrecht vor Aufregung. Lily bemühte sich, den Schreck zu überspielen, als sie in dem Stofffetzen eine selbstgenähte Puppe erkannte, die sie stark an einen Horrorfilm auf der Erde erinnerte. Das hätte sie natürlich nie gesagt, was auch nicht nötig war, denn Ciaras Lachen ertönte hinter ihnen.

„Sei dir nicht zu sicher. Wir wissen noch nicht, welche Gaben Mariechen hat. Vielleicht lauscht sie deinen Gedanken ja auch.“ Ihre Freundin schritt gutgelaunt auf sie zu.

Maries Augen glänzten vor Stolz, und sie drückte die Puppe fest an ihre schmächtige Brust. Lily schloss kurz die Augen, weil sie Rian mit jeder Faser ihres Körpers zu sich herantreten fühlte. Ciara, die ihre Gedanken und Gefühlswelt dank ihrer telepathischen Fähigkeiten besser als jeder andere kannte, erstarrte ebenfalls.

„Was ist denn hier los?“, fragte Naomi gut gelaunt und riss Marie die Puppe aus der Hand, um sie sich genau anzusehen. „Keine Sorge, Marie, irgendwann wirst du darin besser.“

Zornfunkelnd nahm Marie ihr die Puppe aus der Hand. „Ich finde sie gut!“

Lily blinzelte gegen das Sonnenlicht, während sie versuchte, Rian wie beiläufig zu betrachten. Natürlich bannte sein Anblick sie sofort, und sie glaubte, sich nie wieder rühren zu können.

„Prinzessin“, begrüßte er sie kühl mit einem Nicken. Sein Kosename für sie klang nicht mehr so intim und persönlich wie noch wenige Wochen zuvor.

„Du bist wieder zurück?“ Lily zwang sich, Rian ins Gesicht zu sehen.

„Wie du siehst …“

Sie brachte ein schwaches Nicken zustande und vernahm Schritte hinter sich.

„Wenn du nicht in deinem Bett bist und nicht in meinem, Prinzessin“, rief Gary gut gelaunt. „… dann verlange ich zu wissen, mit wem du dich diese Nacht herumgetrieben … Rian! Oh, hi … Du hier …“ Ihr bester Freund blieb stehen und kratzte sich verlegen am Hinterkopf.

Lily legte eine Hand gegen die Stirn und atmete tief durch. Das Talent mit den Fettnäpfchen war ihm auch nicht fremd. In den schwarzen Hosen, den Stiefeln und dem weißen Shirt sah er wie immer ziemlich attraktiv aus. Ihre Gefühle für ihn gingen jedoch nie über rein freundschaftliche hinaus. Er hätte locker ihr Bruder sein können. So entspannt miteinander umzugehen, war für sie beide von Anfang an selbstverständlich gewesen.

„Ich bin erst vor einer Stunde zurückgekehrt … Ich komme demnach nicht infrage.“ Rians Ton wirkte lässig, doch sein Körper sprach eine andere Sprache. Er stand stocksteif neben Naomi, und seine Augen waren so dunkel wie selten.

Lily hasste die Spannung zwischen den beiden, musste sich aber eingestehen, dass sie sich besser fühlte. Offensichtlich war sie Rian keineswegs gleichgültig.

Gary grinste und sah von Lily zu Rian, dann wieder zurück. „Nach der Buchkante auf Lilys Wange zu schließen, hat sie erneut ein Nickerchen in der Bibliothek gemacht, richtig, Kleine?“

Lily fuhr sich direkt mit den Fingerspitzen übers Gesicht, „Elende Verräter, diese Bücher …“

„Du solltest wirklich mal eine Nacht in deinem Bett schlafen“, mahnte Ciara. Lily erkannte an ihrem Gesichtsausdruck, dass es kein Vorschlag war, sondern sie festentschlossen war, dafür zu sorgen, dass sie ins Bett kam.

„Oder wenigstens in Garys“, warf Rian grummelnd ein, und Lily schenkte ihm einen bösen Blick.

„Schönheitsschlaf wäre äußerst angebracht“, stichelte Naomi. „Hast du heute überhaupt schon in den Spiegel gesehen? Was habe ich dir beigebracht? Mit diesen Augenringen siehst du aus wie ein Pandabär.“

Lily schnappte empört nach Luft. „Wie nett“, kommentierte sie bissig und taxierte Naomi.

Gary legte einen Arm um ihre Schulter. „Ich finde dich wunderschön, gerade, weil du eine Welt zu retten versuchst, Kleines, und du dir keine Gedanken um dein Aussehen machst.“

Sie lächelte zu ihm auf und genoss seinen Rückhalt. Naomi schürzte die Lippen und ignorierte Garys Worte.

„Genau genommen sind es sogar zwei Welten“, korrigierte Ciara und stach Gary einen Finger in die Rippen.

„Um sich in unserer Welt fortbewegen zu können, sollte die Prinzessin vielleicht nicht gleich jedes Pferd in die Flucht schlagen, was mich daran erinnert, was meine nächste Pflicht ist.“ Rian machte eine sarkastisch einladende Geste zum Pferdestall und marschierte darauf zu, ohne auf sie zu warten.

Pflicht? Das war sie also für ihn?

„Soll ich lieber hier bleiben, Kleines?“, flüsterte Gary in ihr Ohr und machte eine Miene, die darauf schließen ließ, wie sehr er Rians mörderischen Blick genoss, den er gerade über seine Schulter warf.

Lily schüttelte den Kopf und straffte entschlossen ihr Kreuz, vermied es aber, Naomi anzusehen. „Mit dem werde ich schon fertig …“

Es gab so viel über diese magische Welt zu erfahren und Unglaubliches zu entdecken. Die Feen und all die anderen Wesen im Sagenland, sogar die Elfen, waren wahnsinnig faszinierende Geschöpfe. Ebenso wie deren Geschichten, die individuellen Fähigkeiten und die daraus resultierenden Konsequenzen. Es war brillant, welche Anstrengungen die Gelehrten und die Oberhäupter der Feen und Elfen unternahmen, um diesen Ort vor den Menschen zu verbergen. Es gab so Vieles über das Sagenland zu erfahren und ebenso viele Geheimnisse zu entdecken. Nicht zuletzt quälte sie sich durch jede weitere verhasste Reitstunde. Auch Rians Anwesenheit machte diese Zeit bloß geringfügig besser.

Sie lernte wirklich in jeder freien Minute. Ihre Leidenschaft für Bücher und, dass sie ohnehin ihre Nase in jedes Buch steckte, kamen allen dabei sehr gelegen. Kian zeigte Lily jede Ecke des Grünen Zirkels und führte ihr vor Augen, was von einer Prinzessin erwartet wurde.

