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Leseprobe

CHOOSE KISSES: CARHILL SISTERS LUCY & DARRELL

LIV KEEN

Für Ben und Fynn,

meine beiden Patenkrümel, die jeder für sich ganz besonders sind und ich wahnsinnig liebe.

INHALT

Vorwort

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Nachwort

Bücher von Liv Keen

Danksagung

Über die Autorin

VORWORT

Liebe Leserin, lieber Leser,

dieses Buch ist bereits am 14.09.2016 bei Feelings, dem Imprint Label der Verlagsgruppe Droemer Knaur unter dem Titel Carhill Sisters - Lucy & Darrell und meinem anderen Autorennamen Kathrin Lichters erschienen. Nach dem Rechterückfall veröffentliche ich dieses Buch neu im Selfpublishing unter meinem offenen Pseudonym Liv Keen. Falls du diesen Band damals bereits gekauft hattest, hast du die Möglichkeit dieses eBook an Amazon zurückzugeben und dein Geld zurückzuerhalten. Falls du die Carhill Sisters noch nicht kennst oder einfach die überarbeitete Version lesen möchtest, wünsche ich dir ganz viel Lesespaß.

Alles Liebe

Deine Liv

PROLOG

DARRELL

Das Gefühl von Bedauern erdrückte ihn, als er die Unterschrift unter das Dokument setzte, was ihn endgültig von der Frau, die ihm gegenübersaß, trennte. Er legte den Stift darauf, schob es zu seinem Anwalt hinüber und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, während er den Ellenbogen auf die Stuhllehne stützte und seine Fingerknöchel gegen die Lippen drückte. Nachdenklich beobachtete er seine baldige Ex-Frau, die immer noch so schön, so hinreißend aussah wie vor zwei Jahren, als sie sich kennengelernt hatten. Die blonden Locken, die jeden Tag mit viel Arbeit in diese Form gebracht worden, umrahmten ihr zartes Puppengesicht, das, wie er sehr genau wusste, von etlichen Cremes, Ölen, Kuren und Make-up-Schichten gepflegt wurde. Ihre hellblauen Augen strahlten dank weiterer Hilfsmittelchen, die Darrell nicht mal beim Namen nennen konnte. Er suchte nach einem Hinweis in ihren Zügen, die auf eine ähnliche Gefühlsregung, wie der seinen hindeutete. Nichts. Dieses Gesicht war eine Maske und auch, wenn er keinerlei Gefühle für die ehemalige Mrs. Gordon hatte, so erfüllte ihn das Ende des Versuchs auf Glück mit Traurigkeit. Ihre Anwälte standen auf, reichten ihnen die Hand und verließen das Zimmer, um ihnen beiden ein wenig Zeit zu geben. 

Ihr Blick glitt zu ihm und sie lächelte. „Du siehst gut aus, Darrell“, sagte sie anerkennend und ließ ihre Augen über sein Gesicht bis zu seinem Oberkörper schweifen. „Ist der Anzug von Armani?“

Darrell seufzte. Wie war es möglich, dass sie jeden winzigen Augenblick der Gefühlsregung mit Oberflächlichkeit übertünchen musste? „Ist das deine einzige Sorge, Jenny?“

„Ich frage mich nur, wie lange es dauert, bis du ihn ausgezogen hast …“ Jenny schlug die Augen nieder und verzog ihren Mund zu einem verführerischen Lächeln. 

Kopfschüttelnd lehnte Darrell sich über den Tisch. „Du weißt schon, dass wir uns gerade haben scheiden lassen?“, hakte er stöhnend nach.

