NY MILLIONAIRES CLUB - ADAM
LIV KEEN
INHALT
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Epilog
Nachwort
Danksagung
Über die Autorin
Weitere Bücher aus der Millionaires-Club-Reihe
Für Ava, Zoe und Charlotte
KAPITEL 1
ADAM
Das Treiben am John F. Kennedy International Airport war rege und chaotisch. Das Stimmengewirr erinnerte an einen überdimensionalen Bienenstock und Adams Kopf drohte, vor Schmerz zu zerplatzen. All diese Leute und die Geräusche trieben sein Stresslevel in ungeahnte Höhen. Das aufreizende Lächeln der Barista, die ihm gerade einen Kaffee reichte, war eindeutig und es wunderte ihn nicht, dass Kelly ihren Namen und ihre Nummer auf den Pappbecher geschrieben hatte. Nachdem ihm bereits die Stewardess schöne Augen gemacht hatte, lehnte er auch dieses Angebot unmissverständlich ab. Adam war sicher kein Kostverächter, aber im Moment konnte er bloß an das denken, was er in England zurückgelassen hatte. Er lief zielstrebig mit seinem Koffer bis zum Ausgang. Das Pochen in seinem Schädel war fürchterlich und er sehnte sich nach der Ruhe und Abgeschiedenheit eines Taxis, das hoffentlich keine indische Musik spielte. Er erinnerte sich nur zu genau an die Tortur und damit an die letzte Taxifahrt in New York vor vielen Jahren. Die hatte ihn ironischerweise genau hierher gebracht, damit er in ein Flugzeug stieg, das ihn nach England brachte, um ein neues Leben zu beginnen. Damals hatte er einen schrecklichen Kater gehabt, was sich nur mäßig von seinem jetzigen Zustand unterschied. Adam Hadley trat durch die riesigen Türen des weltweit bekannten Flughafens und atmete endlich die verunreinigte New Yorker Abgasluft ein. Das Summen des Bienenstocks verschwand, dafür wurde es durch Hupen, Schreie, Baustellenlärm und stetes hektisches Treiben ersetzt, und Adam fühlte sich sofort wohl. Er schloss die Augen und genoss den Augenblick seiner Rückkehr, als ihn Rufe und wildes Hupen aufschreckten. Eine Limousine hielt am Seitenstreifen und hatte eine Tür geöffnet, wo sein Freund Mason ihn grinsend erwartete. Aus dem Fenster weiter vorne ragten die Köpfe von Lee und Knox. „He, Mister!“, rief Lee. „Kenne ich Sie etwa? Sind Sie auf Geschäftsreise?“
„Keinesfalls! Ich dachte, ich besuche alte Freunde!“, erwiderte er und kam grinsend näher.
„Whoop, whoop! Adam Hadley is back!“, brüllte Knox so laut, dass die Leute sich nach ihnen umsahen.
„Hey, Mann, du siehst grässlich aus! Habt ihr etwa keine guten Maßschneider bei euch in Great Britain?“ Adam lachte bloß, schlug in Masons Hand ein und ließ sich in eine Umarmung ziehen. Es war eine Wohltat, von Freunden in Empfang genommen zu werden und nach Hause zu kommen.
LIAN
Die Sonne ging bereits auf, als Lian mit ihrer Yoga-Matte unter dem Arm geklemmt in den Garten der riesigen Villa ihres Vaters lief. Es hatte durchaus was für sich, bei Sonnenaufgang in einer Stadt, die niemals schlief, Ruhe zu finden, die sonst den ganzen Tag verloren schien. Lian liebte alles an New York, selbst diese Rastlosigkeit und die nie enden wollenden Partys. Doch in den frühen Morgenstunden fand sie wie einst ihre Mutter Frieden und Entspannung in der Natur und im Yoga. Die Teetasse stellte sie auf dem Mäuerchen an den üblichen Platz, während Silvias Bobtail Max aufgeregt im Gebüsch die Vögel aufscheuchte. Mit geschmeidigen Bewegungen ließ Lian den Kimono, den sie übergeworfen hatte, auf den Boden gleiten und ihre Gestalt positionierte sich im Glanz der ersten Sonnenstunde. Es kamen stressige Tage auf sie zu, denn die Hochzeit ihres Vaters mit Silvia fand am kommenden Samstag statt. Dazu würde Silvias Sohn Adam aus Großbritannien anreisen, um die neue Familie kennenzulernen.
