HERZKLOPFEN IN CORNWALL
CARHILL SISTERS SAMMELBAND
LIV KEEN
INHALT
Vorwort
Bonusstory - Wie alles begann …
Choose Life: Emily & Jake
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Epilog
Danksagung
Choose Kisses: Lucy & Darrell
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Epilog
Danksagung
Choose Passion: Mary & Jamie
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Epilog
Danksagung
Choose Love: Amy & Sam
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Epilog
Nachwort
Danksagung
Über die Autorin
Bücher von Liv Keen
VORWORT
Liebe Leserin, lieber Leser,
vielen Dank dafür, dass du dich entschieden hast, eins meiner Bücher zu kaufen. Bei diesem Buch handelt es sich um einen Sammelband von bereits einzeln veröffentlichten Büchern der Carhill Sisters Reihe:
Choose Life: Emily & Jake
Choose Kisses: Lucy & Darrell
Choose Passion: Mary & Jamie
Choose Love: Amy & Sam
Falls du diese Bücher bereits besitzt, kannst du dieses Buch bei Amazon zurückgeben und den vollen Verkaufspreis zurückerhalten. Ansonsten wünsche ich dir unheimlich viel Spaß mit den den verrückten Carhills.
Alles Liebe
Deine Liv
BONUSSTORY - WIE ALLES BEGANN …
Die Straßen in Jarbor Hydes waren um diese Zeit wie leergefegt und das Klackern von Marys Absätzen hallte in der Straße wieder. Lucy warf ihr einen entnervten Blick zu und fragte: „Wie schaffst du es nur, auf diesen Dingern zu laufen und das zu dieser Uhrzeit?“
„Ich werde nicht mit dir über Mode streiten“, entgegnete Mary und Luke seufzte theatralisch hinter ihnen.
„Wofür musst du jetzt modisch gekleidet sein? Es ist mitten in der Nacht und hier ist keine Menschenseele zu sehen …“ Lucy sah bedeutungsschwer die Straße entlang.
Es war Luke, der sich einmischte und fragte: „Was habt ihr Dad besorgt? Von mir gibt es eine alte Schallplatte von dem guten alten Elvis.“
„Wow gut!“ Anerkennend lächelte Lucy, die ihre Arme vor der Brust verschränkt hatte.
Mary lächelte und sah auf ihr eigenes Geschenk. „Von mir gibt es etwas Praktisches.“
„Sag mir bitte nicht, dass du Dad ein Haushaltsgerät gekauft hast!“, entfuhr es Lucy und sie blickte entsetzt zu ihrer Zwillingsschwester Mary zurück, die mit ihren hochhackigen Schuhen ihr Tempo kaum halten konnte.
„Wieso nicht? Es soll ihn bloß ermuntern, sich gesünder zu ernähren.“ Lucy stieß einen verächtlichen Ton aus und bremste abrupt ab, als sie vor der Tür ihres Elternhauses ankamen.
„Kommt schon Mädels! Geht das schon wieder los?“, murmelte Emily, die bereits auf sie an der Tür gewartet hatte, und Lucy einen strengen Blick zuwarf. „Wo steckt Luke?“ Da trat er hinter seine Schwestern und stöhnte: „Frag besser nicht! Das geht schon den ganzen Weg so. Ich halte extra zwei Meter Abstand zu den Wahnsinnigen.“
„Darf man jetzt nicht mal diskutieren?“ Kopfschüttelnd lief Lucy hinein.
Ein einstimmiges Nein ertönte und Collin tauchte grinsend hinter der Tür auf. „Alles gut, Luke?“, fragte er und reichte seinem besten Kumpel die Faust, gegen die Luke sofort seine legte.
„Bis auf meine irren Schwestern …“ Sie betraten den Flur und Collin sah ihnen belustigt nach.
„Alles wie immer also…“ Er trug bloß eine Jogginghose und ein Batman Shirt mit Pantoffeln, die Robert Carhill gehören könnten. Luke warf einen amüsierten Blick auf seine Aufmachung. „Was?“, rief er entrüstet. „Ich wohne hier und komme gerade aus dem Bett. Hättest du dich für den Weg nach unten etwa extra feingemacht?“
„Das Einzige, wofür ein Haushaltsgerät bei unserem Dad führt, ist, dass der Abstellraum voller wird“, setzte Lucy ihre Argumentation fort und sorgte dafür, dass sie Luke und Collin ihre eigene vergaßen.
„Du beschwerst dich doch immer, dass er sich nicht gesund genug ernährt! Wenn wir ihn nie dazu animieren, dann wird sich daran auch nichts ändern.“ Mary schnaubte.
Emily rollte mit den Augen, während Luke seine Stirn gegen Collins Oberarm lehnte und stöhnte.
Lucy äffte ihre Stimme nach und fügte hinzu: „Jetzt mal ehrlich, hast du Dad je etwas anderes essen sehen, was nicht aus einer Pappschachtel vom Imbiss oder der Pizzeria stammte?“
„Was schenkst du ihm also?“, warf Mary ein. „Einen Gutschein vom Schnell-Imbiss?“
Lucy grinste. „Nö, von mir gibt’s eine singende Krawatte.“
„Eine was?“, hakte Collin nach und verschränkte seine Hand mit Emilys.
„Eine bunte Krawatte, die Happy Birthday singt.“
„Dad hasst Krawatten“, erinnerte Luke sie kopfschüttelnd.
„Darum geht’s doch! Wer will schon eine Krawatte anziehen, die optisch ein nervöses Augenzucken auslöst und auch noch dazu schief Happy Birthday singt?“
„Warum verschenkst du überhaupt etwas, das völlig unnütz ist?“
„Seid Dad mir zum fünfundzwanzigsten Geburtstag ein pinkfarbenes Lasso geschenkt hat, das am Ende sogar blinkt. Er ist ein hoffnungsloser Fall im Geschenke aussuchen.“
„Das erklärt einfach alles. Der Apfel fällt also nicht so weit vom Stamm.“
„Ihr seid schrecklich unwitzig“, empörte sich Lucy und Collin schlang einen Arm um die Schulter seiner Schwägerin.
„Sie sind nur neidisch, weil ihr etwas Besonderes daraus macht. Ich finde es cool.“
Emily warf ihrem Mann einen bösen Blick zu. »Was? Er freut sich sicher über dein Bild, Schatz. Da bin ich sicher!“
Ungläubig schüttelte sie ihren Kopf. „Verbrüdere dich nur mit ihr. Dann schenkt sie mir zum Geburtstag einen Gartenzwerg, den ich bemalen muss. Ich werde allerdings lachen, wenn sie dir ein Polizei-Spielzeugauto schenkt.“
Lucy hob einen Finger und Emily stöhnte. „Das ist mal eine Idee!“
„Wer hat den Kuchen?“, fragte Lucy und sah Mary an.
„Was? Sieh mich nicht so an. Ich bin vielleicht die Konditorin, aber wurde deswegen vereinbart, dass ich immer dafür sorgen muss.“
„Ich habe den Kuchen!“, antwortete Luke und grinste frech.
„Lass mal sehen!“ Ein Stöhnen ging durch den Raum, als sie die schlechtgeformte Penistorte betrachteten. »Was denn? Mein neuer …“
„Lass mich raten, dein neuer Typ ist Konditor, oder? Er fand es witzig, deinem Vater einen Penis zu formen?“, schlussfolgerte Lucy und Collin hielt sich den Bauch vor Lachen.
„Nicht ganz. Er wusste nicht, dass ich ihn für Dad brauche.“
„Falls du ihn Dad jemals vorstellst, tue dir selbst einen Gefallen und erwähne das nicht“, riet Mary und tauschte einen Blick mit Emily.
„Können wir dann jetzt endlich reingehen?“, fragte diese. »Einen anderen Kuchen bekommen wir jetzt nicht mehr. Also Augen zu und durch!« Emily schloss die Tür mit dem bunten Fensterglas im Rahmen auf und sie schlichen auf leisen Sohlen durch das Wohnzimmer. „Psst!“, machte Emily und blieb vor der Tür stehen. Collin zündete das Feuerzeug an und entfachte ein paar Kerzen auf der Torte. Sie öffnete schwungvoll die Tür zum Schlafzimmer, wo alles dunkel war, doch ehe sie etwas sagen konnte, ertönte die tiefe Stimme ihres Vaters: „Ach ihr seid’s bloß. Ich dachte schon es wäre eine Herde Elefanten, die durch mein Wohnzimmer jagt.“
„Happy Birthday!“, riefen sie im Chor und Robert machte die Nachttischlampe an und grinste von einem Ohr zum anderen.
„Wie gut, dass ich euch Verrückten am Schritt erkenne, sonst würde ich euch vermutlich mit einem Baseballschläger verdreschen, aus Angst vor Einbrechern.“
„Aber unsere Tortennächte haben doch schon Tradition!“, empörte sich Mary.
„Ja, Darling, warum ich damit angefangen habe, weiß ich auch nicht mehr.“ Er lächelte und streckte den Arm nach seiner Tochter aus.
„Ich aber! Du hast gesagt, dass jeder nur einen einzigen Tag im Jahr für sich allein hat und das dieser Tag um null Uhr eins beginnt. Man sollte keinen Moment davon verpassen“, erwiderte Emily und kam auf ihn zu, um ihn zu umarmen. Sie platzierte ein Geschenk auf seiner Bettdecke und machte Platz für Mary, die ihn auf die Wange küsste und auf die freie Bettseite kletterte, wie sie es jeden Tag tat. Lucy umarmte ihn und legte ihr Päckchen hinzu. Collin reichte Robert eine Hand und ließ sich rau an seine Brust ziehen. Zum Schluss trat Luke zu ihm und überreichte ihm den Kuchen. „Alles Gute Dad!“ Er betrachtete die Torte von allen Seiten und hob fragend eine Braue: „Will ich wirklich wissen, wie es dazu kam?“
„Besser nicht!“, lachte Collin und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ich liebe diese Familie“, murmelte er, als er sich etwas beruhigt hatte und spürte Emilys Hand auf seiner Schulter, die ihn liebevoll streichelte.
Alle seine Kinder machten es sich gemütlich, bis auf Emily, die in der Küche Teller und Kuchengabeln suchte, die sie anschließend an alle verteilte. Robert blickte jedem von ihnen ins Gesicht und seufzte. „Und Amy?“
Bedrückt presste Mary die Lippen aufeinander. „Sie … schafft es nicht. Sie kommt aber morgen bestimmt.“
„Nein, wird sie nicht.“ Der Ausdruck in den Augen ihres Vaters flackerte einen Augenblick und sie glaubten schon Traurigkeit darin zu sehen, als es vorüber war. Vielleicht war es auch nur der Kerzenschein gewesen. „Dann werde ich sie mal auspusten, was?“
„Aber wünsch dir diesmal was für dich selber, Dad: Ich weiß, dass du dir jedes Mal was für einen von uns bittest.“
„Natürlich nicht!“ Er lachte, bevor er wieder ernst wurde. „Ich weiß, ich darf nicht rührselig werden, aber … ich wünsche mir jedes Jahr nur dasselbe, und zwar, dass ich im kommenden Jahr diesen Tag mit all meinen sechs“ Er hielt inne und betrachtete Collin liebevoll. „Kindern verbringen kann. Denn ich liebe euch und ihr seid mir das Wichtigste. Ich werde einen Teufel tun und mir etwas anderes wünschen. Obwohl … ein Meisterschaftssieg für die Preston North End‘s hätte auch mal was für sich!“, grinste er. „Ich wünsche mir bloß, dass ihr gesund und glücklich seid. Das ist alles und jetzt wird Kuchen gegessen!“
Ein Einstimmiges Happy Birthday wurde angestimmt, bevor sie mitten in der Nacht im Bett ihres Vaters Kuchen aßen, lachten und erzählten, so wie sie es schon immer getan hatten. Emily lehnte gegen Collin, während sie Lukes Hand hielt, der über einen Witz seiner Schwester Lucy lachte. Mary saß neben ihrem Vater und hatte den Kopf auf seiner Schulter abgelegt, als Tortenreste in seinem Schnauzbart hängenblieben. In diesem Augenblick war ihr Leben perfekt.
CHOOSE LIFE: EMILY & JAKE
Für meine Oma Charlotte,
die toughste Frau, die ich kannte und der Anker in meiner Kindheit. Du fehlst mir jeden verdammten Tag.
PROLOG
JAKE
Das Gefühl, das mit jedem Herzschlag durch seine Adern raste, war unbeschreiblich. Adrenalin. Er wusste genau, was zu dieser Zeit in seinem Körper los war. Die Ausschüttung des Hormons führte dazu, dass das Blutvolumen anstieg, die Herzfrequenz sich steigerte und der Blutdruck sich erhöhte. Das Empfinden war wie eine Sucht für ihn geworden, und es war kein Geheimnis, dass er dem Hunger nach Ekstase erlegen war. Er war süchtig nach Gefahr. Es gab für ihn nur wenige Pausen zwischen einem solchen Rausch und dem nächsten Kick. Mittlerweile gierte er regelrecht nach diesem Sturm der Gefühle, nach dem Erfolg, danach, das Rennen zu gewinnen. Er liebte den Drahtseilakt seines Alltags und wollte so viel davon mitnehmen, wie er nur konnte. Jake O’Reiley war ein Mann, der Autorennen nicht einfach nur fuhr, er gewann sie, weil er immer zu hundert Prozent bereit war, sein Leben zu riskieren. Er war es gewohnt, ein Leben auf der Überholspur zu führen. Es gab keinen Grund, seine Zeit mit Belanglosigkeiten zu verschwenden, denn ihm würde nicht unendlich viel davon zur Verfügung stehen.
KAPITEL 1
EMILY
Die Dunkelheit umgab Emily wie ein dichter Trauerschleier und bewahrte sie vor den Dingen, die sie bei Licht sah: ein Stuhl, der leer blieb; eine Zahnbürste, die seit ewiger Zeit unbenutzt in einem Becher im Badezimmer stand; die Zeitung eines längst vergangenen Tages, der ihre Zukunft völlig auf den Kopf gestellt hatte; eine Bettseite, die kalt und unberührt blieb. Bilder, die aus einem anderen Leben zu stammen schienen. Es war schwer, diese Gegenstände bei Tageslicht zu ignorieren, doch dann wischten der Alltag und die anstehenden Pflichten den Kummer darüber fort, jedoch nur vorübergehend. Am Abend, wenn sie keine Ausrede mehr hatte, noch nicht nach Hause gehen zu müssen, erblickte sie im gedämpften Licht der Straßenlaterne, das durchs große Wohnzimmerfenster fiel, ihr trostloses Dasein. Ihr Leben ohne ihn. Im sanften Schein der Wohnzimmerlampe wog ihre Trauer so viel mehr. Sie war eine Last auf ihren Schultern, die sie niederdrückte und ihr kaum Luft zum Atmen ließ. Die Dunkelheit hingegen nahm ihr nicht nur die Sicht, sondern betäubte auch ihren Körper, der all die Emotionen, die wie eine Welle auf sie zurollten, nicht ertrug. Das Atmen fiel ihr dann leichter – so viel leichter. So war es auch jetzt. Sie wusste, eines Tages musste sie sich den Gefühlen und dem Leben ohne Collin stellen. Sie konnte nur hoffen, dass die unendliche Woge der Trauer sie dann nicht fortspülen würde.
Die Ruhe war in dem Moment vorbei, als es lautstark an der Tür klingelte und ein Geräusch im Schlüsselloch ertönte. Emily erstarrte und machte sich so klein wie möglich, als würde sie das vor den Blicken derer schützen, die sich gerade Zutritt zu ihrem Rückzugsort verschafften. Ein Seufzen entwich ihr, und sie schloss die Augen, als könnte sie dadurch die Welt außerhalb ihres Zuhauses weiterhin von sich fernhalten.
Die Tür wurde geöffnet, und sie lauschte dem Klacken der Absätze ihrer Schwester Mary, die sicher wieder ein Paar ihrer selbst kreierten Schuhe trug. Der dumpfe Laut schwerer Boots gehörte zu ihrer anderen Schwester, Lucy, die grundsätzlich nur praktisches Schuhwerk trug, weil es ihre Arbeit als Tierärztin um einiges erleichterte. Dann war da noch eine weitere Person, die nicht anhand ihrer Schritte zu erkennen war, sondern aufgrund der hektisch geflüsterten Worte und des Klirrens, mit dem der Schlüssel auf dem Parkettboden landete. Das folgende Kichern gehörte zu ihrem Bruder Luke, und Emily stöhnte auf, als jemand das Licht im Wohnzimmer anmachte.
„Emily?“, rief Mary laut, und ein großer Schatten schob sich über Emily. Sie öffnete ein Auge und sah in die grinsenden Gesichter ihrer Geschwister. Luke hielt eine Flasche Pernot hoch, während Lucys Haarmähne, die immer so wirkte, als hätte sie in eine Steckdose gefasst, Mary an der Nase kitzelte und sie zum Niesen brachte.
„Hey, hast du etwa unseren Vorweihnachtsabend vergessen?“, fragte Lucy entrüstet und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Habt ihr meine Nachricht etwa nicht bekommen?“, antwortete Emily mit einer Gegenfrage.
Mary hob eine Augenbraue. „Welche? Die, in der stand, dass du nicht kommen kannst, weil du arbeiten musst? Oder die, die du Luke geschickt hast, in der du was von Migräne faselst?“ Emily biss sich auf die Lippe – ertappt. Normalerweise war sie besser darin, ihre Geschwister zu täuschen – sie hatte in den letzten fünfundzwanzig Jahren schließlich reichlich Zeit zu üben gehabt. Wahrscheinlich war sie so in ihre Gedanken vertieft, dass sie nachlässig wurde. Ein Zeichen von Schwäche. Etwas, dass man in dieser Familie nicht zeigen durfte. Nicht, wenn man mit einer Art Intervention überfallen werden wollte. Ihre Familie war wie immer penetrant und aufdringlich, rechthaberisch und überschritt Grenzen – immer wieder. Dennoch … sie war auch liebevoll, hilfsbereit und selbstlos. Ohne diese Verrückten wäre Emily längst von der Welle, die sie kurz nach Collins Tod erfasst hatte, ins Meer gerissen und dort von den Massen der Trauer ertränkt worden. Einzig ihre Schwestern, ihr Bruder und nicht zuletzt ihr Dad hatten ihr eine Rettungsleine zugeworfen, an die sie sich immer noch klammerte.
„Wir dachten, wenn du nicht zu uns ins Café kommen kannst, kommen wir eben zu dir“, fügte Luke lächelnd hinzu, während er sich neben dem Sofa auf den Boden sinken ließ.
Emily stöhnte. „Ich habe abgesagt, weil ich keine Zeit habe.“
„Weil du so schwer damit beschäftigt bist, in die Dunkelheit zu starren? Wie lange machst du das schon?“ Luke sah besorgt zu ihr hinunter. Ihre Geschwister waren allesamt Nervensägen und akzeptierten ein Nein schlichtweg nicht. Niemals. Das, was ihr aber am meisten missfiel, war die unbequeme Wahrheit, die sie ihr vor Augen führten und die wie ein Stein im Schuh zwickte.
Sie legte den Arm über ihre Augen, um sie auszuschließen, und knurrte: „Haut ab! Lasst mich einfach in Ruhe.“
„Wie lange willst du noch die abgedrehte Witwe spielen? Collin ist immerhin schon seit fast zwei Jahren tot.“ Ihre Schwester Lucy war die Direkteste von ihnen und die, der jegliche Geduld fürs Feingefühl fehlte. Sie hörte, wie Mary nach Luft schnappte und Luke ein schockiertes „Lucy!“ entwich. Emily brauchte sich nicht die Mühe zu machen, die Augen zu öffnen, um zu sehen, dass ihre Geschwister sich mit wilden Gesten über ihren Kopf hinweg zu verständigen versuchten. Zu dieser Jahreszeit war Collins Abwesenheit ganz besonders schlimm für sie, aber sie hatte auch im restlichen Jahr ihren eigenen Weg, ihre Träume und Wünsche, aus den Augen verloren. Das musste sie zugeben.
„Was denn? Jetzt tut doch nicht so entsetzt! Ich sage nur das, was wir alle und das ganze Dorf längst denken. Sie führt sich wie eine verrückte …“ Im Gegensatz zu ihrer Zwillingsschwester hatte Mary eine besondere Fähigkeit: Sie konnte Menschen allein mit einem frostigen Blick aus ihren eisblauen Augen zum Schweigen bringen. So wie offenbar gerade auch Lucy, die abrupt zu sprechen aufhörte. Ihre Worte hingen dennoch unausgesprochen in der Luft. Es war Luke, der nun seine Schwestern fortscheuchte und sich auf den Rand des Sofas zu Emily quetschte. Sanft, wie es seine Art war, nahm er ihre Hand und hob den Arm von ihrem Gesicht. Sie blickte in seine Augen, die so mitfühlend und traurig aussahen, wie Emily sich fühlte. Ihr Bruder war ein schöner Mensch, und es wurde scherzhaft gemunkelt, er wäre das hübscheste Kind der Carhills. Sein Haar war dunkel und wurde durch Gel modisch in Form gebracht. Seine blauen Augen waren nicht so hell wie Marys und Lucys, aber sie wurden von unzähligen dunklen Wimpern umrahmt, sodass sie zu leuchten schienen. Emily liebte sein einnehmendes Lächeln, das seine geraden, weißen Zähne hervorblitzen ließ und seinen Charme, den er ständig verströmte, um die Menschen in seinen Bann zu ziehen. Ein Talent, das ihm in seinem Beruf als Anwalt durchaus zugutekam. Der mitleidige Ausdruck in seinen Augen wich jetzt jedoch einem besorgten.
„Emily, du weißt, du bist meine Lieblingsschwester …“
„Das sagst du zu jeder von uns, Luke. Diese Masche haben wir längst durchschaut!“, entgegnete sie barsch.
Er überhörte ihren Einwurf großzügig und fuhr fort, als hätte er sie gar nicht gehört: „Auch wenn Lucy sich vielleicht taktlos ausgedrückt hat …“
Emily unterbrach ihn bissig. „Tut sie das nicht immer?“ Sie bemerkte den trotzigen Ton in ihrer Stimme, der sie schwer an ein Kleinkind erinnerte, das nicht mitspielen durfte. Davon ließ er sich jedoch keineswegs beeindrucken.
„… hat sie recht! Du machst uns Angst. Ich weiß, Collin fehlt dir. Ich weiß das, weil ich ihn ebenfalls schrecklich vermisse, und ich war nur sein bester Freund. Dennoch, Darling, kann es so nicht weitergehen. Er würde mich verprügeln, wenn ich dich so weitermachen ließe …“
„Wie genau?“
„Na so eben!“ Er gestikulierte wild mit den Armen und brachte Emily damit zum Lachen. „Und er hatte einen harten rechten Haken.“ Er grinste, allerdings wurde sein Blick plötzlich leer, als würde er sich an längst vergessene Zeiten erinnern. Dann schien er sich zu besinnen und sagte sanft, wenn auch bestimmend: „Er will nicht, dass du dich hier vergräbst.“
Seine Sanftheit nervte sie auf einmal entsetzlich, wie ein Splitter in der Fingerkuppe. Sie war doch kein trotziges Kind, das mit klaren Worten nicht fertig wurde. Deswegen rief sie: „Du weißt nicht, was er wollen würde, weil er tot ist! Er ist nicht hier, um dich zu verprügeln oder dich anzuspornen, dich um mich zu kümmern, weil er verdammt noch mal tot ist. Keiner weiß, wie ich mich fühle, gerade jetzt …“
Luke zuckte bei ihrem Ausbruch zusammen und richtete sich auf. „Ja, er ist tot, und du hast mit allem recht. Ich bin in erster Linie hier, weil du meine Schwester bist und ich dich liebe. Ich will nicht, dass du uns ausschließt, weil du aus diesem Loch, indem du um ihn trauerst, nicht mehr alleine rauskommst. Du täuschst dich, wenn du glaubst, dass ich nicht weiß, wie du dich fühlst. Er fehlt mir entsetzlich …“
Es waren nicht seine Worte, die Schuldgefühle in Emily weckten. Es war seine Miene, die sie umstimmte. Sie wusste, dass sie unfair war. Luke und Collin waren seit der ersten Klasse eng befreundet gewesen. Zuerst hatte es ihre Freundschaft gegeben, lange bevor Collin und sie ein Paar geworden waren. Collin war als Kind der Schwächere von beiden, und dank seiner alkoholkranken Mutter hatte er in ihrem kleinen Ort keinen besonders guten Ruf gehabt, sodass Luke ihn vor ihren Mitschülern verteidigt und beschützt hatte. Später, nach Lukes Outing, hatte Collin die eine oder andere Auseinandersetzung für ihn ausgefochten, weil er damals im Gegensatz zu seinem Freund die Kraft dazu besessen hatte. Er hatte immer zu Luke gestanden und so manche Gerüchte und Witzeleien über sich ergehen lassen müssen, weil man darüber tratschte, dass die beiden vielleicht sogar mehr als das waren. Das war ein Grund gewesen, warum Emily sich in ihn verliebt hatte. Das und die Tatsache, dass er auch irgendwann ihr bester Freund geworden war und fast schon zur Familie gehört hatte. Alles war so leicht mit ihm gewesen. So mühelos, beinahe wie atmen. Es war nur natürlich gewesen, dass sie nach ihrer Zeit am College und seiner Ausbildung zum Polizisten geheiratet hatten. Getreu dem Motto „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich noch was Besseres findet“ hatten sie sich umgesehen und festgestellt, dass nur sie beide zueinander passten. Collin hatte sich immer als waschechter „Carhill“ gefühlt und deswegen bei der Hochzeit Emilys Nachnamen angenommen, um seine problematischen Familienverhältnisse endlich ganz hinter sich zu lassen. Sie waren wie ein Mechanismus gewesen, - ein Rädchen, das perfekt ins andere passte -, und ohne den anderen nicht funktionierte. Nun war Collin unwiederbringlich fort, und Emily war kaputt. Zerstört. Irreparabel. Sie lief nicht ohne ihn. Unter diesen Umständen gab es für sie keine Aussicht auf Besserung. Das wollte aber niemand außer ihr einsehen.
In dieser Situation war jedoch Diplomatie gefragt. Ihre Geschwister würden es niemals akzeptieren, dass sie sich weiter hängen ließ. Nun hatte sie also zwei Möglichkeiten: Sie konnte sich bockig verhalten und eine Intervention ihrer Familie herbeiführen … Ihre Schwestern tuschelten bereits heftig in der Küche. Oder – und es fiel ihr schwer, sich gänzlich auf dieses Oder einzulassen – sie würde sich aufraffen und den Abend über sich ergehen lassen, damit sie sich anschließend ganz ihrer Verzweiflung hingeben konnte. Sie entschied sich für Letzteres.
„Okay“, murmelte sie, stand auf, ging ins Bad und zog sich ein frisches Shirt an, auf dem „Peace Not War“ stand.
Als sie in die Küche trat und ihre Geschwister bereits mit einem Glas Wein in der Hand dastehen sah, zwang sie sich zu einem Lächeln.
„Ich finde diese Einstellung sehr löblich.“ Mary deutete auf ihr T-Shirt. „Lucy war schon richtig zickig und drauf und dran, Dads Schrotflinte hinauf zu holen, und dich damit schlicht aus dem Haus zu jagen.“
„Warum ist eine Frau immer gleich zickig, wenn sie eine Meinung hat und diese auch vertritt?“, herrschte Lucy ihre Zwillingsschwester an.
Mary rollte demonstrativ mit den Augen. „Na, weil du immer sofort so schnippisch wirst. Es geht weniger um die Botschaft, als um die Art, wie du sie rüberbringst“, erklärte Mary gelassen. „Der Ton macht die Musik.“
„Meine Art? Schnippisch? Ich bin eben kein ewig lächelnder Engel wie du. Na und? Ich finde, ich darf durchaus meine depressive Schwester daran erinnern, dass nicht sie gestorben ist, sondern …“ Betreten starrten alle zu Emily.
„Collin – mein Ehemann“, ergänzte sie daraufhin trocken, und es entstand eine bedrückende Stille. „Wenn du jemals einen Mann haben solltest, tu dir selbst einen Gefallen und erzähl ihm besser nicht, was du mir geraten hast, Lucy.“
Plötzlich brach Luke in hysterisches Gelächter aus und reichte Emily ein Weinglas. „Du meinst, dass du bald wieder in den Sattel steigen sollst?“ Er deutete Reitbewegungen an, und Emily lächelte.
„Diese Pferdemetaphern machen mich noch wahnsinnig!“, kreischte Mary und starrte sie mit offenem Mund an. „Du hast ihr geraten, bald wieder zu vögeln? Kurz nach Collins Tod?“
Lucy sah betont gleichmütig drein, während Emily den Kopf schüttelte. „Auf seiner Beerdigung!“
„Nein!“ Alle sahen abwechselnd zwischen Lucy und ihr hin und her.
„Das glaube ich nicht!“
Lucy schnaubte und verschüttete dabei etwas von ihrem Wein. „Das ist völlig aus dem Zusammenhang gerissen und war alles ganz anders.“
„Ich kann mich nicht an irgendeinen Kontext erinnern …“, sagte Emily. Nun war es um ihre Geschwister geschehen. Sie kreischten vor Vergnügen, und Emily wechselte einen Blick mit Lucy, die ihr unbemerkt zuzwinkerte. Sie mochte die pragmatischste Schwester von ihnen sein, aber niemand kannte Emily besser. Sie ertrug die Witze auf ihre Kosten, damit Emily sie von ihrer gequälten Seele ablenken und eine Intervention abwenden konnte.
„Außerdem schadet ein ausgeglichener Hormonhaushalt niemandem. Wer sagt denn, dass du den Kerl, den du bumst, gleich heiraten musst?“
„Du wirst George also nicht heiraten?“ Luke fasste sich ans Herz. „Das erleichtert mich zutiefst, Schwesterherz. Dieser Mann hat weder Geschmack, noch könnte ich ihn öfter als einen Tag im Jahr ertragen.“
„Bist du verrückt geworden? Wenn es nach mir geht, gehe ich diesen Bund nie ein. Die Menschen sind nicht für die Monogamie geschaffen. Die Kerle wollen nur ihre Gene möglichst weit und flächendeckend streuen und ein Frauchen haben, das sich anschließend um ihre Bälger kümmert.“ Das Entsetzen auf Lucys Gesicht wirkte beinahe wie Abschaum.