„Seit wann bist du so prüde?“ Glockenhelles Lachen erfüllte den Raum und Jennys Ausstrahlung wirkte auf ihn gerade so anziehend, weil sie sich völlig sicher war, dass er ihr bereits erlegen war. Überzeugt. Selbstsicher. „Sex war nie unser Problem, Darrell! Die Ehe war es. Also triff mich, wenn du für etwas Zwangloses und Schmutziges offen bist in meinem Hotel. Die Zimmernummer lautet: 342.“ Sie stand auf und lief hüftwackelnd auf die Tür zu. An ihrem Arm baumelte eine teure Prada Handtasche, die sein Bankkonto enorm erleichtert hatte. Darrell sah dem Körper nach, der ihm schon einiges an Verzückung gebracht hatte, während sie ihn ins Verderben schubsen würde. Und doch war er sich unsicher, ob er der Versuchung widerstehen könnte. Vielleicht war es aber auch nach wie vor das Alleinsein, vor dem er sich fürchtete. Das und seine quälende Sehnsucht nach etwas, dass er in der Vergangenheit zurückgelassen hatte. Ein bedeutsamer Teil von sich, der unwiederbringlich fort war.

KAPITEL 1

LUCY

Das Wasserrauschen der Dusche drang zu ihr, während sie immer noch an die vertäfelte Holzdecke starrte und unfähig war, sich zu rühren. Aus dieser Position heraus, in der sie oft in diesem Zimmer war, hatte sie die Holzbretter bereits unzählige Male gezählt und es waren ganze einunddreißig Stück, die dort oben vor fast siebzig Jahren angebracht worden waren. Ob Harold Payne höchstpersönlich sie dort befestigt hatte? Dass George sie bislang nicht als störend empfunden hatte, war für Lucy keineswegs verwunderlich und beschrieb seinen Charakter besser als vieles andere. Die Kuckucksuhr oder das angelaufene Geschirr, das Georges Großmutter dort vor etlichen Jahren dekorativ platziert hatte und er nicht mal zum Staubwischen verrückt hatte, gab dezente Hinweise darauf. Solche Dinge waren ihm schlicht nicht wichtig. George war kein schlechter Typ, er war sogar ein ziemlich schlauer und guter Mensch. Als Kollege konnte sie stets auf seinen wertvollen Rat vertrauen und wenn es um Geldsorgen der Praxis ging, stand er dafür immer mit ihr ein. Dennoch fehlte es ihm an Menschlichkeit. Es hatte einen guten Grund, warum er kein Chirurg geworden war, wie es sich seine Eltern einst gewünscht hatten: Er konnte nicht mit Menschen umgehen, dafür aber mit Tieren. Das war etwas, was sie beide gemeinsam hatten. Das und die Tatsache, dass sie keinen Sinn darin fanden nach der großen Liebe Ausschau zu halten. Liebe war etwas, dass aus einem Hormoncocktail geboren wurde, aus dem Wunsch heraus, sich möglichst oft zu paaren und seine Früchte in die Welt hinauszutragen. Lucy wusste ganz genau, wie so was bei Tieren ablief und sie hatte zu oft beobachtet, wie es auch in der Welt der Menschen Bestand fand. Ihr Arrangement war schlicht und einfach: Sie vergnügten sich hin und wieder, ohne Verpflichtungen oder falscher Gefühlsduseleien. Zumindest war das mal so gewesen und sie hoffte, dass George ihre Zeichen nicht missverstanden hatte. In den vergangenen Wochen hatte er häufiger versucht, mehr aus ihren gelegentlichen Sexverabredungen zu machen. Es war also eine schlechte Idee, hier liegen zu bleiben und womöglich den Eindruck zu erwecken, dass diese Begegnung mehr war, als purer animalischer Sex. 

Sie schlug die Decke zur Seite und wollte sich gerade aufrichten, als die Dusche abgestellt wurde. Das brachte Leben in ihren müden Körper, und sie begann nun hektisch, ihre Kleider zusammenzusuchen. George war ihr Partner und irgendwie auf eine verschrobene Art und Weise auch ihr Freund, der fähig war, ein bestimmtes Verlangen zu befriedigen. Andererseits war er auch besserwisserisch, hatte einen seltsamen Humor, den die wenigsten Leute teilten, und brachte Lucy regelmäßig dazu, sich für ihn zu schämen. Unter keinen Umständen wollte sie ihn auf falsche Gedanken bringen. Das würde alles nur unnötig verkomplizieren! Sie sah, wie er aus dem Bad kam und an seiner Miene erkannte sie, dass er sich bereits Hoffnungen machte, sie könnte über Nacht bleiben. 