Lian war keine Idiotin, auch wenn ihre zukünftige Stiefmutter sich große Mühe gab, Adam als anständig und höflich darzustellen, so war das Getratsche der Hausmädchen um einiges abenteuerlicher. Adam Hadley gehörte einer Clique an, die sich Millionaires Club nannte. Es war eine Reihe von Freunden, die allesamt wohlhabend waren und sich nahmen, was sie wollten, einfach weil sie es konnten. Jede Frau, die etwas auf ihren Ruf gab, hielt sich besser von diesen Kerlen fern. So hatte Lian es bislang auch gehalten, doch nun war sie bald Teil seiner Familie. Die Vorstellung, als Erwachsene einen Stiefbruder zu bekommen, war seltsam, um nicht zu sagen, völlig abstrus. Das Glück ihres lieben Vaters ging jedoch vor, daher nahm sie diese Begleiterscheinung als gegeben hin. Die meiste Zeit verbrachte Adam ohnehin auf einem anderen Kontinent. Es würde also nur wenig Berührungspunkte geben.
Das Knurren von Max im Gebüsch erregte ihre Aufmerksamkeit, sodass sie in ihrem Bewegungsablauf innehielt. Er kläffte plötzlich und Lian trat mit in die Hüften gestemmten Händen auf den bellenden Hund zu. Sie sah das schmiedeeiserne Tor, das zu dem Stellplatz der Autos führte, und riss geschockt die Augen auf. Dahinter lag ein Mann mit einer Skimaske über dem Kopf, der einen Anzug trug und dessen Hände hinter seinem Rücken mit Klebeband zusammengebunden waren. Ein panischer Schrei entwich ihrer Kehle und vor Schreck unfähig sich zu bewegen, starrte Lian ihn regungslos an. Sie öffnete das Tor und der Fremde sprang auf seine Füße, was einen athletischen Körper vermuten ließ. Ein Grölen erklang von der anderen Seite der Mauer, wo sie ein Auto wegfahren hörte. „Herzlich willkommen zu Hause, Adam!“
Lian wich perplex ein paar Schritte zurück, bis sie in ihrem Rücken einen Strauch spürte und beobachtete wie er herumzappelte. Hilflos stolperte der Fremde und fiel wie ein Sack Kartoffeln einfach um, wo er regungslos liegen blieb. Vorsichtig streckte Lian den Fuß aus und berührte seinen Körper, der schlaff auf der Erde lag. Der Fremde gab lediglich ein Brummen von sich.
„Wer sind Sie?“, fragte sie und griff zögernd nach dem unteren Ende der Skimaske. Sie zog die Maske hoch und entblößte ein Gesicht, das ihr seltsam vertraut war. Der Klebestreifen über dem Mund des Mannes erklärte, weshalb er bisher noch kein Wort gesagt und bloß undefinierbare Laute von sich gegeben hatte. „Was soll der Mist?“, rief sie entnervt und seine braunen Augen richteten sich auf sie. Hilfreich deutete er mit einer Kopfbewegung auf den gefalteten Zettel in seiner Westentasche. Sie zog ihn heraus und las laut: „Auf ein Päckchen aus GB lässt es sich manchmal viel zu lange warten. Grüße vom Millionaires Club.“ Augenrollend fasste sie nach einer Ecke des Klebestreifens, sah, wie seine Augen sich vor Panik weiteten, und riss ungerührt daran.
Diesmal erklang ein weiterer Schmerzenslaut, so laut, dass sicher gleich das Sicherheitspersonal, Silvia und ihr Vater herausgerannt kamen. „Willst du mich umbringen, Schätzchen?“, ertönte seine Stimme mit einem unverkennbaren britischen Akzent.
„Und Sie? Wollen Sie, dass ich einen Herzinfarkt bekomme?“, schrie sie darauf los.