„Nicht alle Kerle sind so“, erinnerte Mary sie leise und begegnete ihrem scharfen Blick, der Mary zum Schweigen brachte. In vielerlei Hinsicht war Lucy eine Naturgewalt, vor allem wenn es darum ging, ihre Meinung zu vertreten. Sie schwiegen betreten. Marys und Lucys Vorgeschichte mit Männern war kein Thema, bei dem sie mit einer oder zwei Flaschen Pernot auskamen.
Eine Weile später saßen sie im Wohnzimmer auf dem Boden. Zwischen ihnen türmten sich die Geschenke für ihren Vater, zum Teil bereits in Geschenkpapier mit Schleifen verpackt. Rechts und links neben ihnen lagen diverse Pizzakartons und Chinaimbiss-Schachteln verstreut. Der Pernot tat sein Übriges, und die Stimmung wurde heiter und ausgelassen, vor allem aber Lucy und Mary hatten den Anflug ihres Streits vergessen. Sogar Emily genoss das Zusammensein mit ihrer Familie sogar.
„Was soll Dad denn damit anfangen?“ Lucy hob den Nasenhaartrimmer hoch und sah zweifelnd in die Runde. Ihre Wangen waren leicht gerötet und die Augen glasig vom Alkohol. Sie wirkte um einiges gelassener und entspannter, beinahe wild vor lauter Lebensfreude, als hätte der Wein ihr Gemüt gebändigt, wie ein Löwendompteur. Emily beneidete ihre Schwester um ihre Unerschrockenheit und ihre Stärke, dennoch wusste sie, dass unter Lucys rauer Haut, die wie eine uneinnehmbare Festung wirkte, ein ganz verletzliches Wesen ruhte. Manchmal zweifelte Emily daran, dass je ein Mann diese Mauern durchbrechen würde. Dabei wünschte sie sich nichts mehr für Lucy als: Liebe. Genau genommen erhoffte sie sich das für all ihre Geschwister.
Mary riss das Paket an sich und meinte: „Dad ist ein alleinstehender Mann. Er hat niemanden, der ihm die Nasenhaare schneiden könnte. Außerdem bin ich es leid, mir diese Dinge anzusehen.“
„Echt jetzt? Er trägt einen Schnurrbart. Ist das nicht überflüssig?“
„Du hast wirklich eine seltsame Einstellung zu Männern.“
„Oder du zu Nasenhaaren.“ Lucy prustete los. Das saß und Mary verzog sich beleidigt in die Küche, um sich Wein-Nachschub zu holen. Emily wechselte einen Blick mit Luke, der tief seufzte.
So war das immer mit ihren ältesten Schwestern. Jedes Klischee über Zwillingsschwestern wurde bei Lucy und Mary gebrochen. Die besonders intensive Verbindung von Zwillingen, von der man im Allgemeinen sprach, traf bei ihnen nicht zu. Emily wusste nicht mal genau, wann sich das geändert hatte, denn es hatte mal eine Zeit gegeben, da waren die beiden unzertrennlich gewesen. Sie hatten die üblichen „Hanni und Nanni“-Scherze mit ihnen getrieben, hatten dieselbe Frisur, dieselben Kleider getragen und eine Sprache miteinander gesprochen, die ein Außenstehender kaum verstand. Dann war es damit vorbei gewesen – von heute auf morgen. Keiner wusste so recht, wie es dazu gekommen war.
Mary war die Modebewusste in der Familie und besaß ein Café, in dem sie schon ihre Ausbildung zur Konditorin gemacht hatte. Das Backen hatte ihr nicht sonderlich gelegen, und so hatte sie damals all ihr Gespartes investiert und der alten Mrs. Porter das Café abgekauft und einen moderneren Laden eröffnet, in dem Jung und Alt sich trafen. Nebenbei entwarf sie eine Schuhkollektion, die sie ebenfalls in ihrem Café verkaufte. Welch glückliche Fügung für jede Frau: Ein Schuhladen, der auch Kuchen und Kaffee in großen Mengen zur Verfügung stellte. Leider gab es nur wenige gut verdienende Damen in ihrem Ort, und so begnügte Mary sich damit, Spaß an ihrem Hobby zu haben.
Lucy war das komplette Gegenteil ihrer Schwester. Sie lachte nicht so oft und hatte auf den ersten Blick keine weiche Seite wie Mary. Sie wirkte oft pragmatisch und rational, wobei ihre Geschwister es besser wussten. Lucy war auch sanft und gefühlvoll, nur hatte sie nach dem Fortgang ihrer Mutter deren Rolle übernommen und einiges mehr an Verantwortung getragen als jeder andere in der Familie. Sie hatte kaum Zeit für Teenager-Wutausbrüche gehabt, weil sie dafür sorgen musste, dass ihre Geschwister nicht in Schwierigkeiten gerieten. Bei ihrer Arbeit als Tierärztin blühte sie richtig auf. Sie konnte mit Tieren einfach besser umgehen als mit Menschen, das glaubte zumindest ihr Vater.
„Wehe, du lässt mir nicht noch was in der Weinflasche drin!“, rief Lucy ihrer Schwester erbost hinterher und eilte ebenfalls in die Küche, wo nun ein lautes Klirren ertönte, dem ein „Ups!“ folgte.
Emily stöhnte, kicherte dann jedoch und musste sich eingestehen, dass ihre Schwestern ein nerviger, aber liebevoller Haufen waren. Sie hatte in den wenigen Stunden des heutigen Abends mehr gelacht als in der gesamten letzten Woche. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und hielt ihr Weinglas in der Hand, während sie aus dem Fenster blickte und dem Schneetreiben zusah. Der Schnee lag schon fünf Zentimeter hoch; wenn das so weiterging, standen ihre Chancen für weiße Weihnachten gut. Sie fröstelte leicht, als sie die Straße entlang schaute und einen mit Tüten bepackten Mann über die Kreuzung gehen sah. Ihr Herz setzte einen Moment aus, doch im nächsten Augenblick erkannte sie den Umriss ihres Vaters. Wie oft hatte sie Collin dabei zugesehen, wie er zu Fuß von seiner Schicht an der Ecke von Marys Café vorbei zu ihrer Wohnung zurückkehrte? Wie oft hatte er dort unten gestanden und ihr zugewunken? Collin konnte es nicht sein, erinnerte sie sich. Er war tot! Ja, das war er, und doch gab es nichts, was Emily sich mehr wünschte, als diesen unbedeutenden und oftmals nicht beachteten Moment seiner Heimkehr erneut zu erleben. Sie spürte die große Hand ihres Bruders, die sich auf ihre Schulter legte und sie ganz selbstverständlich an sich zog.
„Er ist immer noch hier bei uns – davon bin ich überzeugt“, murmelte er, und Emily war versucht, etwas Wütendes zu erwidern. Sie hatte seit Collins überraschendem Tod vor zwei Jahren zu oft diese sinnlosen Trostsprüche ertragen, die ihr leider gar nicht halfen. Es tat weh, ohne ihn zu sein, und jeder Versuch, das Ausmaß seines Todes abzumildern, kam ihr unglaublich falsch vor. Kurz bevor auch nur ein Wort über ihre Lippen kam, erkannte sie jedoch, das sein Satz weniger darauf abzielte, sie zu trösten als vielmehr sich selbst. Luke hatte seinen besten Freund, seinen Bruder verloren und litt sehr darunter. Emily ergriff seinen muskulösen Arm, den er um sie geschlungen hatte, und streichelte ihn.
„Du solltest dir einen neuen Freund suchen, weißt du?“, murmelte sie, und Luke lachte laut auf. „Ich meine es ernst, Luke. Nicht nur ich sitze in einem Loch und komme kaum mehr heraus. Du leidest unter seinem Tod, genauso wie ich. Nur, dass du dafür keineswegs wieder in den Sattel steigen musst …“ Sie malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft und spürte das Glucksen ihres Bruders an ihrem Rücken. „Du musst dafür etwas viel Schwierigeres tun. Du musst einen anderen Mann deinen Freund sein lassen – so wie Collin damals vor all den Jahren.“
Luke atmete spürbar aus. „Collin war eine verlorene Seele – er hat mich mehr gebraucht als ich ihn. Meistens jedenfalls!“
„Dort draußen gibt es jemanden, der allein ist und deine Hand brauchen kann. Du musst nur die Augen aufmachen. Sieh dich doch mal um, wer ist denn in dieser Welt nicht verloren?“
Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. „Es gibt wenige Männer, die eine Schwuchtel zum Freund haben wollen.“
„Hör auf, dich so zu nennen. Du weißt, ich hasse es. Jeder, der dich so nennt, wird von mir höchstpersönlich verdroschen. Und glaub mir, irgendwo gibt es ihn.“
„Und wo ist der eine Mann für dich?“ Luke wagte kaum, diesen Satz laut auszusprechen, deswegen wisperte er ihn nur, damit die anderen ihn nicht hörten.
Emily sah wieder nachdenklich aus dem Fenster. „Ich habe mein Glück bereits gefunden, Luke. Mein Liebesbarometer ist voll. Ich meine, ich hatte Collin. Jetzt bist du dran. Erzähl mal, wie heißt dein neuer Freund noch gleich? Steve?“
„Der ist doch schon längst Schnee von gestern. Du kriegst auch gar nix mehr mit, oder?“
Emily knuffte ihn mit dem Ellenbogen. „War das nicht der, der Dad nur mit einer Schürze bekleidet die Tür geöffnet hat, als du die beiden bekannt machen wolltest?“
„Genau genommen hat Dad sich selbst eingeladen, aber ja, danach war es irgendwie vorbei.“ Luke grinste wehmütig. „Jetzt habe ich da diesen Klienten, bei dem es funkt. Er heißt Bruce, ist Frauenarzt und wurde wegen sexueller Belästigung verklagt, dabei ist er eindeutig nicht an Muschis interessiert. Also ... rein beruflich natürlich schon, aber ... ach du weißt schon, wie ich das meine.“ Luke hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte. „Dieses Wort … Ich muss mich regelmäßig beherrschen, um nicht zu lachen.“
„Wo lernt er diese Typen nur immer wieder kennen?“, fragte Mary, die hinter ihnen erschien. „Ich dachte eigentlich, die Welt sei voll mit Heteromännern, und die Kerle vom anderen Ufer seien vom Aussterben bedroht. Doch mein Bruder schleppt in einem Monat mehr Typen ab als ich im ganzen Jahr.“
„Du musst dir einfach jemanden suchen, der deine Bedürfnisse befriedigt, wenn du verstehst, was ich meine. Dann bist du die glücklichste Frau der Welt.“ Lucy wackelte grinsend mit den Augenbrauen.
Mary pustete ihren Pony aus der Stirn und winkte ab. „Du meinst so einen Kerl wie George? No way!“
„Ihr hackt alle auf George rum, aber er erfüllt seinen Zweck für mich, so wie ich für ihn.“
„Bist du dir da sicher?“ Luke verzog zweifelnd das Gesicht. „Ich glaube, diese zwanglosen Sachen werden irgendwann für einen von beiden ernst.“
Gleichgültig zuckte Lucy mit den Achseln. „Für uns ist das so okay. Er kratzt mich, wenn es mich juckt und gut ist.“
„Ich weiß nicht, da bleibe ich lieber bei meinem Magic Toy!“, eröffnete Mary ihnen lachend. Die anderen prusteten ebenfalls los. „Der macht keinen Stress und muss nicht erst am Ego gekrault werden, ehe es losgehen kann. Bei ihm gibt es keine bösen Überraschungen - außer wenn die Batterie streikt. Doch da hat Mr. Jenkins vom Elektroladen Gott sei Dank ein großes Nachschubfach.“
„Mr. Jenkins, der Arme … ob er weiß, wofür du die ganzen Batterien brauchst?“ Lucy nahm im Sessel Platz, in dem Emilys Kater Mr. Scrooge immer schlief, wenn er nicht gerade auf dem Dachboden Mäuse fing, und zwinkerte ihnen verschwörerisch zu.
„Wenn er das wüsste, wäre er längst einem Herzstillstand erlegen. Ich fürchte immer den Moment, wenn er ins Lager geht und erst Minuten später zurückkommt. Keine Ahnung, wie oft ich schon nach ihm schauen wollte und das Handy griffbereit in der Hand hatte, um den Krankenwagen zu rufen.“
„Wie alt mag er mittlerweile sein? Er war doch schon mindestens hundert, als wir noch Kinder waren, oder?“, überlegte Emily laut.
„Sagen wir es so: Die Nummer des Bestatters steht bereits im Kurzwahlspeicher“, fügte Lucy trocken hinzu, und Mary stieß erneut ein entsetztes „Lucy!“ aus. Verständnislos sah diese sie an. Lucy hatte offenbar keine Ahnung, was sie nun wieder Anstößiges gesagt hatte.
Emily kicherte, um sie auf andere Gedanken zu bringen. „Ich schließe daraus Folgendes: Entweder sind die Heteros vom Aussterben bedroht, oder die Heteros werden alle schwul, weil sie von diesem Dating-Wahnsinn frustriert sind.“
„Oder …“ Lucy schlug die Beine übereinander und lehnte den Kopf gemütlich an die Sessellehne. „… wir sind zu wählerisch. Wenn ich euch nur an die Nasenhaardebatte erinnern darf.“ Mary kreischte und stürzte sich auf ihre Schwester, während alle in lautes Gelächter ausbrachen.
„Habt ihr gesehen, was für riesige Umzugswagen da anreisen? Wer bitte hat so viel Zeug?“, fragte Emily plötzlich und deutete aus dem anderen Fenster die Straße hinunter, auf der mehrere Laster mit der Aufschrift „For rent“ entlangfuhren.
„Die Frage lautet eher, wer zieht an Heiligabend um?“ Luke runzelte die Stirn.
„Der Grinch?!“, kam die postwendende Antwort von Lucy, und Mary bewarf sie ausgelassen mit Geschenkpapierresten.
„Habt ihr es etwa noch nicht gehört?“ Mary verrenkte ihren Hals, um ebenfalls einen Blick auf die Wagen zu erhaschen, und stellte sich auf die Zehenspitzen. „Halleberry Castle wurde verkauft. Das wird er wohl sein, der neue Besitzer.“
„Woher weißt du das nun wieder?“, fragte Luke skeptisch.
Mary schenkte ihm einen abschätzigen Blick. „Hast du etwa vergessen, wo ich arbeite? In meinem Café trifft sich jeden Morgen die Klatschzentrale von Jarbor Hydes.“
„Und dieses alte Ding wollte jemand haben?“
„Du kriegst aber auch gar nix mit, Lucy! Die renovieren ‚das Ding‘ schon seit Wochen!“, ereiferte sich Mary.
Luke schüttelte sich kurz. „War da nicht was mit ein paar geheimnisvollen Morden oder so? Es soll da spuken, hieß es früher immer.“
„Das hat man euch als Kinder erzählt, damit ihr euch nicht dorthin schleicht, du Weichflöte“, rügte Lucy ihren Bruder. „Aber mich würde auch interessieren, wer das Geld hat, dieses riesige Teil zu kaufen“, gab sie dann zu.
„Halleberry Castle ist wunderschön mit dem alten Gemäuer und den großen Räumen. Ich würde alles tun, um dort eine Führung zu bekommen, wenn es wieder vorzeigbar ist.“ Emilys Neugierde war geweckt. Ihre Vorliebe für antike Möbelstücke und Kunst erstreckte sich auch auf historische Liebesromane, in denen Frauen von wohlhabenden Männern erobert wurden, obwohl die Gesellschaft es unmöglich machte.
„Nur eine Verrückte oder eine Künstlerin sieht in diesem Schandfleck was Wunderschönes.“ Luke schüttelte amüsiert den Kopf. Emily war schon früher unerschrockener als die meisten gewesen und hatte sich nicht selten auf dem Anwesen herumgetrieben, das einmal einem Grafen gehört hatte. Als sie älter wurde, pachtete sie sogar einen Hügel mit einem Pavillon auf dem Grundstück, um dort zu malen. Luke hätte sich höchstwahrscheinlich in die Hosen gemacht, wenn er alleine an diesem Ort hätte bleiben müssen.
„Den neuesten Gerüchten nach soll es dieser Formel-1-Rennfahrer gekauft haben“, plauderte Mary aus.
„Na klar, unsere Klatschtante wieder!“ Lucy schüttelte ungläubig den Kopf.
„Was? Ein Rennfahrer?“ Nun wandten sich ihr zwei neugierige Gesichter zu.
„Ich höre nun mal viel von den Dorfbewohnern. Es soll dieser Motorsport-Star sein. Er macht doch immer Schlagzeilen mit seinen Eskapaden. Wie heißt er noch gleich? Erst neulich habe ich was über ihn gelesen.“
„Erzähl keinen Mist“, entfuhr es Luke, und ihm fielen vor Euphorie beinahe die Augen aus dem Kopf. „Du meinst doch nicht etwa Jake O’Reiley, oder?“
„Ja, doch, ich glaube, diesen Namen hat die alte Mrs. Strottle heute Morgen genannt.“
Emily runzelte die Stirn. „Du schaust dir Autorennen an?“, fragte sie ihren Bruder irritiert.
„Na ja, ich nicht, aber …“
„Collin“, beendete Emily den Satz und schluckte, als ein riesiger Eisklotz in ihrem Magen landete. So war es immer. Für einen Augenblick hatte sie ihren Kummer und ihre Sorgen beinahe vergessen, doch dann benötigte es ein Wort und all die Schreckensmonate tauchten mit einem Fingerschnippen vor ihren Augen auf. Seltsamerweise war es in diesem einen Moment tröstlich, zu wissen, dass Collin tatsächlich immer allgegenwärtig war.
Mary grinste breit. „Du sagst den Namen so, als sei er verdammt heiß …“
„Wie spricht man denn einen Namen aus, als sei er sexy?“ Lucy nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Weinglas und wartete gespannt auf die Antwort, um sich höchstwahrscheinlich danach darüber lustig zu machen.
„Na, so eben … Jake O’Reiley“, äffte Mary Luke nach.
„Er ist heiß, absolut, aber leider, leider fischt er nicht in meinen Gewässern, soweit man weiß, was also gar nichts bedeutet.“ Bedauern lag in seiner Stimme.
„Wenn er wirklich Halleberry Castle gekauft hat, dann solltest du lieber ganz sichergehen“, riet Mary ihm lachend und deutete erneut Reitbewegungen an.
KAPITEL 2
JAKE
„Du bist ein gruseliger Autofahrer, Jake O’Reiley. Wie hast du dich in der Welt bis jetzt nur zurechtgefunden? Kannst du mir das sagen?“, erklang eine reichlich niedergeschlagene männliche Stimme durch die Freisprechanlage des Autos.
Jake trommelte ungeduldig mit den Fingerspitzen aufs Lenkrad. „Mann, ich habe mich nur verfahren … ich bin hier in der totalen Pampa gelandet. Außerdem bin ich der verdammt beste Rennfahrer der Welt – schon vergessen?“
„Solange du bloß im Kreis fahren musst, mag das stimmen.“ Höhnisches Gelächter hallte durchs Auto. Jake konnte nicht anders, als zu grinsen. Es war gut, seinen Kumpel lachen zu hören, das tat er in letzter Zeit viel zu selten. Da überstand sein Ego auch den einen oder anderen Witz auf seine Kosten. Wie soll ich dich denn besser leiten können als ein Navi?“
„Du hast mich schließlich in diese verdammte Einöde geschickt! Also hilf mir!“, befahl Jake lachend.
Sein Freund Darrell räusperte sich vernehmlich. „Diese Suppe hast du dir selbst eingebrockt. Wer sich eine Stripperin bestellt, die sich als Typ entpuppt, muss nun mal mit Reportern der üblen Sorte rechnen.“
Jake schnaubte und ereiferte sich: „Ich habe dieses Mädchen … äh … den Kerl nicht geordert, Darrell. Ich war nicht mal auf der verdammten Party, sondern hab im Schlafzimmer gepennt. Wie oft soll ich das noch sagen?“
„Es war deine Party, mein Freund. Da gibt’s nix dran zu rütteln. Lass es einfach ein paar Wochen ruhiger angehen, dann ist Gras über die Sache gewachsen. Du wirst schon sehen. Außerdem brauchtest du doch eine weitere Geldanlage, und so hast du gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.“
Jake legte die Stirn aufs Lenkrad und knurrte: „Falls ich nicht in meinem Auto festfriere, weil ich den Weg nicht finde.“
„Was siehst du denn gerade vor dir?“
Jake sah aus dem Fenster und sagte hoffnungslos: „Nichts! Absolut nichts. Obwohl, warte: Da ist ein Schaf, das hätte ich fast übersehen. Es hat sich im Schnee versteckt. Ach sieh mal, sogar eine ganze Herde hat sich da getarnt. Meinst du, ich soll die mal fragen, wo es langgeht?“ Unterdrücktes Lachen ertönte erneut aus den Lautsprechern seiner Freisprechanlage, und Jake schnaubte. „Wie soll man sich bei diesen kitschigen Straßennamen auch nicht verfranzen? Winterblossom Road? Im Ernst jetzt? Wo hast du mich hier nur hingebracht, Darrell?“
Sein Gesprächspartner zögerte, ehe er antwortete: „Wenn du in London geblieben wärst, hättest du dich nur gleich wieder ins nächste Abenteuer gestürzt – ich kenn dich doch. So bist du wenigstens weit entfernt von jeglichen Kameras. Jarbor Hydes ist der idyllischste Ort, den ich kenne.“
Jake gluckste abfällig. „Das, was ich bis jetzt davon gesehen habe, waren Wiesen voller Schnee und Viecher. Viele Viecher! Es ist arschkalt hier, Darell. Was hast du mir nur angetan?!“ Er lachte kurz auf, als Zeichen dafür, dass er es nicht ernst meinte.
Darrell holte tief Luft. „Du musst es morgen früh sehen, sobald die Sonne aufgeht. Ich weiß, du bekommst zu so unchristlichen Zeiten deinen Hintern nur selten aus dem Bett, aber das ist die goldene Stunde in Jarbor Hydes. Es gibt auf der gesamten Welt keinen friedvolleren Ort, und ich war mit dir schon überall, wie du weißt. Außerdem sind die Menschen, wenn sie dich erst mal in ihr Herz geschlossen haben, wahre Freunde.“
„Wie du weißt, will ich weder Freundschaften schließen, noch zwischenmenschliche Beziehungen pflegen.“ Jake hörte ein Klirren im Hintergrund und wie jemand einen tiefen Schluck nahm. Darrell ertränkte seinen eigenen Kummer wohl gerade im Alkohol. „Warum bist du dann nicht mit mir hergekommen, wenn es keinen schöneren Platz auf der ganzen Welt gibt?“
Darrell zögerte erneut. „Es gab gewisse Umstände, weswegen ich damals fortgegangen bin … bislang fehlte mir einfach der Mut, zurückzukehren. Wer weiß, vielleicht komme ich dich, verrückten Kauz, mal besuchen …“
„Genug Schlafzimmer habe ich jedenfalls“, feixte er und spielte vor Ungeduld mit dem Gaspedal. „Ich könnte unsere ganze verdammte Crew da unterbringen.“
Darrell lachte ausgelassen. „Ich fass es immer noch nicht, dass du dir dieses riesige Anwesen geangelt hast. Du mutierst noch zu Bruce Wayne und wirst größenwahnsinnig.“
„Ich bitte dich! Ich habe absolut nichts mit diesem Typen gemein! Na ja, nichts bis auf das viele Geld, das gute Aussehen und die Schwäche für Frauen im Allgemeinen. Aber ich hasse Fledermäuse.“
„O Mann, du bist so was von Bruce Wayne! Du solltest dringend mal die Filme sehen.“
„Als hätte ich Zeit fürs Fernsehen. Mit wem glaubst du, redest du grade?“
„Jake O’Reiley, arrogant, selbstverliebt und vollkommen überheblich …“
Er grinste breit und entblößte dabei gerade weiße Zähne. „Und jetzt kommen wir zu meinen schlechten Eigenschaften …“ Er lehnte sich zurück und presste Zeige- und Mittelfinger auf den Mund, während er auf den nächsten Seitenhieb seines PR-Managers wartete.
„Bester und jüngster Rennfahrer der Welt … keiner kann besser mit Autos umgehen als du, und dennoch hast du eine Orientierung wie eine Bockwurst.“
„Das liegt nur an diesem verdammten Arsch der Welt …“, ätzte Jake, während er langsam losfuhr.
„Du solltest dir die Batman-Filme mal von Anfang an ansehen. Zeit genug hast du jetzt jedenfalls“, schlug Darrell vor.
Der Boden war bereits gefroren, doch wenn es etwas gab, das Jake konnte, dann war es bei den ungewöhnlichsten Wetterverhältnissen Auto zu fahren. „Werde ich – sobald Anderson meine Fernsehanlage in Gang gebracht hat. Was soll ich nur bis März mit mir anfangen?“
„Entspann dich endlich mal, Jake. Genieß die Ruhe und die stressfreie Zeit. Vielleicht kannst du mal den Wagen deines Dads reparieren. Das wäre doch die Gelegenheit.“
Jake brummte wenig begeistert. „Ich werde sicher ganz mit diesem alten Haus beschäftigt sein. Anderson hat mich bereits vorgewarnt!“
„Anderson geht auch als Butler durch … Mensch, ich hab da die Idee! Du musst einfach eine Party schmeißen, zur Einweihung, am besten verknüpft mit einem Motto.“
„Hey, du bist zwar mein PR-Berater, aber du hast mir gerade was von einer Auszeit erzählt, erinnerst du dich?“
Die Stimme seines Freundes überschlug sich förmlich, wie immer, wenn er einem guten Einfall auf der Spur war. „So eine Gelegenheit muss man beim Schopfe packen, Jake!“
„Die Verbindung bricht ab, ich höre dich gar nicht mehr …“, entgegnete er und lächelte.
„Ich weiß genau, was du gerade machst … Du kannst dich warm anziehen, wenn du jetzt einfach auflegst!“
„Dazu musst du erst mal über deinen Schatten springen und deinen Arsch hierher bewegen. Ich lege jetzt auf! Feier gut ins neue Jahr, Mate.“ Er drückte die Auflege-Taste der Freisprechanlage am Lenkrad seines ganz brandneuen Aston Martin. Der Schnickschnack des Wagens gefiel ihm, wobei er daran zweifelte, dass er all diese Funktionen je brauchen würde. Er fummelte an der Einstellung des Navigationsgerätes herum und folgte den Anweisungen, während ihm der starke Schneefall weiterhin die Sicht nahm.
EMILY
Die Feiertage waren geradezu dahingeschlichen, und Emily sehnte sich nach der Betriebsamkeit des Alltags, die sie nicht zur Ruhe und zum Nachdenken kommen ließ. Plötzlich blickte sie auch bei Tageslicht auf den Stuhl ihr gegenüber, der leer blieb. Das Problem war nicht, dass sie allein war, es war so schrecklich, dass sie ohne Collin war. Sie hatten sicher ihre Probleme miteinander gehabt, aber eben auch einen gemeinsamen Plan für ihre Zukunft. Collins tragischer Tod hatte ihr nicht nur den Ehemann genommen, sondern ein ganzes Leben, das sie sich in ihrem Kopf in den buntesten Farben ausgemalt hatte. Nun war all das Geschichte und es fiel ihr zunehmend schwerer, optimistisch auf ihre Lebensplanung zu blicken.
Um den erdrückenden Erinnerungen in dieser Wohnung wenigstens kurz zu entfliehen, zog sie ihren roten Mantel und die cremefarbene Wollmütze an, die sich von ihren dunklen Haaren deutlich abhob. Den passenden Wollschal, den Mary ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, wickelte sie um ihren Hals und warf einen letzten Blick auf den leeren Platz zurück, von dem Collin ihr immer zugezwinkert hatte. Beinahe kam es ihr vor, als könnte sie sehen, wie er dort saß, in der Zeitung blätterte und seinen Kaffee trank. Er lächelte ihr zu, und Emily konnte nicht anders, als traurig zurückzulächeln. Dann verließ sie die Wohnung und ging über den schmalen Flur hinunter ins Erdgeschoss, indem ihr Vater wohnte. Dieses Haus hatte bereits ihren Großeltern gehört, doch seit ihr Großvater gestorben war, lebte ihre Granny mit Tante Harriet in Stockholm. Elvis dröhnte ihr im Flur entgegen, eine der Platten, die ihr Vater so sehr liebte. Er hörte sie nicht oft, weil die Lieder ihn an ihre Mutter denken ließen. Also wurde nicht nur sie gerade von Erinnerungen heimgesucht. Seufzend hielt Emily vor seiner Tür inne. Weihnachten war eine komische Zeit. Es brachte nicht nur die Familie zusammen, sondern erinnerte jeden schmerzlich daran, wie vergänglich das Leben und die Menschen darin waren. Sie klopfte zweimal und wartete geduldig, bis die Musik verstummte, dann trat sie durch die Tür mit der Buntglasscheibe.
„Dad?“, rief sie, während sie über Mozzi stieg, ihre bereits in die Jahre gekommene Jagdhündin, die ausgestreckt auf dem Läufer im Flur lag. Womöglich hatte ihr Vater sie die Reste vom letzten Festmahl zu futtern gegeben. Emily war es auch so ergangen, weswegen sie mit ihr fühlte. Im Vorbeilaufen bückte sie sich routiniert nach diversen Kleidungsstücken und wunderte sich über die Unordnung im Wohnzimmer ihres alten Herrn. Da tauchte er auch schon in ihrem Blickfeld auf, und sie sah, wie er eilig gebrauchtes Geschirr einsammelte.
„Hey Emily, schön, dass du noch vorbeischaust. Bist du nicht bei Mary?“
Es war Silvester, und wie jedes Jahr gab ihre Schwester in ihrem Café eine Silvesterparty. Das gesamte Dorf tauchte dort gegen vierundzwanzig Uhr auf. Mary lud ihre Geschwister immer zum Feiern ein, wobei daraus in der Regel ein arbeitsreicher Abend wurde, denn was tat man nicht alles, wenn die Kellner total unterbesetzt waren, um der Schwester zu helfen?
„Doch, ich bin gerade auf dem Weg zu ihr. Was ist hier überhaupt los?“
Ihr Vater sah ertappt aus und rümpfte die Nase, als er eine gebrauchte Socke über einem Teller anhob. „Was meinst du?“, fragte er scheinheilig.
„Dad, es riecht streng. Was ist das?“
„Keine Ahnung, was du meinst.“
„Es riecht, als verende hier irgendwo ein Tier ... Ist hier etwa eine Bombe eingeschlagen?“
„Darüber macht man keine Witze, junges Fräulein, wie oft soll ich dir das noch sagen?“ Als Polizeichef verstand ihr Dad bei solchen Äußerungen keinen Spaß und ließ das auch jeden wissen.