Ciara, ihre geliebte Freundin und Blutsschwester, half ihr zusätzlich, die Fähigkeiten und Gaben der Feen und Elfen besser zu unterscheiden. Naomi hingegen demonstrierte ihr, wie eine Prinzessin saß, aß, tanzte und nicht zuletzt, wie sie sich zu kleiden hatte. Die Zeit mit Naomi hasste sie wie keine andere. Die Anwesenheit der anderen Fee, war meist nur schwer zu ertragen. Mittlerweile hatten sie jedoch einen Weg gefunden sich, ohne sich gegenseitig umzubringen, länger als einen Wimpernschlag lang in ein und demselben Raum aufzuhalten. Das allein glich schon einem Wunder.

Die Oberin von Avalon, die sich erst vor wenigen Wochen als Tochter von Guinevere und somit als ihre Großmutter zu erkennen gegeben hatte, lehrte sie darin, ihre Visionen und Gedanken zu kontrollieren. Diese Fähigkeit war für eine Fee äußerst ungewöhnlich, und doch trug sie eine große Gefahr in sich. Die dunkle Fee Megan, die Lily, seit sie von ihrer Existenz erfahren hatte, umbringen wollte, war eine herausragende Telepathin Sie hatte nicht gezögert, dieses Talent gegen Lily einzusetzen.

Lily hatte so viel aufzuholen. Im Gegensatz zu den Kriegern ihres Vaters war sie nicht mit dem Wissen um ihre wahre Herkunft groß geworden. So wusste sie praktisch nichts über ihre Heimat und ihre Art. James unterrichtete sie in der seltenen Sprache der Gelehrten, ebenso wie in Pflanzenkunde. Er erklärte ihr die Hintergründe der vielen mystischen Wesen, Legenden und Sagen aus ihrer Welt und nicht zuletzt die ihrer eigenen. Lily mochte dieser Tatsache nicht vollends ins Gesicht sehen, aber Guineveres Geschichte war ihre Geschichte.

Die Begeisterung für diese Welt war real, auch wenn sie keineswegs der alleinige Grund für die Schatten unter ihren Augen war. Die Angst um Rian, der sich immer in halsbrecherische Situation begab und es in Kauf nahm, dabei umzukommen, schnürte ihr immer wieder die Kehle zu. Das Schlimmste war, dass Megan von ihren großen Gefühlen zueinander wusste, was sie schlussendlich dazu bewogen hatte, Lily nicht zu töten. Sie hatte an etwas anderem einen größeren Gefallen gefunden: Lily dabei zuzusehen, wie sie unter der Last der Pflicht zerbrach, während Megan all ihre geliebten Wesen umbrachte, war offenbar erfüllender. Auf dieser Todesliste stand Rian ganz oben.

Er war alles, was Lily antrieb oder auch zurückhielt. Die Anziehungskraft zu ihm war in den vergangenen Wochen noch stärker geworden, sofern das überhaupt möglich war. Sowie er im Schloss war, musste sie sich zwingen, sich von ihm fernzuhalten. In dem Moment, da er fortging, überwog die Sorge um ihn alles andere. Jede Zelle in ihrem Innern schimpfte darüber, dass sie bescheuert gewesen war, als sie sein Angebot ausgeschlagen hatte, mit ihm zu gehen. Ihr Herz mochte leiden, doch ihr Kopf wusste es besser.

Rian war in den vergangenen Wochen oft fortgewesen, und sie ahnte, dass er vor ihr floh. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, wandte er ihr stets den Rücken zu und behandelte sie wie Luft. Falls es die Situation erforderte, dass er mit ihr sprach, war er so kühl und distanziert zu ihr wie noch nie zuvor. Ganz so, als hätte es die Küsse und Liebesgeständnisse zwischen ihnen nie gegeben. Manchmal zweifelte Lily selbst daran und fürchtete, ihre Visionen seien mit ihr durchgegangen. Er tat alles dafür, nicht mit ihr allein sein zu müssen, und tief in ihr wusste sie genau, dass es so das Beste war - trotzdem zerriss es ihr Herz. Nach allem, was sie gemeinsam erlebt hatten, war Rian derjenige, der ihr Halt gab. Er war es, der sie kannte, und verstand, was sie fühlte, auch ohne ihre Gedanken lesen zu können. Deswegen verbarrikadierte sie sich in der Bibliothek und versuchte an alles Mögliche zu denken, nur nicht an ihn.

„Willst du stricken oder ein Pferd führen?“, rief Rian und schlug die Hände vors Gesicht. Er stieß einen Fluch aus, den Lily noch nie zuvor gehört hatte.

Sie seufzte nur und sah starrte an ihm vorbei. Eigentlich fand sie sich heute gar nicht so schlecht und ahnte, dass Rian sie nur bestrafen wollte. Es war nicht schwer, zu erraten, welche Laus ihm über die Leber gelaufen war. Sie verstand dennoch nicht, wieso er so wütend war. Zum einen musste er wissen, dass Gary niemals mehr für sie gewesen war und sein würde als ein Freund und treuer Gefährte. Zum anderen hatte er mit Naomi angebändelt. Lily war darüber tief verletzt, und doch konnte sie nichts dagegen tun. Immerhin hatte sie ihn abgewiesen und durfte nicht erwarten, dass er ihr hinterher trauerte. Welcher Dummkopf würde eine Fee wie Naomi auch abweisen?

Ohne jeden für Lily erkennbaren Grund scheute Shay, und sie rutschte hinten hinunter.

Rian stieß einen weiteren Fluch aus. „Wo bist du bloß wieder mit deinen Gedanken? So wird das nie was!“

Regungslos blieb sie auf dem Rücken liegen und sah Sternchen vor ihren Augen tanzen, ganz so, als wenn man sich bückte und dann zu schnell aufrichtete. Plötzlich zogen dunkle Wolken auf und tauchten alles um sie herum in Schwärze.

* * *

Es war Nacht, und sie sah nur den runden, beinahe vollen Mond. Sie schaute dem Horizont entgegen und musste das bittere Gefühl hinunterwürgen, das sich ihre Speiseröhre hinaufarbeitete. Ihr Herz blutete, und sie hätte sich gern in die Bibliothek zurückgezogen, doch das war nicht möglich. Der unerwartete Blick in intensivgrüne Augen, die sie seit einigen Wochen in ihren Visionen verfolgten. Jetzt wusste sie auch warum. Er war es. Er lächelte und blickte auf sie hinab.

Etwas am Himmel erregte ihre Aufmerksamkeit. Schreie. Panik und ein wahnsinniges Durcheinander …

* * *

„Lily! Lily hörst du mich?“ Rians Stimme brachte sie wieder in die Wirklichkeit zurück.

Als sie die Lider öffnete, sah sie in grau-blaue Augen, die sie sorgenvoll musterten. Die blonden Strähnen fielen ihm tief in die Stirn und verdeckten beinahe sein schönes Gesicht. Lily antwortete nicht, denn sie war zu gebannt von dem besorgten Klang seiner Stimme und dem panischen Ausdruck in seinem Blick. Nur einen Moment noch. Sie wünschte, nur noch eine Sekunde in der Gewissheit zu verweilen, dass er sie genauso liebte wie sie ihn.