„In deinem zarten Alter doch wohl nicht, Süße.“ Dem Akzent nach zu urteilen, dem Äußeren, das sie von Fotos bereits kannte, und der Verbindung zum Millionaires Club, konnte das nur eins bedeuten: Adam Hadley war zurück. Auf einem Foto hatte er zwar einen Hut und eine Lederhose getragen, während er einen Maßkrug in der Hand hielt und mit Silvia um die Wette lächelte, aber auch ohne diese Verkleidung war er deutlich wiederzuerkennen.
Er richtete sich auf und schwankte einige Male nach rechts und nach links, als drohe er wieder wie ein Kegel umzukippen. Er lächelte sie hinreißend an. „Schade, zu meiner Zeit hat meine Mum nie so heiße Hausmädchen wie dich eingestellt.“ Mit den dunklen, kinnlangen Haaren, der gebräunten Haut und den schokobraunen Augen konnte er die spanischen Wurzeln seiner Mutter nicht leugnen und in Kombination mit seiner lässigen Eleganz, die er trotz der wilden Partynacht nicht verloren hatte, fühlte sich Lian sofort zu ihm hingezogen, was sie vehement abstreiten würde, sollte sie jemand danach fragen.
Stattdessen stemmte sie die Hände in die Hüften und funkelte ihn zornig an. „Hausmädchen?“, echote sie ungläubig. „Kein Wunder – sie wollte sicher nicht wegen sexueller Belästigung verklagt werden, wenn Sie jede Frau so anglotzen.“
„Nur die besonderen, die mit Feuer im Arsch, Schätzchen.“ Unschuldig zuckte er mit den Schultern. „Hey, ich bin kein Mönch, oder?“
„Soll mich das jetzt beeindrucken?“
Er schüttelte fassungslos den Kopf, als plötzlich einer der Sicherheitsleute von hinten angerannt kam, ihn grob am Arm packte und sein Gesicht auf den Rasen drückte. „Hey“, protestierte er. „Was soll das, du Eierfrucht?“, empörte er sich und Lian genoss die Genugtuung, die seine Position mit sich brachte.
„Hat er Ihnen was getan, Miss Webber?“
„Miss Webber?“, echote Adam mit gedämpfter Stimme, die sich gleich darauf an den Mann über ihm wandte. „Nicht so fest, oder hattest du heute noch kein Frühstück? Vielleicht isst du besser gleich ein Snickers.“
Lian lächelte zuckersüß und verschränkte die schmalen Arme vor der Brust. „Mhm, bevor du vorschnell urteilst, solltest du dich besser informieren, Adam Hadley.“
„Sind Sie wirklich in Ordnung, Miss?“
„Danke, Alexander, mir geht es gut. Ich wurde nur überrascht von diesem Rüpel.“ Ihr Zorn über seine herablassende Art war noch nicht verraucht.
Adam machte ein missmutiges Gesicht. „Der Einzige, der hier verletzt wurde, bin ich.“
„Wer sich unbefugt Zutritt zu meinem Anwesen verschafft, kann mit nichts anderem rechnen“, erklang die Stimme ihres Vaters und der schrille Ausruf von Silvia folgte auf dem Fuße.
„Adam!“ Sie rannte auf ihn zu und schubste den Sicherheitsbeamten mit einer lächerlich sanften Bewegung fort, sodass er sofort von dem vermeintlichen Eindringling abließ. „Er ist mein Sohn!“ Adam richtete sich nun langsam auf und versank sogleich in eine Umarmung seiner Mutter. „Adam, was tust du nur wieder? Versetzt uns allen einen solchen Schrecken und gerade die arme Lian hast du offenbar ganz schön erwischt.“
„Ich versichere dir, Mutter, sie hat eher mich drangekriegt.“ Adam warf ihr einen Blick zu, der ihr durch Mark und Bein ging, aber den sie keinesfalls deuten konnte.
„Das sollte dir vermutlich zu denken geben. Vielleicht bittest du sie um Nachhilfe?“ Silvia lächelte glücklich und legte einen Arm um Lian. „Dieses Mädchen gehört zur Familie, junger Mann. Sie ist deine zukünftige Stiefschwester.“
Mit großen Augen blickte Adam zuerst Lian an, dann seine Mutter und schließlich den brummigen Mann neben ihr. „Meine … Stiefschwester? Heilige Scheiße! So weit habe ich noch nicht gedacht“, entfuhr es ihm.