„Na gut! Warum sieht es hier so … chaotisch aus? Wo ist Mabel?“ Es war nicht zu leugnen: Robert Carhill war ein Ferkel, zumindest was die Hausarbeit anging. So ordentlich er auch in seinem Job war, so wenig behielt er das in seinem Privatleben bei. Deswegen hatte er seit Jahren eine Haushaltshilfe, die mittlerweile beinahe zur Familie gehörte.
„Mabel hat sich das Bein gebrochen, als ihr Nachbar vergessen hat zu streuen. Der Vollidiot.“ Missbilligend rümpfte ihr Vater die Nase.
„Was? Ach Gott, die Arme, das ist ja schrecklich.“
„Nicht wahr? Wie du siehst, stürzt es mich ins völlige Chaos.“ Er schüttelte streng den Kopf und sein Schnauzbart erzitterte vor Empörung.
Emily lächelte amüsiert. „Ich meinte Mabel, Dad. Sie hat eindeutig das schlechtere Los von euch beiden gezogen, oder meinst du nicht?“ Er wirkte leicht zerstreut, als er das benutzte Geschirr in die Küche zurückbalancierte. Eilig nahm sie ihrem Vater die Tasse ab, die zu fallen drohte, und trat durch die Schiebetür in die Küche. Emily traf fast der Schlag, und sie blieb abrupt stehen, als sie das Chaos auf der Küchenanrichte betrachtete.
Ihr Vater suchte verzweifelt nach einem letzten freien Plätzchen auf dem Herd und sah seine Tochter ziemlich hilflos an. „Ich bin ein klassischer Junggeselle, oder? Da fällt meine Haushälterin mal aus, und bei mir bricht alles zusammen.“
Emily kicherte über seine bekümmerte Miene und brach schließlich in lautes Gelächter aus. Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Weißt du was, Dad, mich beunruhigt eher, dass du einen ganzen Haufen Kinder hast, die zum Teil noch im selben Haus wohnen und nicht bemerken, wenn ihr Vater in seiner Unordnung ertrinkt.“ Sie stellte die Sachen auf den Boden und zog ihre Jacke, den Schal und die Mütze wieder aus. „Pass auf, wir regeln das zusammen, damit du morgen nicht verhungern musst.“
„Du wolltest doch zu Mary?“
„Du brauchst meine Hilfe dringender – glaub mir.“ Dann krempelte sie die Ärmel hoch und begann damit, Spülwasser einzulassen. „Außerdem hat Mary noch Nina und die Hilfskellner. Die kommen erst mal alleine klar.“ Emily war es manchmal ein Rätsel, wie ihr Vater es geschafft hatte, fünf Kinder allein großzuziehen, wo er fast unfähig schien, sich um sich selbst zu kümmern. Sie beobachtete ihn heimlich, wie er unbeholfen das Geschirr zusammenräumte. Er war auch mit seinen annähernd sechzig Jahren ein Mann, der allein mit seinem Auftauchen einen ganzen Raum voller Menschen verstummen lassen konnte. Er hatte eine eindrucksvolle Größe, breite Schultern und keinen Bauchansatz. Auch wenn es ewig her war, dass Emily ihren Vater ohne Hemd gesehen hatte, wusste sie doch, dass er kein Gramm Fett zu viel am Körper trug. Er war stets darauf bedacht gewesen, ausreichend Sport zu treiben, damit er weiter dieses ungesunde Zeug in sich hineinstopfen konnte, das er so liebte.
Für einen Mann seines Alters hatte er sich noch ziemlich gut gehalten. Sein blondes Haar war zwar von einigen grauen Strähnen durchzogen, was es noch heller erschienen ließ, und war so lang, dass er es über die kahle Stelle am Hinterkopf nach hinten streichen konnte. Sein Schnurrbart war voll, und die eisblaue Farbe seiner Augen war Marys und Lucys so ähnlich. Außerdem strahlte er etwas aus, eine überwältigende Präsenz, der sich kaum einer entziehen konnte.
Als Polizeichef war er das Oberhaupt der ortsansässigen Polizei und im ganzen Dorf und wahrscheinlich darüber hinaus bekannt. Die Leute sahen respektvoll zu ihm auf und fühlten sich dank seiner Anwesenheit beschützt. Wenn es ein Problem gab, dann wendeten sie sich an „Chief Carhill“, wie die Anwohner von Jarbor Hydes ihn seit vielen Jahren liebevoll nannten, und ihr Vater ging in dem Job auf. Sobald er auf die Straße trat, war er im Dienst, auch wenn er seine Schicht bereits hinter sich hatte. Es war seine Berufung, sich um diesen Ort und die Menschen hier zu kümmern. In Kindertagen war ihr Vater schlicht der Held gewesen, den sie alle in ihm gesehen hatten. Er hatte diese Rolle geliebt, bis zu dem Tag, an dem er anstelle von Collin vor ihrer Tür gestanden hatte, um ihr die schlimmste Nachricht ihres Lebens zu überbringen. Sie erinnerte sich nur vage an den Ausdruck in seinen Augen: Selbsthass, Trauer und Verzweiflung, dass er seinen Schwiegersohn nicht hatte beschützt und sein kleines Mädchen nicht vor diesem Kummer hatte bewahren können.
Seine großen Hände tätschelten ihre Schulter unbeholfen, und Emily blickte in seine Augen, deren liebevoller Ausdruck nur für seine Kinder bestimmt war. „Keine Ahnung, was ich ohne euch täte?“
„Du würdest noch viel mehr von diesem ungesunden Fleisch in dich hineinstopfen und dir die Adern damit verfetten und einsam, dafür mit mehr Nerven, früher sterben“, ertönte eine Stimme hinter ihnen, die sie nur zu genau kannten. Es war Lucy, die sich mit hochgezogenen Augenbrauen umsah und die Nase rümpfte. „Wo kommt dieser unerträgliche Geruch her?“
„Hey, ich tue alles dafür, dass es mir nichts anhaben kann, Lucy“, wehrte er ihre Stichelei ab.
„Das glaubst auch nur du – als wärst du unverwundbar! Was ist denn hier los? Gab’s ein Sondereinsatzkommando oder eine Razzia in deiner Wohnung, Dad? Hast du etwa wieder heimlich die Asservatenkammer geplündert?!“ Sie lachte über ihren eigenen Witz.
„Von wem du deinen Humor geerbt hast, wird mir immer ein Rätsel bleiben, mein Kind! Wer weiß, ob der Milchmann …“ Robert Carhill stöhnte und rollte mit den Augen, was Emily zum Lachen brachte. „Zur Hölle noch mal, Lucy. Du klingst wie ein Oberfeldwebel und erinnerst mich sehr an Granny. Mabel ist krank.“
„Ich habe von der Besten gelernt - danke Granny. Also das erklärt natürlich einiges, um nicht zu sagen: alles. Dann gehe ich euch hier mal zur Hand. Als Erstes begebe ich mich auf die Suche nach diesem üblen Geruch.“ Sofort richtete Lucy ihren Blick auf den Boden.
„Und Mary?“
„Ach sie hat doch noch Luke und Nina. Wofür bezahlt sie die schließlich?“, bemerkte Lucy spitz.
„Ob das jemals reicht?“
„Dann muss sie halt noch ein paar Kellner engagieren. Sie verlässt sich immer viel zu sehr auf uns.“
Lucys Worte erinnerten Emily daran, dass das Verhältnis ihrer Zwillingsschwestern mehr als angespannt war. „Sind Geschwister nicht genau dafür da? Ich verlasse mich nämlich auch auf euch. Ständig, um ehrlich zu sein“, wandte Emily nach einer kurzen Pause ein und sah ihrer Schwester bedeutsam in die Augen, während sie einen gespülten Teller abtrocknete und ihr reichte. Lucys Blick wurde weicher, und sie streckte die Hand aus, um Emily übers Haar zu streichen.
„Darüber bin ich auch sehr froh.“
Emily war im Begriff, nachzuhaken, warum Lucy mit ihr so nachsichtig war, aber nicht mit Mary. Doch sie ahnte, dass dieses Thema viel tiefer saß, als ihr klar war und Lucy diese schwere Kost kaum zwischen dem Chaos ihres Vaters beantworten wollte. Gemeinsam bewältigten sie die Unordnung, während ihr Vater zu seiner Schicht aufbrach und seinen Mädchen einen Moment lächelnd dabei zusah, wie sie redeten und lachten. Robert Carhill hatte das absolut Beste für seine Kinder getan, ganz einfach, indem er sie bekommen hatte. Denn solange sie zusammen waren, würden sie schon irgendwie klarkommen.
ROBERT
In der Silvesternacht Dienst zu haben war früher so beliebt gewesen, wie die Abwasserschächte zu reinigen. Man konnte nicht mit seinen Lieben ins neue Jahr feiern und musste zudem all die betrunkenen Idioten ertragen, denen das vergönnt war. Jedes Jahr gab es einen „Jumper“, der die Silvesternacht unvergesslich machte. So nannte Robert denjenigen, der im Laufe der Nacht mit dem größten Krawall ins neue Jahr „sprang“ und sich in der Regel eine Menge Ärger einhandelte. Mit zunehmendem Alter hatte das Feiern an Silvester für Robert Carhill seinen Reiz verloren, und er ermöglichte nun seinen jüngeren Mitarbeitern einen schönen Abend, indem er die unliebsame Schicht übernahm. Er und sein ewig essender Kollege und Freund Oliver. Wie üblich saß er im Wagen vor Marys Café, sah der feiernden Meute dabei zu, wie sie lachte und ihr Ale trank, und wartete auf Oliver, der nicht auf Marys frische Donuts verzichten wollte. Er sah seine beiden Töchter auf der anderen Straßenseite auf das Mary’s zugehen und lächelte bei ihrem Anblick gutmütig. Es tat gut, Emily außerhalb ihrer Wohnung zu sehen, und das nicht etwa bloß um einzukaufen oder zu arbeiten.
Die Beifahrertür ging auf, und einen Schwall eiskalte Luft drang in den Wagen, ehe Oliver sich schwermütig in den Sitz sinken ließ und die Tür ins Schloss fiel. Oliver war sein ältester Freund und Kollege, der rein äußerlich wenig von einem Polizisten hatte. Er war stark untersetzt und würde die Zulassungsprüfung allein wegen des Sportteils nicht mehr bestehen, dennoch war er der beste Polizist, den Robert kannte. „Ich verwette meine Donuts, dass Bertram unser diesjähriger Jumper war. Ich denke, es bleibt ruhig heute Nacht.“
„Jetzt hast du es getan. Jede Chance auf einen ruhigen Jahreswechsel hast du gerade zunichtegemacht, indem du es beschrien hast.“ Robert schüttelte entsetzt den Kopf. „Außerdem: Bertram? Der zählt doch bereits zum Inventar, Olli. Er ist ständig voll wie eine Haubitze, das ist schon an normalen Tagen nichts Ungewöhnliches. Ich denke, die Regel wird sich fortsetzen.“
„Lass mir bitte meinen Optimismus, Rob! Habt ihr was von Amy gehört?“
Robert war kein guter Schauspieler, zumindest nicht, wenn es um seine Kinder ging. Seine bedrückte Miene verriet Oliver alles, was er wissen musste. Amy, die Jüngste seiner Kinder, war das Sorgenkind der Familie. Manche nannten sie auch das schwarze Schaf, was er jedoch rigoros ablehnte. Seine Kleine hatte vielleicht ein paar Entscheidungen getroffen, die er missbilligte, zum Beispiel, den Kontakt zu ihrer Familie auf ein Minimum zu reduzieren, fortzuziehen und diesen abgehalfterten Typen zu daten, aber sie hatte nichts getan, wodurch diese Bezeichnung gerechtfertigt wäre. „Nein, immer noch nicht. Ich habe ihr ein Paket geschickt und ich weiß, die Mädchen und Luke haben es auch getan, aber sie hat nicht mal angerufen. Offenbar muss ich akzeptieren, dass ich warten muss, bis sie auf uns zukommt.“
Oliver seufzte mitfühlend, sagte jedoch nichts. Robert war dankbar dafür, denn es gab keine Worte, die seine Sorgen um Amy reduziert hätten. Seine Kinder bedeuteten ihm alles und solange Amy in seinem Leben fehlte, war er nicht vollständig. Als hätte er ein Bein verloren oder ein lebenswichtiges Organ, wodurch er gezwungen war, an Geräten zu hängen, die ihm am Leben hielten. Er beobachtete Lucy und Emily, was dieses bittere Gefühl in seinem Magen minimierte, das wie Galle seine Speiseröhre hinaufkroch. Sie betraten die Straße, um hinüber zum Café zu gehen, da näherte sich plötzlich ein lautes Motorgeräusch. Der Wagen raste in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Die beiden sprangen erschrocken zurück auf den Gehweg und verharrten dort an Ort und Stelle. Robert sah einen Moment in die entsetzten Augen von Emily, ihre verstörte Miene traf ihn wie ein eisernes Schwert mitten in der Brust. Sofort startete er den Motor, stellte die Sirene an und scherte so ruckartig auf die Fahrbahn, dass Oliver einen erstickten Laut von sich gab. Die Donutschachtel schlingerte bedrohlich auf seinem Schoß, doch im letzten Moment bekam er sie noch zu fassen.
„Was sage ich? Da ist der Jumper! Brettert mit gefühlten hundertachtzig Meilen durchs Dorf, als sei das hier seine persönliche Rennstrecke. Verabschiede dich schon mal von deinen Donuts, Olli, den schnappen wir uns!“
Oliver sah zuerst Robert bestürzt an, dann sein Gebäck, bis Robert den Wagen in voller Geschwindigkeit und mit Blaulicht verfolgte und er in den Sitz gedrückt wurde. Es dauerte etwas, bis der Fahrer des teuren Sportwagens – ein Aston Martin, den man in dieser Gegend kaum zu sehen bekam – langsamer wurde und rechts ran fuhr. Die Wut, die in Robert aufstieg, ließ ihn die eigene Fahrertür mit ungewöhnlicher Wucht zuschlagen. Die quälende Erinnerung an Collins Tod erwachte von Neuem, und er sah sich plötzlich an der Unfallstelle aus seinem Polizeiauto steigen und auf den Mann zutreten, der bereits von den Sanitätern wiederbelebt wurde. Als er wenige Sekunden später erkannt hatte, dass es sich um seinen Schwiegersohn handelte, war das, als zöge man ihm den Boden unter den Füßen weg. Er hatte sich nie in seinem Leben machtloser gefühlt und war einfach an Ort und Stelle zusammengebrochen. Bis ihm eine innere Stimme zugeflüstert hatte, dass er Collin nicht allein sterben lassen durfte. So schwer dieser Moment für ihn gewesen war, es wäre noch schwerer gewesen, es nicht zu tun. Und so hatte er Collins Hand gehalten, über seinen Kopf gestreichelt, bis sein Herz immer langsamer wurde und schließlich das letzte Mal schlug und das Leben durch seine Adern pumpte.
Oliver rief zweimal seinen Namen, ehe er realisierte, dass er sich nicht mehr an der Unfallstelle befand, sondern einen Verkehrssünder zur Strecke bringen musste. Er biss die Zähne zusammen und klopfte an die Fensterscheibe, die mit einem leisen Surren heruntergefahren wurde. Ein junger Mann kam zum Vorschein, und Robert sah ihn betont grimmig an.
„Officer? Was kann ich für Sie tun?“, fragte er charmant, nicht jedoch, ohne leicht abfällig das Gesicht zu verziehen. Das fehlte ihm gerade noch. Ein reicher Schnösel, dem man Manieren beibringen musste. Bei genauerer Betrachtung war der Schnösel allerdings schon um die fünfundzwanzig und damit im gleichen Alter wie seine Kinder. So eine Unvernunft hätte er höchstens einem jungen Burschen zugetraut.
„Sie befanden sich in einer Ortschaft und sind dort mit überhöhter Geschwindigkeit durchgefahren“, sagte Robert streng. „Ist Ihnen das klar?“
„Tatsächlich“, stellte er nüchtern fest und verzog keine Miene. „Das war ein Versehen.“
„Ein Versehen? Mit so einer Geschwindigkeit durch meinen Ort zu fahren, war ein Versehen? Wollen Sie mich verarschen?“ Robert fühlte, wie die Wut in seinem Magen köchelte und seinen Blutdruck anheizte.
„Das fiele mir nicht im Traum ein, Officer. Vor allem nicht, wenn es sich um Ihren Ort handelt“, versicherte der Fahrer ihm süffisant grinsend. „In diesem Wagen merkt man die Geschwindigkeit kaum.“
„Fahrzeugpapiere und Führerschein bitte! Steigen Sie aus - sofort.“
Gehorsam reichte er Robert zuerst die Papiere und stieg dann aus dem Auto. Eine hochgewachsene Gestalt erschien vor ihm. Gut aussehend – ohne Frage, was ihn in Roberts Augen nur noch schuldiger machte. Diese jungen eingebildeten Typen, die dank Daddys Hilfe mit dicken Autos unterwegs waren, waren ihm immer ein besonderer Dorn im Auge. Robert reichte die Papiere an Oliver, damit er sie im Polizeiwagen überprüfte. „Ist Ihnen überhaupt klar, dass sie Menschen töten können, wenn Sie mit diesem Affenzahn durch die Straßen brettern? In der Silvesternacht, wo die Menschen feiern und allerhand Dummheiten anstellen?“
„Es war ein Ausrutscher, das sagte ich bereits!“, entgegnete er. „Eine Dummheit, wenn Sie so wollen.“
„Das ist alles, was Sie dazu zu sagen haben?“
„Was sollte ich denn noch dazu sagen? Um Gnade flehen? Winseln? Betteln?“
Der spöttische Laut, der dem Mann dabei entwich, stachelte Roberts Wut noch an. Provokant leuchtete er mit der Taschenlampe in sein Gesicht, woraufhin er die Augen zusammenkniff. „Das wird Sie einiges kosten, das versichere ich Ihnen.“
„In Ordnung.“
Fieberhaft überlegte Robert, mit welchem Grund er ihn einbuchten konnte - wenigstens für vierundzwanzig Stunden -, doch wegen Arroganz konnte man niemanden belangen. Leider! Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass Oliver was fand. Ein Vergehen, weswegen er ihn wenigstens mit aufs Revier nehmen konnte, um ihm sein selbstgefälliges Grinsen aus dem Gesicht zu wischen.
Oliver stieg gemächlich aus dem Wagen und räusperte sich vernehmlich. „Äh ... Chief?“
Der Angesprochene sah gerade noch, wie ein Grinsen auf dem Gesicht des jungen Mannes erschien, als erwarte er eine ähnliche Reaktion, was ihn noch mehr ärgerte. „Ja?“
„Das ist Jake O’Reiley.“
„Ja, und?“
„Der Rennfahrer …“
Robert zog eine Grimasse und wandte sich seinem Kollegen zu. „Kenn ich nicht. Sollte ich das?“ Er trat wieder zu dem Fremden und sah ihn grimmig an, der nur mit den Achseln zuckte. „Jake O’Reiley? Das sind Sie?“
Das Grinsen des Fahrers wurde breiter. „Sieht ganz danach aus.“
„Wischen Sie sich das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht. Für mich ändert das überhaupt nichts. Selbst wenn Sie der Papst wären, würde ich nicht davor zurückschrecken, Sie in eine Zelle zu stecken. Wer diese Leute hier gefährdet, bekommt es mit mir zu tun, verstanden?“
Jake O’Reiley salutierte, als sei er beim Militär von seinem Oberbefehlshaber angesprochen worden. „Klar und deutlich, Sir! Sie sind also der Hirte all dieser Schafe?“ Der leicht sarkastische Ton in der rauen Stimme provozierte Robert nur noch mehr. „Menschen habe ich auf diesem gottverlassenen Fleck Erde nämlich noch nicht gesehen … nun abgesehen von Ihnen selbstverständlich, Sir. Sie sind schließlich kein Schaf, sondern der Hirte.“ Ein Glucksen entwich ihm, und Robert klatschte mit der flachen Hand auf die Windschutzscheibe des Autos, worauf Jake und Oliver erschrocken zusammenfuhren.
„Ich habe selten so viel gequirlte Kacke gehört, Sie Witzbold. Dieses Dorf ist nicht eine Ihrer Rennstrecken. Menschen sterben durch diese Raserei. Olli, hol den Alkoholtest.“ Da rollte der Verkehrssünder doch glatt wieder mit den Augen. „Das finden Sie wohl witzig, was?“
„Nein gar nicht. Ich bin todernst.“ Er zuckte unschuldig mit den Schultern. „Den Test können Sie sich sparen. Ich trinke bis auf einen Tag im Jahr keinen Alkohol.“
„Nach Ihren Äußerungen zu urteilen, werde ich lieber auf Nummer sicher gehen.“
„Ich bin von Haus aus unverschämt. Dafür brauche ich keinen Alkohol.“
Robert kniff die Augen zusammen und schnaubte wie ein Stier. „Sie können sich Ihre überhebliche Art sparen.“ Sein Kollege brachte den Alkoholtest und reichte ihn Robert, der das hygienisch verpackte Mundstück aufsetzte und dem Mann vor ihm hinhielt. „Dann blasen Sie mal kräftig.“ Noch ehe seine Worte verklungen waren, stöhnte Robert und fügte knurrend hinzu: „Sparen Sie sich jeden weiteren Kommentar!“
Schmunzelnd folgte der überhebliche Kerl gehorsam seinen Anweisungen und lehnte sich danach gegen sein Auto, die Hände tief in seine Taschen vergraben. Zähneknirschend gab Robert das negative Ergebnis seinem Partner durch und wechselte einen Blick mit dem Fremden, der so viel besagte wie: „Sag ich doch!“
„Sie bekommen Post.“
„Yippie-ya-yeah Schweine…“ Robert warf ihm einen scharfen Blick zu. „Äh … ich Glückspilz!“, sagte Jake ironisch und wartete geduldig, bis seine Daten aufgenommen worden waren. „Hey, Chief! Passen Sie jetzt auch so gut auf mich auf? Ich meine, wo ich doch jetzt eins ihrer Schäfchen bin?“
„Sind Sie das?“
„Ich suche gerade den Weg zu meinem neuen Wohnsitz. Halleberry Castle? Können Sie mir vielleicht behilflich sein?“
Robert wandte sich um, ohne ihm zu antworten. „Verfluchte Jumper, so fängt das Jahr ja wundervoll an. Statt nur einen Irren am Silvesterabend, bekomme ich einen Irren fürs ganze Jahr! Yippie-ya-yeah Schweinebacke“, knurrte Robert und stieg schwungvoll in seinen Wagen, von wo aus er Jake noch einen tödlichen Blick zuwarf.
KAPITEL 3
EMILY
Voller Enthusiasmus stand Emily am ersten Arbeitstag des neuen Jahres vor dem Spiegel, ignorierte die zweite Zahnbürste und den leeren Stuhl am Küchentisch, indem sie ihren Kaffee im Stehen trank, und eilte daraufhin los, um pünktlich die Galerie zu öffnen. Der Schnee hatte sich in einen schmutzigen, grauen Matsch verwandelt. Ein eleganter Sportwagen brauste mit Wahnsinnstempo an ihr vorüber und bespritzte sie mit den Matschresten, sodass Emily wie ein Rohrspatz fluchte und bestürzt auf die neuen Stiefel sah, die sie von Mary erstanden hatte. Sie waren versaut. Das fing ja gut an.
Der Tag füllte sich mit den üblichen belanglosen Dingen, die erledigt werden wollten, und solange Susan, Emilys Chefin und die Inhaberin der Galerie, noch im Ski-Urlaub war, blieb alles an Emily hängen. Allerdings war das keine Strafe für sie. Denn Susan war schwierig und die Arbeit mit ihr anstrengend. So genoss sie Susans Urlaub wahrscheinlich mehr als sie selbst. Allerdings ruinierte sie Emilys Hochgefühl in der Sekunde, als sie spontan verkündete, am nächsten Tag zurückzukehren. Offenbar interessierte sich ein vielversprechender Kunde für die Kunstwerke der Galerie. Es musste ein großer Fisch sein, wenn Susan sogar ihren Urlaub dafür abbrach. Also kam sie der Bitte ihrer Chefin nach und brachte ein paar der Bilder, die in ihrem kleinen Atelier, das sie, seit Collins Tod nur selten aufgesucht hatte, zwischengelagert waren, zur Galerie zurück.
Seit Collins Unfalltod hatte Emily sich um die Neuanschaffung eines Wagens gedrückt und war immer auf Hilfe angewiesen. Ein Teil von ihr schämte sich regelrecht dafür, dass sie es unmöglich fertigbrachte, Auto zu fahren. Deswegen hatte sie auch nur Luke fragen können, ob er ihr helfen würde. Wegen seiner besonderen Freundschaft mit Collin war er es, der von all ihren Geschwistern am besten verstand, wie sie sich fühlte. Er verurteilte sie nicht wegen ihrer Ängste oder trieb sie dazu an, sich ihnen zu stellen. Luke hatte sofort zugestimmt und wartete bereits vor der Galerie, als Emily eilig die Jacke überzog und in den Wagen kletterte. Es war später Nachmittag, und die Sonne schien nur noch für kurze Zeit durch die dunklen Wolken.
„Hey Darling, ich fass es nicht. Sind das diese wahnsinnigen süßen Stiefel, die Mary in ihrem Laden hatte?“
Emily kicherte über das Gesicht ihres Bruders, der ganz neiderfüllt auf ihre Füße starrte. Er mochte zwar schwul sein, gab sich aber größte Mühe, nicht irgendwelche Klischees zu erfüllen, was ihm oft misslang. In Wahrheit beneidete er Emily darum, diese Schuhe zu tragen. „Hat der Weihnachtsmann mir gebracht!“ Emily beugte sich zu ihm und küsste ihren verdatterten Bruder auf die Wange.
„Und was hast du ihnen angetan? O Mann, ich wäre von uns beiden das bessere Mädchen geworden, eindeutig.“ Er deutete auf die grauen Flecken am Rande des Schafts.
„Unbestritten – da bin ich ganz deiner Meinung. Aber in diesem Fall bin ich unschuldig. So ein Idiot mit einem teuren Sportschlitten hat mich von oben bis unten mit Schneematsch bespritzt“, entrüstete sie sich.
„Da fing dein Tag ja bombig an, was?“, grinste Luke und fuhr endlich los. Er bog in die kaum befahrene Halleberry Road ein, die zum Halleberry Castle führte - einem alten Herrenhaus, mit dem Ruf, dass es dort spukte. Tatsächlich geschahen in dem Gemäuer regelmäßig bizarre Dinge. Deshalb war es ein beliebter Ort für Mutproben, so auch für Emily in ihrer Kindheit. Jedes der Kinder in ihrer Klasse hatte Angst davor gehabt, und häufig musste die Schulkrankenschwester kurz vor Unterrichtsende einen Spuckeimer entbehren. Emily war jedoch anders. Sie hatte sich schon immer zu unerklärlichen Mysterien hingezogen gefühlt und die Schönheit in Dingen erkannt, die in anderen Augen meist wertlos wirkten. Deswegen war sie damals unbeschwert den Hügel hinaufgegangen und hatte ihre Kamera mitgenommen, um Beweisfotos zu schießen. In dem alten Gebäude hatte sie zwar ein paar Fledermäuse, Ratten und Spinnen gesehen, aber nichts Grauenvolles gefunden, wovor man sich hätte fürchten müssen. Stattdessen hatte sie allerhand Sehenswertes entdeckt. Von Efeu umranktes historisches Gemäuer und einen Ausblick, den es nirgendwo sonst in dieser Gegend gab. Das Anwesen lag am höchsten Punkt des Dorfes und befand sich am Rande einer Klippe, die hinaus aufs Meer zeigte. Zu jeder Tages- und Nachtzeit gab es an der gleichen Stelle anderes Licht und dadurch einen einzigartigen Blick, den sie seither mit ihrer Malerei einzufangen versuchte, und doch war es ihr niemals wirklich gelungen. Für Emily war es der schönste Platz des ganzen Örtchens, daher hatte sie schon vor Jahren diesen Teil des Anwesens nahe der Klippe gepachtet und ein kleines Holzhäuschen errichten lassen, um ihre Malarbeiten sicher zu verstauen. Damals hatte sie jede freie Minute dort verbracht und jetzt konnte sie sich kaum noch erinnern, wann sie das letzte Mal dort gewesen war.
Während der zehnminütigen Fahrt zum Atelier blickte sie aus dem Fenster und wurde zunehmend stiller. Luke telefonierte währenddessen über die Freisprechanlage mit einem Mandanten. Die weiße Schneelandschaft hatte sich sogar auf den Feldern verabschiedet und war einer grauen Masse auf dem Boden gewichen, die ungemütlich war und kaum dazu animierte, sich im Freien aufzuhalten. Gewöhnlich war es länger frostig, allerdings hinterließ der Klimawandel wohl auch hier seine Spuren. Am heutigen Tag hatte Emily diese Veränderung als Abschied des alten Jahres betrachtet. Sie wollte so dringend ihren Kummer vom Regen die Straße hinunterspülen lassen. Kaum war ihre Ablenkung vorüber, drangen die quälenden Gedanken wieder zu ihr durch. Wahrscheinlich lag es eher an dem Ort, den sie gleich wiedersehen würde, oder an der Konfrontation mit ihren Erinnerungen an Collin. Sie hörte gar nicht, wie Luke das Gespräch beendete, sondern sah nur den schmalen Waldweg, den sie gerade so mit dem Auto passieren konnten, und den Pavillon, der in Sicht kam. Luke parkte den Wagen davor und blieb schweigend im Auto sitzen. Er wusste genau, dass Emily noch einen Moment brauchte, und wollte sie keinesfalls drängen. Der Schlüssel in ihrer Hand wog in dem Augenblick so viel wie ein Ziegelstein und sie fühlte sich zu kraftlos, ihn anzuheben.