Ein Handtuch war um seine Hüfte gebunden, während ein Kürzeres um seinen Nacken geschlungen worden war, dessen Enden er mit beiden Händen umfasste. „Wer liegt denn da noch faul in meinem Bett herum?“ In dem Versuch verführerisch zu wirken, stützte er sich mit einer Hand an der Lehne des Stuhls, den er für seine Kleidungsstücke verwendete.

„Ach du, ich hatte einen harten Tag“, antwortete Lucy ausweichend und lächelte unbestimmt, während sie in ihre Jeanshose stieg.

Er kicherte, weder männlich noch anziehend, besser konnte sie sein Lachen einfach nicht beschreiben und schlenderte auf sie zu. Optisch mochte er kein Hauptgewinn sein, doch Lucy kannte durchaus seine Qualitäten. Sie musste jedoch zugeben, dass er sie ziemlich gut versteckte. „Gib es zu, es liegt nur an meinem bequemen Bett und deinem ausgesprochen tiefen Wunsch, dich darin mit mir gemeinsam zu entspannen.“

Lucy schüttelte den Kopf und legte ihm die Hand auf seine nackte Brust, um ihn zu stoppen. „Nicht so schnell, Casanova! Jedes Bett wäre mir im Moment recht.“ Lucy setzte sich auf das Bett, um in ihre bequemen Laufschuhe zu steigen.

Er wich vor ihr zurück, ohne sie aus den Augen zu lassen, und ging um das Bett herum, auf das er sich demonstrativ warf. Wie eine Katze streckte er sich über das Bett aus und legte seine Wange gegen ihren Oberarm. Von da aus, schaute er sie wie ein winselnder Welpe an. Die Ähnlichkeit war frappierend und Lucy lachte über sein Gesicht. „Du könntest auch einfach hierbleiben, und wir wiederholen unser kleines … Stelldichein.“ 

Lucy schnaubte. Warum hatte sie sich ihrer Trägheit der letzten Tage nur hingegeben, statt wie immer sang- und klanglos zu verschwinden, bevor er aus der Dusche kam? Man sollte meinen, dass sie ihn besser kannte. „George!“, begann sie streng. „Wir haben doch eine Abmachung oder nicht?“ Er zog sich schmollend zurück und legte sich in seiner nackten Freizügigkeit auf das Bett. Er schien zu allen Schandtaten bereit zu sein, wie sie jetzt zu genau erkannte. Dann seufzte sie. Wenn man zwei Orgasmen bekommen konnte, statt einem, warum also nicht? Seufzend stieß sie ihre Schuhe von den Füßen auf den Boden und fügte hinzu: „Ich werde danach gehen, verstanden?“

Als hätte er im Lotto gewonnen, machte er sich breit grinsend daran, Lucy erneut zu beglücken.

DARRELL

Die Klappe des Verstauraums für das Handgepäck wurde von ihm, dank seiner beachtlichen Größe von 1,92 Metern, locker zugedrückt. 

„Vielen Dank, junger Mann, für Ihre Hilfe. Als alte und zu kurz geratene Frau scheitert man schnell an den Hürden des Alltags“, sagte die Frau hinter ihm überaus dankbar für seine Hilfe. „Umso besser, dass ich so einen galanten Gentleman neben mir sitzen habe, der bereit ist zu helfen.“ Sie schien eine fröhliche Dame zu sein, die viel und häufig lachte, was die zarten Linien um ihre Augen bewiesen.

Darrell lächelte charmant zurück und winkte eilig ab. „Das habe ich doch gern gemacht.“ Er setzte sich an seinen Fensterplatz und blickte auf die zarten Schleierwolken, die wie eine gigantische Schleppe eines Brautkleides wirkten. Die intensive hellblaue Farbe des Himmels hingegen erinnerten ihn an Augen, die ihn auch nach all den Jahren immer wieder verfolgten.

„Fliegen Sie nach Hause?“, fragte die ältere Lady, die neben ihm im Sitz des Flugzeuges Platz nahm. „Zu ihrer Familie?“ Er lächelte gezwungen und nickte unverbindlich. 