„Nun sag doch etwas“, flehte er ängstlich.

„Autsch.“ Mit schmerzverzerrter Grimasse versuchte sie, sich aufzurichten.

Rian stieß die angehaltene Luft aus und rollte mit den Augen. „Komm, ich helfe dir.“

Zu gern ergriff Lily seinen dargebotenen Arm, um sich stützen zu lassen. Sie taumelte leicht und ließ sich dabei gegen ihn sinken. Es tat gut, ihm so nah zu sein.

„Ups!“ Er lachte so unbeschwert wie noch ein paar Wochen zuvor. Sie sahen sich eine Weile in die Augen, und plötzlich veränderte sich der Ausdruck in seinen. Er schien traurig zu sein, als sei ihm soeben bewusst geworden, wie verboten diese Vertrautheit zwischen ihnen war. „Geht es dir wirklich gut?“

Lily nickte, während sie ihm weiter in die Augen schaute. Rian strich ihr das Haar hinter ein Ohr und verharrte mit den Fingerspitzen länger als nötig an ihrem Hals.

„Lily!“, riefen jetzt mehrere Stimmen gleichzeitig und zerstörten damit diesen innigen Moment.

Naomis Blick war alles andere als besorgt, doch Marie, Kay und Ciara wirkten alarmiert.

„Alles Okay?“, fragten sie wie aus einem Mund, und Lily winkte rasch ab.

„Sie ist vom Pferd gefallen und war bewusstlos“, erklärte Rian betont sachlich.

„Das heißt dann wohl, Schluss für heute und eine Vorstellung bei Gary und James“, entschied Kay und wollte sie schon unter den anderen Arm greifen.

Lily wehrte ihn ab. „Nein, alles bestens. Wirklich.“

„Damit ist nicht zu spaßen. Du solltest doch wissen, dass man nach einem Sturz auf den Kopf nicht …“, begann Ciara, bis sie die Bilder in Lilys Gedanken sah und große Augen machte. „Nein, es war nicht der Absturz“, erklärte Ciara den anderen und schob sich zu ihr durch. Sie umfing ihre schmale Gestalt und wollte sie in den Schatten führen.

„Eine Vision?“, fragte Kay überflüssigerweise, und Ciara bedachte ihn mit einem bedeutungsschwangeren Blick.

Lily ließ sich jedoch nicht umherschieben und hielt die Hand hoch wie ein Polizist, der den Verkehr regelte. „Stopp!“

Ciara zog eine Grimasse. „Es würde mir besser gehen, wenn du nicht ständig die Heldin spielen müsstest, Lilien. Falls du nicht um deinetwillen auf dich achtest, dann wenigstens mir zuliebe.“

Ohne Ciara anzusehen, blockierte Lily mit aller Kraft ihre Gedanken, um sie auszuschließen. „Ich sage, mir geht es gut. Wenn wir bei jeder Vision so einen Aufstand betreiben, käme ich zu nichts mehr.“

Ciara kniff die Augen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. Ein sicheres Zeichen dafür, dass sie streiten wollte. So nah sich die beiden auch standen, gab es dennoch die ein oder andere Meinungsverschiedenheit, und Lily hasste diesen Teil ihrer Freundschaft. Sie war es nicht gewohnt, dass sich jemand um sie sorgte und sich einmischte. Das Schlimmste für sie war, dass sie plötzlich nicht mehr ausschließlich machen konnte, was sie wollte. Sie musste auf die Meinungen anderer Rücksicht nehmen - und zwar ständig. Tief in sich wusste sie, dass ihre Verbündeten recht hatten. Sich eine Schwäche einzugestehen, war nicht einfach, und noch viel weniger, wenn einem jeder dabei zusah und danach beurteilte.

„Du isst kaum was. Ich spüre jeden Knochen unter deiner Kleidung. Du schläfst nur noch in der Bibliothek und das auch nur, falls du nicht gerade lernst oder trainierst. Seit wann genau bist du so lebensmüde?“

Lily rollte mit den Augen und wurde sich Rians Anwesenheit unangenehm bewusst. „Ich bin kein Schwächling. Ich halte schon was aus!“

„Du musst niemandem etwas beweisen.“ Ciara schlug einen sanfteren Ton an, um sie zur Vernunft zu bringen.

Das waren die letzten Worte, die sie hören wollte. „Ich mag deine Verbündete sein, und du magst meine Gedanken lesen können … dennoch gibt dir das nicht das Recht, sie auch noch laut zu äußern. Ich bin hier die Prinzessin! Ich entscheide selbst, Ciara.“

Ciara schnaubte genervt und wirkte auf einmal seltsam distanziert. „Gut, vielleicht hast du recht, aber ich muss dir nicht dabei zusehen, wie du dich kaputt machst. Komm, Marie!“ Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und ging mit festen Schritten zum Schloss zurück.

Erschrocken über sich selbst und zugleich wütend auf Ciara blieb Lily fassungslos stehen. Sie war sauer auf Kay, weil er bloß dastand und zwischen ihr und Ciara hin und her sah, unentschlossen, wem seine Loyalität gehörte, und hasste den Gedanken, dass Rian und Naomi mehr waren als Gefährten und Freunde.

„Geh schon, Kay“, murrte sie leise, und er wirkte erleichtert darüber, dass sie ihm diese Entscheidung abnahm. Sofort rannte er seiner Freundin hinterher, und Lily blieb mit Rian und Naomi allein zurück. Wundervoll! Sie schloss die Augen und griff sich mit dem Daumen und dem Zeigefinger an die Nasenwurzel, um dem leichten Kopfschmerz entgegenzuwirken.

„Lass uns weitermachen“, murmelte sie wild entschlossen.

„Ich denke, für heute ist erst mal Schluss“, entschied Rian und wirkte dabei so selbstgerecht, dass sie ihn am liebsten geschlagen hätte.

„Wollt ihr nun, dass ich reiten lerne, oder nicht?“, maulte sie und trat betont selbstsicher auf ihre Stute zu, die nervös zur Seite tänzelte. Es war zum Verrücktwerden. Sie und ein Pferd, das harmonierte einfach nicht. Hier im Sagenland gab es jedoch kein schnelleres Fortbewegungsmittel, und Lily musste so sicher im Sattel sitzen können, dass sie allein von A nach B kam. Sie stieg um einiges gekonnter auf das Pferd, als es noch vor wenigen Wochen der Fall gewesen war. Ab da war alles eine Grauzone. Sie erinnerte sich vage an ein paar Techniken, dann hatte ihre Angst sie fest gepackt.

„Lass es gut sein, Prinzessin. Du solltest dich ausruhen und ich mich auch.“

„Hast du Angst mich zu erwürgen, wenn ich deine Nerven weiter strapaziere, oder eher, dass Ciara dir was antut, solltest du nicht nach ihrer Pfeife tanzen?“, schnaubte Lily.