„Wenn du möchtest, gehe ich allein. Doch ich denke, du solltest dir diesen Ort zurückerobern. Er hat dir so viel bedeutet – lange Zeit vor Collin“, hörte sie Luke sagen. Seine Hände umfassten das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten, und Emily spürte, dass es ihn Überwindung kostete, ihr diesen Rat zu geben. Eierlaufen im Mienenfeld hatte ihre Schwester Lucy es einst genannt, wenn es darum ging, die richtigen Worte zu finden. Trauer war ein gemeiner Verräter. Selbst nach zwei Jahren tauchte sie heimtückisch auf, und drohte sie, mit sich in die Tiefe zu ziehen. Es kostete so viel Kraft, so viel Anstrengung nicht unterzugehen. Wie oft war Emily schon drauf und dran gewesen, ihr nachzugeben, die Rettungsleine loszulassen und sich ihrem Schicksal zu ergeben. Doch dann war da stets ihre verrückte, nervtötende Familie, die unermüdlich dafür sorgte, dass sie festhielt. Vielleicht war es auch eine kleine Kriegerin in ihr, die es einfach nicht gestattete, dass sie losließ. Eine Stimme, die ihr zuflüsterte, dass Collin vielleicht ein paar Kapitel ihres Lebens gefüllt hatte, aber noch so viel mehr auf sie wartete. Sie musste weiterlesen, um zu erfahren, wie es weiterging und obwohl es ihr schwerfiel, darauf zu vertrauen, tat sie es. Deswegen, und weil sie keine Lust auf spöttische Kommentare von Luke hatte, stieg sie aus.
Ihre Hand zitterte leicht, als sie den Schlüssel ins Schlüsselloch schob und die Tür zu öffnen versuchte. Das Holz hatte sich bedingt durch die Witterung verzogen. Mit einem kräftigen Ruck ließ sie sich endlich aufmachen. Der Raum lag dunkel vor ihr, nur ein muffiger Geruch schlug ihr entgegen. Sie zog den Vorhang vom Fenster zurück, wirbelte dabei ein wenig Staub auf, der sie in der Nase kitzelte, sodass sie nieste. Die Helligkeit verdrängte die Finsternis und gab den Blick frei. Das Häuschen war gerade groß genug, um ein kleines Sofa zu beherbergen und diverse Malutensilien, dennoch war es zum Bersten voll mit Erinnerungen. Emily mied den Blick zur kleinen Sitzgarnitur und wandte ihr sogleich den Rücken zu. Sie schluckte mühsam den Klos im Hals herunter und deutete auf mehrere eingewickelte Pakete, in denen sich Bilder und Leinwände befanden. Luke, der ihr stillschweigend gefolgt war, betrachtete gerade eines der Gemälde, das nicht eingepackt war.
„Ist das von dir? Ja … ich sehe schon das EC“, beantwortete er seine Frage selbst. Es war ein Bild, das sie in ihren glücklichsten Jahren gemalt hatte. Er sah bedauernd zu ihr auf. „Wann wirst du dein Talent nicht weiter vergeuden und endlich wieder zu malen beginnen?“, fragte er plötzlich.
Emily gab ihm wortlos die verpackten Kunstwerke und er trug sie zum Wagen hinaus. Wie automatisch fiel ihr Blick auf das rote Sofa im Barockstil, das Collin und sie während ihrer Hochzeitsreise in Schottland auf einem der antiken Dorfmärkte erstanden hatten. Es hatte einen schlimmen Streit gegeben, mindestens genauso heftig war ihre Versöhnung gewesen, die sie in ihrem Hotelzimmer gefeiert hatten. Collin hatte dieses Ding gehasst, weil er einen Anhänger hatte mieten müssen, um es durch halb Schottland mit nach Hause zu nehmen, und da es eine horrende Summe gekostet hatte. Er hatte es Emily jedoch nicht abschlagen können. Collin war im Gegensatz zu ihr weniger romantisch und kunstverliebt gewesen. Das hatte die Träumerin in Emily mit mehr Realität versorgt und den Realisten mit Träumen ausgestattet. So waren sie die perfekte Ergänzung füreinander gewesen.
Ihr Herz schlug schneller bei dem Gefühl, vollkommen verlassen zu sein. Ihr Hals schnürte sich zu, sodass sie kaum noch Luft bekam, und plötzlich war ihr alles zu viel. Sie wollte nur noch fort, raus aus diesem Ding, das sie immer mit Inspiration und Liebe erfüllt hatte. Sie floh über die Wiese und hörte, wie Luke besorgt ihren Namen hinterherrief. Sie winkte jedoch nur ab und trat an den Rand der Klippe. Diese Aussicht. Sie blickte aufs Meer hinaus, das ganz im Gegensatz zu ihren Emotionen friedlich und sanft an den Strand schwappte. Der Himmel war grau und wolkenverhangen, dennoch kämpften sich ein paar Sonnenstrahlen durch die tiefe Wolkendecke und erweckten die sanften Wellen unten am Ufer glitzernd zum Leben. Hingerissen von dem atemberaubenden Anblick wurde Emily ruhiger, ihr Herzschlag normalisierte sich, und das drückende Gefühl in ihrer Halsgegend verging. Sie schloss die Augen und sog Luft in ihre Lungen. Der kühle Wind blies ihr zärtlich durchs Haar, so sanft wie eine Liebkosung.
Es war Luke, der sie zurück in die Realität holte. „Ich bin so weit, Emily. Kommst du?“
Sie sah zu ihrem Bruder zurück, dessen Haar trotz des Gels seltsam abstand. Dieser Anblick war so lustig, dass sie kurz lachte. „Ehrlich gesagt, würde ich gern zu Fuß zurücklaufen. Ich brauch etwas … Zeit.“
Luke sah sie zweifelnd an und gab ihr einen Kuss auf die Schläfe. „Ist gut, meine Süße!“ Dann warf er noch einen bedauernden Blick auf ihre neuen Stiefel. „Ich wäre ein besserer Daddy für euch gewesen.“
Emily lächelte angestrengt, bis sie ihn davonfahren sah. Ihre Miene wurde wieder ernst, als sie den Pavillon betrachtete und zögernd auf ihn zuging. Es war über zwei Jahre her, dass sie zuletzt hier draußen gemalt hatte. Malen war ihre Leidenschaft, keine mit der sie vorgehabt hatte, Geld zu verdienen, sondern ein Ausgleich für harte Arbeit. Sie begutachtete zuerst das Sofa und dann die Leinwände, die in der Ecke standen. Sie brachte es nicht fertig, den Skizzenblock zu öffnen, hielt aber inne, falls sich das Gefühl von Ohnmacht wieder verflüchtigen würde, als das Geräusch der zuschlagenden Tür sie zusammenfahren ließ. Ihre Entwürfe segelten zu Boden und nahmen ihr die Entscheidung ab, ob sie sie wirklich ansehen wollte. Bevor sie sich bücken konnte, durchfuhr sie eine eigenartige Vorahnung. Sie kam sich beobachtet vor und hatte die seltsame Gewissheit, nicht mehr länger allein zu sein. Langsam trat sie zum Ausgang und stieß die Tür ruckartig auf. Ein Krächzen ertönte, sie sah dem Tier, das sie erschreckt hatte, beim Fortfliegen zu und atmete hörbar aus. Nur ein Vogel. Sie schüttelte den Kopf, doch ehe sie ihre Bilder aufsammeln konnte, glitt ihr Blick flüchtig über eine Person, die direkt am Rand der Klippe stand.
„Was zum Teufel …“, entfuhr es ihr, als der Mann in dem Neoprenanzug auch schon die Arme ausbreitete und tatsächlich vom Felsen sprang. Hektisch eilte sie zum Rand der Klippe und sah ins Meer hinunter. Ein paar Sekunden verstrichen, in denen sie sich fragte, was sie tun sollte. Der Handyempfang hier oben war kaum vorhanden, sodass sie sicher nicht schnell genug Hilfe rufen konnte. Ehe sie darüber nachdenken konnte, hinterherzuspringen, tauchte sein Kopf wieder in den Fluten auf.
Emily atmete erleichtert auf und rief: „Warten Sie, ich komme zu Ihnen!“ Sie beeilte sich, den schmalen Pfad zum Ufer hinunterzuklettern. Dabei rutschte sie einige Male ungalant aus und landete unsanft auf ihrem Po. Humpelnd watete sie durch den nassen Sand auf die Person zu, die gerade an den Strand gespült wurde. Emily betrachtete den Mann in Schwarz vor sich genau und hielt den Atem an. Er strich sich die dunklen, nassen Haare über den Kopf nach hinten, die sich aber schnell widerspenstig aufrichteten und abstanden. Sein Gesicht war maskulin und kantig, während der Schatten seines Dreitagebarts die feingeschwungenen Lippen umgab. Er trug tatsächlich einen Neoprenanzug, und Emily konnte nur erahnen, wie durchtrainiert sein Körper war. Dieser Mann erweckte nicht den Eindruck, suizidgefährdet zu sein - ganz und gar nicht. Dennoch war er gerade von einer Klippe gesprungen, die von hier unten noch viel höher und beängstigender schien. Emily schluckte, fand dann jedoch ihre Stimme wieder. „Was zur Hölle machen Sie hier?“
„Ich?“, fragte er perplex und sah sich einmal um, als erwarte er hinter ihm eine weitere Person, mit der sie sprach.
„Ist Ihnen was passiert? Soll ich Sie in ein Krankenhaus bringen? Gut, wir müssten laufen, doch … Haben Sie was abbekommen?“
„Entschuldigung?“ Er sah aus, als hätte er einen Geist gesehen. Gut, sähe sie wahrscheinlich auch, wenn sie gerade von einer Klippe gesprungen wäre.
„Was immer Sie dazu getrieben haben mag zu springen, es gibt bestimmt eine andere Lösung dafür. Da bin ich sicher.“
„Wovon zum Teufel sprechen Sie?“ Sein Blick richtete sich verständnislos auf Emily, als zweifle er an ihrem gesunden Menschenverstand. Beim Blick in seine Augen erstarrte sie und vergaß für wenige Sekunden, dass er sie offenbar für plemplem hielt. Seine Augen waren so durchringend blau, dass ihr die Spucke wegblieb. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie solche Augen gesehen. Vielleicht trug er Kontaktlinsen? „Was zur Hölle wollen Sie von mir?“, herrschte er sie unerwartet unfreundlich an.
„Was ich von Ihnen will? Dass Sie sich nicht umbringen natürlich.“
Er schaute verdattert zu ihr hinab. „Ich mich umbringen?“ Dann blickte er zur Klippe hinauf, und ein Lächeln tauchte auf seinem Gesicht auf, das sich schließlich in ein breites Grinsen verwandelte. „Ich will mich nicht umbringen. Oder sieht dieser Körper etwa so aus, als wolle er sein überaus geiles Leben früher beenden, als unbedingt nötig?“
„Wollen Sie nicht? Welcher Idiot springt von einer Klippe?“ Etwas verunsichert glitt ihr Blick von seinem attraktiven Gesicht über den muskulösen Körper bis zu seinen Füßen, die im Sand steckten. „Aber warum … ?“ Sie errötete, als ihr klar wurde, dass sie sich gerade in die Nesseln gesetzt hatte.
„Sie haben doch nicht wirklich gedacht, ich stürze mich in den Tod? In einem Neoprenanzug?“ Er lachte rau und sah einer Spur herablassend zu ihr hinunter. „Ich bin vielleicht ein Adrenalinjunkie, aber sicher kein Selbstmörder.“ Er begann wieder zu lachen, so laut, dass Emily sich auf den Arm genommen fühlte. „Das hat schon eine gewisse Ironie, das muss ich zugeben.“
Emilys peinlich berührte Seele wurde zornig. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum sollte jemand von einer Klippe springen?“
Er sah sie einen Moment abwartend an, dann schüttelte er den Kopf, marschierte an ihr vorbei und lief zu dem Bündel Kleidung und dem Surfbrett, die im Sand lagen. „Nur so zum Spaß?“, fragte er vorsichtig und machte eine seltsame Verrenkung, um den Reißverschluss zu öffnen, und sich den Anzug vom Körper zu schälen.
„Spaß ja? Das nennen Sie also Spaß?“ Sie starrte auf seine nackte Brust und schluckte.
„Entweder haben Sie eine seltsame Vorstellung von Spaß …“ Er betonte das Wort besonders. „… oder sie sind eine verklemmte Tussi, die keine Ahnung hat, wie man richtigen Spaß hat. Kein Wunder, wenn man in diesem Ort lebt. Hier hat niemand Spaß.“
„Verklemmte Tussi?“, wiederholte Emily entgeistert und trat einen Schritt auf ihn zu. „Was zur Hölle fällt Ihnen eigentlich ein?“
„Hören Sie, ich bin gerührt über Ihre Sorge, aber Sie können ganz beruhigt sein und gehen. Ich bin so lebensfroh wie niemand sonst in diesem verschlafenen Kuhkaff.“
„Was sind Sie doch nur für ein Gentleman“, spottete sie.
„Wohl eher nicht!“, murmelte er und wandte ihr den Rücken zu, der zu dieser Jahreszeit ungewöhnlich braun gebrannt war.
Emily ignorierte das jedoch und zeterte weiter: „Beinahe wäre ich hinterhergesprungen, um Sie zu retten.“
„Das hätte Ihnen womöglich gutgetan.“ Er schloss genervt die Augen und ergriff seinen Anzug, der um seine Hüften baumelte.
„Was … zur Hölle tun Sie da?“, entfuhr es ihr fassungslos.
„Na was schon? Ich ziehe mich um!“, antwortete er ungerührt und präsentierte ihr seine vollkommen entblößte Rückseite. Emily schnappte nach Luft. Es war eindeutig zu lange her, dass sie einen Mann nackt gesehen hatte, anders konnte sie sich ihre Reaktion auf seinen Körper nicht erklären. Eine gefühlte Ewigkeit verging, ehe sie es fertigbrachte, sich taktvoll umzudrehen. Sie gab ihm Zeit, sich anzuziehen, und sah vorsichtig über ihre Schulter zu ihm zurück. Er trug mittlerweile immerhin eine Jeans.
„Sie wissen schon, dass Nacktsein hier am Strand untersagt ist.“
„Wer sind Sie? Die Strand-Polizei?“, stöhnte er genervt.
„Was würden Kinder denken, wenn sie Sie sehen würden?“
Er sah demonstrativ rechts und links das Ufer hinunter und breitete die Arme aus. „Es ist keine Menschseele da! Abgesehen natürlich von einer nervtötenden, plappernden Frau.“
Empört schnappte Emily nach Luft.
Er stemmte die Hände in seine schmalen Hüften, auf denen die Jeans ziemlich locker saß. „Lady, ich habe Sie höflich gebeten, mich in Ruhe zu lassen. Es war Ihre Entscheidung zu bleiben, um meinen nackten Arsch zu sehen.“
„Wie kann ich wissen, dass Sie darunter nichts anhaben? Normalerweise trägt man doch Shorts, oder etwa nicht?“
„Sind Sie jetzt meine Mum oder was?“
Daraufhin konnte Emily nichts antworten. Sie stellte fest, dass sie sich nur tiefer in den Schlamassel hineinmanövrierte, und wollte ihm gern etwas Schlagfertiges entgegensetzen. Wie immer fiel ihr in diesem Augenblick nichts Passendes ein. Dieser Typ war ungehobelt und unverschämt. So was musste sie sich nicht bieten lassen. Daher wandte sie sich entschlossen von ihm ab und stapfte wutentbrannt den Weg zu dem schmalen Aufgang zurück, den sie eben zurückgelegt hatte. Er war steiler, als Emily erwartet hatte, und dank des starken Regens über den ganzen Tag verteilt, war es fast unmöglich, ohne Verletzungen hinaufzuklettern. Dummheit musste eben bestraft werden. Warum musste sie auch stets die Probleme anderer Leute beheben? Ihr Vater hatte immer schon gesagt, dass sie sich zu sehr in die Angelegenheiten anderer Menschen einmischte. Etwas, das sie zweifellos von ihm geerbt hatte. Wäre sie bloß in Lukes Wagen gestiegen, dann säße sie jetzt im Warmen und einem Zuhause, das sie hasste. Sie seufzte und hörte überrascht eine Stimme hinter sich: „Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“
Sie wandte sich um und schaute in diese wahnsinnig schönen Augen, die ihre Knie zusätzlich weich werden ließen. „Wie großzügig“, murmelte sie schnippisch. Er reichte ihr eine Hand, die sie geflissentlich ignorierte. Stattdessen krabbelte sie allein den Abhang hinauf. Er zuckte bloß mit den Achseln und lief locker an ihr vorbei.
Nach einem schwierigen Weg kam sie keuchend oben an und stellte überrascht fest, dass er mit verschränkten Armen auf sie wartete. Sein Grinsen trieb ihr die Röte ins Gesicht. Sie sollte unbedingt etwas für ihre Ausdauer machen. Früher waren Collin und sie immer gemeinsam am Strand joggen gegangen, doch ... jetzt nicht mehr.
„Was treiben Sie überhaupt hier?“, fragte er schließlich und wandte sich ihr zu. „Das ist Privatgelände. Sie haben hier nichts verloren.“
Ratlos blickte Emily auf seine hochgewachsene Gestalt, die sich ihr nun prompt noch mal zuwandte. Sein gutes Aussehen ließ sie erneut innehalten, während sie in sein anziehendes Gesicht blickte. Nein, sie wusste überhaupt nicht, wer er war. Sein Haar war nass und dunkel, fast rabenschwarz wie das Gefieder der Krähe, die sie zuvor erschreckt hatte. Seine Lippen waren gleichmäßig und die Nase ziemlich gerade, wobei sie einen Tick zu breit erschien. Das, was Emily aber den Atem raubte, waren seine Augen. Sie waren stahlblau und selbst auf die Entfernung schienen sie sich in ihren Körper zu bohren. Emily fragte sich unweigerlich, ob sie schon jemals so einen Blick gesehen hatte. Sein Anblick machte sie noch unfähiger, ihm eine entsprechende Antwort zu geben. Sie starrte ihn nur an, ohne zu zwinkern. Sofern das überhaupt möglich war, war er noch schöner als ihr Bruder Luke, und das mochte schon etwas heißen. Er trug sein Surfbrett unter dem Arm, das er gerade auf dem Boden abstellte, und sah sie aufreizend an.
„Kein Problem ergötzen Sie sich nur weiter an diesem Körper, so was sehen Sie als Hinterwäldlerin wohl nicht so häufig.“
Sie räusperte sich verlegen und fand endlich ihre Stimme wieder. „Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind, auch wenn ich Sie damit offensichtlich enttäuschen muss, Mister …?“
Er schaute sie einen Augenblick missbilligend an, senkte den Blick ein wenig und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wer sind Sie, und was machen Sie auf meinem Grund und Boden, junge Lady? Sie sind doch nicht etwa hier, um zu spannen?“
„Um zu spannen? Denken Sie, sowas habe ich nötig?“, echote Emily ungläubig, lachte dann jedoch und zwang sich, auf sein rechtes Ohr zu schauen, das unter den fransigen Haaren hervorlugte, aus Angst, ihn wieder anzuschmachten. „Sie haben echt Nerven, mich hier so anzufahren. Als ich mich das letzte Mal umgesehen habe, sprang ein Verrückter von dieser Klippe, und ich wollte bloß helfen.“
„Auch wenn ich Ihnen nicht verbieten kann, mich so anzustarren, wie Sie es eben getan haben, ist es Ihnen noch lange nicht gestattet, auf meinem Privateigentum herumzuspazieren.“
Emily entwich ein empörter Laut. „Entschuldigen Sie mal: Ich starre nicht!“
„Na klar starren Sie!“
„Reden Sie keinen Unsinn, Sie haben mich nur unvorbereitet getroffen und überrascht. Wer rechnet schon damit, dass er sich im Gespräch mit einer Fremden plötzlich auszieht. Man könnte auch denken, Sie seien exhibitionistisch veranlagt.“
„Ach bitte, das hat Ihnen doch gefallen. Geben Sie es zu.“
Emily setzte eine finstere Miene auf. Sie konnte nicht lügen, weswegen sie besser schwieg.
„Hätte ich Sie derart unverhohlen angestarrt, hätten Sie mir entweder eine runtergehauen oder mir einen Anwalt auf den Hals gehetzt … oder …“ Jetzt blickte er Sie aufreizend an und grinste schief, was Emily sofort erröten ließ. „Oder wir wären übereinander hergefallen und hätten Dinge getan, die Sie hier nicht mal aussprechen würden, weil Sie keine Ahnung von Spaß haben.“ Er lächelte nun anzüglich und trat näher auf sie zu.
Hektisch strich sich Emily ein paar Haarsträhnen hinters Ohr, die der Wind aus ihrer Frisur gelöst hatte. „Moment! Privateigentum?“, wiederholte sie.
Er vergrub die Hände in seinen Hosentaschen und wirkte regelrecht genervt, während er nickte. „Ja, Herzchen, so ist es.“
„Dann sind Sie der neue Besitzer von Halleberry Castle?“
„Sie sind ja eine richtige Schnellmerkerin.“
Wie war das noch mal? Mary hatte ihr doch erzählt, dass Halleberry Castle verkauft worden war. Da hatte sie wieder mal nicht interessiert genug zugehört. Aber wer konnte schon ahnen, dass es diesmal jemand kaufen würde, der zu guter Letzt auch noch darin wohnen wollte. „Und Sie leben hier?“
„Sieht ganz danach aus. Wofür sonst sollte man es anschaffen?“
„Dann kennen Sie nicht die Geschichten rund um dieses Anwesen.“ Seine herablassende Art ärgerte Emily, sodass sie schnippisch hinzufügte: „Außerdem darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass dieser Bereich von mir gepachtet wurde, und somit befinden Sie sich auf meinem Grund und Boden.“ Für sein Mienenspiel hätte sie sogar Geld bezahlt, nur um es noch mal zu sehen.
„Davon ist mir nichts bekannt“, entgegnete er grimmig, und Emily grinste nun entspannt.
„Dann lesen Sie vielleicht mal das Kleingedruckte und ranzen Sie jemand anderen an. Ich zahle jeden Monat Miete, um hier sein zu dürfen.“
„Wofür?“
Aus seinen nassen Strähnen lösten sich einzelne Wassertropfen und jedes Mal, wenn Emily die Augen schloss, sah sie seine nackte Brust, über die die Tropfen abperlten. Sie musste sich sammeln und konnte sich kaum noch an die Frage erinnern, die er ihr gestellt hatte. „Wofür was?“
„Warum zahlen Sie Miete für dieses unbedeutende Fleckchen Erde?“
Emily reckte die Nase in die Höhe und schloss die Tür zum Pavillon ab, bevor er einen Blick hineinwerfen konnte. „Wenn Sie das nicht selber sehen, sind Sie entweder blind oder ein Banause.“
Sie machte Anstalten fortzugehen, wurde aber von ihm verfolgt. „Wie heißen Sie?“
„Warum wollen Sie das wissen?“
„Falls ich Sie wegen sexueller Belästigung anzeigen will?“
„Sie wollen mich doch veraschen, oder?“ Emily blieb abrupt stehen und wandte sich urplötzlich zu ihm um, sodass er in sie hineinlief. Plötzlich waren sie sich so nah, viel zu nah für Emilys Geschmack. Sie nahm seinen Geruch wahr. Etwas Aftershave, salzige Meerluft und eine wilde Note nach der Freiheit, die er ausstrahlte, umgab ihn. Was für eine Ungerechtigkeit! Er roch himmlisch. Wie brachte er es nur fertig, so anziehend zu riechen, wo er gerade im Meer schwimmen war? Emily bemerkte, wie er einen Moment länger als nötig ihre Lippen betrachtete.
Ein unschuldiges Grinsen tauchte auf seinem Gesicht auf, und er zuckte die Achseln. „Ich habe den Chief schon kennengelernt! Er wird sicher froh sein, mich erneut zu treffen.“ Aus jedem Wort floss eine große Portion Ironie.
Emily entwich ein glockenhelles Lachen, und sie antwortete: „Da wünsche ich Ihnen viel Glück.“ Ihr Vater würde seine helle Freude an ihm haben, wo er ihr doch erst gestern die Geschichte des diesjährigen Jumpers erzählt hatte.
„Vielleicht sagen Sie ihn mir einfach so?“
„So einfach mache ich es einem dahergelaufenen Typen, der mich verklagen möchte, sicher nicht.“ Das sollte entschiedener klingen, als es tatsächlich tat.
„Ich liebe Herausforderungen!“, verkündete er.
Sie musste sich zwingen, weiterzugehen und ließ ihn stehen. „Viel Glück dabei, Sie Banause!“
Als Emily nach einer Weile vom Regen durchnässt nach Hause kam, stellte sie sich sofort unter die heiße Dusche und ließ ihr Gespräch Revue passieren. Was war das nur für ein Spinner? Gut, ein ziemlich attraktiver Spinner. Meer. Er roch nach Meer, fiel es Emily plötzlich wie Schuppen von den Augen. Und nach Freiheit.
KAPITEL 4
EMILY
„Das Gute an den ersten Tagen im neuen Jahr ist doch die Zuversicht der Leute, meinst du nicht?“ Emily sah ihren Bruder über die Gläser ihrer Lesebrille hinweg an, und Luke pfiff durch die Zähne.
„Wow, Schwesterherz, du siehst heiß aus im Bibliothekarinnen-Outfit.“
„Willst du mich auf den Arm nehmen? Ich trage kein Outfit, sondern nur eine Brille“, entgegnete Emily und schüttelte lächelnd den Kopf, während sie die Lesehilfe in ihr dunkles Haar schob und die Zeitung wegpackte. „Übrigens, mein lieber Bruder, waren wir nicht vor fast einer Stunde verabredet? Wo hast du denn so lange gesteckt?“
„Wir wollten schon eine Vermisstenanzeige bei Dad aufgeben, und du weißt ja noch, wie so was abläuft!“, fügte ihre Schwester Mary, die Emily gerade einen Latte macchiato brachte, boshaft grinsend hinzu. „Knutschend mit dem begehrtesten Typen der Schule in der Scheune vom eigenen Vater gefunden zu werden, ist schon eine Leistung.“
Luke ließ sich stöhnend auf den freien Barhocker sinken. „Dank euch werde ich den schlimmsten Tag meiner Schulzeit wohl nie vergessen, oder?!“
„Ich fürchte nicht, mein Lieber!“ Emily tätschelte bedauernd seinen Arm. „Also jetzt mal ehrlich! Wo warst du?“
„Es gab einen Notfall.“
„Einen Notfall?“, echote Emily. „Etwa einen Bruce-Notfall?“
Zögernd nickte Luke und lehnte sich im Stuhl zurück. „Er brauchte mich.“ Seine Schwestern schnalzten unisono mit der Zunge.
Mary ergriff Lukes Hand, die auf dem Tisch lag. „Ist dir klar, dass er dich für seine Zwecke missbraucht?“
„Für seine Zwecke?“, wiederholte Luke und schüttelte missbilligend den Kopf. „Das ist ja verrückt.“ Er angelte nach der Kaffeetasse von Emily und setzte sie an seine Lippen, was eine laute Beschwerde seiner Schwester zur Folge hatte. Wenn es um Kaffee ging, verstand Emily keinen Spaß. „Und wenn du das Missbrauch nennst, ist es ein sehr willkommener Missbrauch für mich!“
„Du weißt schon, dass du sein Toyboy bist“, warf Mary ein, und Luke verschluckte sich an dem gestohlenen Latte.
Emily griff nach ihrer Tasse, die so gut wie leer war. „Strafe muss sein, du Kaffee-Dieb!“
„Autsch! Was bin ich?“ Er sah von einer Schwester zur anderen. „Ein Toyboy?“
„Das ist übrigens die Strafe dafür, wenn du dich an anderer Leute Kaffee vergreifst“, entrüstete sie sich und behielt ihre Tasse lieber in der Hand. „Ich mach mir einen neuen Kaffee, Mary.“ Emily überließ ihre diskutierenden Geschwister sich selbst und trat hinter den Tresen, um die Kaffeemaschine zu bedienen.
„Was zur Hölle ist ein Toyboy?“
„Ein junger, heißer Typ, der sich einem älteren, meist nicht mehr so sexy Typen hingibt, der viel Geld hat oder berühmt ist. Madonna hat auch einen. Die älteren Kerle werden auch Sugardaddy genannt. Liest du je eine von den Klatschzeitungen, die bei dir zu Hause rumliegen? Oder erfüllen Sie nur ein Klischee“, hörte sie ihre Schwester sagen.
„Du stibitzt sie doch sofort, wenn ich welche kaufe. Außerdem ist das gar nicht so mit uns“, verteidigte Luke sich schwach.
„Wie ist es denn?“ In Marys Augen blitzte es gefährlich. „Du bist doch sein Anwalt, oder etwa nicht?“
„Na und? Er bezahlt meine Kanzlei, nicht mich.“
„Und wer kommt für dein Einkommen auf?“
Wenn man koffeinsüchtig war, wie Emily, hatte es einen riesigen Vorteil, dass die Schwester in der Stadt, nur vier Geschäfte neben der eigenen Arbeitsstelle, ein Café besaß. Der Koffeinnachschub war stets gesichert. Sie schaute auf die große Uhr und überlegte wie viel Zeit ihr noch blieb, bevor sie in der Galerie erscheinen musste. Sie entschied sich für einen Pappbecher zum Mitnehmen, als die Türglocke läutete. Prompt fielen ihr die Becher aus dem obersten Schrank entgegen, und sie suchte sie eilig zusammen.
„Übernimmst du bitte die Bestellung?“, rief Mary zu ihr herüber, und Emily murmelte unverständliche Flüche in ihren nicht vorhandenen Bart. Hektisch, wie sie manchmal war, vor allem wenn sie bereits den vierten Kaffee intus hatte und dem nächsten mit freudiger Erwartung entgegenfieberte, stieß sie sich den Kopf an der offenen Schranktür und rieb sich die schmerzende Stelle. Sie wandte sich dem Gast zu und erstarrte mitten in der Bewegung. Ihre Wangen brannten plötzlich und hatten wahrscheinlich mehr Ähnlichkeit mit dem Feuermelder, als ihr lieb war. Stahlblaue Augen betrachteten sie zuerst verblüfft, dann amüsiert.
„Bruce bezahlt mich nicht für Sex!“, rief Luke in diesem Moment, und Emily errötete noch mehr.
Der Fremde – oder nicht mehr ganz so Fremde – verzog sein Gesicht zu einer Grimasse und warf ihr einen Blick zu, der verboten gehörte. Fahrig strich Emily ihr offenes Haar, das ihr heute glatt über die Schultern fiel, aus den Augen. Warum machte dieser Kerl sie nur so nervös? Er hatte sie bei ihrer gestrigen Begegnung beschimpft und aufgezogen. Was war nur mit ihr los? Was hatte er an sich, dass er diese Wirkung auf sie hatte?
„Ich dachte mir schon, dass es nicht lange dauert, bis Sie mir wieder hinterherlechzen“, hörte sie ihn sagen und verschränkte die Arme vor der Brust.