„Nach Hause“, seufzte er nur und sein Blick glitt erneut aus dem Fenster. Dieses Gefühl der Schwerelosigkeit war für ihn mittlerweile schon zur Gewohnheit geworden. Er glaubte manchmal mehr Zeit in irgendeinem Flugzeug, auf dem Weg in ein beliebiges Land, dessen Namen er oft nicht mal aussprechen konnte, verbracht zu haben, als auf der Erde. Das bestätigte seine Vermutung, dass er nicht nur sprichwörtlich den festen Boden unter den Füßen verloren hatte, sondern auch tatsächlich. Er hatte kein Zuhause, keine Familie und keinen Platz auf der Welt, an den er gehörte. Er hatte zwar einen Wohnsitz, etwas außerhalb von London, aber dort war er so gut wie nie. Dort herrschte nur Einsamkeit. Er beschäftigte einen Haufen Leute, die sich um sein Apartment kümmerten, damit dort alles weiterlief, und dennoch verbrachte er dort kaum Zeit. Sein Lebensinhalt war die Betreuung der Kunden vor Ort. Zu Anfang seiner Karriere hatte er ein winziges Büro in der Perigrimm-Street in London gehabt und es gehasst. Der Teppichfußboden hatte eine triste graue Farbe, die Wände waren in einem langweiligen Weiß gestrichen und seine Sekretärin trug Twinsets. Selbst der Kaffee, auch wenn er ihn in einem hochmodernen Coffee-To-Go-Becher mitbrachte, schmeckte in diesem Büro schal. Und dann eines Tages wurde er von einem zwielichtigen Kunden, den Darrell gerne früher als später losgeworden wäre zu einem Pokerabend gedrängt, den er nur ungern hatte besuchen wollen. Da war er auf Jake O’Reiley getroffen, den verrückten, scheinbar lebensmüden Rennfahrer der Formel eins, der gleichzeitig dafür bekannt war, die Klatschzeitungen zu füllen. Sie hatten nur einen Blick aufeinandergeworfen und erkannt, dass sie Gleichgesinnte waren. Jake hatte sich einen Spaß daraus gemacht sein Geld zu verpulvern und ihn zum Abschluss in eine Bar eingeladen. An diesem Tag war sein langweiliges Leben abrupt vorbei gewesen, und einfach alles hatte sich für Darrell geändert. Das Twinset und das Büro stieß er ab, als Jake ihn immer häufiger bat, mit ihm mitzufliegen, weil er jemanden vor Ort brauchte, der sich um seine schlechte Presse kümmerte. Damals hatte Darrell keine Vorstellung davon gehabt, was das für ihn heißen würde, ehe er Jake O’Reileys Bild von einer Party am eigenen Leib miterlebt hatte. Alles daran erinnerte ihn bis heute an den Film ‚Hangover‘.

Die Frau neben ihm hatte offensichtlich erkannt, dass er zu keinem Gespräch aufgelegt war, und unterhielt sich nun mit dem älteren Herrn auf dem Mittelgang. Er war ein schrecklicher Zeitgenosse. Vielleicht hatte er es sich deswegen in seinem Leben regelmäßig mit den meisten Menschen verdorben. Er war beziehungsunfähig und das alles hatte bereits in seinem Teenageralter in Jarbor Hydes begonnen. Der Ort, an den er jetzt zurückkehren würde. Dieses winzige Dorf war das einzige Zuhause, das sich wie eins anfühlte. Es war ein typisches idyllisches Örtchen, indem jeder jeden kannte, und man den Postboten mit dem Vornamen ansprach. Die alten Waschweiber trafen sich morgens an der Straßenecke, nachdem sie Mann und Kinder in den Alltag geschickt hatten und verbreiteten den Tratsch, der zu ihnen vorgedrungen war. Der Hausarzt hatte keine moderne Praxis, sondern arbeitete vorzugsweise im jeweiligen Zuhause des Patienten und der übliche Nachbarschaftskrieg, um den unpassendsten Hausanstrich wurde öffentlich ausgetragen. Früher einmal hatte er es kaum abwarten können, dieses Nest zu verlassen und damit viele Menschen, die er liebte, vor den Kopf gestoßen. Seine Rückkehr weckte nun unterschiedliche Gefühle in ihm. Das nervöse Flattern in seinem Magen machte ihn ganz unruhig und die Sorge, was er wohl vorfand, wenn er aus diesem Flugzeug stieg, wuchs. Das Plappern neben ihm ging weiter und Darrell zog seine Kopfhörer über, um den Klängen von den Kings of Leon zu lauschen und die Außenwelt für kurze Zeit noch auszublenden.