„Und wieso?“ Natürlich kannte sie den Grund. Sie war hawaiianischer Abstammung und ihr Vater so amerikanisch, wie man nur sein konnte. Dennoch ärgerte es sie jedes Mal aufs Neue. Sie hatte die Mandelaugen ihrer Mutter geerbt, ebenso wie ihre überaus grazile und wohlgeformte Gestalt, für die sie kein straffes Sportprogramm aufrechterhalten musste.
„Die Familienähnlichkeit ist nicht gerade frappierend, oder?“ Er schnitt eine Grimasse, die herablassend und völlig unbeeindruckt schien. „Und was meinen Auftritt angeht …“ Er räusperte sich. „Knox, Mason, Lee und die Jungs haben sich einen dummen Scherz zu meiner Rückkehr erlaubt.“
„Bei solchen Freunden braucht man keine Feinde mehr, was?“, merkte ihr Vater an und strich über seine Halbglatze.
Schließlich tastete Adam seine Taschen ab, griff in seine Westentasche und holte allerlei Sachen heraus, von denen eins verwunderlicher als das andere war. Das Seltsamste war wohl der Federkiel, den er in der Hand hielt. „Ach, Mutter – das ist von Dad! Soll ich dir zur Hochzeit überreichen.“ Seine Mutter packte den Umschlag aus und ihr fiel ein Schwangerschaftstest in die Hand. Alle starrten verwundert auf den Gegenstand.
„Was will Dad dir denn damit bloß sagen?“, fragte Adam erstaunt und breit grinsend, ehe sein Lächeln erstarb und er die Augen geschockt aufriss. „Du willst mir doch nicht etwa erzählen, dass du bei eurer ersten Ehe keine Jungfrau warst, oder?“
„Sehr witzig. Wirklich unglaublich komisch, Adam Hadley.“ Sie rollte mit den Augen und steckte den beiliegenden Zettel ungeöffnet in ihre Hosentasche. „Ich fand den Humor deines Vaters immer schon gewöhnungsbedürftig.“
Er griff sich theatralisch ans Herz. „Ich bin schockiert, Mutter. Bin ich etwa nicht in eurer Hochzeitsnacht gezeugt worden? Ich dachte, ich wäre nur zu früh geboren.“
„Mit fast vier Kilo warst du sicher keine Frühgeburt“, antwortete sie. „Und glaube mir, ich erinnere mich an jedes Gramm, das du gewogen hast. Schon damals hattest du einen seltsamen Sinn für Humor.“
„Den ich wohl von meinem Vater geerbt haben muss.“ Er zuckte mit den Achseln. „Immerhin fand Dad offenbar, du solltest vor dem großen Tag ganz sicher sein.“ Trotz dieser Unverschämtheit hatte Adam ein einnehmendes Wesen. Das musste Lian ihm lassen.
Das dunkelrot angelaufene Gesicht ihres Vaters schien vom zukünftigen Stiefsohn allerdings nicht sonderlich verzückt zu sein. Er stand kurz vor einem Wutanfall und sofort machte Lian sich Sorgen um sein angegriffenes Herz. „Welche Unverschämtheit … solch eine Show … ich … entschuldige, Silvia, ich werde mich zurückziehen, bevor ich Dinge sage, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können.“
Silvia nickte verständnisvoll und berührte den Arm ihres Zukünftigen, der ihnen den Rücken zuwandte und zurück zum Haus ging.
„Wo ist eigentlich dein Gepäck?“, fragte Silvia Adam, der demonstrativ gähnte.
„Ich fürchte, ich erinnere mich nicht mehr“, gab er zu. „Vielleicht komm ich nach einer Mütze Schlaf wieder drauf. Der Jetlag schafft mich.“
„Der Jetlag?“, fragte Lian ironisch, während Silvia seufzend den Kopf schüttelte.
„Lian ist sicher so nett und zeigt dir dein Zimmer. Ach, und Adam, ich bitte dich, keine weiteren deiner Mätzchen. Ich werde schließlich bald heiraten.“ Silvia eilte ihrem Zukünftigen durch die liebevoll arrangierte Rosengasse hinterher. „Greg, Liebling, lass uns doch ein Stück Kuchen probieren, um uns endlich für eine Hochzeitstorte zu entscheiden.“ Lian lächelte über Silvias Versuch, ihren Vater milde zu stimmen. Mit Süßigkeiten schaffte man es eigentlich immer.