Dieser Spruch verdiente eigentlich keine Antwort, doch Emily war eine Meisterin der Ironie. „Sie sind gar nicht von sich selbst überzeugt, oder?“ Sie betrachtete ihn erneut ausgiebig. Sein fast schwarzes, fransiges Haar war diesmal mit Gel modelliert worden. Er war frisch rasiert, obwohl man immer noch den Schatten seines Bartes erahnen konnte, und er trug eine eng anliegende Jeans, ein weißes Hemd und eine dunkle, abgenutzte Lederjacke, die an ihm unverschämt gut aussah.
„Wenn Sie meinen, dass ich arrogant und selbstgefällig bin, gebe ich Ihnen recht. Ich weiß jedoch auch, wenn eine Frau auf mich steht. Oder meinen Sie, ich glaube an einen Zufall, dass Sie mir hier auflauern?“ Er warf ihr einen neckischen Blick zu, doch Emily widerstand dem Drang, sich von ihm einwickeln zu lassen.
„Wenn Sie einen Kaffee wollen, müssen Sie ganz schnell damit aufhören, mir solche blödsinnigen Dinge zu unterstellen.“
Er sah sie verdutzt an. „Sonst was? Werde ich mit Kaffeeentzug bestraft?“
„Richtig! Gut erkannt!“ Emily nahm ihren frisch aufgebrühten Kaffee in die Hand und schlürfte genüsslich daran. „Für mich wäre das durchaus eine Strafe.“
Ein wohlklingendes Lachen entglitt ihm, und Emily konnte nicht anders, als bewundernd zuzusehen, wie seine Grübchen dabei tanzten. Warum war dieser Mann nur so schön? Na ja, nicht unbedingt hübsch im üblichen Sinne. Er war attraktiv, charismatisch und ungehobelt. Das Gespräch ihrer Geschwister verstummte, und sie bemerkte ihre neugierigen Blicke.
„Was lässt Sie glauben, dass ich nicht hinausspaziere, und meinen Kaffee woanders kaufe?“ Er sah sie herausfordernd an, und Emily spürte ein aufregendes Prickeln unter der Haut. Dieses Spielchen gefiel ihr ganz unbestritten.
Sie verzog nun das Gesicht zu einer Grimasse. „Eine Eingebung, wenn Sie so wollen.“ Er sah sie verdutzt an. „Sie sind eher so der Stadtmensch, richtig? Was lässt Sie sonst denken, es gäbe mehr als ein Café in Jarbor Hydes?“
„Touché“, gab er anerkennend zu, lehnte sich über den Tresen und erkundigte sich leiser, damit nur sie ihn verstehen konnte: „Wie soll ich unser erneutes Zusammentreffen denn dann nennen? Wo doch jeder weiß, dass es keine Zufälle gibt“, fragte er lächelnd. „Schicksal?“
Emily stockte kurz der Atem, weil es einmal eine Zeit in ihrem Leben gegeben hatte, in der sie auch an Fügung geglaubt hatte. Nach Collins Tod fiel es ihr jedoch zunehmend schwerer. Welchen Sinn hätte Collins Tod haben sollen? Es war absurd und unfassbar tragisch, wenn ein junger, gesunder Mensch starb. „Wie wäre es mit ‚unausweichliche Tatsache‘? Immerhin befinden Sie sich in Jarbor Hydes, einem winzigen Ort, in dem es nicht viele Alternativen gibt, um sich mit Kaffee zu versorgen?“
„Ich werde mich also fügen und es dem nicht vorhandenen Zufall zuschreiben und hätte gern einen Wachmacher zum Mitnehmen, bitte!“
Emily nickte, drückte die entsprechende Taste der Kaffeemaschine und bemühte sich dabei, nicht allzu sehr zu zittern. Sie nahm das Geld entgegen, wobei seine Fingerspitzen ihre Handfläche kurz berührten und sie der Hauch eines Prickelns die Hand schnell zurückziehen ließ. Er sah sie eine Sekunde irritiert an, und Emily stieß mit dem Ellenbogen gegen die Kasse. „Zu… Zucker finden Sie dort am Tisch. Bitte nehmen Sie sich, was Sie wollen.“
„Das tue ich sowieso immer“, raunte er und schaute sie zweifelsohne einen Augenblick zu lange an. Sie konnte seinen Blick nicht ganz deuten und spürte nur das nervöse Flattern in der Magengegend, das ihr völlig fremd war. Sie sah ihm nach, wie er zur Selbstbedienungsecke ging, und lief dann auf wackeligen Beinen zu Luke und Mary zurück, die ihr euphorische Blicke zuwarfen, die so auffällig waren, dass Emily die Augenbrauen warnend hob. Luke taxierte den Unbekannten von Kopf bis Fuß und machte eine beeindruckte Geste. Auch Mary schien es die Sprache verschlagen zu haben, und Emily versuchte, die peinliche Stille zu überbrücken, indem sie Lukes letzten Satz wiederholte: „Also, Bruce bezahlt dich nicht für Sex?“ Erst als der gutaussehende Fremde zu ihr zurückblickte, wurde ihr klar, was sie da gesagt hatte, und sie hätte sich am liebsten geohrfeigt.
Luke rollte mit den Augen, seufzte und entgegnete: „Nein, natürlich nicht. Das ist was völlig anderes!“ Mary ging zurück in die Küche, und ihr glockenhelles Lachen war zu hören. Luke schaute seine Schwester unsicher an. „Ist es doch, oder Emily?“
Emily hob die Achseln. „Was weiß ich schon? Solange er dich glücklich macht, ist es egal, als was die Leute dich bezeichnen.“ Luke strahlte bei ihren Worten und beugte sich vor, um ihr einen Kuss aufs Haar zu geben.
Ihr Blick begegnete stahlblauen Augen, dann verabschiedete sich der Fremde und rief: „Wir sehen uns, Emily!“ Dabei betonte er ihren Namen, den er zu guter Letzt doch noch erfahren hatte.
Kaum hatte er das Café verlassen, stürzten ihre beiden Geschwister auf sie zu und horchten sie aus. „Wer war denn diese Sahneschnitte?“, hörte sie Mary fragen. „Woher kennt ihr euch?“
Auch Luke schien ganz hin und weg von ihm zu sein. „Was war das denn für ein Leckerbissen? Er hat dich ja ordentlich angeflirtet?“
„Nein! Er … ich … keine Ahnung. Er ist wohl der neue Besitzer von Halleberry Castle …“ Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, da erstarrte Luke zur Salzsäule und sah sie an, als hätte ihn der Schlag getroffen. Gut, dass Emily nicht erzählt hatte, dass sie gedacht hatte, er wolle sich umbringen. Diese Information hätte Luke womöglich ins Grab gebracht.
„Das war er?“ Er griff sich fahrig an die Stirn, und Mary sah zwischen Emily und Luke hin und her. „Das ist Jake O’Reiley? In echt sieht er noch viel besser aus als im Fernsehen.“
„Um einiges interessanter ist allerdings, woher du ihn kennst. Erzähl schon!“
„Ich war doch gestern mit Luke die Bilder aus dem Pavillon holen, und als Luke fort war, kam er und hat mich angebrüllt, was ich auf seinem Anwesen mache.“ Luke schüttelte bedauernd den Kopf.
„Er sah nicht gerade danach aus, als wolle er dich anbrüllen. Eher so, als wolle er von dir kosten, wenn du verstehst, was ich meine.“ Mary zwinkerte ihr grinsend zu.
Emily wurde bei der Vorstellung, wie dieser Jake ihren Körper „kostete“ plötzlich ganz heiß, und sie ahnte, dass diese Hitze eine verräterische Röte in ihr Gesicht zauberte. „Ach was, er war nur … ärgerlich wegen dieser Pavillongeschichte. Was das angeht, Luke, könnte er mir da Probleme machen?“
„Schwesterherz, er kann und wird dir Schwierigkeiten bereiten, davon bin ich überzeugt.“ Er wackelte vielsagend mit den Augenbrauen, brachte Emily damit zum Stöhnen und zum Aufstehen.
Sie warf die Hände in die Luft. „Ihr macht mich fertig mit euren Metaphern. Ich muss los! Susan hat gleich den Termin mit dem vielversprechenden Kunden. Ich darf nicht zu spät kommen.“ Als sie ihren roten Mantel überzog, die Handtasche am Arm baumelte und mit ihrem Pappbecher in der Hand aus dem Café trat, fuhr ein Pick-up an ihr vorbei und hupte laut. Sie sah der grölenden Truppe hinterher und erkannte das Emblem auf der Heckscheibe. Henderson Brothers. Sie hielt einen Moment inne und sah dem Wagen geschockt nach. Die Henderson-Brüder hatten einen Kfz-Betrieb am Ende der Ortschaft allerdings waren sie weniger für ihre gut laufende Firma bekannt als für die Gang, die Jarbor Hydes ständig Ärger machte. Robert Carhill versuchte seit Jahren, die Jungs unschädlich zu machen, scheiterte jedoch stetig daran. Emily war überzeugt davon, dass diese Kerle in jegliche kriminellen Handlungen verstrickt waren, die es rund um Carlisle gab, die nächstgrößere Stadt in der Umgebung. Von Drogengeschäften, die Geld brachten, oder Körperverletzung, bis hin zu Mord, alles wurde ihnen bereits angelastet, so auch Collins Unfalltod, der keiner war. Jedes Mal, wenn sie einem der Hendersons begegnete, katapultierte sie dieser Moment zurück an den Tag, der ihr Leben verdreht hatte. Jemand rempelte sie an und brachte sie ins Hier und Jetzt zurück. Sie musste die Galerie öffnen.
In aller Eile raste sie zu ihrer Arbeitsstelle, sah jedoch, dass schon Licht brannte, und riss die Tür schwungvoll auf, um hineinzustürzen. Sie prallte mit Wucht gegen einen starken Körper, und ihr Kaffee ergoss sich über sie selbst und die andere Person. Ruckartig wich sie zurück, wobei der Mann rasch ihre Hand umfing, damit sie das Gleichgewicht nicht verlor.
„Verfluchte Scheiße, was …?“ Sie starrte auf das Malheur und den sich ausbreitenden braunen Kaffeefleck auf seinem weißen Hemd. „Oh Gott, bitte entschuldigen Sie! Ich …“ Sie sah in sein Gesicht, erstarrte und machte einen Schritt rückwärts, um etwas Distanz zu ihm zu bekommen. Stahlblaue Augen schauten überrascht zurück, und Emily war nicht fähig, den Blick abzuwenden. Ein angenehmer Schauer glitt über ihren Körper, kroch unter ihre Haut und strömte warm durch ihre Adern. Es musste eine Ewigkeit vergangen sein, während der sie sich anstarrten. So fühlte es sich zumindest für sie an. Emily erschrak über ihre Emotionen, die sie nicht nur völlig unvorbereitet trafen, sondern ihr auch gänzlich fremd waren. Jakes Miene war frei von jeglichem Spott und nichts deutete daraufhin, dass er sie auslachen würde. Im Gegenteil. Seine Miene drückte Überraschung und ... Verwirrtheit aus. Für den Bruchteil einer Sekunde kam es ihr vor, als könne sie hinter seine Fassade blicken. „Warum sind Sie nur überall?“, hauchte er.
Das Räuspern einer anderen Person brachte sie zurück in die Wirklichkeit, und der magische Moment war vorüber. Ein schiefes Grinsen tauchte auf Jakes Gesicht auf, und es glich einer Fassade, die er neu errichtete, weil sie für kurze Zeit verloren gegangen war. Kurzzeitig hatte Emily etwas wahrgenommen, dem sie sich nicht entziehen konnte. Es mochte auch an der Berührung liegen, denn er hielt immer noch ihre Hand in seiner. Sie sah, wie er sie hastig losließ, als hätte er sich an ihr die Finger verbrannt, ebenfalls zurücktrat und den Blick auf Susan freigab.
Ihre Chefin sah mit entsetzter Miene auf die Szene, die sich ihr bot. „Mr. O’Reiley, das tut mir schrecklich leid. Ich muss mich für meine Mitarbeiterin entschuldigen.“ Sie bedeutete Emily mit mörderischer Miene, dass sie ziemlich schnell und höflich um Verzeihung bitten musste.
„Ich entschuldige mich natürlich auch für meine Ungeschicklichkeit“, sagte sie gehorsam. Dann sah sie dabei zu, wie Susan begann, mit einem Handtuch Jakes Körper abzutupfen. Es war eine Szene, die aus einer albernen Komödie entsprungen zu sein schien, und peinliches Schweigen entstand. Die verzweifelte Bemühung von Susan, die sich unterwürfig daran machte, den Schaden an seinem Outfit zu verringern, war so übertrieben, dass es bereits unangenehm wurde. Emily presste die Lippen aufeinander, um nicht laut loszulachen. Irgendein Geräusch musste sie jedoch von sich gegeben haben, denn Jake fokussierte sie, während Susan beinahe auf die Knie ging und weiter über seine Kleidung wischte. Er rollte mit den Augen, und Emily biss sich auf die Unterlippe. Freundlich, aber bestimmend schob er Susan von sich, während er versicherte: „Ja ja, ist gut, ich … erledige das schon, Mrs. Blooms.“
„Nennen Sie mich doch bitte Susan“, kam es prompt von Emilys Chefin, die endlich wieder auf ihren Füßen stand. Emily wusste natürlich, dass sie diese Situation verursacht hatte, dennoch bereitete ihr die lächerliche Szene, in der er sich befand, diebische Freude. Ein Funkeln war in seinen Augen zu erkennen und Emily schaute eilig weg.
„Was genau ist daran komisch, Emily? Geh bitte rüber und kümmer dich um die neue Lieferung“, wies Susan sie gewohnt bissig an. Eigentlich konnte Emily sich glücklich schätzen, im gleichen Ort, in dem sie lebte, in ihrem Gewerbe einen Job zu finden, der ihren Lebensunterhalt sicherte. Ihre Chefin war jedoch eine schwierige Frau, die all die unangenehmen Arbeitstage und Aufgaben auf Emily abwälzte und nie, wirklich niemals zufriedengestellt werden konnte. Susan hatte es Emily offenbar übelgenommen, dass sie die Stelle in Hampshire in Erwägung gezogen hatte, kurz bevor Collin gestorben war. Nun sah Susan in diesem reichen Rennfahrer einen gut betuchten Käufer, der nicht nur nett anzuschauen war, sondern auch ihren Geldbeutel füllen konnte.
„Ja, Ma’am!“, antwortete Emily und zog sich zurück in das winzige Badezimmer. Sie bemühte sich, den Kaffeefleck auf ihrem Mantel zu minimieren, gab aber schnell auf. Er musste in die Reinigung. Eigentlich war es jedoch das Zittern, das sie in den Griff bekommen musste, bevor sie Jake erneut begegnete. Sie blickte in den Spiegel und erschrak über die hektischen Flecken, die sich auf ihrem Hals ausbreitete. „Was ist nur los mit dir, Emily Charlotte Carhill?“ Die Begegnung mit Jake hatte sie gleich mehrfach in Aufruhr versetzt, und sie sehnte sich geradezu danach, hinauszutreten, um ihn nur noch einmal anzusehen. Dieses Gefühl kannte sie gar nicht. Und es machte ihr Angst, weil es so viele andere Gefühle in Gang setzte. Fahrig strich sie sich durch das lange, glatte Haar und öffnete die Tür. Unauffällig sah sie sich nach Jake und Susan um, konnte aber niemanden entdecken und machte sich ans Auspacken der gelieferten Werke.
Ganz unerwartet und wie aus dem Nichts spürte sie plötzlich den Körper eines Mannes hinter sich, der ihr ins Ohr raunte: „Ich dachte, Sie arbeiten im Café?“
Ein aufregender Schauer breitete sich zuerst über ihren Nacken, dann über ihren Rücken und bis schließlich in ihrem Magen aus. Sein Atem strich über die empfindsame Haut an ihrem Hals. Emily schluckte mühsam und räusperte ihre plötzlich trocken gewordene Kehle. „Das ist … das Café meiner Schwester Mary.“
„Das erklärt den Namen. Warum sind Sie nur überall dort, wo ich bin?“
„Das ist ein kleines Dorf – so ist das hier nun mal.“
„Ich glaube, ich habe endlich etwas gefunden, das mir an diesem Ort gefallen könnte“, raunte er ihr zu, kam noch ein wenig näher, sofern das überhaupt möglich war, und fügte hinzu: „Solange Sie mir nicht wieder Suizidabsichten unterstellen, könnte ich an unseren Begegnungen durchaus Gefallen finden.“
„Warum?“, fragte Emily und holte tief Luft, als koste sie diese Frage ähnlich viel Anstrengung wie eine Bergwanderung.
Sie konnte ihn nicht sehen, wusste dennoch, dass er grinste, während er antwortete: „Fragen Sie jetzt wirklich nach meinen Absichten, Emily?“
„Mit persönlichen Fragen kommen Sie wohl nicht so gut klar, oder? Weil Sie etwas zu verbergen haben?“ Emily wandte sich ihm provokant zu.
„Sie haben ja keine Ahnung!“ Er grinste geheimnisvoll und zwinkerte.
„Sie wollen mich nur wieder ärgern, ich weiß es genau.“
Er sah schief grinsend auf sie hinunter, und Emily war überrascht, wie groß er war. Sie trug hohe Stiefeletten und war dennoch einen guten Kopf kleiner als er. Sein Lächeln war derart anziehend, dass sie sich der unangebrachten Nähe zwischen ihnen überhaupt nicht bewusst wurde. Erst als die Türglocke ertönte, zogen sie sich voneinander zurück, als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt. Sein Rückzug ließ sie unangenehm frösteln.
„Mr. O’Reiley, hier sind die letzten Bilder, die ich Ihnen noch zeigen möchte. Sie können sich aber auch gerne in Ruhe umsehen. Manchmal muss man die Kunstwerke einige Zeit auf sich wirken lassen, nicht wahr?“
Emily erwartete gespannt auf den Klang seiner Stimme und hätte sich am liebsten selbst eine Ohrfeige gegeben, um wieder zur Vernunft zu kommen.
„Da stimme ich Ihnen nicht zu. Ich gehöre zu den Männern, die sofort wissen, was ihnen gefällt und was sie wollen. Ich brauche nur einen kurzen Blick auf etwas zu werfen und erfasse im Bruchteil einer Sekunde den Wert.“ Er sah schnell zu Emily zurück, und sein Blick fühlte sich so intensiv an, als hätte er mit seinen Fingerkuppen Spuren über ihre nackte Haut gezogen.
Susan kicherte verhalten und antwortete etwas, das Emily nicht verstand. Sie sah ihr und Jake verstohlen nach, konnte aber durch den Widerhall in dem großen Raum nichts von seinen Worten verstehen. Sein dunkles Timbre klang zu ihr herüber und ließ sie fahrig und nervös weiterarbeiten. Ein Dutzend Mal fiel ihr Stift oder ihre Brille zu Boden.
Etwas später trat Susan mit einer sauertöpfischen Miene zu ihr und zischte: „Wo hast du die Bilder abgestellt? Dem werten Herrn scheint die angepriesene Kunst nicht zuzusagen.“
Sie deutete auf einige verpackte Leinwände, die sie in ihrer Aufregung noch nicht ausgepackt hatte. „Soll ich sie auspacken?“
„Du scheinst heute nicht ganz bei der Sache zu sein, bevor dir noch ein weiteres Missgeschick passiert, mache ich das lieber selbst.“ Susan schien darüber keineswegs besonders erquickt zu sein, begann jedoch, die eingewickelten Kunstwerke auszupacken. Emily sah, wie Susan Jake beobachtete, der mit verschränkten Armen an den großartigen Werken des neuen und aufsteigenden Künstlers Pourosie unbeeindruckt vorbeilief und missbilligend den Kopf schüttelte. Es überraschte sie nicht, dass Jake nicht unbedingt das gefiel, was die Masse beeindruckte. Er wirkte auf sie sehr extravagant, viel unkonventioneller als die sonstigen Kunden. Sie hätte ihm vielleicht auch keinen Warhol gezeigt, aber etwas, das eben außergewöhnlich und originell war. Ein Bild von Paul Klee womöglich. Sie spürte seine Aufmerksamkeit und bemühte sich um Gelassenheit, was ihr gründlich misslang, weil die Dose mit den Büroklammern klirrend zu Boden fiel und der Inhalt sich um ihre Füße verteilte. Sie beeilte sich, sie aufzuheben und ihre Gesichtsfarbe wieder unter Kontrolle zu bringen. Was war nur mit ihr los? Wie war es möglich, dass dieser Fremde sie derart aus der Fassung brachte?
„Wären Sie so gut, mir die Kunstdrucke zu bestellen, solange ich mich für keins Ihrer Werke begeistern kann?“, fragte er und sah dabei auf die Uhr. „Ich bin ziemlich in Eile.“
Susan schenkte ihm ihr freundlichstes Lächeln und nickte zustimmend, wobei Emily genau sah, dass sie angefressen war, und alles würde ihre Schuld sein. „Selbstverständlich. Möchten Sie diese dann abholen kommen?“
„Ich bin ein paar Tage nicht in der Stadt und würde mich freuen, wenn Sie sie nach Halleberry Castle bringen könnten, damit mein Assistent sich darum kümmern kann.“
Bedauern war in Susans Augen zu sehen, und sie fragte: „Natürlich. Wer wird Sie entgegennehmen?“
„Mein persönlicher Assistent Mr. Anderson ist zugegen und nimmt Ihnen die Lieferung ab.“ Sie vereinbarten einen Termin, und Jake unterschrieb die Auftragsbestätigung. Kurz bevor er ging, warf er einen Blick zu Emily zurück und verließ den Laden.
Das Lächeln auf Susans Gesicht erstarb, und sie schaute zu ihrer Angestellten: „Das war ja mal ein glanzvoller Auftritt von dir. Wolltest du mich ein für alle Mal ruinieren oder nur dieses Mal sabotieren? Dir ist doch klar, dass du ihm die Kunstdrucke bringst. Als wenn ich dieses Anwesen jemals betreten würde.“ Sie warf die Hände in die Luft und stürmte ins Lager. „Wofür habe ich meinen Urlaub abgebrochen? Für Kunstdrucke? Lächerlich und das für einen Millionär.“
Um sich „den Millionär“ nicht ganz zu vergrätzen, bestellte Susan die Kunstdrucke dennoch und warf ihnen bei der Express-Lieferung am nächsten Nachmittag nur einen abschätzigen Blick zu. „Bringst du sie in Halleberry Castle vorbei?“
Emily holte tief Luft und überlegte, ob das wirklich eine gute Idee war. Seit dem vergangenen Tag konnte sie kaum an etwas anderes denken als seine blauen Augen und den Atem auf ihrer Haut. Emily wandte ihren hochroten Kopf ab, damit Susan ihre Reaktion nicht bemerkte. Sie schämte sich für diese alberne Schulkind-Schwärmerei. Ein Glück, dass er nicht zu Hause sein würde, wobei der Stich in ihrem Inneren von der Enttäuschung zeugte. „Du kannst selbstverständlich meinen Wagen nehmen.“
„Wie großzügig“, murmelte sie und seufzte. Die Angst, sobald sie sich hinter das Steuer eines Autos saß, überwältigte sie jedes verdammte Mal, aber sie wusste, Susan würde ihr keine Ausrede durchgehen lassen. Und wenn sie erneut Luke bitten würde, sie zu fahren? Er wäre zweifellos verzückt, wenn Emily ihm erzählte, wohin er sie begleiten solle. Kurzerhand wählte sie seine Nummer, landete jedoch direkt auf der Mailbox. Im Büro erreichte sie nur seine Sekretärin, die ihr sagte, dass er in einem Meeting steckte. Emily wurde zuerst heiß und dann eiskalt. Das Letzte, was sie im Augenblick gebrauchen konnte, war eine Verstrickung in dieser Art. schließlich belud sie mit Susan ihren Kombi, nahm ihren Schlüssel entgegen und blieb vor dem Wagen stehen. Einem Impuls nach, wollte sie Susan einweihen. Ihr sagen, wie sehr es sie ängstigte, in ein Auto zu steigen und noch viel mehr, eins zu fahren. Doch dann dachte sie an Susans hämisches Grinsen, als sie kurz nach Collins Tod bei ihr zu Kreuze kriechen musste, um ihren Job zurück zu erbetteln. Es war unmöglich für sie, dieser Frau erneut einen solchen Triumph zu gewähren.
Kurzentschlossen setzte sie sich hinter das Steuer, schnallte sich an, zog den Gurt fest und kontrollierte ihn noch zwei Mal, ehe sie den Schlüssel einsteckte und tief Luft holte. Das Dufttütchen, das eine unangenehm schwere Vanillenote verströme und am Spiegel hing, verursachte ihr Übelkeit. Dennoch startete sie den Wagen, legte den ersten Gang ein, nahm den Fuß langsam von der Kupplung und gab entsprechend Gas. Der Wagen rollte und in ihrem Inneren tobte ein Sturm. Ihr Herz trommelte wie wild gegen ihre Rippen, ihre Hände waren schweißnass und in ihrem Kopf schwirrten die Gedanken. Würde sie tatsächlich fahren? Langsam rollte der Wagen den Parkplatz hinunter und Emily wartete, bis die Straße frei war, um anschließend in die Hauptverkehrsstraße einzubiegen. Der Weg zum Halleberry Castle war kurz, und so leer, dass sie es als erste Fahrt nicht besser hätte treffen können. Schon nach kurzer Strecke sah sie das eindrucksvolle Anwesen, dessen Turmspitzen, zwischen den hochgewachsenen Baumwipfeln herausragte. Vor dem Tor hielt sie und holte tief Luft, als hätte sie den gesamten Weg hierher kein einziges Mal eingeatmet, was vielleicht sogar stimmte. Dieser Duft verursachte ihr nämlich nicht nur Übelkeit, sondern auch Kopfschmerzen. Es war eine Wohltat, als sie die Tür öffnete und die frische Luft hereinwehte. Ihre Finger waren ganz steif, weil sie sich so fest an das Lenkrad geklammert hatten. Die Mauern und Zäune um das Haus herum waren etwa drei Meter hoch, und das Metall der Gitter war alt und ramponiert, ließ Emily aber erahnen, wie prachtvoll es einst gewesen war. Sie hatte dieses Herrenhaus schon immer geliebt und sah laut ihrem Bruder etwas darin, das anderen fremd war, als hätten ihre Augen eine besondere Gabe, etwas Altes in etwas Schönes zu verwandeln. Für Emily waren in die Jahre gekommene Dinge wertvoll, weil sie eine Vergangenheit hatten. Sie erzählten ihr eine Geschichte. Jeder Kratzer, jede Schramme und jeder abgeblätterte Lack trug eine Erinnerung in sich, die es zu bewahren galt.
Sie stieg aus dem Auto und suchte nach einer Möglichkeit zu klingeln. Hilflos winkte sie vor dem Tor in die Kamera, die offenbar neu angebracht worden war. Wie durch Zauberhand öffnete es sich, und eine Stimme drang über einen Lautsprecher zu ihr. „Fahren Sie kühn durch, Mrs. Carhill.“
Skeptisch darüber, woher der fremde Mann ihren Namen kannte, fuhr sie auf das Gelände und folgte langsam der Kiesstraße. Der Garten war nach wie vor verwildert, bis auf die grüne Rasenfläche, die vor dem Haus angelegt worden war. Die alten Rosenbüsche waren am Zaun entlanggewuchert, und im Frühjahr und Sommer musste es herrlich sein, sich hier draußen aufzuhalten. Die Fassade des Anwesens wirkte mitgenommen, nichtsdestotrotz konnte man den vergangenen Glanz erahnen. Die riesigen Fenster hatten dringend einen neuen Anstrich nötig, doch Emily konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als dort oben am Fenster zu stehen und hinaus auf den Ort zu blicken, der etwas tiefer lag. Die Aussicht war bestimmt grandios. Sie stieg gerade aus, als sich die Tür öffnete und ein Mann mit schütterem grauem Haar auf sie zutrat. Er trug keine Uniform, sonst hätte sie ihn fraglos für einen Butler gehalten. Dennoch empfing er sie ganz förmlich mit einer leichten angedeuteten Verbeugung.
„Mrs. Carhill.“ Er lächelte freundlich und nahm ihr den eingewickelten Bilderrahmen ab.
„Hallo“, begrüßte Emily ihn irritiert und reichte ihm ein weiteres Bild, das im Kofferraum lag.
„Folgen Sie mir bitte und lassen Sie die restlichen Bilder einfach im Auto. Das Personal kümmert sich gleich darum.“ Emily sah ihm sprachlos nach, folgte ihm dann jedoch widerstandslos. Sie wollte nur zu gern einen Blick in das Anwesen werfen, vor allem, wenn Jake nicht da war. So könnte sie sich ungestört umsehen. Er wartete geduldig in der Eingangshalle auf sie, die so hoch und riesig war, dass Emily an den Eingang des Rathauses erinnert wurde. In der Mitte der Halle stand ein runder Tisch mit einem frischen Blumengesteck. Unweigerlich fragte sie sich, ob einem Mann wie Jake O’Reiley so etwas Belangloses wie Blumen in seinem Haus wichtig waren. Eine breite Treppe, wie man sie aus Herrenhäusern in alten amerikanischen Filmen kannte, führte in den obersten Stock. Überall lag noch Werkzeug herum, was zeigte, dass daran noch gearbeitet wurde. Sie betrachtete die geschwungene Freitreppe mit Begeisterung, trat näher und beugte sich zu den alten Holzschnitzereien am Geländer hinunter. Sanft fuhren ihre Fingerkuppen über das ungleichmäßige Holz, das offenbar noch nicht geschliffen worden war.
„Emily!“
Ein Zucken durchfuhr ihren Körper, und sie rammte sich einen Holzsplitter in den Finger, was sie mit einem „Au!“ kommentierte. Ganz automatisch nahm sie den Finger in den Mund, wandte sich um und erblickte Jake O’Reiley persönlich.
„Warum sind Sie hier?“, entfuhr es ihr erschrocken, und sofort errötete sie wieder.
Er hob den linken Mundwinkel und grinste schief. „Ich wohne hier.“
Emily betrachtete ihn eingehend. Er trug eine kurze Sporthose, Sportschuhe und ein durchgeschwitztes graues Tanktop. Sein Outfit bewirkte ganz automatisch, dass ihr Herz schneller schlug, weil sie einiges von seiner nackten Haut betrachten konnte. Die muskulösen Arme und den Ansatz einer Tätowierung, die über seiner Schulter auslief, konnte sie gut sehen, und das brachte sie zum Schlucken. Er nahm einen Zug aus seiner Sportlerflasche, ohne sie aus den Augen zu lassen.