Als er in Carlisle aus dem Terminal trat, lief er auch direkt auf einen älteren Herrn in Gummistiefel zu, der dort ungeduldig auf ihn wartete. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und trug die gewohnte Baskenmütze auf dem Kopf, die sein ergrautes und lichtes Haar verbarg. „Hallo Vater!“, sagte er und blieb unbeholfen vor ihm stehen. 

„Sohn!“ Er nickte ihm knapp zu und rang sich ein Lächeln ab, das Darrell an das Grinsen eines Hundes erinnerte, wenn man nicht genau wusste, ob er vielleicht die Zähne fletschte. Er machte Anstalten ihm das Gepäck abzunehmen, wogegen Darrell sich wehrte. 

„Ich lass doch nicht meinen alten Herrn meine Koffer schleppen“, entfuhr es ihm und sein Griff um den Henkel wurde fester.

„Ich muss auf dem Hof noch ganz andere Dinge karren.“ Er wandte sich auf dem Absatz um und marschierte los, ohne sich noch mal nach Darrell umzusehen, vorweg zu dem großen Pick-up, den er in der hintersten Ecke des Parkhauses abgestellt hatte und der bereits von Weitem an dem ausgeblichenen rötlichen Lack zu erkennen war. Darrell betrachtete die alte Möhre, die so dreckig war, als hätte er eine Extrarunde im Matsch gedreht, bevor er ihn abholte. „Trödel nicht rum, Darrell. Die Schweine warten auf mich.“ Ganz plötzlich kam er sich wie in eine frühere Zeit zurückversetzt vor. Sein Vater hatte niemals Zeit, nicht mal für eine Umarmung oder den Versuch, den Eindruck zu erwecken, er freue sich über seine Rückkehr. Er verstaute den Koffer unter der Plane und stieg ein. 

„Ich hätte auch mit einem Taxi fahren können.“

„Sei nicht albern, Darrell, seit wann reist die Familie mit dem Taxi an? Es sei denn, du möchtest lieber in einem sauberen Wagen kutschiert werden?“ Bedeutungsschwer warf er einen Blick auf Darrells Kleidung. Er trug eine Anzugshose mit Slipper und einen Feinstrickpullover darüber. „Vielleicht sind wir dir nicht mehr fein genug?“

So war das immer zwischen ihnen. Er sagte zuerst etwas Nettes und kombinierte es mit einem unterschwelligen Vorwurf. Wenn man dann darauf einging, stellte man sich nur an und er hätte ja nie was in der Richtung gesagt. Deshalb presste Darrell die Lippen aufeinander und sah aus dem Fenster hinaus. So wollte er ihr Wiedersehen nicht beginnen. Man sollte meinen, nach einer derart langen Abwesenheit hätten Vater und Sohn mehr miteinander zu besprechen, doch dem war nicht so. Es war, als redeten sie nicht dieselbe Sprache und Darrell hatte es aufgegeben, nach einer zu suchen oder die Sichtweise seines Vaters ändern zu wollen. Er war ein sturer alter Mann, schlimmer als jeder Maulesel und trotzdem bedauerte Darrell die schwierige Beziehung zu ihm zutiefst. Er wusste, er war nicht gänzlich unschuldig an diesem Dilemma. Wie erklärte man einem Stier, dass man für die Farbe Rot nichts übrighatte? Darrell war es bislang nicht gelungen und eine Mischung aus Trotz, verletztem Stolz und Enttäuschung kamen erschwerend hinzu und machten ihnen das Leben schwer. Somit schwiegen sie vorwiegend während der Fahrt, bevor es zu weiteren Missverständnissen kommen konnte. Von all den unterdrückten Empfindungen bekam man Beklemmungen, wenn man in dem kleinen Auto saß. Darrell musste sich eingestehen, dass auch das ein Grund für ihn war, die Reise nach Hause all die Zeit vor sich hergeschoben zu haben. 