„Großartig“, murmelte Adam und Lian blickte ihn forschend an. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, einen Blick auf sein wahres Wesen werfen zu können. Es war als quälte ihn etwas. Der Moment zerplatzte förmlich wie eine Seifenblase und Adam ruinierte den Anflug von Verständnis für ihn, indem er sagte: „Nun sag mir, wie komme ich am schnellsten in dein Bett, Schwesterherz?“
ADAM
Die Abendsonne schien gnadenlos in sein Gesicht, als wolle sie ihn herausfordern, und Adam streckte sich genüsslich in den weichen Laken seines Kingsize-Bettes im Gästezimmer der Villa Webber. Nur langsam kamen ihm die Umstände seines morgendlichen Auftritts in Erinnerung und er stöhnte. Kaum war er zurück in New York und schon erfüllte er jegliches Klischee, das von ihm erwartet wurde. Er grinste belustigt, als er an seinen Abend mit den Jungs zurückdachte. Knox, Ash, Mason, Lee und sogar Finn hatte er tatsächlich sehr vermisst. Die Aktionen, die sie gemeinsam starteten, versprachen allesamt Spaß, Ausgelassenheit und Mädchen. Viele Mädchen. Mittlerweile schien zumindest Finn an die Leine genommen worden zu sein und Ashton trieb es ebenfalls nie zu weit, da er doch mit dem wunderschönen Model Ivy zusammen war. Für Adam war das Zurückkommen in die Staaten eine Reise zu seinem alten Ich gewesen. So schön die Zeit mit seinen Jungs vom Millionaires Club auch war, er hatte andere Ziele. Eines davon war, seine Mutter vor dem fünften riesigen Fehler abzuhalten. Als sie ihm vor ein paar Monaten von ihrer Verlobung mit Greg Webber erzählt hatte, war Adam noch entspannt geblieben, weil eine Verlobung seiner Mutter nicht selten war und in den meisten Fällen wieder gelöst wurde, bevor es zur Trauung kommen konnte. Doch vor drei Wochen kam dann die Einladung zur Hochzeit und Adam erkannte, dass er eingreifen musste. Seine Mutter Silvia war Zeit seines Lebens bestenfalls labil gewesen, was nicht zuletzt an der Ehe mit seinem Vater gelegen hatte. Die Erwartungshaltung dieses Mannes war erdrückend, selbst für ihn, dem jegliche Kritik an seiner Person am Arsch vorbeiging. Später hatte sich dann herausgestellt, dass seine Mutter die Erwartungen von Sean nie hätte erfüllen können, und so hatten ihr seine Anfeindungen ordentlich zugesetzt, sodass jedes Selbstvertrauen im Keim erstickt worden war. Dabei war seine Mutter keinesfalls ein schlechter Mensch. Gut, sie wirkte etwas exzentrisch und selbstbezogen, aber sie wünschte sich bloß eine harmonische Familie für sich und seinen kleinen Bruder Cal, weswegen sie ständig auf der Suche nach einem Ehemann war. Silvia war selbst im reifen Alter von fünfundvierzig Jahren eine Augenweide und zog ledige Vollidioten an wie das Licht die Motten, die dann in der Regel nicht weniger lästig waren. Silvia hatte bereits vier unglückliche Ehen, unzählige Partner und Verlobungen hinter sich und war immer noch so naiv zu glauben, dass sich an Nummer fünf etwas ändern konnte. Adam konnte es egal sein, ob sie eine erneute Scheidung durchlebte und sich in irgendein beliebiges Sanatorium einweisen ließ, um ihren Liebeskummer zu überwinden. Doch sein kleiner Halbbruder Cal, aus ihrer letzten Ehe entsprungen, war gerade zehn Jahre alt. Sie hatten nur selten Kontakt gehabt, und doch vergötterte Cal ihn aus der Ferne. Adam wusste nur zu genau, wie das Leben mit einer wankelmütigen und unselbstständigen Mutter sein konnte. Er konnte unmöglich seinen kleinen Bruder in das gleiche Verderben stürzen lassen, das er auch gezwungen war zu überwinden. Das Leben war kompromisslos und unnachsichtig mit Jungs wie ihnen. Das hatte er selbst auf die harte Tour lernen müssen und bis zum heutigen Tage nicht hinter sich lassen können.