„Aber Sie sagten doch, Sie seien nicht zu Hause?“
Augenzwinkernd wandte er sich ihr zu. „Wenn ich das nicht getan hätte, stände jetzt Ihre Chefin und nicht Sie hier, nicht wahr?“
Verblüfft starrte sie ihm nach. „Woher haben Sie das gewusst?“
Er zuckte mit den Achseln. „Sagen wir, ich habe eine gute Menschenkenntnis und mache mir das hin und wieder zunutze.“
„Ich würde es eher, manipulieren nennen“, schoss Emily giftig zurück.
„Wieso streiten wir eigentlich ständig, wenn wir uns sehen?“, erkundigte er sich.
„Womöglich liegt das an Ihrem zweifelhaften Charme.“ Reflexartig blickte sie auf die schmerzende Stelle an ihrer Fingerkuppe.
Er ignorierte ihren Einwand, kam auf sie zu und fragte: „Verletzt?“
„Nur ein Splitter.“
„Zeigen Sie mal her!“ Zögernd reichte sie ihm ihren Finger, den er etwas ins Licht hielt und mit einem alten Stofftaschentuch, das er aus der Tasche zog, abtupfte. Wer zum Teufel nutzte noch Stofftaschentücher? Zwei hellrote Blutflecke beschmutzten nun den weißen Stoff. Ohne zu zögern, nahm er ihren Finger in den Mund und saugte daran. Ihre Blicke begegneten sich, und ihr Entsetzen über diese intime Berührung verwandelte ihre Empörung darüber, dass sie wegen seiner Flunkerei gezwungen gewesen war, Auto zu fahren, in ein heftiges Kribbeln. Es breitete sich von ihrem Finger, um den er immer noch seine Lippen geschlossen hatte, über ihren Arm bis in ihre Körpermitte aus. Dort sammelte es sich und Emily erschauerte. Was tat er da? Wie schaffte er es nur, diesen Gefühlssturm in ihr auszulösen? Der Moment dauerte kaum eine Minute an, und seine Lippen lösten sich wieder von ihrem Finger. Er spuckte den kleinen Holzsplitter in das Taschentuch, und seine warmen Hände ließen ihre los. Sprachlos starrte sie ihn an, auf der Suche nach einem Wort oder gar einem ganzen Satz. Der Augenblick war vorüber, als eine Stimme ertönte: „Sir?“
Jake schüttelte kaum merklich den Kopf und riss seinen Blick von Emily los. „J… Ja?“
Täuschte sie sich, oder war er etwa heiser geworden?
„Ich habe die Bilder in den Salon gestellt, wie gewünscht“, sagte Anderson.
Er wandte sich zu Emily um und sah sie herausfordernd an. „Wollen Sie sich das ansehen?“
Sie wog den Wunsch, weiterhin in seiner Nähe zu bleiben und gleichzeitig von ihm fortzukommen, weil er sie derart verunsicherte, gegeneinander ab. Die Neugierde auf das Haus überwog schließlich, und sie nickte. „Allerdings nur kurz, Susan wartet sicher auf mich.“
„Sagen Sie ihr einfach, dass ich Sie gezwungen habe, mir beim Aufhängen zu helfen.“ Sie lächelte schüchtern und folgte ihm durch den Korridor. Dabei betrachtete sie die hohen Wände, den Stuck am Rand der Decke, der einmal kunstvoll bemalt gewesen war. Schweigend betraten sie den Salon, den man durch einen gemauerten Bogen erreichte. Emily war ganz hingerissen von den enormen, halbrunden Fenstern, die sie niemals würde putzen wollen. Aber alles an diesem Zimmer versetzte sie gefühlsmäßig ins achtzehnte Jahrhundert. Es gab so viel zu sehen, dass Jake ihren Namen zweimal rufen musste, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er lächelte verschmitzt und deutete auf die verpackten Bilder, die am Hocker vor dem Piano lehnten. „Ich brauche Ihre Hilfe, wo sich welches Kunstwerk am besten macht.“
Emily trat zu ihm an den Tisch und ließ ihren Blick erneut durch den Raum schweifen. Der offene Kamin mit dem entsprechenden Kaminbogen war mit Blumen dekoriert worden, doch im gesamten Salon fehlten persönliche Gegenstände. Es gab keine Fotos, keine Mitbringsel aus dem Urlaub oder Bücher, die etwas über seinen Literaturgeschmack verraten hätte. Es war, als stünde sie in einem Museum, das zwar hübsch anzusehen, jedoch vollkommen unpersönlich war. Was war Jake O’Reiley bloß für ein Mensch?
Sie war so vollkommen in ihrer Bewunderung für das Haus und der inneren Frage versunken, dass sie zusammenfuhr, als er plötzlich ausrief: „Das ist es! Das ist die Art von Kunst, die ich suche. Wo hat Mrs. Blooms diese Bilder nur versteckt?“
Überrascht hob Emily den Kopf und sah auf das Bild, das Jake gerade erst ausgepackt hatte und noch in den Händen hielt. Es zeigte ein wildes Spiel von Farben, die gern in der modernen Kunst verwendet wurden, und spiegelte den Blick von ihrem Pavillon auf Jarbor Hydes wieder, sobald die Sonne aufging, wie Emily nur zu genau wusste. Sie erstarrte. Er runzelte die Stirn und schien verwundert, aber auch begeistert zu sein. Panik wallte in ihr auf.
„Von wem ist das Werk?“
Nach Sekunden des Entsetzens warf sie ein: „Diese Bilder sind nicht zum Verkauf gedacht.“ Sie trat zu Jake und nahm es ihm aus den Händen. „Entschuldigen Sie, da ist mir wohl ein Versehen passiert.“
„Dieses Werk ist perfekt. Dieser präzise Pinselstrich muss den Künstler Tage seines Lebens gekostet haben. Sehen Sie nur dort: Die Farbauswahl ist der Wahnsinn. Ich denke, so einen Sonnenaufgang habe ich noch nie in meinem Leben live gesehen, und glauben Sie mir, ich habe schon viele betrachtet.“ Seine Hand berührte ihre an der Stelle, an der sie das Bild fest umklammert hielt. Ihr Daumen verrutschte und gab das zierliche EC frei, das wie immer filigran gezeichnet in der linken Ecke zu finden war. Es verwunderte sie etwas, dass er sofort erkannte, um was es sich handelte. Sie war es gewohnt, dass die meisten Menschen nur wilde Farben und Formen sahen.
Die Emotionen in Emily überschlugen sich durch Jakes Präsenz. Die Erinnerung an ein altes Gefühl von Glück, das sie empfunden hatte, während sie die Tage damit zubrachte, mit großer Ausdauer die Farbexplosion am Himmel einzufangen, weckte gleichsam die Trauer und den Kummer über das, was ihr geraubt worden war. Das Andenken an Glück und Zufriedenheit war so blass wie die Erinnerung an den Duft von Collins Haar. Sie schluckte und war kurz davor, das Bild unter den Arm zu klemmen und die Flucht zu ergreifen, da lauschte sie ihrer eigenen Stimme: „Entschuldigen Sie, Mr. O’Reiley, aber dieses Werk ist leider nicht zu verkaufen.“
Jake beobachtete sie argwöhnisch, und Emily hoffte, dass er nicht dachte, sie sei völlig plemplem. „Vielleicht möchten Sie dem Künstler erst mal mein Angebot unterbreiten. Ich bin sicher, er ändert seine Meinung dann noch mal.“
Emily blickte ihm fest ins Gesicht und fiel ihm ins Wort. „Es tut mir sehr leid, aber ich versichere Ihnen, Mr. O’Reiley, das wird sie nicht.“ Ihre Stimme zitterte, ihre Augen füllten sich mit Tränen, und Emily hasste sich dafür, dass sie sich in diesem Moment ihm gegenüber so schwach fühlte, da von ihm so eine starke Präsenz ausging. Daher trat sie die Flucht an und fand sich wenige Minuten später mit dem Bild unter dem Arm auf dem Schotterweg vor Halleberry Castle wieder, wo sie eilig in Susans Auto sprang, um vor Jake, ihren aufwühlenden Gefühle und vor allem sich selbst zu fliehen.
KAPITEL 5
JAKE
Es gab nur wenige Dinge, die Jake um jeden Preis verhindern wollte, aber zwischenmenschliche Beziehungen waren unter den Top drei. Er wusste, dass er dadurch einen ganzen Haufen Leute regelmäßig vor den Kopf stieß, aber er fuhr gut damit, und auch wenn diese Personen es noch nicht wussten: sie auch. Beziehungen einzugehen war einfach keine Option. Es bedeutete Gefahr, Verletzungen und viel Drama, alles Dinge, die er bereits hinter sich hatte. Das waren Situationen, für die er in seinem wahrscheinlich eher kurzen Leben keine Zeit hatte. Seine Mutter betrachtete seinen Lebensstil mit großer Besorgnis, ein Grund mehr, warum er sie nicht öfter besuchte. Diese ständige Sorge in ihren Augen brachte ihn noch um den Verstand. Sie mochten es nicht billigen, dass er sich vor der Welt verschloss, aber es war sein Leben, und gerade weil es erfahrungsgemäß ein kurzes sein würde, war es seine Entscheidung, wie er damit umging. Die Tragödien der Familie O’Reiley waren denen der Kennedys ganz ähnlich, wodurch sich seit Jahrzehnten der Verdacht eines Familienfluchs erhärtete. Umso wichtiger war es für Jake, Menschen von sich fernzuhalten, selbst wunderschöne Frauen mit braunen Rehaugen, die so verletzlich und anziehend auf ihn wirkten wie Emily Carhill. Was zum Teufel hatte ihn nur dazu bewogen, alles so zu arrangieren, dass sie statt Susan zu ihm kam? Ihr Blick - ja geradezu ihre Begeisterung - für all die versteckten Schönheiten des Hauses, ihre neckischen Diskussionen und ihr ablehnendes Verhalten hatte ihn gereizt. Die Tatsache, dass sie ihn nicht als Rennfahrer oder gar berühmte Persönlichkeit wahrnahm, war neu für ihn gewesen. Bislang war Desinteresse ein Fremdwort für ihn. Jede Frau war entweder seinem Charme, seinem Aussehen oder seinem Bekanntheitsgrad erlegen, doch Emily schien dafür nichts übrig zu haben. Im Gegenteil, denn obwohl er das Prickeln zwischen ihnen gespürt hatte, hatte Emily sich mindestens so sehr dagegen gewehrt wie er gegen jedes Gefühl. Und als sie schließlich rausgestürmt war, hatte sie endgültig sein Interesse wachgerüttelt. Der Schmerz in ihren dunkelbraunen Augen hatte geradezu pulsiert und Jake war sich vorgekommen, als hätte sie ihn dabei ertappt, wie er in ihren Spitzendessous wühlte. Verdammt!
Jake knetete das Lenkrad seines Aston Martins vor Anspannung, als er an diese Begegnungen mit ihr zurückdachte. Am Tag zuvor, als er sie am Pavillon getroffen hatte, musste er sich eingestehen, dass er den Kontakt zu ihr gern ausgeweitet hätte – rein sexuell natürlich. Sie hatte eine unerwartet verlockende Wirkung auf ihn, und er genoss es, mit ihr zu flirten. Dieser eine Moment in Halleberry Castle vorhin hatte ihn jedoch kalt erwischt. Er sah sie geradezu vor sich, wie sie sich wie eine Ertrinkende an das Bild klammerte, das ihn sofort in seinen Bann gezogen hatte. Der Blick in ihre von Trauer gezeichneten Augen hatte ihn regelrecht umgehauen. Es war, als hätte er in ihre Seele schauen können, die von all dem Kummer kaum zu sehen war. Er kannte diesen Ausdruck nur zu gut, weil er diese Form von Seelenschmerz verstand. Zuvor war ihm das bei ihr nicht aufgefallen, aber so war das mit Menschen wie ihnen. Wenn das Unaussprechliche geschah, einem der Boden unter den Füßen fortgezogen wurde und einem kaum etwas anderes blieb, als zu fallen, dann musste man eine Möglichkeit finden, nicht zu sterben. Man errichtete eine Mauer, die einen vor dem nächsten Sturz schützen sollte. Er kletterte buchstäblich an Klippen, weil er eine Fassade um sich herum aufgebaut hatte, die für andere unüberwindbar war - zumindest bis ein Bild, der Klang eines Namens oder ein Musikstück die Mauer wieder einriss. Der Blick in ihre Augen hatte diese Mauer gefährlich ins Wanken gebracht, und das durfte er nicht zulassen. Deswegen war es wichtig, dass Jake unverzüglich handelte und seinen Anwalt kontaktierte, damit er um Emily Carhill und ihre trauernde Seele zukünftig einen großen Bogen machen konnte.
LUKE
Lukes Telefon klingelte am Ende der neuen Woche, und seine aufgebrachte Schwester Emily faselte etwas von Eigenbedarf und Pachtvertrag. Da hatte das Jahr gerade erst begonnen, und in nur wenigen Tagen seinen Geduldsfaden bereits zum Zerreißen gebracht. Zu den üblichen Bruce-Problemen hatten sich nun weitere gesellt. Seine Schwester Mary trieb ihn mit ihren Steuern in den Wahnsinn, die er für sie und seinen alten Herrn machte, und aus einer freundlich gestimmten Scheidung war ein ausgewachsener Sorgerechtsstreit geworden, den Luke kaum ertrug. Er hatte schon früh Anwalt werden wollen, um sich für die Rechte anderer einzusetzen. Er liebte seinen Job, aber hin und wieder verstand er nicht, wie Menschen sich gegenseitig das Leben so schwer machen konnten. Wie konnten Leute, die sich einmal innig geliebt hatten, wie eine Meute hungriger Löwen übereinander herfallen? Es gab nichts, was wichtiger war als die Kinder. Er hatte am eigenen Leib erfahren, was Eltern, diejenigen Menschen, die ein Kind vor allen Qualen und Sorgen beschützen sollten, einer Kinderseele antun konnten. Als homosexueller Mann war er mit dem Gedanken aufgewachsen, keine leiblichen Kinder bekommen zu können. Natürlich wusste er, dass es auch dafür gewisse Möglichkeiten gab - Elton John hatte es eindrucksvoll vorgemacht, jedoch glaubte er auch an das Naturgesetz. Somit hatte er sich dafür entschieden, der weltbeste Onkel zu werden, falls seine Schwestern jemals zur Sache kommen würden. Im Moment standen die Chancen diesbezüglich allerdings gleich null. Bis dahin würde er sich eben weiter als ehrenamtlicher Kindertrainer des ortsansässigen Jugendheims engagieren, sowie die Rechte der Kinder in jedem Sorgerechtsstreit an erster Stelle setzen. Diese gegenseitigen Schuldzuweisungen gingen zu Lasten der eigenen Kinder, und das würde er niemals verstehen. Allerdings glaubte er auch nach wie vor, dass die Heteros anders mit ihren Erwartungen und Wünschen umgingen. Sich zu lieben, zu heiraten, und öffentlich nicht kritisch beäugt zu werden war für sie kein Privileg, sondern eine Voraussetzung. Nicht so für Randgruppen wie seine, die sich jede Kleinigkeit erkämpfen mussten.
Er legte auf und starrte eine Weile aus dem Fenster, wo Carlisle in seiner ganzen Pracht vor ihm lag. Sein Beschützerinstinkt seinen Schwestern gegenüber nervte ihn manchmal, aber er konnte nichts dagegen tun. Gerade Emily brauchte seine Unterstützung und das nicht nur bei rechtlichen Fragen. Er steckte sein Telefon in die Anzughose und beendete die Arbeit am Computer. Entschlossen fuhr er mit dem Aufzug bis ins Parkhaus, setzte sich in sein Auto und fuhr nach Hause.
Es dauerte im Feierabendverkehr länger als sonst, und Lukes Wut ballte sich in seinem Bauch. Nach dem Schreiben, das Emily bekommen und ihm zugefaxt hatte, wollte der werte Rennfahrer seine Schwester loswerden. Ein winziges Stückchen Land von dem Wahnsinnsgrundstück, das er sowieso schon besaß. Wie konnte man Emily so etwas nur antun? Es war bereits außerhalb der Bürozeiten, deswegen konnte er den gegnerischen Anwalt nicht mehr erreichen. Emily hatte derart aufgelöst geklungen, was keine Überraschung war. Luke wusste ganz genau, was dieses Fleckchen Erde ihr bedeutete. Er durfte nicht zulassen, dass sie diesen Ort auch noch verlor. Nicht nachdem sie bereits Collin verloren hatte. Luke schluckte. Sein Instinkt zwang ihn, sich jetzt gleich für sie einzusetzen, weswegen er seinen Wagen nicht zu seiner Wohnung lenkte, sondern Richtung Halleberry Castle. Im Grunde genommen, hatte Jake O’Reiley jedes Recht Emilys Pachtvertrag zu kündigen. Es war sein Grundstück und Lukes Erfahrung nach brachte ein persönliches Gespräch viel mehr als jeder anwaltliche Versuch, ihm das Leben schwer zu machen.
Er hielt vor dem hohen Tor an, stieg aus und betrachtete das Anwesen, das ihm früher eine Heidenangst eingejagt hatte, zumindest eine Weile. Aus Sorge, abgewimmelt zu werden, ignorierte er sein Auto und suchte nach dem versteckten Eingang, den sie damals als Kinder benutzt hatten. Er war nach wie vor unverschlossen, und Luke kämpfte sich seitlich durch Büsche und Hecken, ehe er am Haupteingang ankam. So gruselig Halleberry Castle in den Geschichten auch immer auf ihn gewirkt hatte, es war traumhaft schön, wenn es bewohnt war. Die Hauswände waren mit Efeu und Weinranken bewachsen und verliehen dem Haus einen romantischen Touch. Das zum Teil noch wilde Gewächs wurde nach einem Besuch des Gärtners in Form gebracht. Die Fenster waren hoch und mit Gittern versehen, was der Atmosphäre jedoch keinen Abbruch tat. Die Eingangstür war dunkelbraun und sah ungewöhnlich neu aus, fügte sich aber hervorragend in das Gesamtbild ein. Luke betätigte einen reich verzierten Türklopfer in Form eines Löwenkopfes, und das Klopfen hallte im Haus wider. Es dauerte eine Weile, und er war schon versucht, erneut zu klopfen, da öffnete sich die Tür, und ein Auge lugte durch den Türspalt. Eine männliche Stimme fragte erstaunt: „Sie wünschen?“
„Ich hätte gern den Hausherrn gesprochen“, gab Luke leicht sarkastisch zur Antwort. Die Situation war urkomisch.
„Darf ich fragen, worum es geht?“
„Dürfen Sie – ich bin Ms. Carhill’s Anwalt und werde die Details nur mit Mr. O’Reiley persönlich besprechen.“
„Wenden Sie sich bitte an den Anwalt von Mr. O’Reiley.“ Mit den Worten wollte er die Tür wieder schließen, allerdings hielt Luke dagegen.
„So leicht werden Sie mich nicht los.“
„Warum wundert mich das nicht, wo sie schon die Regeln des Anstandes nicht befolgt und die Klingel am Tor missachtet haben.“
„Hören Sie, die Regeln des Anstandes sind mir scheißegal. Ihr Chef oder was auch immer will meiner Schwester ihren einzigen Ort des Friedens nehmen, und ich bin nicht geneigt, das so einfach hinzunehmen. Geben Sie mir wenigstens die Möglichkeit, an seine Menschlichkeit zu appellieren.“
Bei dem Wort „Menschlichkeit“ hielt die andere Person inne. Die Tür öffnete sich schließlich, und zum Vorschein kam ein älterer Mann mit weißen Haaren, einem verkniffenen Gesichtsausdruck und einer Trainingshose. Luke runzelte die Stirn bei seinem Anblick.
„Folgen Sie mir bitte.“ Gemächlich führte er ihn ins Kellergeschoss des Hauses, das spärlich beleuchtet war und wenig einladend wirkte. Unbehaglich folgte er dem seltsamen Mann, der kaum einen Meter sechzig groß sein konnte. Er war doch nicht gerade etwa in die Fänge eines morbiden Killers geraten? Begannen so nicht die besten Szenen eines Horrorfilms? Während Luke mit seiner blühenden Fantasie damit beschäftigt war, sich alle Schreckensszenarien auszumalen, öffnete er eine weitere Tür und wandte sich zu Luke um. „Wen darf ich melden?“
„Carhill. Luke Carhill!“
„Lass den Unruhestifter herein, Anderson. Es sei denn, es ist dieser Chief, dann muss die Unterredung ohne mich stattfinden.“
„Es ist ein gewisser Luke Carhill, Sir.“
„Ach herrje, wie viele Carhills gibt es denn in diesem Kuhkaff?“, hörte er die unverkennbar spöttische Stimme von Jake O’Reiley. Jetzt wurden Lukes Knie weich. Immerhin war dieser Typ weltberühmt in der Motorsport- und Livestyle-Szene. Das hatte seine Wut zwischenzeitlich verdrängt.
„Genug, um Ihnen das Leben schwerzumachen“, gab Luke zur Antwort und trat in den Raum, der offenbar zu einem Fitnessstudio umgebaut worden war. Staunend betrachtete er die unzähligen Geräte, die nigelnagelneu wirkten, angefangen vom Laufband, über eine Rudermaschine und ein Spinningbike. Ungläubig starrte er auf den Boxring, in dem ein muskulöser, nein vollkommen durchtrainierter Jake O’Reiley bloß mit Shorts bekleidet stand. Das erklärte wahrscheinlich Andersons Jogginghose. Er trug Boxhandschuhe und war schweißüberströmt und viel zu gutaussehend für eine einfache Unterredung mit Luke. Wie sollte er sich bei diesem Wahnsinnsanblick nur konzentrieren können?
„Wow! Ich bin beeindruckt“, entfuhr es ihm, er hüstelte und deutete auf die Ausstattung.
Ein Lächeln bahnte sich auf Jakes Gesicht an. „Ja, nicht wahr? Hier habe ich wenigstens genügend Platz für all diese Geräte, die für mein Training in der Pause wichtig sind.“ Dann sah er ihn wieder interessiert an. „Aber deswegen sind Sie wohl kaum hier.“
„Nein, eher nicht. Mein Name ist Luke Carhill. Ich bin der Bruder von …“
Jake schniefte und setzte seinen Satz fort: „Emily.“ Er fuhr sich über die Stirn, sah auf den Boden und zog sich die Boxhandschuhe von den Händen. „Worum geht es denn?“
„Ich bin nicht nur ihr Bruder, sondern auch ihr Anwalt. Wir haben ihren Wisch heute im Briefkasten gefunden …“ Luke hob die ausgedruckten Unterlagen hoch. „… und sind nicht besonders angetan von ihrem Wunsch auf Eigennutzung.“
Jake zögerte eine Antwort hinaus, pfefferte die Handschuhe in eine Ecke und trank seelenruhig aus der Sportflasche, die er sich gleichzeitig als Erfrischung ins Gesicht spritzte, bevor er es sich abtrocknete. Luke verfolgte die Wanderung seines Handtuchs, mit dem er über sein Gesicht und den nassen Oberkörper wischte, und wünschte sich plötzlich, er könnte als Jakes Handtuch fungieren - allerdings nur ganz kurz, dann hatte er sich wieder im Griff.
„Wie kommen Sie nur darauf, dass mich das interessiert?“
Überrascht von der direkten Abfuhr kniff Luke die Augen zusammen und verlor Jakes anziehenden Körper aus dem Blick. „Entschuldigung?“
„Ich wiederhole mich gerne und werde deutlicher: Ihre Wünsche interessieren mich nicht. Ich habe ein Anwesen gekauft und möchte es auch nutzen. Punkt. Das ist mir laut Gesetz durchaus möglich, vor allem weil dieses Grundstück weder bewohnt noch gewerblich genutzt wird … ergo: meins!“
Über so viel Arroganz war Luke für den Bruchteil einer Sekunde sprachlos. Das kam äußerst selten vor, und er holte tief Luft, um Zeit zu gewinnen. „Sie können das womöglich nicht verstehen, weil sie zu einfältig und rücksichtslos sind, um solche Dinge zu bemerken, aber dieses Land hat nicht nur Wert, wenn es privatwirtschaftlich verwendet wird, sondern auch darüber hinaus, und noch wichtiger: Vor allem für Emily ist dieser Ort mit Erinnerungen verbunden, die sie nicht verlieren sollte. Ich bin hergekommen, um Ihnen davon zu erzählen, in der Hoffnung, dass sie vielleicht …“
Er lachte höhnisch. „Was? Dass ich womöglich Mitleid habe? Nun hören Sie aber auf. Wir haben alle schon Dinge durchgestanden. Es ist nicht nötig, auf die Tränendrüse zu drücken.“
Fassungslos sah Luke zu ihm auf und schüttelte den Kopf. „Was sind Sie nur für ein Mensch? Ich bedaure, dass ich nur einen Funken Begeisterung verspürt habe, so einen Typen in der Nähe wohnen zu haben. Ihr Anwalt hört am Montag von mir. Ach so, noch ein gut gemeinter Rat: Seien Sie vorsichtig! Machen Sie sich lieber nicht zu viele Feinde in dieser Stadt. Meine Schwester wird von allen mit Argusaugen bewacht, und wer ihr was will, der will uns allen was und bekommt sein Fett irgendwann auch weg!“
„Glauben Sie im Ernst, dass ein Dorf voller Schafe mir Sorgen macht, wenn ich in meiner Welt mit Hyänen kämpfe?“
„Wer weiß denn schon genau, was unter dem Schafspelz steckt, Mister O’Reiley. Ein Wolf ist immer noch ein Wolf, auch wenn er einen Schafspelz trägt.“
„Ich werde es mir merken, Toyboy“, rief er Luke hinterher, der sich bereits umgewandt hatte und erschrocken stehen blieb. Dann verließ er, ohne sich eine weitere Blöße zu geben, das Anwesen.
JAKE
Anderson beobachtete Jake, der vor Wut gegen den Hocker im Boxring trat, sodass er quer durch den Raum flog. Er stemmte die Hände in die Hüften und fühlte sich hilfloser, als er bereit zuzugeben war. Dabei war alles, was er wollte, den Schein zu wahren.
„Sind Sie entschlossen, jeden Menschen, dem Sie begegnen, davon zu überzeugen, was für ein Scheusal Sie sind, Sir?“ Anderson blickte zu Jake auf und schüttelte seufzend den Kopf. Jake kickte gegen seine Trinkflasche, die er zuvor auf den Boden gestellt hatte und die sich nun durch die Wucht des Tritts öffnete. Der Inhalt spritzte durch den halben Raum. „Lassen Sie dem Mädchen doch diesen Platz. Das Anwesen ist wirklich groß genug, um ihr trotzdem aus dem Weg zu gehen. Es sei denn, das hat weniger mit der Stelle als mit Ihrem eigenen Entschluss zu tun.“ Wie immer brachte Anderson die Angelegenheit in wenigen Worten auf den Punkt. Er traute sich selbst nicht. Er interessierte sich bereits viel zu sehr für Emily und ihre Vergangenheit. Nach Luke Carhills Auftritt mehr denn je.
Jakes blaue Augen fokussierten den alten Mann. „Mischen Sie sich nicht ein, Anderson“, herrschte er ihn aufbrausend an.
Seine rechte Hand, wie er ihn immer nannte, zuckte bloß mit den Schultern und antwortete gelassen: „Aber wer rückt Ihnen den Kopf zurecht, wenn ich es nicht tue? Wer macht es dann, wenn Sie sich absolut dämlich verhalten? Master Jannis hätte …“
„Sprechen Sie nicht von ihm!“, brüllte Jake nun wutentbrannt, sprang schwungvoll über das Band des Rings und landete geschmeidig auf der anderen Seite. Gleißende Wut brannte in ihm auf und die Erinnerung, die ihn bei der Nennung seines Namens durchflutete, brachten das Fass unkontrollierbar zum Überlaufen. Er griff nach seinem grauen Sweatshirt und hastete, ohne sich noch einmal umzusehen, aus dem Raum. Er verließ das Haus und begann, durch den angrenzenden Park seines Anwesens zu rennen. Er lief über Hügel und spurtete über Stufen, zuerst viel zu schnell, sodass schmerzhafte Seitenstiche ihn daran erinnerten, dass er seinen Körper zu sehr strapazierte. Irgendwann fand er in seinen üblichen Rhythmus, bei dem wohl nur wenige mithalten konnten. Als Extremsportler, – Rennfahrer gehörten wohlweislich dazu - war er außerordentlich trainiert und fit. Allerdings brauchte er den Sport längst nicht mehr nur als Beruf, denn er war absolut süchtig nach dem Gefühl, das die Endorphine in seinem Körper hinterließen. Sein Bruder war der einzige Mensch, der ihn von dieser Sucht kurzweilig hatte ablenken können. Doch im Grunde genommen hatte sein Tod ihn erst zu dem gemacht, der er heute war. Ein Adrenalinjunkie auf der Jagd nach dem nächsten Kick, um sich von den quälenden Schmerzen seiner Seele abzulenken. So war die Verbannung in diesen Ort gleich in mehrfacher Hinsicht eine Strafe für ihn. Hier gab es kaum Möglichkeiten, ein illegales Autorennen zu fahren, einen Sprung an einem Bungeeseil von einer Brücke zu machen oder klettern zu gehen. Dafür konnte er Klippenspringen gehen, und zwar an ihrem Ort. Wie sollte er sich also je davon fernhalten?
Es regnete, doch das störte Jake kaum. Er hatte nicht vor, so schnell in sein neues Zuhause zurückzukehren. Er wurde langsamer und musste überrascht feststellen, dass dieser orientierungslose Lauf ihn exakt zu dem Ort gebracht hatte, der ihm momentan so viel Ärger bereitete. Der Pavillon war mehr eine kleine Hütte, wie sie in manchen Gärten zur Unterbringung der Gartengeräte benutzt wurden. Er blieb schwer atmend davor stehen und stemmte die Hände in die Hüften. Um einen Blick hineinzuwerfen, trat er näher heran und legte die Hand an das kleine beschlagene Fenster, um besser sehen zu können. Er konnte mehr schlecht als recht etwas erkennen, lediglich ein rotes Sofa und einen Tisch mit allerhand Dingen darauf. Frustriert machte er einen Schritt zurück und betrachtete das winzige Haus nachdenklich.