In dem Augenblick, als das Ortsschild von Jarbor Hydes in Sichtweite kam, wallte die Aufregung wieder zu ihm durch, die ihn seit der Planung des Maskenballs für Jake erfüllt hatte. Die weitläufigen Wiesen, auf denen Rinder und Schafe zufrieden grasten, strahlten eine Ruhe aus, die er nur zu gern in sich gespürt hätte. Die Unruhe, die ihn vor fast zehn Jahren von hier fortgetrieben hatte, war nie gänzlich verflogen. Er hatte immer gedacht, dass er nur aus diesem Ort hatte fortmüssen, um in der Welt das zu finden, was ihn erfüllte. Dies war wohl ein Irrtum gewesen, denn in der ganzen Zeit seiner Abwesenheit hatte er nur an eines denken können: Jarbor Hydes, blaue Augen, die so hell wie der Himmel waren, und ein Lachen, das so klar und glockenhell erklang, dass es ihn jedes Mal aufs Neue ansteckte. Darrell strich durch sein kurzes, braunes Haar und stellte den Ellenbogen gegen die Fensterlehne, um seinen Kopf abzustützen. Lucy. Wann würde er ihr wohl begegnen? Diesen Moment konnte er kaum erwarten und gleichzeitig fürchtete er ihn.

KAPITEL 2

ROBERT

Jarbor Hydes war selten so aufgeregt gewesen wie am Morgen des vierzehnten Februars. Der Salon der alten Marian Strout war nie so gut besucht gewesen, wie an dem heutigen Tag.

Die Männer belächelten das Verhalten der Frauen zwar, bestaunten aber auch die modernen und kaum in dem Ort gesehenen Sportwagen.

„So kann man den Tourismus natürlich auch ankurbeln“, bemerkte Oliver und sah einer auffällig gekleideten Frau hinterher, deren hochhackige Pumps locker zwölf Zentimeter Absätze besaßen. „Ich meine, wie schafft es dieser Kerl nur, dass er den Ort in einen Zirkus verwandelt? Es fehlen nur noch die Elefanten.“

Robert lachte zustimmend. „Wir hoffen einfach, dass es ruhig bleibt und keinen Ärger gibt.“

„Selbst Molly will sich diese Party nicht entgehen lassen und wird mit unserem Ältesten hingehen.“

„Gehst du nicht hin?“

„Bist du verrückt? Manchester spielt heute Abend“, entgegnete er nur und Robert gluckste. Das war so typisch für seinen Freund und Kollegen. Nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen, nicht einmal, wenn Jake O’Reiley Elefanten anschleppen würde.

Er hob die Brauen. „Bist du sicher, dass du dir dieses Ereignis durch die Lappen gehen lassen möchtest? Vor allem bei all den reichen Kerlen auf der Party, die deiner Frau da über den Weg laufen.“

Ein schockierter Blick von Oliver folgte und er stöhnte bloß, ehe er fragte: „Was ist mit deinen Mädchen? Gehen Sie auch hin?“

„Du wirst es kaum glauben, aber in diesen Dingen bin ich keineswegs besser informiert, als andere Väter.“ Er zwinkerte ihm zu. „Sei froh, dass du zwei Jungs hast, Olli.“ 

„Du hast auch einen“, erinnerte Oliver ihn, als er von seinem Bagel abbiss.

Robert blies die Wangen auf und machte große Augen. Dann stieß er die Luft aus. „Und doch werde ich mich mit fünf Schwiegersöhnen arrangieren müssen. Ich weiß noch nicht, wie ich das finden soll“, grummelte er.

„Schwiegertöchter sind nicht unbedingt problemloser zu ertragen. Frag mal Molly, sie ist gar nicht begeistert von der Wahl unseres Jüngsten.“ Oliver warf das Papier von seinem Bagel in den nächsten Papiermülleimer, während sie die Einkaufsstraße entlangliefen. 