Es klopfte und als hätte er in seinen Gedanken nach Cal gerufen, schob sich ein dunkler Schopf durch den Spalt der Tür. „Du bist endlich wach!“, rief sein kleiner Bruder erfreut und stürzte auf ihn zu. Lachend landete er auf Adam und schlang seine dünnen Ärmchen um dessen Hals.
„Wow, du bist ja riesig geworden, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe“, staunte Adam, während Cal sich auf ihn setzte. „Uff, und schwer!“, fügte er lachend hinzu, als er begann, den Jüngeren durchzukitzeln.
„Alles reine Muskelmasse“, betonte Cal und grinste. Je älter er wurde, umso mehr ähnelte Cal seinem Vater Louis Shelton, den er nie würde kennenlernen können, weil er bei einem Motorradunfall kurz nach Cals Geburt ums Leben gekommen war. „Ich trainiere jeden Tag, wie du gesagt hast.“ Ein wehmütiges Lächeln erschien auf Adams Gesicht. Er hatte Louis als einzigen seiner zahllosen Stiefväter gemocht und in ihm ein Vorbild gefunden, das ihm seit dem Umzug seines Vaters nach England hier gefehlt hatte. Louis Sheltons Tod hatte ihm den Boden unter den Füßen fortgezogen und die übliche Art seiner Mutter, innerhalb weniger Monate einen neuen Freund in die Familie zu bringen, hatte eine tiefe Schlucht zwischen sie beide gerissen. Adam hatte einfach nicht verstehen können, wie seine Mutter über den Tod ihres Mannes und des Vaters ihres neugeborenen Sohnes einfach so in kürzester Zeit hinwegkommen konnte. Wenn er ehrlich zu sich war, verstand er es bis heute nicht. Nun wollte Silvia erneut heiraten und auch, wenn es Adam mittlerweile egal sein sollte, was sie trieb, wünschte er sich für seinen Bruder etwas Besseres. Adam hob Cal von sich und stand mit ihm auf.
Um die trüben Gedanken fortzujagen, schüttelte er den Kopf und konzentrierte sich auf Cal. „Tatsächlich? Lass mal deinen Bizeps sehen.“ Stolz präsentierte sein Bruder ihm seine Armmuskeln und Adam nickte anerkennend. „Wow, das nenn ich ordentlich. Gut gemacht, Kleiner! Was ist denn mit deiner Deckung?“, rief er und deutete eine typische Boxhaltung mit den Händen an. Sein Bruder war ein hyperaktiver Kerl, der, genau wie er selbst, seine unterdrückte Wut irgendwo abbauen musste. Damit Cal nicht die gleichen Dummheiten anstellte, bezahlte Adam ihm sein Boxtraining. Etwas, das ihn sicher auch vor einigen Fehlern bewahrt hätte, wenn er es früher bekommen hätte.
„Es gibt in einer Stunde Abendessen, Adam. Ich soll dich holen kommen.“
Verdutzt sah Adam auf seiner Rolex nach und staunte nicht schlecht. Er hatte beinahe den gesamten Tag verschlafen. Das machte ihn sicher sehr beliebt bei seinem zukünftigen Stiefvater. „Dann bleibt mir ja noch ein bisschen Zeit für eine kleine Trainingseinheit. Sag mal, gibt es hier einen Fitnessraum?“
Cals Augen begannen zu strahlen, als er nickte. „Darf ich mitkommen?“
Adam hob die Brauen. „Hast du denn all deine Hausaufgaben gemacht? Morgen ist doch Schule, oder?“ Ernüchternd zog Cal eine Schnute, woraufhin Adam amüsiert lachte. „Dachte ich es mir doch. Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen. Denk daran.“ Maulig stampfte Cal zur offen stehenden Tür und Adam rief ihm nach: „Wenn du dich beeilst, dann zocken wir nachher was auf der Konsole, was meinst du?“
LIAN
Lian war mit ihren Gedanken ganz woanders, als sie nach einem ganz typischen Arbeitstag in der Firma ihres Vaters, bei dem sie weiträumig von den Kollegen ausgegrenzt und von der direkten Konkurrenz nicht ernst genommen wurde, nach Hause kam. Die Tochter des Chefs zu sein, war kaum Segen und Fluch in einem. In den letzten Monaten war es ihr immer nur wie ein Fluch vorgekommen. Eine Zeit lang hatte sie geglaubt, dass es an ihr lag, weil sie womöglich nicht nett genug war oder ihre Sympathiepunkte verschenkt hatte. Die Wahrheit war aber, dass man sie ausgrenzte, weil sie als Tochter des Chefs quasi mit dem Feind verkehrte und eine Gefahr darstellte. Andererseits wurde man nicht für voll genommen, weil jeder glaubte, ihre Anstellung hätte bloß etwas mit ihrer Familienbeziehung und nicht mit ihrem Können zu tun. In diesem Fall war es natürlich vollkommen ausgeschlossen, dass man dafür qualifiziert und deswegen den Posten verdient hatte, sondern es zählte nur das Vitamin B. An manchen Tagen machte dieses Verhalten Lian bloß müde und traurig, an Tagen wie heute brachte es ihr Temperament zum Kochen.