Ihm war längst klar, dass dieser Platz für Emily eine emotionale Bedeutung hatte. Auch wenn er generell nicht viel Wert auf die Gefühle anderer legte, ging ihm der Schmerz auf ihrer Miene nicht mehr aus dem Sinn. Ihre Augen hatten ihn ohnehin besonders angezogen, und sie in diesem einen Moment der Offenbarung zu sehen, war für Jake schwer zu ertragen gewesen. Weil es ihn an sich selbst erinnert hatte. Er hatte ihn täglich im Spiegel gesehen und nicht nur das ... er wusste genau, wie er sich anfühlte. Wie unerträglich er war. Wie ein glühendes Schwert, das immer und immer wieder durch seine Eingeweide getrieben wurde. So oft, dass die Verletzung nach und nach seine Lungen mit Blut füllten, bis er beinahe daran ertrank. Doch das geschah niemals wirklich. Es schien, als sei er dazu verdammt, für den Rest seines Lebens diesen Schmerz zu ertragen. Und Emily ... litt wie er. Es kam ihm vor, als unterhielten sie sich in einer Sprache, die kaum einer verstand. Keiner, außer denjenigen, die denselben Kummer, den gleichen Schmerz ertragen mussten. Er gehörte zum Kreis der Eingeweihten und hasste alles daran. Es erinnerte ihn nicht nur an schlimme Zeiten und die Qualen des Verlusts eines geliebten Menschen, den er zu vergessen versuchte, sondern auch an Dinge, die er sich selbst verboten hatte. Jake hatte geglaubt, dass er über das Verlangen nach menschlicher Nähe und Beziehungen längst hinaus wäre, doch hatte der Augenblick, in dem er in Emilys geschundene Seele blicken konnte, ihn eines Besseren belehrt. Er wusste nicht, wen sie verloren hatte, aber es musste schrecklich gewesen sein. Er kannte sich mit dem Schrecken und dem Ausmaß der darauffolgenden Verzweiflung aus und spürte in diesem Moment genau, wie sich seine Brust brennend zusammenzog. Er fasste sich ans Herz und fühlte den altbekannten Schmerz, der ihn in die Knie zwang. Er rang nach Atem, weil seine Lungen ihm vorgaukelten, nicht genügend Luft zu bekommen. Früher hatte ihn diese Geschichte des Öfteren ins nächste Krankenhaus gebracht, weil er an einen Herzinfarkt geglaubt hatte. Bei seiner Familiengeschichte wäre es nicht ungewöhnlich gewesen, in jungen Jahren an einem Herzleiden zu versterben, egal, wie gut er nun in Form war. Doch jedes Mal hatte man ihn mit der Diagnose „Panikattacke“ nach Hause geschickt. Es kam für ihn einer Blamage gleich, seine Ängste nicht im Griff zu haben. Kontrolle war doch sein zweiter Vorname. Mit der Zeit fand er heraus, dass es bestimmte Auslöser für diese Angstzustände gab. In diesem Augenblick war es Emilys Trauer, die ihn an seinen eigenen Verlust erinnerte.
„Oh mein Gott, geht es Ihnen nicht gut?“, erklang eine Stimme hinter ihm, und er spürte eine warme Hand, die sich auf seine Schulter legte. Er nickte nur abwesend, weil er nicht fähig war, sich zu erklären. Eine Gestalt beugte sich über ihn, deren Gesicht durch ihre Kapuze verdeckt blieb. „Ich rufe einen Krankenwagen, keine Angst. Ich hoffe, ich habe Empfang.“
„Machen Sie sich keine Sorgen – das ist gleich vorbei“, brachte er mühsam hervor und zwang sich ruhiger zu atmen. Endlich hob sie den Kopf, und Jake betrachtete Emilys feine Gesichtszüge. Er stöhnte bei ihrem Anblick, und sie starrte ihn ungläubig an. „Sie schon wieder!“
„Entschuldigen Sie mal!“, empörte sie sich und sah ihm dabei zu, wie er sich umständlich aufrichtete.
Jake machte einige Schritte und trat nahe an die Klippe heran. Er blickte auf den unruhigen Ozean und die tief hängenden dunklen Wolken hinaus, die jede Menge Regen ankündigten. So wie die Welt für ihn im Moment aussah, fühlte er sich auch gerade. Abgekämpft, müde und am Rande einer Klippe, nur einen Schritt vom Absturz ins Nichts entfernt. „Ist man denn nirgendwo vor den Carhills sicher?!“
„Wie bitte?“
„Sie haben die ganze Stadt eingenommen, richtig?“
„Was soll das heißen?“
„Ihre Schwester besitzt das einzige Café in der Stadt. Wer also einen regelmäßigen Kaffeegenuss gewohnt ist, kommt daran nicht vorbei. Ihr Bruder ist der Staranwalt des Dorfes, der sich um Ihre Rechte kümmert, und darin nicht zu bremsen ist. Und Sie? Sie sind einfach überall. Wieso sind Sie immer überall?“ Er atmete immer noch schwer, und Emily sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Die Falte zwischen ihren Brauen wurde tiefer und ihre Augen dunkler.
„Jetzt halten Sie gefälligst mal die Luft an. Sterben Sie?“
Verdattert starrte Jake sie an. „Nein.“
„Wie schade“, entfuhr es ihr ärgerlich und sie wandte sich schwungvoll von ihm ab. Reflexartig griff er nach ihrer Hand, sodass sie sich fast sofort wieder zu ihm umdrehte. Bei dieser Bewegung erfasste der nächste Windstoß ihre Kapuze und wehte sie vom Kopf. Sie trat zornig auf ihn zu und stach ihm mit dem ausgestreckten Zeigefinger gegen die Brust, sodass die Stelle ihm beinahe wehtat. „Sie kommen in meinen Heimatort, kaufen das verdammt größte Anwesen hier, laufen zu meinem, laut Pachtvertrag, Grund und Boden und wundern sich, dass ich hier bin? Sie sind entweder irre oder haben eine krasse Wahrnehmungsstörung.“
Verdutzt blickte Jake in ihr wütendes Gesicht, das während ihrer Schimpftirade noch anziehender auf ihn wirkte als ohnehin schon. Er erkannte das Feuer in ihren Augen und ahnte, dass in dieser Frau so viel mehr Schichten schlummerten, als man auf den ersten Blick sehen sollte. Sie starrte ihn zornig an und wartete offenbar auf eine Antwort. Er konnte sie jedoch nur ansehen. Der volle Mund, der ungewöhnlich rot war, obwohl er sicher war, dass sie keinen Lippenstift trug. Die braunen warmen Augen, die ihn im Moment hitzig anfunkelten, und die fein geschwungenen Augenbrauen, die sie erwartungsvoll hochgezogen hatte. Ihre Nase war gerade und lief an der Spitze schmal zu. Sein Bruder hätte seine helle Freude daran gehabt, dieses Puppengesicht zeichnen zu dürfen. Sie versuchte, ihre hübschen Züge in der Regel hinter einer Brille mit dunklem Rahmen zu verstecken.
Ihr Finger berührte immer noch seinen Pullover, und aus einem unerklärlichen Grund ging von dort aus eine Wärme in ihn über, die ihn dazu brachte, ruhiger zu atmen, und die stechenden Schmerzen abklingen ließ. „Egal, wo ich hingehe, überall bist du, und gehst mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.“
Emilys Gesichtsausdruck änderte sich von wütend zu erschrocken, und er spürte genau, dass ihr Körper vor Spannung erstarrte. Ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht, während er ihre Hand berührte und sie sanft gegen seinen Oberkörper drückte. Ihre flache Hand lag nun weich auf seiner Brust. Sie musste seinen Herzschlag fühlen, der dort wie ein gewaltiger Sturm tobte, ob von der Aufregung oder dem Sprint eben, konnte er nicht sagen. Seine Hand wärmte ihre kalte, und er trat vorsichtig dichter an sie heran, so als hätte er Angst, sie zu verschrecken. Emily rührte sich nicht. Sie atmete nur flach, als seine Hand ihre Wange entlangtastete und er ihr immer näher kam. Mittlerweile prasselte der Regen auf sie nieder, doch keinen der beiden schien das sonderlich zu stören. Sie blickten sich erstaunt in die Augen, als hätten sie sich nie zuvor gesehen. Sie schloss die Augen, als könnte sie kaum fassen, was gerade mit ihr geschah.
„Bitte atme, Emily. Andernfalls muss ich dem Chief, fürchte ich, eine ganze Menge erklären.“ Ein schwaches Lächeln tauchte auf ihrem Gesicht auf, und er nahm ihren Atem auf seiner Haut wahr. Seine zweite Hand umfing ihre andere Wange, sodass er ihr Gesicht nun in beiden Händen hielt, und dann, ganz behutsam, als wäre dieser Kuss alles entscheidend für ihre beiden Leben, senkte er seine Lippen auf ihre. Die Berührung seines Mundes war so sanft wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, der sich nach Freiheit sehnte. Er sah Emily kurz an, die ihre Augen immer noch geschlossen hatte, und wagte einen weiteren Versuch, nun weniger vorsichtig, sondern so, wie sich sein Körper nach dieser Frau verzehrte. Er öffnete den Mund, um den Kuss zu intensivieren, und seine Zunge strich einladend über ihre vollen Lippen. Emily reagierte sogleich darauf und er spürte ihre Arme, die über seine Brust in seinen Nacken wanderten und ihn enger an sich zogen. Seine Arme umfingen Emilys Taille, um sie näher an sich heranzuziehen, und ihre Lippen öffneten sich einen Spalt, um seiner drängenden Zunge Einlass zu gewähren. Sie verloren sich in einem leidenschaftlichen Kuss und klammerten sich aneinander wie Ertrinkende an einen Rettungsring. Der Kuss war wie ein Funken, der einen Heuballen in Brand steckte, und hatte in ihnen ein Feuer entfacht, das nicht mal der Regen löschen konnte. Erst als ein Donnergrollen in der Ferne erklang, war das wie ein Schlag, der sie in die Realität und das Hier und Jetzt zurückbrachte. Zuerst sah Emily vor Verzückung ganz benommen aus, doch das änderte sich schlagartig, dann erkannte Jake Bestürzung in ihrem Gesicht. Sie fasste an ihre vollen, und vom Kuss geschwollene Lippen.
„Was tue ich nur?“, murmelte sie und befreite sich umständlich aus seinen Armen.
„Ich denke, das nennt man einen Kuss in beidseitigem Einverständnis“, murmelte er.
Sie schloss entsetzt die Augen. „Wie konnte ich nur?“
Jake runzelte die Stirn und lächelte. „Was ist Verwerfliches daran, wenn zwei erwachsene Menschen dem inneren Drang nachgeben …“
Emily sah verletzt aus und erwiderte schroff: „Ich bin verheiratet! Das ist wohl der beste Grund dafür.“ Damit ließ sie ihn verdattert stehen und floh.
Jake fühlte herbe Enttäuschung in sich aufsteigen und den dringenden Wunsch, sie mit einer Welle Adrenalin zu bekämpfen. Er blickte an der Klippe hinunter, die kaum hoch genug war, um jemanden ernsthaft zu verletzen, und sprang in die tosende See.
KAPITEL 6
EMILY
Emilys Hand zitterte immer noch, als sie versuchte, den passenden Schlüssel in ihr Türschloss zu stecken, und sie spürte die Erleichterung, als die Tür sich von innen öffnete. Das Gefühl verpuffte, als sie ihre Schwestern Mary und Lucy vor sich sah, die sofort auf sie einredeten.
„Wie siehst du denn aus? Wo kommst du nur her?“, fragte Mary.
Lucy hingegen schien eher belustigt zu sein. „Warst du etwa gerade schwimmen?“
„Du hast wieder diese nervösen Flecken im Gesicht …“
Es war ihr Vater, der seine Uniform trug und auf dem Weg zu seiner Schicht war, der Emily die Flucht ermöglichte, damit sie niemandem Rede und Antwort stehen musste. Sie brauchte Zeit, um mit ihren Gedanken und Gefühlen allein zu sein. Lucy würde ihre Gesichtszüge nur analysieren, und das stand Emily nicht durch. Nicht jetzt.
So versprach sie, sich zu melden, floh in den ersten Stock und schloss beherzt die Tür hinter sich. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich mit dem Rücken dagegen und wartete einen Moment, bis sich ihr Herzschlag beruhigt hatte. Als sie jedoch die Augen erneut öffnete, brach die Bestürzung über das Geschehene erneut über sie herein. Sie sah die Lederjacke an der Garderobe hängen, die sie so sehr an Collin geliebt hatte, und brach in Tränen aus. Sie griff danach und presste sie an sich. Es war eins der wenigen Kleidungsstücke von ihm, das sie behalten hatte, nachdem ihre Schwestern sie dazu gedrängt hatten, wieder Platz in ihrem Schrank zu schaffen. In ihrem Kleiderschrank war nun Raum für neue Kleider, aber das änderte nicht das Geringste an ihrem Herzen, das voll mit Erinnerungen an Collin war. Collin, wie er lachte, wenn sie den wiederholten hoffnungslosen Versuch wagte, einen Nagel gerade in die Wand zu hämmern, oder er sich über sie beugte, sobald sie sich neckten. Collin, wie er nachdenklich zu ihr herüberblickte, wenn sie über einen Witz ihrer Geschwister lachte. Collin, wie er ihr diese Jacke über die Schultern hängte, weil sie wieder mal fror, da sie sich wie immer in ihrem Optimismus mit den Temperaturen verschätzt hatte. Wie hatte sie das alles nur vergessen können, als sie Jake küsste? Es war so wichtig, diese Erinnerungen an Collin zu behalten, weil sie alles waren, was ihr von ihm geblieben war. Mittlerweile schienen die Erinnerungen an Collin trüb und unscharf zu werden, so wie sich ihr Leben anfühlte. Sie musste jeden noch so unbedeutenden Moment aufbewahren, wie einen Schatz. Mühsam richtete sie sich auf und sah in den langen Spiegel im Flur. Was würde nur aus ihr werden, wenn die Momente mit ihm für immer fort waren, so wie Collin selbst? Wer war sie schon ohne ihn? Ohne seine Liebe?
ROBERT
Es war ruhig auf den Straßen, selbst um diese Zeit des Tages, auch wenn es ein Freitagabend war. Chief Carhill hatte nichts gegen das Wochenende, nur der Silvesterabend war ihm zuwider sowie der besagte Jumper. Er fuhr Streife und lauschte den Geschichten seines Partners Olli, der wieder mit einer Kuh kämpfte. Immerhin versuchte er seit geraumer Zeit, einen Teil der Kuh zu verschlingen, und Robert seufzte ergeben, als er seinem Schmatzen zwischen zwei Sätzen lauschte.
„Donna ist jetzt auf dem Tofu-Trip. Sie sagt, ich sollte mir mal ein paar Tage ohne Fleisch gönnen. Hast du gehört? Gönnen!“ Er zeigte ihm einen Vogel. „Dafür wäre Tofu wohl gut. Ich meine, was soll der Scheiß? Entweder isst man Fleisch oder eben nicht. Aber warum sollte er so tun, als sei es Fleisch? Das will mir nicht einleuchten. In dieser Hinsicht kannst du froh sein, dass dir keiner reinredet.“
Diese Sätze hörte Robert häufig, vor allem von lang verheirateten Männern, die sich gern an ihre Junggesellenzeit zurückerinnerten. Für sie schien es eine Verlockung zu sein, in eine leere Wohnung zu kommen und tun und lassen zu können, was immer man wollte. Das waren jedoch nur hohle Sprüche für ihn. Es war leicht, immer nur auf die positiven Aspekte einer Sache zu blicken, ohne ihre Verluste zu betrachten. Denn jeden Abend fuhren sie in ihr Zuhause, in dem sie von ihren Frauen erwartet wurden, froh und erleichtert, dass sie heil von ihrer Schicht zurückgekehrt waren. Er dagegen kam heim und war in der Regel allein. Robert musste sich allerdings eingestehen: Er war selten einsam. Irgendeines seiner Kinder sah er meistens, wenn er nach Hause kam.
„Das sagst du so leicht. Meine Mädchen sind da unerbittlich, vor allem, was rotes Fleisch angeht“, knurrte er.
„Und mit Lucy möchte ich nicht in einen Ring steigen müssen, oder täusche ich mich da?“
„Keineswegs. Sie kommt besser mit dem alten Barry zurecht als ich, wenn seine Viecher mal wieder durch den kaputten Zaun abhauen.“
„Dieser alte knurrige Hund. Kein Wunder, dass die Kinder seinen Traktor an Halloween mit Klopapier eingewickelt haben.“
„Das war einerseits der schönste Einsatz meines Lebens und gleichzeitig der schwerste“, grinste Robert. Sein Freund biss in seinen Burger und hob fragend die Brauen. „Ich durfte nicht lachen. Barry lief vor Ärger fast lila an.“
Oliver lachte, sah aus dem Fenster und wurde augenblicklich todernst. „Schau mal, wer da ist!“
Robert sah den großen Pick-up vor dem zwielichtigen alten Schuppen von Will stehen. Will war ein hagerer, unsympathischer Typ, der sein Geld mit dem An- und Verkauf gebrauchter Elektroteile verdiente.
„Die Hendersons sind also wieder da.“ Robert parkte den Polizeiwagen hinter einem anderen Auto und stellte das Licht aus.
„Alles in Ordnung, Rob?“, fragte sein Partner eine Spur besorgt. Er wusste schließlich, dass die Sache nach Collins Tod zu einer persönlichen Fehde geworden war. Robert nickte abwesend und machte ein Zeichen, dass er ihm das Neueste über die Hendersons erzählen sollte.
„Bud und seine Gang wurden gestern schon an einer Tankstelle gesichtet“, berichtete Oliver. „Es schien Probleme gegeben zu haben. Zumindest wurde der Besitzer danach beim Arzt behandelt.“
„Bud ist seit einer Woche draußen und treibt sein Schutzgeld wieder ein, schätze ich. Er verliert keine Zeit. Hat der Tankstellenbesitzer was gesagt?“
„Natürlich nicht - er war völlig verängstigt. Ian, Roccos Neffe, hat die Tankstelle gekauft“, erwiderte Olli seufzend.
„Ach du je, dann wird es nicht lang dauern, bis sie in Roccos Pub kommen.“
„Wollen wir es melden und reingehen?“
„Lass uns mal abwarten, womöglich sehen wir was, das interessanter ist.“
Sie sahen den bunten, blinkenden Lichtern am Secondhandshop zu und warteten gespannt. Das Knistern der Burgertüte und der Serviette zeigte an, dass Oliver sein Essen hinuntergewürgt hatte - dem Himmel sei Dank. Sie hatten kaum Zeit für wilde Spekulationen, da trat Bud mit drei seiner Gefolgsleute aus dem Laden, und Will spazierte bei bester Gesundheit hinter ihnen her. Er schlug in Buds dargebotene Hand ein, und sie verabschiedeten sich. Die Wut begann in Robert zu lodern, als er den bulligen Typen an seinem Pick-up stehen sah, und bevor er wusste, was er tat, stand er bereits neben seinem Wagen und schlug die Fahrertür zu. Fluchend folgte Oliver seinem Kollegen und meldete der Zentrale: „Der Chief trifft auf Bud Henderson, bei Wills Secondhandshop, Winterblossom Road 11. Wir brauchen womöglich Verstärkung.“
Bud setzte ein breites Grinsen auf, als er die Polizisten auf sich zukommen sah. „Na, sieh mal einer an, wenn das nicht Chief Carhill persönlich ist.“ Er hakte beide Daumen in seine Gürtelschnalle und kam ihnen wippend und mit breitbeinigem Gang entgegen.
„Spar dir deine falschen Worte, du hinterhältiger Abschaum“, knurrte Robert.
Buds Augen blitzten gefährlich, er sagte jedoch: „Na na na, wir wollen doch nicht unfreundlich werden, wo wir doch alte Freunde sind.“
„Freunde, heh?“ Robert Carhill lächelte abfällig. „Ich bin alles, bloß nicht dein Kumpel.“
„Oh, das bricht mir aber das Herz.“ Die Lacher seiner Brüder begleiteten Buds ironische Worte.
„Was willst du in meinem Ort, Bud?“
Bud breitete unschuldig die Arme aus. „Das ist ein freies Land. Ich besuche alte Freunde.“
„Freunde wie mich? Immerhin sieht Roccos Neffe nicht so aus, als hätte er ein Händchen für wirkliche Freundschaften“, entgegnete der Chief schneidend.
„Tragisch, der Kleine ist wohl die Treppe runtergefallen, hat er mir zumindest erzählt.“ Seine Gefolgsleute stimmten ein mitleidiges „Ohhhh!“ an.
„Pass schön auf, Freundchen. Dein Bruder ist immerhin auch eingefahren, weil ich mir etwas Mühe gegeben habe. Wenn dir dein letzter Aufenthalt im Knast noch bleibend in Erinnerung ist, haust du hier besser ab, und zwar schnell.“
„Wie geht’s eigentlich deiner Kleinen? Soll ganz schön durchhängen nach dem Tod ihres Polizistengatten …“
Bud trat näher auf Robert zu, und Olli brüllte: „Überleg dir ganz genau, was du tust, Bud Henderson.“
„Was denn? Wir plaudern doch nur?“
„Zurücktreten!“, befahl Olli ungewöhnlich streng.
Der Chief winkte ab. „Ganz ruhig, Olli.“
„Ach, ich weiß nicht, Carhill. Ich mag diese Stadt irgendwie, und wem sie gehört, das werden wir wohl erst noch sehen.“ Er tippte an seinen Hut und ging ums Auto herum, während Oliver und Robert ihm böse hinterhersahen.
„Das sieht nicht danach aus, als würde er allzu bald wieder verschwinden, oder?“
Robert knurrte: „Offenbar nicht!“
„Das solltest du Emily sagen, Rob, bevor sie ihn unvorbereitet trifft.“
Robert seufzte nur und sah dem Pick-up, der laut röhrend um die Ecke fuhr, nachdenklich hinterher. Das Letzte, was er seinem Mädchen sagen wollte, war, dass Collins Mörder wieder da waren.
EMILY
Das Wochenende neigte sich dem Ende zu, und wie immer sehnte Emily sich nach dem Alltag und der Routine. Den ganzen Samstag und Sonntag hatte sie sich eingeschlossen und von Rotwein und einer bestellten Pizza gelebt, die sie häppchenweise kalt gegessen hatte. Es fehlte nicht mehr viel, und sie würde als die besagte durchgeknallte Witwe von Jarbor Hydes gelten. Es hatte sie reichlich Mühe gekostet, ihre Familie fernzuhalten. Der Nachteil, wenn die Familie so zusammengluckte, war eindeutig, dass es nicht reichte, das Telefon auszustellen. Sie hatte einen Magen-Darm-Infekt vorgeschoben und mit Ansteckung gedroht, wenn sie ihr Suppe oder Tee brachten, damit sie wegblieben. Emily lehnte nun mit einem Glas Rotwein in der Hand am großen Fenster und blickte auf die Straße hinunter. Es war bereits dunkel, und sie sah nur vereinzelt Menschen oder Autos. Normale Leute verbrachten ihre freie Zeit eher mit ihren Familien. Sie war nur einfach nicht normal. Sie war Witwe mit fünfundzwanzig und stürzte in eine Lebenskrise, sobald ein Mann sie küsste. Wenn das nicht verschroben war, was dann? Sie würde als alte verbitterte Frau enden, die ihre Nachbarn in den Wahnsinn trieb, weil sie ihre Mülltonnen nicht reinstellten und zwölf Katzen besaß.
Es klingelte Sturm, so plötzlich, dass ihr das Weinglas beinahe aus der Hand glitt und ein großer Schluck auf ihren Pullover schwappte. Bevor sie auch nur daran denken konnte, die Tür zu öffnen, stand Lucy schon im Zimmer.
„Du lebst? Verrottest also nicht in der Badewanne, weil du ertrunken bist? Bist nicht krank? Zumindest nicht sonderlich, wenn du Rotwein in dich reinschütten kannst. Gut. Denn ich bin echt sauer auf dich.“
„Sauer? Wieso?“ Sie lallte sogar, aber nur ein ganz kleines bisschen.
Lucy stöhnte und schüttelte den Kopf. „Wieso stellst du das Telefon aus? Eine einfache Nachricht hätte mir schon gereicht!“
„Ich habe gesagt … ich bin krank.“
„Du bist nicht krank, du bist betrunken. Seit wann?“
Emily legte den Finger an ihre Lippen und überlegte übertrieben lang. „Welcher Wochentag?“, nuschelte sie.
„Gut, das, was auch immer du jetzt hier anstellst, ist zu Ende. Du gehst in die Dusche, und ich mach uns einen starken Kaffee. Dann reden wir! Und zwar wirklich, meine Liebe.“
Emily zog einen Schmollmund und ließ die Arme hängen, als Lucy ihr das Weinglas abnahm. Sie wurde von ihrer Schwester ins Bad geschoben, wo sie die Dusche anstellte. Sie half ihr beim Ausziehen und warf alles in die Wäsche. Anschließend warnte sie: „Wenn du nicht in zehn Minuten geduscht bist, rufe ich Dad an, und dann hast du echt ein Problem, das sag ich dir!“ Diese Drohung wirkte Wunder, und Emily begann sich zu duschen.
Mit frischen Kleidern, die Lucy ihr hingelegt hatte, trat sie aus dem Bad, nahm den verführerischen Duft von Eiern wahr und folgte ihm in die Küche. Wozu Lucy in wenigen Minuten fähig war, erstaunte sie immer wieder. Sie hatte den leeren Pizzakarton entsorgt, ebenso die Weinflaschen, und die Arbeitsplatte in der Küche und den Wohnzimmertisch abgewaschen. Die Wolldecke war fein säuberlich zusammengelegt, und sie stand vor einer Pfanne, in der ein Omelett lag, dass sie aus den wenigen genießbaren Zutaten gezaubert hatte, die noch in Emilys Kühlschrank waren. Emilys Magen knurrte laut.
„Nicht zu fassen – der strenge Geruch ist tatsächlich wie durch Zauberhand verschwunden. Könnte doch an dir gelegen haben.“ Lucy warf ihr einen bedeutungsschweren Blick zu, und Emily murmelte etwas Unverständliches. „Setz dich!“ Sie stellte die Platte aus, legte das Omelett auf einen Teller und platzierte es vor Emily, die sich gehorsam an den Tisch setzte. Anschließend gesellte Lucy sich mit zwei dampfenden Kaffeebechern und Besteck zu ihr. Emily begann unter ihrer Aufsicht schweigend zu essen und lehnte sich nach wenigen Minuten zufrieden in ihrem Stuhl zurück. Sie begegnete Lucys besorgtem Blick. Da wusste sie, dass ihr ein ernstes Gespräch bevorstand. Der offensichtliche Beweis dafür war, dass Lucy nicht die gesamte Familie einberufen hatte.
„Emily“, begann Lucy auch schon mit ungewöhnlich eindringlicher Miene. „Du weißt, ich liebe dich, und ich sehe, wie sehr du immer noch unter Collins Tod leidest. Es ist eine Tragödie, dass du solchen Kummer ertragen musst, und ich verstehe, nein ich akzeptiere deine Art zu trauern nun seit fast zwei Jahren. Jeder trauert anders, das sehe ich ein. Ich habe jedoch das Gefühl, Marsmenschen haben meine Schwester entführt und mir ihre leere Hülle dagelassen.“ Sie ließ ihre Worte wirken und beobachtete Emilys Reaktion. „Du hast dein ganzes Leben vor Energie und Lebensfreude gestrotzt. Kein Baum war dir zu hoch, kein Wasser zu tief, kein Wald zu unheimlich. Du warst die mutigste Frau, die ich kenne. Du warst kreativ und einfallsreich, und du hast dir das Leben so gemacht, wie es dir gefiel. Du warst die verdammte Pipi Langstrumpf, und ich war bloß Annika. Wo ist das nur alles hin?“
„Vielleicht ist es da, wo Collin nun ist“, erwiderte Emily eine Spur trotzig und verschränkte die Arme vor der Brust.
Lucy dachte einen Moment darüber nach und biss sich auf die Lippe. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, denn all das warst du lange Zeit vor Collin, und das hatte nichts mit ihm zu tun. Er hat deine stürmische Art eher gedämpft. Er war ruhiger, und du hast dich ihm angepasst. Du wurdest sanfter und weniger wild durch ihn. Ich weiß nicht, ob das was Gutes war. Mir hast du vor ihm besser gefallen.“
„Wie kannst du nur so über ihn reden?“, entfuhr es Emily entsetzt. „Collin war der anständigste Mensch, den ich kenne.“
„Ich sage das nicht, um ihn zu beleidigen. Er hat das nicht von dir gewollt, da bin ich sicher. Er war in der Tat ein lieber Kerl, und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht wenigstens einmal an ihn denke. Das wird immer so sein. Das weißt du. Ich habe ihn wie einen Bruder geliebt. Es war eher eine Art Symbiose bei euch. Du wurdest ruhiger, und er etwas energischer. Es war, als hättet ihr euch ausgeglichen.“
„Und was war falsch daran?“
„Gar nichts, denn offenbar hat es für euch funktioniert. Doch jetzt bist du in keiner Symbiose mehr. Du bist nur noch du, und du solltest dein Leben endlich wieder zurückerkämpfen. Du musst es dir selbst, aber auch den Menschen, die dich lieben, wert sein, dass du um dich kämpfst. Hör auf damit, nur Collin zu wollen. Denn das wird niemals geschehen, meine Süße. Lass Collin endgültig los und wähle dich.“ Emily brach in Tränen aus, und Lucy reichte ihr über den Tisch hinweg die Hand. „Du bist eine mutige Frau – die mutigste, die ich überhaupt kenne. Hol dir dein Leben zurück.“
Es dauerte eine Weile, bis Emily sich beruhigt hatte und Lucy die letzte Zeitung, die Collin in der Hand gehalten hatte, vom Tisch hochhob.
„Beginne damit, diese Sachen, die hier in der gesamten Wohnung verteilt sind, einzusammeln und das hier in deine eigenen vier Wände zu verwandeln.“
„Ich habe Angst, dass ich ihn vergesse“, gestand Emily leise.