Rians Augen schmälerten sich kaum merklich. „Du benimmst dich wie ein trotziges Kleinkind.“

„Du Idiot! Was hat es eigentlich für einen Sinn, die Prinzessin zu sein? Auf mich hört doch sowieso keiner.“ Frustriert sah sie ihn an und erkannte plötzlich, wie erschöpft er war. Warum war ihr das nicht eher aufgefallen? Weil sie zu sehr mit der Liebelei zwischen ihm und Naomi beschäftigt gewesen war und mit all dem anderen Zeug in ihrem verdammten Leben.

„Das sind nur Maßnahmen, um dich vor dir selbst zu schützen“, beschwichtigte Rian ungewohnt ernst, und Naomi räusperte sich vernehmlich.

„Rian, du solltest dich wirklich etwas ausruhen“, mahnte sie und reckte wie üblich ihre Nase in die Luft.

„Hast du eigentlich nichts zu tun?“, fragte Lily angriffslustig. Zu gern hätte sie Naomi das Haar zerwühlt und sie mit Dreck beworfen. Das wäre natürlich keineswegs erwachsen gewesen. Lily beobachtete, wie sie die Lippen aufeinanderpresste, um ja nichts Schnippisches zu erwidern. Das war jedoch nicht nötig, denn alles, was Naomi zu sagen hatte, konnte Lily an ihrer Miene ablesen. Sie stemmte die Hände in die Hüften und machte auf dem Absatz kehrt.

„Ich glaube, dein Typ wird verlangt. Ruh dich aus.“ Lily vermied es, Rian noch einmal anzusehen, aus Sorge, ihm ihre Gefühle damit zu offenbaren.

„Ich bin nicht müde“, erwiderte er schroff. „Die Trainingsstunde hat überhaupt keinen Sinn, wenn du so aufgeregt bist.“

Lily schnaubte. „Jetzt bin ich aufgeregt?“

„Deine Stimmung überträgt sich auf das Pferd. Sieh dir dieses Nervenbündel nur an.“

Dagegen konnte Lily nichts sagen, denn es stimmte. Sie war aufgebracht. Ihr Streit mit Ciara setzte ihr zu, die Vision machte sie dünnhäutiger als üblich, und sie war schrecklich eifersüchtig.

„Okay, morgen klappt es besser, du wirst schon sehen.“ Ein Aufmunterungsspruch, der von Rian kam. Es musste wirklich schlimm um sie stehen. Lily blickte ihm und Naomi hinterher und fühlte sich plötzlich so einsam wie nie zuvor. Sie hatte innerhalb eines Vormittags den Kerl, den sie liebte, mit einer anderen davongehen sehen, hatte sich mit ihrer besten Freundin gestritten und sich blamiert. Ein ganz normaler Tag für eine junge Fee, die kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag stand. So verrückt, wie ihr Leben war, so war sie eben bloß ein Mädchen, das unglücklich verliebt war und Herzschmerz hatte. Lily wischte sich über die Augen. Was sollte sie nur tun?

Noch auf dem Pferd sitzend, kam ihr eine Idee. Sie würde weiterüben und morgen allen zeigen, dass sie zu etwas zu gebrauchen war. Die Stute schien skeptisch und nervös zu sein, dass Rian nicht mehr in der Mitte der abgesperrten Wiese stand. Nach einer Weile im Schritt fühlte sie sich wohler im Sattel als je zuvor. War es womöglich Rians Anwesenheit, die sie sonst anspannte? Lily ging in einen leichten Trab über und ärgerte sich einen Moment darüber, dass sie niemand beobachtete. Am Rande nahm sie den Stalljungen wahr, der ihr knapp zunickte und im Geräteschuppen verschwand. Immerhin hätte sie morgen einen Zeugen, der allen erzählen konnte, dass sie sich nicht den Hals gebrochen und sogar eine halbwegs gute Figur gemacht hatte.

Ein unerwartetes Geräusch schreckte sie mindestens so sehr auf wie ihre Stute. Das Tier ging in einen wilden Galopp über und raste davon. Aus den Augenwinkeln sah Lily den Stalljungen, der ihr verwundert nachsah. Sie war zu überrascht und zu sehr damit beschäftigt, nicht vom Pferd zu fallen, um nach Hilfe zu rufen. Panisch klammerte sie sich an den Hals der Stute. Es dauerte eine Weile, bis sich ihr Herzklopfen beruhigt hatte, und sie versuchen konnte, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie war das noch gleich? Was musste man tun, um ein Pferd zu stoppen? Die Zügel! Genau. Sie musste das Zaumzeug festhalten und … wo waren bloß die verdammten Dinger? Um Himmelswillen … Wie konnte ihr Tag nur noch schlimmer werden? Was hatte sie getan, um das alles zu verdienen?

Die Luft wurde kühler und die Umgebung dunkler. Sie hielt sich am Sattel fest und hob den Kopf, um zu sehen, wo sie sich befanden. Sie entdeckte Bäume und Sträucher und duckte sich gerade rechtzeitig, um nicht mit einem dicken Ast zu kollidieren. Ihr Herz raste vor Panik, und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich abwerfen zu lassen. Wie schaffte man es, sich von einem Pferd circa einen Meter fünfzig in die Tiefe fallen zu lassen - und das auf Ästen und einem harten Waldboden? Sie zwang sich, ruhiger zu werden, konnte sich aber nicht dazu überwinden, loszulassen. Bei einem erneuten Blick über den Kopf der Stute sah sie plötzlich eine Person mitten im Weg stehen. Sie hatte beide Arme hochgestreckt und winkte ihnen entgegen, damit Lily anhielt.

„Vorsicht!“, brüllte sie noch, doch da wurde ihr Pferd wie von Zauberhand langsamer und stoppte. Sie ließ sich nicht sonderlich anmutig vom Pferd hinabgleiten, prallte mit den Händen voran auf den harten Kiesboden unter sich auf und verkniff sich einen Schmerzensschrei. Atemlos rollte sie sich auf den Rücken und blieb regungslos auf der Erde liegen. Dank des Adrenalins glichen ihre Beine Wackelpudding und machten das Aufstehen für den Moment unmöglich. Da beugte sich die Person über sie, die ihre Stute auf wundersame Weise zum Anhalten gebracht hatte. Sie erinnerte Lily an einen Schatten Megans, und ein erneuter Adrenalinschub jagte durch ihren Körper. Sie wollte sich wehren, doch da ergriff die Gestalt ihre Hand. Die Berührung ging ihr durch Mark und Bein. Lily hielt erstaunt die Luft an, und als sie wieder aufrecht saß, konnte sie dunkle Locken sehen, die unter der Kapuze hervorlugten. Bevor die Person ihr das ungemein charmante Gesicht zeigte, wusste sie bereits, dass sie von ihm geträumt hatte. Sogar mehrmals, in höchst unpassenden Träumen oder eher Visionen, wie sie glaubte. Er sah sie an, und die ungewöhnlich intensivgrünen Augen machten ein Wegsehen unmöglich. Er hatte eine markante Nase und eine Narbe seitlich über der Oberlippe, feingeschwungene Augenbrauen und attraktive Grübchen auf seinen Wangen. Sie war unfähig, zu sprechen oder etwas zu tun. Das war auch nicht nötig. Ein Lächeln trat auf sein Gesicht. Er beugte sich zu ihr hinab und presste seine Lippen auf ihre.