Mensch, was war sie sauer. Sie hasste Diskriminierung aller Art, aber der neueste Klatsch und Tratsch brachte das Fass zum Überlaufen. Laut ihrer geschätzten Kollegen war es natürlich so, dass Lians Anbändeln mit Matthew bloß einer Firmenverbindung zugrunde lag. Es hatte nichts mit ehrlichem Interesse und Liebe zu tun. Man befand sich natürlich noch im Mittelalter oder bei Game of Thrones, wo Frauen an den Höchstbietenden verschachert wurden. Ganz so weit hergeholt war dieser Gedanke zwar nicht, wie sie sich eingestehen musste, dennoch war sie wütend darüber, dass es jeder gleich annahm. Sie wusste, ihr Vater wäre verzückt, wenn das eine mit dem anderen harmonierte. Sie wusste noch nicht, wie sie ihrem Vater diesen Zahn ziehen sollte, denn Matts Interesse galt bloß den kürzesten Röcken und nicht ihr. Außerdem musste sie sich etwas einfallen lassen, um in der Firma endlich Fuß zu fassen. Entgegen der landläufigen Meinung war sie nämlich durchaus qualifiziert. Zudem lag ihr das Thema Marketing besonders. Sie kannte sich mit den modernen Apps und den Social-Media-Kanälen besonders gut aus und war mit den neuesten Trends vertraut. Lian war wie geschaffen dafür, Werbestrategien für die jüngere Generation zu planen, um sie für Webber-Food zu begeistern.
Das Unternehmen ihres Vaters war eines der größten sechs Firmen, die sich der Entwicklung neuester Diätprodukte zuwendeten. Zudem produzierten sie mittlerweile Nahrungsergänzungsmittel, hinter denen Lian selbst nicht stand, doch in Zeiten, wo die Bevölkerung sich nur eine Pille wünschte, um Probleme zu beheben, war es eine sehr gewinnbringende Weiterentwicklung. Um sich von diesem Tag zu erholen, tat sie nun das, was sie am besten konnte und was sie entspannte: Sie kochte.
Es war geradezu zu einer Tradition geworden, dass Lian das Abendessen kochte, während sie Cal bei den Hausaufgaben half. Auch an diesem Tag befanden sich beide in der Küche und während sie das Essen zubereitete, war Cal dabei, seine Bücher aufzuschlagen. Nachdem Lians Mutter gestorben war, hatte sich vorzugsweise Maria, ihre geliebte Nanny, um sie gekümmert, denn damals war sie gerade einmal neun Jahre alt gewesen. Maria hatte ihr jedes ihrer Rezepte beigebracht, bis Lian sie alle verinnerlicht hatte. Der Tag, an dem ihre Nanny ausgezogen war, weil Lian keine Fürsorge mehr brauchte, war traurig und wunderbar zugleich gewesen. Nun verbrachte Maria ihre Zeit wieder in Sao Paulo bei ihrer Familie und ihren eigenen Enkelkindern. Sie schickten sich regelmäßig Briefe und Fotos und es war schön, zu sehen, dass es Maria
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 16.05.2022
ISBN: 978-3-7554-1390-5
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