„Wieso? Weil du alte Zeitungen wegwirfst oder schmutzige Zahnbürsten entsorgst?“ Emily lächelte kurz. Es klang ein wenig absurd, wenn Lucy das so sagte. „Du vergisst ihn niemals, nur weil du Platz für dich schaffst. Die Erinnerungen sind da oben drin und in deinem Herzen. Wer könnte diesen süßen Jungen jemals vergessen? Ich denke noch oft an den Tag, als Luke ihn angeschleppt hat. Er sah aus wie ein verwahrlostes Haustier. Er wurde nicht erst durch eure Hochzeit ein Carhill, er war es von diesem Augenblick an und wird es immer sein. Du kannst dir doch Raum für Andenken an ihn schaffen, aber du entscheidest, wo sie hinkommen.“ Emily nickte zögerlich, und Lucy klatschte in die Hände. „Dann legen wir mal los!“
„Was jetzt?“
„Ja sicher? Wann denn sonst?“
Nach einer halben Stunde hatte Emily einen kleinen Karton mit Dingen, die sie als Erinnerung an Collins letzten Tag in ihrem Zuhause aufbewahrt und verehrt hatte. Am Ende goss Lucy ihnen beiden ein Glas Rotwein ein und reichte es ihrer Schwester. „Das verstehe ich nicht. Ich muss erst nüchtern werden, um mich dann mit dir gemeinsam zu betrinken?“
Lucy grinste. „Wenn Alkohol aus Selbstmitleid fließt, habe ich was dagegen. Fließt er jedoch, weil es was zu feiern gibt, bin ich ein Freund davon.“
Sie stießen an, und Emily nahm einen ordentlichen Schluck, bevor sie hinausposaunte: „Ich habe mit Jake O’Reiley geknutscht!“ Sie schlug die Hände vor den Mund, wich dem überraschten Blick ihrer Schwester aus und wusste selbst, wie kindisch sie klang.
„Wie bitte? Und das erzählst du mir erst jetzt?“
„Genau genommen habe ich mich deswegen so schlecht gefühlt, dass ich mich hier versteckt habe.“
Plötzlich wurde Lucys Blick ganz weich, und sie seufzte, bevor sie ihre Schwester an sich zog und ihr einen Kuss aufs Haar gab. „Du bist echt so gebeutelt, und es tut mir entsetzlich leid, dass du das alles durchmachen musstest. Du hast Schuldgefühle?“
Emily nickte zögerlich. „Ich fürchte so oder so ähnlich ist es wohl.“
„Was glaubst du, würde Collin dir jetzt sagen?“ Lucy sah sie lange an, und Emily hob unsicher die Schultern. „Ich meine den Collin, der Entenkinder aus Gullideckeln gerettet und immer nur das Beste für dich gewollt hat?“
„Diese Frage impliziert schon die Antwort.“
Lucy Miene war ungewohnt liebevoll und mitfühlend. „Du bist so jung und hast noch dein ganzes Leben vor dir. Du solltest dringend Männer küssen, und zwar so viele du willst. Wer sagt denn, dass du diesen Jake gleich heiraten sollst? Hab doch eine Weile einfach mal Spaß, ohne an Collin zu denken. Wäre es umgekehrt, hätte er sicher keine zwei Jahre enthaltsam gelebt, davon bin ich überzeugt.“ Lucy hob bei Emilys entsetztem Blick nur unschuldig die Achseln. „Was glaubst du denn? Ich bin sicher, er hätte die Arme-Witwer-Karte zuhauf ausgespielt.“ Emily boxte ihre Schwester mit dem Ellenbogen in die Seite, doch Lucy betonte nur noch einmal: „Du musst dringend wieder aufs Pferd steigen, meine Liebe. Dann wirst du auch etwas entspannter!“
„Immer diese Pferdemetaphern!“
„Ich bin Tierärztin!“
„Und was bitte können wir dafür?“ Lachend nippte Lucy an ihrem Wein und sah zu ihrer nachdenklichen Schwester hinüber.
Sie wirkte verletzt. Es gab da ein Thema, das sie vorzugsweise nicht vertiefte, doch Lucy kannte sie einfach zu gut. „Was? Geht es etwa immer noch um diese Frau?“ Feingefühl war wirklich nicht Lucys Spezialgebiet.
„Ich will nicht darüber reden.“ Emily winkte ab und stand von ihrem Stuhl auf. Ein typisches Zeichen, dass sie es ernst meinte.
„Vielleicht gehört dieser Teil aber zu Collins und deiner Beziehung. Womöglich ist der besonders wichtig, weil dir klar wird, dass Collin auch nicht perfekt war. Hast du daran schon mal gedacht?“
„Egal, wie oft ich darüber nachdenke, Lucy, ich werde keine Antwort bekommen. Niemals. Was soll ich also deiner Meinung nach tun?“
„Brauchst du denn eine Antwort von Collin? Zu einer Affäre gehören immer zwei. Du könntest auch sie fragen.“
„Niemals!“, rief Emily entschlossen. „Wir haben uns gehasst.“ Sie schüttelte heftig den Kopf und begann, die Küchenutensilien aufzuräumen, um Lucy nicht ansehen zu müssen.
„Na und? Das war davor, und mittlerweile gibt es nichts mehr, weswegen ihr euch in die Haare bekommen könntet.“ Die Worte waren Lucy schneller entglitten, als ihr lieb gewesen war, und auch wenn Emily an ihrem Gesicht ablesen konnte, wie leid es ihr tat, schmerzten sie.
„Manchmal bist du wirklich grausam, Lucy!“
„Es tut mir leid. Ich bin doch nur ehrlich.“
Emily schüttelte entsetzt den Kopf. „Ja und direkt und rational, aber das macht es keineswegs besser.“
Die Gedanken kreisten die ganze Nacht über in ihrem Kopf und ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Als die ersten Sonnenstrahlen durch ihr Fenster drangen, schwang Emily die Beine aus dem Bett. Ein Teil ihres Gesprächs mit Lucy ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. War sie wirklich ein Duckmäuschen geworden? Hatte Collins zurückhaltende Art tatsächlich dazu geführt, ihren Mut und ihre Wildheit zu dämpfen? Sie dachte an Jake, der sich todesmutig die Klippe hinuntergestürzt hatte, und an das Leuchten seiner Augen, als er anschließend aus dem Wasser gekommen war. Sie hatte ihn darum beneidet, um diese Lebendigkeit in seinem Blick und die Freiheit, die er auslebte, ganz einfach, weil er es so wollte.
Entschlossen, einen Teil davon zurückzubekommen, stand sie auf und zog sich an. Zur Abwechslung regnete es mal nicht, und Emily hatte noch drei Stunden, bevor sie in der Galerie sein musste. Sie legte den Weg zum Pavillon zurück und wurde von dem Anblick der frühen Morgenstunde regelrecht verzaubert. Zum ersten Mal seit geraumer Zeit sah sie diesen Ausblick wieder und fragte sich, was sie davon abgehalten hatte, hierherzukommen. Was hatte sie davor zurückschrecken lassen, die Schönheit der Welt sehen zu wollen? Es gab dafür keine vernünftige Erklärung. Emily trat an den Rand der Klippe und blickte aufs Wasser hinab, das verhältnismäßig ruhig war. Sie spürte eine Aufregung und ein nervöses Flattern, das sich in ihrem Bauch ausweitete und das sie fühlte, sobald Jake in der Nähe war. Sie wollte ihr Leben zurückhaben, und zwar das, das sie vor Collin geführt hatte.
KAPITEL 7
ROBERT
Robert Carhill war ein Mann, für den die Belange seiner Mitmenschen und seiner Familie stets an erster Stelle standen. Manchmal fragte er sich, ob diese Aufopferung ihnen die Ehefrau und Mutter genommen hatte. Ob es seine Frau leid gewesen war, das Essen kalt werden zu lassen, bis er vom Dienst zurückkehrte? Emily war gerade vier Jahre alt gewesen, als seine Frau sie alle in einer Nacht- und Nebelaktion verlassen hatte. Amy hatte kaum das erste Lebensjahr überschritten gehabt, und er wäre beinahe verzweifelt. Ein Mann, ein Polizist, ständig in Gefahr, von jemandem angegriffen zu werden, sollte allein für seine fünf Kinder sorgen? Er hatte monatelang nach ihrer Mutter gesucht und eines Tages vom einen auf den anderen Moment damit aufgehört. Nie hatte er jemandem den Grund dafür genannt, und dabei sollte es möglichst auch bleiben. Seine Kinder hatten genug durchgemacht, auch ohne die ganze Wahrheit zu kennen. Natürlich war ihm klar, dass jedes Geheimnis ihnen irgendwann um die Ohren fliegen konnte, aber darum würde er sich kümmern, wenn es so weit war. Er hatte nie wieder über sie gesprochen, zumindest nicht vor seinen Töchtern und seinem Sohn, und jede noch so kleine Erinnerung an sie aus ihrem Leben verbannt. So schrecklich diese Zeit auch gewesen war, so hatte das Dorf ihm damals doch gezeigt, was Verbundenheit und Nächstenliebe bedeuteten. Sie halfen ihrem Chief in jeder noch so seltsamen Situation. Ihre ältere und mittlerweile verstorbene Nachbarin Mrs. Jorkins kochte für sie und kümmerte sich nach der Schule um die Kinder. Der Lehrer half ihnen bei den Schulaufgaben, und die Wäsche wurde von der örtlichen Reinigung kostenfrei übernommen. All das, was er dem Dorf gegeben hatte und immer noch gab, gaben sie ihm zurück. Sie hatten dafür gesorgt, dass seine Kinder und er in einem sicheren Zuhause lebten, achteten auf die Fünf, damit er sie alle beschützen konnte. So waren die Menschen hier – eigenbrötlerisch und mürrisch, aber immer für einen da, wenn man sie brauchte.
„Chief?“, ertönte Hettys Stimme aus dem Funkgerät. „Halleberry Road. Da gibt’s ein Problem mit einem Aston Martin.“
„Im Ernst?“ Er lachte rau, setzte den Blinker, wendete den Wagen und fuhr zur angegebenen Adresse. Er war nicht überrascht, dass der Aston Martin, der dem Jumper aus der Silvesternacht gehörte, ihm weiter Ärger machte. Er konnte sich jedoch ein breites Grinsen nicht verkneifen, als er den Umstand sah, durch den der werte Rennfahrer wohl in Schwierigkeiten geraten war.
JAKE
Jakes Tag hatte nicht besonders gut begonnen. Ganz und gar nicht gut. Die halbe Nacht hatte er sich in seinem riesigen Bett herumgewälzt und keine Ruhe gefunden, weil ihn Emilys Rehaugen und die Erinnerung an ihre weichen Lippen keinen Frieden finden ließen. Er konnte es kaum fassen, dass ein simpler Kuss so eine Wirkung auf ihn hatte. Jedoch war das, was er wollte und nicht haben durfte, schon immer außerordentlich reizvoll gewesen. Ihre Eröffnung, dass sie verheiratet war, hatte ihn kalt erwischt. Wie hatte er nur annehmen können, dass so eine Frau nicht längst vergeben war? Und warum beschäftigte ihn das alles auch Tage später noch?
Anderson hatte ihn trotz der schlaflosen Nacht in aller Herrgottsfrühe geweckt und aus dem Bett gescheucht. Dann hatte er auch noch einen widerlichen Instantkaffee für ihn in petto gehabt, weil seine teure Kaffeemaschine den Umzug offenbar nicht unbeschadet überstanden hatte. Er konnte sich dummerweise auch keinen Kaffee kaufen, aus Angst, Emily im Mary’s zu begegnen. Nicht zu fassen, dass er sich tatsächlich davon abhalten ließ, ein Geschäft zu betreten, nur um einer Frau aus dem Weg zu gehen. Das geschah sonst höchstens, weil er sie nie wiedersehen wollte. In diesem Fall musste er sich eingestehen, dass er sie nur zu gern erneut getroffen hätte, um mit ihr Dinge anzustellen, die man aber mit verheirateten Frauen nicht tat. Es war zum Haareraufen. Was war nur los mit ihm?
Deswegen war er übernächtigt und ohne anständigen Koffeinnachschub in seinen Wagen gestiegen, um rechtzeitig seinen Flug in Carlisle zu erwischen. Wie immer gab es nach Saisonende Klagen von einem Team ans andere aus den unterschiedlichsten Gründen. Es ging um Dinge wie die Beschaffenheit der Reifen oder der Kühler, die Strafen bestimmter Fahrer, die dem jeweils anderen Team angeblich einen Vorteil verschafft hatten, und so weiter. Die Liste ließ sich beliebig fortführen. In der Regel kam bei diesen Verhandlungen nichts heraus und die Ermittlungen wurden abgewiesen oder eingestellt. In Wahrheit glaubte Jake, dass es die Zwistigkeiten nur gab, damit der Rennsport auch in der Winterpause im Gespräch blieb. Seiner Crew stand nun die letzte Verhandlung wegen eines Formfehlers bei seinem Antrieb bevor, und es gehörte zum guten Ton, bei diesen Terminen selbst zu erscheinen, sodass er Jarbor Hydes für kurze Zeit verlassen konnte. Zudem war sein fähigster Mechaniker Jamie betroffen, und Jake sah es als seine Pflicht an, ihm zur Seite zu stehen. Er hoffte, so seine befremdlichen Gedanken an Mrs. Carhill loszuwerden, indem er sich Ablenkung suchte. Was er nicht einkalkuliert hatte, war, dass es letzte Nacht nach dem vielen Regen gefroren hatte und die Straßen spiegelglatt waren. Daher war er schon in der ersten Kurve von der Straße abgekommen und hatte seinen beinahe neuen Aston Martin in den Graben gesetzt. Fluchend wartete er nun auf den Abschleppdienst und musste einige schadenfrohe Bemerkungen der Anwohner über sich ergehen lassen. Die Häme der Nachbarn war jedoch im Augenblick seine geringste Sorge, denn ein Polizeiauto hielt in kurzer Entfernung, und der Chief persönlich stieg aus. Jake stöhnte gequält auf. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Der alte Mann machte überhaupt keinen Hehl daraus, dass er sich diebisch auf seine Kosten amüsierte. Jake verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust.
„Na, das nenn ich mal einen Jackpot, Mr. O’Reiley. Sind Sie etwa von der Straße abgekommen?“, fragte er grinsend. „Bei einem so geübten Fahrer sollte man meinen, dass das unmöglich sei.“
Jake vergrub seine Hände in den Hosentaschen. „Ganz offensichtlich hat das Wetter mir einen Strich durch die Rechnung gemacht.“
„Hatten wohl nicht die richtigen Reifen drauf, was?“, erwiderte der Polizist höhnisch.
„Ich stehe über Ihren blöden Sticheleien. Machen Sie sich nur lustig über mich. Glauben Sie etwa, ich hätte nicht schon andere Dinge über mich gehört?“
Er grinste vielsagend. „Nein, ich bin sogar überzeugt davon und habe großes Vertrauen in die Bewohner von Jarbor Hydes, dass sie genug Einfallsreichtum haben, um diesen Moment aufrichtig zu genießen, wenn Sie gezwungen sind, von Ihrem hohen Ross zu steigen.“
Ein höhnischer Laut entwich Jake, und er wandte dem Polizisten sein grimmiges Gesicht zu. „Als könnten Sie mich damit treffen, Chief. Ich habe bereits schlimmere Dinge in Zeitungen über mich gelesen, und nur, weil es da drin steht, heißt es nicht automatisch, dass es wahr ist.“
Der Chief hielt inne und betrachtete den anderen Mann einen Augenblick nachdenklich. „Sie wundern sich doch nicht, dass die Leute schadenfroh sind, oder? Sie tragen die Nase hoch, vermeiden jeden Kontakt mit ihnen und brettern wie ein Irrer durch die Straßen. Und so richtig sympathisch macht es Sie nicht, wenn Sie von uns als Schafe sprechen. Ein klein wenig necken, wird dann wohl erlaubt sein.“
Ungeduldig zog Jake sein Handy aus der Tasche. „Sagen Sie mir lieber, wann der Abschleppdienst kommt, damit ich nach Carlisle komme, um rechtzeitig meinen Flug zu erwischen.“
„Oh, um diese Zeit schaut sich Ed gerade die Bill-Morning-Show an. Da werden Sie sich wohl noch etwas gedulden müssen.“
Jake entfuhr ein „Fuck!“, als er auf seine Uhr sah.
Der Chief blieb breitbeinig vor ihm stehen und begutachtete ihn argwöhnisch. „Haben Sie sich das bei dem Unfall zugezogen?“
„Was?“
Er deutete auf sein Gesicht und zog ihn mit zum Polizeiauto, wo Jake im Spiegelbild der Scheibe seine aufgeplatzte Braue betrachtete. Das hatte er nicht mal bemerkt. Er tupfte mit seinem Jackenärmel darüber und zuckte mit den Schultern. „Als ich heute Morgen in den Spiegel gesehen habe, war das jedenfalls noch nicht da. Liegt wohl nahe.“
„Das sollten Sie besser mal von einem Arzt abklären lassen.“
Jake entwich ein Lachen. „Wegen so etwas mache ich mir gewiss nicht ins Hemd.“
„Es könnte eine Gehirnerschütterung sein.“
„Glauben Sie mir, damit kenne ich mich aus, Chief, aber ich bin gerührt über Ihre Sorge.“ Die Ironie triefte aus jedem seiner Worte.
„Es ist meine Pflicht, Sie darauf hinzuweisen“, stellte er klar.
Sie schwiegen eine Weile, dann griff Jake zum Telefon, um seinen Chef anzurufen und ihm zu sagen, dass er es nicht rechtzeitig zum Flughafen schaffen würde.
„Haben Sie nur dieses eine Auto?“
„Meinen Sie, nur weil ich Rennfahrer bin, müsste ich einen ganzen Fuhrpark in meiner Garage stehen haben?“ Bevor der Chief darauf antworten konnte, fuhr er fort: „Meine anderen Autos wurden noch nicht hier rüber transportiert. Ich erwarte sie erst nächste Woche. Mit diesem Auto habe ich mich selbst hergebracht.“
Das Tuten endete, als jemand ans Handy ging. „Hallo Johnson, ich schaffe es nicht rechtzeitig zur Verhandlung. Ich bin von der Straße abgekommen und …“ Jake lauschte der Stimme und seufzte. „Ich versuche, so schnell wie möglich da zu sein.“
Der Polizist sah ihn stirnrunzelnd an und fragte: „Was ist das für ein Gerichtstermin, von dem Sie gerade gesprochen haben?“
„Haben Sie Angst, ich sei ein schlimmer Finger?“
„Davon bin ich überzeugt, ich frage nur aus Neugierde.“
„Meine Crew, Radamos, wurde vom gegnerischen Team wegen diverser Nichtigkeiten verklagt, um mir Punkte zu stehlen, damit mir mein Meistertitel aberkannt wird.“
Der Chief hob erstaunt die Brauen. „Dafür klingen Sie reichlich entspannt.“
Jake zuckte mit den Achseln. „Ich bin daran gewöhnt, dass mir jemand an die Karre pissen will, wenn Sie verstehen. Ich weiß, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist, weil ich meinen Jungs blind vertraue. Außerdem verdanke ich meinen Erfolg dem Zusammenspiel meiner Crew und meinen eigenen Fähigkeiten als Rennfahrer.“
Bedeutungsschwer deutete der Chief auf den Wagen im Graben. „Nun, ich sehe davon im Moment nicht allzu viel.“
Jake rollte mit den Augen und überging diese Bemerkung. „Das ist alles, was ich wissen muss. Erfolg hat man erst, wenn ihn einem jemand abspenstig machen will. Dafür arbeite ich zu hart. So einfach lass ich mich nicht unterkriegen, wenn ich etwas will. Ernst wird es erst, wenn sie meinen Jungs an den Kragen wollen. Denn die sind wesentlich leichter dranzukriegen. Deswegen ist es so wichtig, dass ich heute dort bin.“
Der Chief nickte und schwieg eine Weile. Er seufzte und griff nach seinem Handy. „Hey, bist du schon auf dem Weg?“ Er lauschte der Antwort und sagte dann: „Großartig, bitte mach einen Abstecher zur Halleberry Road. Du müsstest mir einen Gefallen tun und jemanden bis zum Flughafen in Carlisle mitnehmen. Sehr gut, ich schulde dir was.“ Er legte auf und sah in Jakes überraschtes Gesicht.
„Wieso tun Sie das für mich? Ich dachte, Sie können mich nicht leiden?“
„Wer hat denn was davon gesagt, dass ich Sie gleich als Schwiegersohn möchte?“ Der Chief lachte. „Ich erkenne nur einen Mann in Not, der für andere da sein möchte, und so was tun meine Schäfchen und ich hier eben füreinander. Wir helfen uns. Vielleicht haben Sie die Chance, diesen Gefallen eines Tages jemandem zu erwidern, wer weiß?“
„Wenn Sie bei jemandem in der Schuld stehen, dann muss es wohl ein großer Gefallen werden.“
Der Chief deutete auf ein Auto, das näherkam. „Keine Sorge, es ist bloß mein Sohn Luke, der eine Pizza essen will. Das verkrafte ich gerade noch so.“
Der moderne BMW hielt vor ihnen, und das Fenster wurde heruntergelassen. Jake verschlug es die Sprache, als er den Fahrer erkannte. „Sie haben einen Toyboy bestellt?“, fragte Luke trocken, und Jake stöhnte.
„Regiert diese Familie den ganzen verdammten Ort?“
„So gut wie!“, antwortete der Chief grinsend. „Ich kümmere mich um den Abtransport, und Sie sollten schnell einsteigen, sonst fährt er ohne Sie.“
„Danke!“ Jake eilte zu seinem Aston Martin und nahm seine Reisetasche heraus, bevor er sich auf Lukes Beifahrersitz niederließ.
Die ersten zwanzig Minuten war bis auf die Musik aus dem Autoradio nicht viel zu hören. Eisernes Schweigen erfüllte den BMW und Jake starrte angestrengt aus dem Fenster. Die Situation war so surreal, dass er am liebsten laut losgelacht hätte.
„Was ist da an Ihrem Auge passiert?“, fragte Luke plötzlich und reichte ihm ein Taschentuch.
„Machen Sie sich jetzt Sorgen um mich?“
„Eher darüber, dass sie meine Sitze vollbluten.“
Jake nahm zögerlich das Tuch entgegen und antwortete zähneknirschend: „Das verdanke ich dem Aufprall, schätze ich.“ Er klappte die Sonnenblende herunter, um die Wunde im Spiegel zu inspirieren, als ihm ein Foto in die Hände fiel, das Luke und einen anderen Mann zeigte, der ebenfalls eine Polizeiuniform trug. Er betrachtete es und bemerkte Lukes erstarrte Haltung. „Ihr Freund?“
„Ja und nein“, antwortete Luke zögernd, und Jake beeilte sich zu sagen: „Es geht mich auch gar nichts an.“
„Das stimmt wohl, aber unser halbes Leben musste Collin gegen dieses Vorurteil kämpfen, deswegen tue ich ihm zuliebe den Gefallen und kläre es auf. Er war mein bester Freund, jedoch ausschließlich im klassischen Sinne, ohne jeglichen sexuellen Hintergrund.“
„Er war?“, fragte Jake ganz automatisch.
Luke seufzte. „Er ist vor zwei Jahren gestorben.“
„Das tut mir leid“, murmelte Jake aufrichtig.
„Mir auch.“
Es vergingen einige Minuten, ehe Jake nachfragte: „Ist er im Dienst ums Leben gekommen?“
Luke schüttelte den Kopf und sah Jake einen Augenblick an. „Nein, das ist wohl das Tragischste, was einem Polizisten passieren kann. Er starb bei einem Autounfall.“
„Egal, wie es passiert, es ist immer schrecklich. In diesem Ort gibt es wohl keine nennenswerte Kriminalität, oder?“
„Typische Großstadtvorurteile!“ Luke schüttelte den Kopf. „Die Henderson-Brüder halten meinen Vater ganz schön auf Trab mit ihren illegalen Geschäften in Jarbor Hydes.“
„Eine Gang?“ Jake riss die Augen auf. „Das hätte ich nicht vermutet.“
„Sie sollten sich mit Ihren vorschnellen Urteilen vielleicht etwas zurückhalten“, schlug Luke freundlicher vor.
Jake nickte zögerlich. „Mag sein.“
Eine Weile schwiegen sie, ehe Luke widerwillig begann: „Er, Collin, ist der Grund, warum ich Sie davon überzeugen wollte, meiner Schwester den Pavillon zu lassen.“
Jakes Kopf ruckte zu ihm herum. „Das verstehe ich nicht.“
„Emily hat es seit Collins Tod sehr schwer und dieser Ort bedeutet ihr einfach alles. Deswegen würde ich mich freuen, wenn Sie den Pachtvertrag bestehen lassen könnten.“
„Emily war mit Ihrem Freund Collin verheiratet?“
„Ja, so ist es. Sie ist seitdem nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie hätten Sie kennenlernen sollen, bevor …“ Er suchte nach den richtigen Worten. „Sie war so voller Energie und hat immer nur gestrahlt. Sie ist eine wahre Künstlerin gewesen. Sie hat die Wände ihres Studentenzimmers nicht tapeziert oder weiß gestrichen, sondern jeden Zentimeter mit ihren Malereien verziert. Es war ihr völlig egal, dass sie nur kurz in diesem Raum wohnen würde. Die Malerei war ihr ganzes Leben. Das und Collin.“
Jake musste sich zwingen, Luke nicht weiter anzustarren, und sah wieder aus dem Fenster. „Ich bin ein Idiot.“
„Ist das jetzt eine Fangfrage? Denn im Grunde stimme ich Ihnen zu, es sei denn, Sie ändern Ihre Meinung.“
„Du machst mich fertig, Toyboy.“ Ein schiefes Grinsen tauchte auf Jakes Gesicht auf, während Luke ebenfalls lächelte. Vielleicht wurde der Tag ja doch noch besser.
EMILY
„… und dann hat er seinen nigelnagelneuen Aston Martin in den Graben gesetzt. Ist das zu fassen?“, hörte Emily im Roccos die Leute tratschen, an denen sie sich vorbeidrängte, um zum Tisch ihrer Geschwister zu gelangen.
Ächzend stellte sie die drei Biere ab und stöhnte: „Seit Tagen höre ich nichts anderes mehr, als diesen Unfall unseres Star-Rennfahrers.“
„Na komm schon, das ist doch wohl eine Geschichte wert, oder etwa nicht?“, fragte Mary belustigt und stieß Luke an. „Hast du ihn nicht nach Carlisle gefahren, damit er noch seinen Flieger erwischt?“
„Jupp, und das Scheusal entpuppte sich sogar als Mensch voller Mitgefühl. Immerhin hat er zugestimmt, dass Emily ihren Pavillon behalten darf.“
Emily dachte unweigerlich an das letzte Mal, als sie dort oben war, und zwar mit Jake ganz allein im Regen. Sie konnte sich nur zu genau an den sanften Druck seiner Lippen auf ihren erinnern und spürte sofort die Hitze in ihre Wangen schießen. Dem Himmel sei Dank, dass es im Pub ziemlich dunkel war.
„Was seine Meinung wohl geändert hat?“, fragte Lucy spitz und warf ihrer Schwester einen vielsagenden Blick zu, der Luke nicht entging.
„Ich dachte eigentlich, es läge an meinen Überredungskünsten“, murmelte Luke. „Wenn ich diesen Blick richtig deute, ist mir aber was Entschiedenes entgangen ...“
„Es lag wohl eher an Emilys Knutscherei.“
„Lucy!“, entfuhr es Emily, und Luke riss die Augen auf.
„Was?“, rief auch Mary entgeistert.
„Wie bitte? Was hab ich verpasst?“
Augenrollend winkte Emily ab. „Es ist gar nichts passiert!“
Lukes Miene blieb gespannt, während Lucy kichernd hinzufügte: „Na ja, gar nichts kann man nicht gerade sagen.“
Luke ereiferte sich: „Ich hab den Typen eine Stunde durch die Gegend gefahren und hatte keine Ahnung. Nie erzählt mir einer irgendwas!“ Er zog eine beleidigte Schnute.
„Warum war er überhaupt auf dem Weg zum Flughafen? Hat er uns schon wieder satt?“ Das Gefühl von Enttäuschung war ziemlich präsent, und es ärgerte Emily. Was kümmerte es sie, wenn er fort war?
Luke lehnte sich zurück und faltete die Hände, wie es ihr Dad immer tat. Diese Familienähnlichkeit war erschreckend und wunderschön zugleich. Häufig zogen sie ihn deswegen auf, doch heute gab es Spannenderes. „Liest du eigentlich je Zeitung?“
„Öhm, nein.“
„Wofür dann die Zeitung jeden Tag?“ Die Frage beantwortete Luke sich selbst, als er in Emilys Augen sah, die für einen Moment ihren Glanz verloren. „Collin.“ Er seufzte leise und erklärte dann: „Es ging um eine Gerichtsverhandlung seines Teams, die sie gewonnen haben, nur nebenbei bemerkt.“
„Also ist er schon wieder zurück, oder was?“, fragte Lucy aufgeregt.
Emily hasste es, dass sie so begierig auf Lukes Antwort wartete, doch sie konnte nichts dagegen unternehmen.
„Soweit ich weiß, hat Dad gesagt, er hätte ihm die Schlüssel für den Aston Martin zurückgebracht. Er müsste also wieder da sein.“
„Na also, dann kannst du ihm doch mal einen Besuch abstatten, Emily“, schlug Lucy unschuldig vor.
Emily sah ihre Geschwister bestürzt an. „Was? Du spinnst wohl. Ich werde auf keinen Fall zu ihm gehen. Wie sieht das denn aus? Vor allem, nachdem ich ihm gesagt habe, dass ich verheiratet bin.“
„Du hast was?“
„Nach dem Kuss …“
„Kuss? Moment! Ich warte immer noch auf die Erklärung zu diesem Kuss.“ Mary verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wir sind uns am Pavillon begegnet, und dort hatte er eine Art Anfall … ich weiß nicht genau, jedenfalls wollte ich ihm helfen, und da hat er mir gesagt, er könne nur an mich denken.“
„Dann hat er dich wild und leidenschaftlich geküsst und du hast ihm gesagt, du wärst verheiratet?“ Lucy schien fassungslos.
„Ich war so durcheinander, und es fühlte sich wie Betrug an. Collin …“
„Ist tot, meine Süße. Du bist frei“, erinnerte Luke sie sanft.
„Mag sein, aber mein Herz ist es nicht.“
„Hast du dir mal diesen Körper angesehen? Glaub mir, ich habe ihm beim Boxen zugesehen, und ich hätte beinahe gefragt, ob ich diese Bauchmuskeln mal anfassen darf. Und das, obwohl er mich Toyboy genannt hat - mehrmals.“
Luke wedelte unmännlich mit den
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Liv Keen/Kathrin Lichters
Cover: Viola Plötz: www.truelovejoy.de
Lektorat: Sandra Lode: www.textkontur.com
Korrektorat: Eileen Klein: www.textehochzwei.de
Tag der Veröffentlichung: 17.05.2022
ISBN: 978-3-7554-1410-0
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