… LIEGT NICHT AUF DEM RÜCKEN DER PFERDE

Der Kuss war angenehm, und Lily hielt unbewusst den Atem an. Plötzlich wurde sie sich darüber klar, was sie da tat, und erstarrte. Sie küsste einen Fremden, einen völlig Unbekannten! Einen Mann, der nicht Rian war! Genau genommen küsste er allerdings sie. Mit aller Kraft stieß sie ihn schließlich von sich, holte mit der Faust aus und schlug so fest zu, wie sie konnte.

„Au“, echauffierte sich der junge Mann und fasste sich ans Gesicht.

Lilys Schlag hatte gesessen. Wenigstens etwas, wofür sich das harte Training ausgezahlt hatte. Sie sprang hastig auf die Füße und zog den Dolch, den Rian ihr einst gegeben hatte und mit dem sie bereits gezwungen gewesen war, einen Schatten zu töten. Seit dem Beginn ihrer Reise hatte sie sich Kays Rat zu Herzen genommen und trug zu jeder Zeit eine Waffe bei sich. Dieses Messer hatte nun in mehr als einer Hinsicht eine besondere Bedeutung für sie.

„Ist das der Dank für deine Rettung?“ Seine Stimme war viel tiefer, als sie erwartet hatte, und sein sanftes Timbre bewirkte, dass sie sich noch aufgewühlter fühlte.

„Der Dank wofür?“

„Na, dass ich dich gerettet habe“, sagte er schlicht und sah zu ihr auf. Lily zögerte. „Oder war dein Pferd nicht gerade dabei, mit dir bis ans andere Ende des Sagenlandes zu reiten?“

Sie überkamen Gewissensbisse, jedoch nur, bis sie sich an den ungehobelten Kuss erinnerte. „Und wozu sollte der Kuss gut sein?“, fragte sie schneidend. Sie richtete den Dolch auf den Mann, der sich langsam aufrappelte und sie schief angrinste.

„Eine Kriegerin, wie sie im Buche steht, was?“

Lily konnte nicht anders, aber sie fühlte sich geschmeichelt. Er hatte sie eine Kriegerin genannt!

Sie zuckte mit den Achseln. „Was genau erwartest du, wenn du einer Frau einfach so zu nahe kommst?“

Er hob die Schultern und grinste spöttisch, was sie noch wütender machte. „Ich habe da so allerhand Erfahrungen gesammelt und bin es gewohnt, mir zu nehmen, was ich will.“

„Das glaube ich gern“, schnaubte sie.

„Aber gib es zu, du hast es genossen. Den kleinen Seufzer habe ich genau gehört.“

Verräterische Hitze stieg in ihre Wangen, und Lily sah verlegen zu Boden. Ein Fehler, wie sich im gleichen Moment herausstellte. Innerhalb von Sekunden hatte er sie herumgewirbelt, ihr den Dolch entwendet und sie nun an seine Brust gedrängt. Sie spürte seine muskulösen Arme fest um sich gelegt, sein Atem streifte ihren Nacken.

„Sieh nur, wie schnell ich dich aus der Fassung bringen kann.“ Irgendetwas an der Art, wie er es sagte, war so anzüglich, dass ihr noch heißer wurde.

„Lass mich sofort los, oder du wirst es bereuen!“, drohte sie mit aufeinander gepressten Zähnen.

„Warum lässt du nicht einfach los? Liegt das etwa daran, dass du es genießt, dich in meine Armen zu schmiegen?“, erwiderte er seelenruhig.

Sie rollte mit den Augen, spürte den Dolch nirgends an ihrem Körper und wagte einen Schritt von dem unverschämten Kerl fort. Sie sah sich um und fand ihren Dolch auf dem Waldboden liegen.

Der Fremde beobachtete sie aufmerksam und ging in die Hocke, um die Waffe für sie aufzuheben. Er betrachtete sie eingehend. „Das ist ein guter Dolch. Sehr alt, oder nicht?“ Er hielt ihr den Griff entgegen, und Lily packte hastig zu.

„Ist hier nicht alles ziemlich alt?“

Er lachte. „Das kann man wohl sagen.“ Dann kam er wieder auf Augenhöhe, und sie musste fortsehen, um sich seinem Charme zu entziehen. Festen Schrittes ging sie um ihn herum und auf ihr Pferd zu. Amüsiert sah er ihr nach.

„Du willst ernsthaft wieder aufsitzen?“

Nein, dachte sie. „Ja klar! Was dagegen?“

Er hob abwehrend die Hände in die Höhe. „Nö, nix. Nur so …“

Sie sah ihn genervt an, den Fuß bereits im Steigbügel. „Na, sag schon.“

„Du scheinst nicht unbedingt die beste Reiterin im Sagenland zu sein. Zumindest sagt mir das dein Pferd.“

Mit großen Augen betrachtete Lily ihn und überhörte dabei die Kritik. Sie war einfach zu neugierig. „Das sagt dir mein Pferd?“

Er grinste selbstzufrieden. Offenbar hatte er genau darauf abgezielt, und Lily stöhnte innerlich auf. Sie war ihm in die Falle gegangen, wie eine Maus dem Speck hinterhergejagt.

„In der Tat. Ich kann mit Tieren auf eine bestimmte Art kommunizieren. Abgesehen davon, ist es nicht die angenehmste Art zu reisen, oder? Ich persönlich bevorzuge Schiffe und meine eigenen Beine.“

Sie staunte nicht schlecht und wusste nicht, ob ihm wirklich zu trauen war. „Wer bist du?“, fragte sie daher skeptisch.

Sein Grinsen verblasste nur für den Bruchteil einer Sekunde, sodass sich Lily später nicht mehr sicher war, ob sie es sich vielleicht nur eingebildet hatte. „Ein einfacher Mann …“

„Du gehörst nicht zu den Kriegern meines Va- Königs, oder?“

„Oh nein, nein, nein … ganz bestimmt nicht. Ich gehöre nicht in den Grünen Zirkel. Also bist du eine Kriegerin König Kians?“ Er grinste breit, wirkte amüsiert. „Eine sehr temperamentvolle Kriegerin, die nicht reiten kann?“

„Ich kann sehr wohl mit meinem Pferd umgehen“, empörte sie sich lautstark, was den fremden Mann nur noch mehr zum Lachen brachte.

„Sicher doch. Gut, dann bist du eben keine besonders gute Reiterin.“

„Und was bitte bist du? Kannst du überhaupt reiten?“

„Wenn ich darf, demonstriere ich dir das sehr gern. Das heißt aber auch, dass ich dich ein Stück begleite. Ich denke, wir müssen ohnehin in die gleiche Richtung.“

„Ich kenne nicht mal deinen Namen“, erwiderte Lily und gab den Weg zum Sattel frei. Leider war sie mittlerweile sehr interessiert an ihm.