„Wahrscheinlich hast du Recht! Ich habe genug Sorgen mit meinen Töchtern. Da brauche ich nicht noch mehr weiblichen Wahnsinn.“ Roberts Stirn legte sich in Falten. Eine vertraute Miene, denn um irgendeines seiner Mädchen sorgte er sich immer.

„Welche deiner Mädels lässt dich diesmal nicht zur Ruhe kommen?“

„Jede von ihnen macht mir Sorgen. Mir gefällt Emilys Vernarrtheit in diesen Rennfahrer nicht, obwohl ich mich freuen sollte, dass sie nach Collins Tod endlich wieder einen Mann in ihr Leben lässt. Aber mal ehrlich: Muss es ausgerechnet dieser Typ sein?“ Oliver grinste verschmitzt, was Robert nur ein müdes Lächeln abrang. „Lucy ist wahrscheinlich diejenige, die von allen am besten klarkommt, aber sie ist so verdammt unromantisch, dass ich regelrechte Panikanfälle bekomme, wenn ich nur daran denke, mit diesem verrückten Kauz George als Schwiegersohn zu enden. Und Marys Leben dümpelt so vor sich hin, dass ich fürchte, sie ist unglücklich. Und dann ist da noch Amy …“

Oliver nickte verständnisvoll, schließlich kannte er die Situation der Carhills besser als jeder andere. „Hast du wieder mal was von ihr gehört?“

Robert schüttelte den Kopf. „Sie weiß, wie ich über ihren Typen denke und nach unserem letzten Streit ist sie … Sie lässt mich eiskalt abblitzen, sagen wir es so.“

„Das tut mir leid, mein Freund. Ich weiß, du hast diesen Ratschlag schon öfter selbst verteilt, aber ich fürchte, nun musst du ihn mal hören: Lass sie ihre Fehler machen.“

„Und sie ins offene Messer rennen lassen?“, ergänzte Robert bedrückt.

„Du bist der beste Vater, den ich kenne, Rob, besonders wegen der Umstände oder vielleicht gerade deswegen. Ich weiß, du wirst sie mit offenen Armen empfangen, sobald sie zurückkehrt.“

„Wird sie denn je zurückkommen?“, fragte er beklommen. Zwischenzeitlich wartete er schon viel zu lange darauf.

„Das tun sie immer, Robert. Irgendwann.“ Diese Aussage frustrierte ihn sichtlich, doch er wusste, dass Oliver ihm nichts Tröstlicheres sagen konnte. Niemand konnte in die Zukunft sehen. 

Ein Aufschrei riss sie aus ihrer Unterhaltung und Robert und Oliver rannten auf die wildgestikulierende, aufgebrachte Menschenmenge zu. Ein abgetrennter Schweinskopf war auf die Motorhaube ihres Polizeiautos abgelegt worden. Robert wandte seinen Blick den Schaulustigen zu, die sich um sie sammelten, während sich Oliver dem armen Tier zuwandte. Er breitete die Arme aus und drängte die Beobachter weiter zurück. Sein Blick fiel eher willkürlich auf einen Pick-up, dessen Scheibe runtergekurbelt war und Bud Hendersons Kopf präsentierte, der sich grinsend an den Hut tippte, um ihm ein Zeichen zu geben. Die Henderson-Brüder sorgten seit Jahren für Unruhe in Jarbor Hydes und den umliegenden Dörfern. Von Drogen, über Körperverletzung, Diebstahl und krummen Geschäften, war alles dabei und es fehlte immer der entscheidende Beweis, damit Robert ihnen langfristig das Handwerk legen konnte. Nach Collins vermeintlichen Unfalltod bei einer Observierung der Gang, war Emily, als Mitklägerin ins Visier der restlichen Brüder geraten und somit ganz schnell die gesamte Familie Carhill. Diese Geste war für Robert bestimmt gewesen. Er sollte wissen, dass Bud Henderson, der neue Kopf der Gang, sich wehren würde. Ohne Zweifel war dies eine Drohung. Sie waren nun über die verbalen Streitereien hinaus. Jetzt folgten offenbar Taten. Wenn er ihm Angst einjagen wollte, war es Bud definitiv gelungen. Robert hatte Angst. Nicht um sich selbst, sondern um seine Familie. Er hatte Collin, seinen Schwiegersohn, verloren. Seine Hand ballte sich zur Faust. Er war nicht bereit weitere Verluste hinzunehmen. Bud war vielleicht unberechenbar, aber er würde seine Familie und dieses Städtchen mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, verteidigen.