„Was macht das schon? Wolltest du nicht immer mal nicht auf einen Namen reduziert und verurteilt werden? Namen sind hinderlich. Eigentlich sogar vollkommen störend. Oder hat deine Mami dir gesagt, du sollst nicht mit fremden, gutaussehenden Männern mitgehen, deren Namen du nicht kennst?“

Lily stimmte ihm innerlich zu. Sie hatte sich, seit sie hergekommen war, etwas Anonymität gewünscht. Da winkte sie ihr nun freundlich zu. „Gut, wir sind bloß irgendeine Frau und ein Mann, mehr nicht.“

„Aus deinem Mund hört sich das irgendwie doppeldeutig an. Aber ja, meinetwegen.“ Er murmelte daraufhin seltsame Laute und ihre Stute trottete auf ihn zu.

Sprachlos starrte sie auf die Szenerie. Gefühlvoll, ja beinahe zärtlich, strich er dem Tier über den Hals und wisperte weiter unverständliche Worte. Das Pferd trat mit den Vorderhufen auf und erinnerte Lily an einen aufgeregten Hund, der darauf wartete, dass man endlich den Stock warf.

„Unglaublich, wie machst du das bloß?“ Sie staunte, und der Fremde schmunzelte.

„Deine Stute ist völlig gestresst. Ich fürchte, du wirst nie eine besonders gute Reiterin.“

Lily rollte mit den Augen, lächelte jedoch. „Ich habe nie etwas anderes angenommen.“ Damit trat sie auf ihr Pferd zu und streichelte die Nüstern. „Es tut mir leid, Shay …“ Sie ergriff die Zügel und führte sie ein Stück weiter. Nach ein paar Schritten wandte sie sich zu ihm um. „Was ist jetzt? Kommst du?“

Er grinste sehr jungenhaft, hatte die Hände in den Hosentaschen versteckt und wippte auf den Fußballen. „Wie könnte ich da Nein sagen?“

Sie gingen eine Weile schweigend durch den Wald, und Lily nestelte nervös an den Zügeln, während sie überlegte, was wohl ein gutes Thema für ein zwangloses Gespräch wäre. Er marschierte jedoch ungerührt neben ihr her und glänzte mit seiner Selbstsicherheit. Er war ein gutaussehender Mann. Lily mochte gar nicht daran denken, wie wüst sie hingegen aussehen musste. Sie hatte die Kleidung von gestern an, die Haare nicht gebürstet, und sicher überall rote Flecken am Hals. Es ärgerte sie, dass er sie so aufwühlte, und er gelassen wirkte. Wer war er schon, dass er eine solch heftige Reaktion in ihr hervorrief? Sie fragte sich, wo er herkam, wohin er reiste, und was er überhaupt hier wollte? Sie scheute sich, ihm nur eine dieser Fragen zu stellen, da sie ebenfalls nicht bereit war, irgendwelche Antworten zu geben. Trotz allem genoss sie die Anonymität mit ihm. Einmal nicht daran denken müssen, was geschehen würde, wenn sie dieses sagte oder jenes tat. Es war eine reine Wohltat. Also schwieg sie.

„Wieso kannst du nicht reiten?“, durchbrach er die angespannte Stille.

„Ich dachte, wir sind nur ein Mann und eine Frau?“

„Jetzt sind wir ein Mann und eine Frau, die nicht reiten kann.“ Seine gute Laune und unbeschwerte Art war ansteckend, und Lily grinste.

„Ich weiß auch nicht, aber ich bin einfach unglaublich ungeschickt. Andere sagen, ich manövriere mich ständig in Schwierigkeiten.“ Lily sah auf ihre Stiefel und rutschte wie aufs Wort auf einem Stein aus. Ihre Hände federten den Sturz zwar ab, doch eine heiße Welle Scham durchströmte sie. Sie hatte sich jedoch keineswegs so schwer verletzt, dass sie ihren Stolz dabei vergaß und aufschrie. Sie fühlte, wie die Hitze in ihre Wangen schoss. Ihr Begleiter beugte sich zu ihr, um ihr aufzuhelfen, und als Lily in sein Gesicht sah, entdeckte sie seine Bemühung, nicht laut loszulachen. Sie ließ sich ins Gras sinken, und er kniete sich mit einem Knie vor sie nieder.

„Du hast irgendwie ein Faible dafür, das Gesagte zu demonstrieren, richtig?“

Lily hätte ihn gern geschlagen, doch ihre blutige Handinnenfläche, die sie sich an der Steinkante aufgeschürft hatte, tat schon genug weh. Er umfing ungeahnt sanft ihre Hände und betrachtete sie eingehend. „Auswaschen wäre gut.“

„Ich habe nichts dabei. Dieser Ausflug war nicht unbedingt geplant“, sagte Lily.

Er griff sich an die Seite, wo ein Beutel hing, der ihr vorher nicht aufgefallen war. Er fasste hinein und präsentierte kurz darauf eine Glasflasche, die mit einer bräunlichen Flüssigkeit gefüllt war. Er spülte etwas davon über ihre Wunden, riss ein Stück seines Leinenhemdes ab und wickelte anschließend einen Stofffetzen darum. Beim Zuschauen fielen ihr seine langen und feingliedrigen Finger auf. Sie waren sehr gepflegt und hätten eher zu einem Pianisten gepasst, als zu einem Vagabunden. Sanft umfingen seine Hände ihre, und als Lily wieder hoch in sein Gesicht sah, blickte er sie neugierig und offenbar fasziniert an. Der Moment, indem sie sich in die Augen schauten, dauerte höchstens ein paar Sekunden, fühlte sich allerdings wie eine Ewigkeit an.

„Danke“, sagte sie und räusperte sich. Die Hitze in ihren Wangen brannte wie Feuer.

Sein Lächeln zeigte ihr, dass er sich seiner Wirkung auf sie durchaus bewusst war. Er richtete sich auf und brachte endlich etwas Distanz zwischen sie, was Lily aufatmen ließ. „Du musst gut auf dich aufpassen. Ich habe auch ein Talent, mich in gewisse Schwierigkeiten zu bringen.“ Er wackelte anzüglich mit den Brauen, und sie lachte bei diesem Anblick. Er überließ ihr die Zügel ihres Pferdes. „Ich habe einfach eine Schwäche für Frauen. Das finden ihre Ehemänner meistens nicht sonderlich amüsant.“

„Wenn du jeder Frau unaufgefordert so nahekommst wie mir, verwundert mich das nicht weiter.“

Sie stiegen über mehrere Äste und kamen an den Klippenrand. Wie jedes Mal verschlug ihr der Ausblick über das Meer und das Schloss, das auf der gegenüberliegenden Klippe aufragte, die Sprache.

„Gibt es denn einen Mann, vor dem ich mich jetzt fürchten muss?“ Die Frage kam beiläufig, er schien allerdings höchst interessiert, und Lily hätte gern laut losgelacht. Zuerst dachte sie an Rian, danach fiel ihr Gary und ihr Vater ein und zuletzt ihr eventuell Bald-Ehemann.

„Oh man, wenn du wüsstest.“

„So schlimm?“, bohrte er weiter und grinste dabei schief, wirkte jedoch nicht im Mindesten beunruhigt.

„Nur ein Mann und eine Frau“, erinnerte sie ihn und hob den Zeigefinger.

„Okay, dann eben ein unverfänglicheres Thema.“ Er legte einen Finger an die Lippen und dachte kurz nach. „Was hältst du von dem Meer?“

Schon schoss ein Bild durch ihren Kopf: Rians Augen. Es gab immer noch Fragen, die sie nicht unbefangen beantworten konnte. Sie seufzte.

„Was? Auch keine gute Frage? Im Ernst jetzt? Wie kann das keine gute Frage sein?“ Er hob belustigt die Augenbrauen. Lily schüttelte nur den Kopf. „Also gut. Und was ist mit dem Wald? Was hältst du von ihm?“

„Ich bin eine Fee. Ich liebe die Natur. Ich verehre die Stille und die Ruhe und seine Beständigkeit. Ich könnte nicht leben ohne ihn“, sagte Lily leise und sah in die Baumwipfel, die nur eine spärliche Aussicht in den Himmel freigaben.

„Ich hasse es, nicht zu wissen, wo der Anfang und wo das Ende ist. Alles sieht gleich aus und es riecht nach Moder“, erwiderte er.

Entgeistert starrte sie ihn an. „Du magst den Wald nicht? Wie kann man den Wald nicht mögen?“

Er lachte. „Ich mag es gern, wenn es übersichtlich ist, und ich muss festen Boden unter meinen Füßen haben.“

Lily schüttelte den Kopf. „Das wäre für meine ungeschickte Koordination ungemein hilfreich.“

Sie sahen sich an und prusteten los. Er griff nach den Zügeln und berührte dabei wie zufällig ihre Hand, was in ihr ein ungewohntes Gefühl hervorrief. Sie blieben stehen, und er beugte sich zu ihr rüber.

„Du weißt ja, was man über Gegensätze sagt, oder?“, hauchte er, und seine Stimme war so rauchig und sanft, dass sie ihm nur gebannt ins Gesicht blickte. Seine Absichten waren offenkundig, und sie fragte sich, was sie davon abhielt, ihn zu küssen. Seine grünen Augen funkelten vor Energie, und sein dunkles Haar hob sich stark von der recht hellen Haut ab. Sie betrachtete die kleine Narbe über seiner Oberlippe und konnte sich gerade noch zurückhalten, darüber zu streichen. Seine Wangenknochen waren dagegen eher hoch und verliehen seinem Gesicht eine Eleganz, die ihr neu war. Er war ohne Frage witzig und attraktiv, beinahe zu schön für einen Mann. Auf der Erde hätte er bestimmt als Model von großen Plakatleinwänden zu ihr heruntergelächelt. Warum also konnte sie sich nicht auf einen echten, lockeren Flirt einlassen? Die Antwort war da, sobald sie die Lider schloss und nur grau-blaue Augen vor sich sah, sowie das Rauschen des Meeres in ihren Ohren hören konnte. Lily zog sich zurück und führte ihr Pferd weiter. Womöglich war die Liebe zu Rian verboten, aber wie sollte sie das ihrem Herzen klarmachen? Schmerzlich dachte sie daran, wie er Naomis Hand gehalten hatte. Ob er sie genauso leidenschaftlich küsste wie sie? Ihr Magen zog sich zusammen, und sie seufzte frustriert. Am liebsten hätte sie wild um sich geschlagen. Ein Gefühl, das in den vergangenen Wochen ein vertrauter Begleiter geworden war. Sie fühlte sich, als sei sie in eine Zwangsjacke gezwängt und sehne sich nach Freiheit. Abrupt wandte sie sich von ihrem unbekannten Begleiter ab.

„Stimmt etwas nicht?“ Er wirkte nicht vor den Kopf gestoßen über ihre Zurückweisung, wenn er auch eine verwunderte Miene zur Schau trug. Womöglich war er nicht daran gewöhnt, dass eine Frau ihn abwies.

„Nein, alles bestens. Wo genau musst du eigentlich hin?“

„Hier und da …“, antwortete er und blickte zu Boden, als sei er um eine Antwort verlegen.

„Ich muss dort lang.“ Sie deutete zum Schlossweg.

Er verbarg seine Überraschung schlecht. Seine Augen waren tellergroß geworden, und er runzelte verblüfft die Stirn. „Du lebst auf dem Schloss?“

Lily sah ihn verwirrt an. „Wieso hab ich das Gefühl, dass aus der ‚ein Mann und eine Frau‘-Sache nichts geworden ist? Du weißt anscheinend eine ganze Menge von mir. Ich hingegen kenne dich kaum.“

„Das stimmt nicht. Du weißt etwas von mir. Ich bin wahnsinnig hingerissen von dir.“

Wie von selbst glitt ihr Blick an ihm vorbei zum Schloss. Sie befanden sich auf der Klippe, von der sie damals mit Merlion das erste Mal ihr Zuhause erblickt hatte. Zwischen ihrem Standpunkt und dem Schloss lag eine Bucht. Plötzlich wurde ihr klar, dass man bereits nach ihr suchen musste, und sie hätte sich ohrfeigen können. Ihr Vater und ihre Freunde standen höchstwahrscheinlich gerade furchtbare Sorgen aus, weil sie verschwunden war. Und was tat sie? Sie spazierte entspannt mit einem gutaussehenden Fremden umher. Es wurde Zeit, dass sie sich trennten, und ein kleiner Teil von Lily bedauerte es. Andererseits sollte er keinesfalls erfahren, mit wem er durch den Wald gestreift war.

„Ich gehe jetzt mal besser. Ich denke, ich werde dort dringend gebraucht“, versuchte sie sich möglichst unbeschwert aus der Affäre zu ziehen.

„Wieso? Steht irgendetwas an?“

Lily zuckte mit den Achseln. „Ein ausgelassenes Fest wird es nicht gerade. Der König erwartet morgen den Oberon und seinen Sohn.“ Angewidert verzog sie das Gesicht und bemerkte das verblüffte Gesicht ihres Gegenübers.

„Hört sich an, als freust du dich nicht sonderlich darüber.“

„Ich werde das Unvermeidliche nicht weiter vor mir herschieben können.“ Der intensive Blick, der auf ihr lag, war ihr beinahe unangenehm, und sie wartete fast darauf, dass er sie noch einmal küsste. Er machte jedoch keine Anstalten, ihr näherzukommen. Überrascht erkannte sie, dass es sie enttäuschte. Er starrte sie nur an und Lily konnte nicht deuten, was er wohl dachte. Hatte sie sich womöglich verraten?

„Ist morgen nicht die Geburtstagsfeier der Prinzessin?“, fragte er und sah ihr dabei forschend ins Gesicht.

Sie nickte nur vage und kniff skeptisch die Augen zusammen. Wenn er ein Fremder war, warum interessierte ihn ihr Geburtstag?

„Wie ist sie so?“, bohrte er nach.

„Wer?“ Sein Interesse war unerwartet und höchst seltsam für einen umherstreunenden Weltenbummler.

„Na, die Prinzessin natürlich. Man hört allerhand Dinge über sie. Sie muss für einige Aufregung gesorgt haben, oder nicht?“

„Keine Ahnung, sie soll ein seltsames Ding sein.“ Lily holte tief Luft. „Auf Wiedersehen“, verabschiedete sie sich rasch und wandte sich um.

„Was? Das war alles? Was ist mit meinem Dankeschön?“

Sie blieb stehen und sah zu ihm zurück. Beinahe wäre sie wieder gestolpert, denn er war so schnell nah bei ihr, dass sie vor Überraschung das Gleichgewicht verlor. Ohne zu zögern, schlang er beide Arme um sie und drückte seinen Mund erneut auf ihren. Diesmal schob sie ihn nicht fort. Seine Lippen waren härter und gieriger als zuvor. Der Kuss war nicht so intensiv wie Rians Küsse, und Lily war keineswegs erfüllt davon. Dennoch war es gut. Vielleicht lag es daran, dass nicht viel Gefühl im Spiel war, oder sie ihn wahrscheinlich nie wiedersehen würde. Einen Moment fühlte sie sich unerwartet frei und unabhängig. Eine Fee, die ihre eigenen Entscheidungen traf, ohne auf etwas oder jemanden Rücksicht nehmen zu müssen. So eilig, wie er sie überfallen hatte, ließ er sie wieder los.

Er grinste überheblich. „Es sollte sich auf jeden Fall lohnen, falls ich in Zukunft auf einen deiner eifersüchtigen Männer treffe, die nach meinem Leben trachten.“

Lily tastete mit ihren Fingerspitzen über ihre Lippen, dann wandte sie sich endgültig von ihm ab. „Leb wohl, Fremder!“

„Keine Sorge, wir sehen uns wieder - wahrscheinlich schneller, als dir lieb ist, Süße.“

Nach wenigen Schritten sah sie zu ihm zurück, da war er jedoch schon verschwunden. Sie fragte sich gerade, ob sie sich das alles nur eingebildet hatte, da fiel ihr Blick auf ihre verbundenen Hände.

Eine kleine Ewigkeit später führte Lily ihre Stute die Allee zum Schloss hoch und hing ihren Erinnerungen an den Fremden nach. Wer war er nur? Was wollte er im Wald, wenn er ihn derart verabscheute? Und was hatte er damit gemeint, dass sie sich schneller wiedersehen würden, als ihr lieb war? Würde sie ihn wirklich noch einmal treffen? Einerseits konnte sie keinen weiteren Mann in ihrem Leben gebrauchen, auf der anderen Seite hatte er ihr Interesse geweckt. Es war alles so unkompliziert mit ihm gewesen.

Lily wurde von Hufgetrappel aus ihren Gedanken gerissen. Sie blickte auf und erkannte ein paar Reiter, angeführt von ihrem Vater, auf sich zu galoppieren. Kian, vollkommen in schwarz gehüllt und mit den gleichen intensiv blauen Augen, die sie aus dem Spiegel kannte, sprang eilig vom Pferd und stürzte auf sie zu. Sein Gesicht wirkte ernst, beinahe grimmig, dass ihr schlechtes Gewissen weiter wuchs.

„Lily! Gott sei Dank!“ Er umfing ihre Gestalt so fest, dass sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Er umfasste ihre Oberarme und schob sie eine Armlänge von sich, um sie eingehend zu betrachten. Besorgnis lag in seinen Augen, sodass es ihr noch mehr leidtat, sich auf diese angenehme Weise die Zeit vertrieben zu haben. „Geht es dir gut? Hast du dich verletzt?“

Sie nickte und schüttelte kurz darauf verwirrt den Kopf. Kian stieß einen erleichterten Laut aus und zog sie wieder in seine Arme. „Du hast mir einen solchen Schrecken eingejagt, junges Fräulein.“

Ein wohliger Lederduft umgab ihn sowie ein Hauch von Moos und Holz, den sie tief einsog.

„Es tut mir leid, Dad“, murmelte sie und spürte, wie er vor Stolz anschwoll, bloß weil sie ihn Dad genannt hatte.

„Hauptsache, dir geht es gut.“ Er ließ von ihr ab und gab den Blick auf den Mann hinter ihm frei. Es war Liam, der ebenfalls abgestiegen war und sie nun kurz an sich drückte.

„Du hältst uns alle ganz schön auf Trab, Lilien“, tadelte er sie. Er lächelte so jungenghaft wie immer und tauschte einen erleichterten Blick mit dem König.

„Was ist mit deinen Händen geschehen?“, fragte Caitlin, umrundete Liam eilig und stürzte sich auf ihre Verletzung.

„Es ist nichts. Ich habe sie mir nur leicht aufgeschürft.“

„Sag den anderen Bescheid“, ordnete Liam einen Krieger an, den Lily nicht beim Namen kannte. Dieser packte ein Horn aus und blies hinein. Es kam jedoch kein Ton heraus, der für menschliche Ohren zu hören gewesen wäre. Sie fand es auch seltsam, aber auf diese Weise überbrachte man sich im Grünen Zirkel Nachrichten. Es war eine Art Telefon ohne Strom und Kabel. Es funktionierte nur mit Magie. Lily weigerte sich, ein weiteres Mal auf ein Pferd zu steigen. So schritt sie mit ihrem Vater die Allee zum Schloss entlang, während die restlichen Krieger geschlossen zurückritten.

„Lilien …“, sagte der König.

Sie sah ihren Vater von der Seite an und erkannte an der angespannten Haltung, dass eine Strafpredigt folgen würde. Allerdings holte er tief Luft und schloss kurz die Augen, woraus Lily schloss, dass er seinen Ärger und ihre immer noch brüchige Beziehung gegeneinander abwog. Vielleicht hatte er Angst, sie endgültig gegen sich aufzubringen. Ihr Herz schwoll vor Liebe für ihren gerade erst gefundenen Vater an. Er hatte ständig Angst, ihre aufkeimende Beziehung zu zerstören, etwas, das sie sehr gut nachvollziehen konnte. Ihr ging es ähnlich, auch sie wollte, ihn nicht enttäuschen.

„Ich bekomm jetzt Ärger, richtig?“, half sie ihm auf die Sprünge.

Kian sah sie überrascht an und nestelte an einer Schnalle seiner Jacke herum. „Lily …“

„Nun mach schon, Dad. Ich halt es aus.“

„Ich bin nicht länger damit einverstanden, wie du mit dir umgehst. Auch wenn du schon fast erwachsen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 16.05.2022
ISBN: 978-3-7554-1398-1

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