LUCY

Mit schlammbespritzten Gummistiefeln marschierte Lucy durch Jarbor Hydes und erwartete beinahe den nächsten Rückschlag. Dieser Tag war zum Mäusemelken. Gelassenheit gehörte eigentlich zu ihren Stärken, doch heute war sie nur noch eine Haaresbreite davon entfernt, sich laut schreiend auf den Boden zu werfen und einfach liegen zu bleiben. Nachdem sie auf dem Gutshof der Vesparies von dem Eber in die Schlammgrube geschubst, von der Katze der alten Mrs. Jorkins gekratzt und gebissen und zu guter Letzt vor der Praxis in einen Hundehaufen getreten war, hatte sie die Nase gehörig voll. Sie liebte ihren Job und die meisten Tiere, die sie versorgte, aber an manchen Tagen schien ihr das Leben einen Wink geben zu wollen. Dabei war sie so bemüht und hatte George mit dem Termin bei den Vesparies einen Gefallen tun wollen, damit er nicht durch den ganzen Ort fahren musste, und dann so was. Da sammelte sie schon Karmapunkte, an die sie natürlich nicht glaubte, und wurde dennoch weitestgehend bestraft. Jetzt benötigte sie einen Kaffee und eins dieser kleinen, eklig süßen Törtchen ihrer Schwester Mary, bevor sie sich oder anderen noch ernstlich etwas antat – zum Beispiel jemanden mit dem Hundehaufen vor der Praxis zu bewerfen. Sie brauchte Zucker – und zwar sofort. Nachdem sie das Café betreten hatte, hielt sie überrascht inne. Es war brechend voll und ein Stimmengewirr schlug ihr entgegen, das sie weder erwartet hatte noch gebrauchen konnte. Seufzend arbeitete sie sich in der Menge vor und warf ihrer Schwester Emily einen staunenden Blick zu, die nur überfordert mit den Achseln zuckte. Normalerweise half Emily bloß aus, wenn es etwas zu feiern gab und offenbar gab es heute etwas umsonst. Kurz überlegte Lucy, was heute so besonders war, als sie Mrs. Jorkins entdeckte, der sie unbedingt aus dem Weg gehen wollte, doch zu spät. Die alte Lady hatte sie bereits gesehen.

„Lucy – wie gut, dass ich dich treffe.“ 

„Mrs. Jorkins, ich habe gleich Sprechstunde in der Praxis. Was es auch ist, bitte kommen sie einfach vorbei, ja?“, versuchte sie noch, das Gespräch im Keim zu ersticken. Es war aber schon zu spät und Lucy ließ die Tiraden über Mrs. Jorkins Katze mit dem Nachbarskater über sich ergehen. Schnaubend ließ sie sich im Anschluss über den Durchfall derselben verwickeln und Lucy sah dem Minutenzeiger förmlich dabei zu, wie er ihre Pause zermürbte. Mrs. Jorkins war eine dieser verrückten, alten Katzenladys: Alleinstehend, tüttelig und süchtig nach Katzen, die sie alle ihre „Babys“ nannte. Egal, wann man sie traf, sie hatte immer eine brandneue Geschichte zu einem ihrer Lieblinge zu berichten. Lucy zweifelte jedoch nicht daran, dass ihre alte Grundschullehrerin eine Schraube locker hatte. 

Eine gefühlte Ewigkeit später kam Mary, ihre Zwillingsschwester, auf sie zu und drückte ihr völlig selbstverständlich einen Kaffee im Becher und eine Tüte mit leckeren Köstlichkeiten in die Hand. Lucy warf Mary einen erstaunten, aber dankbaren Blick zu, während ihre Schwester nur vielsagend grinste. „Wir sehen uns heute Abend, klar soweit?“ Verständnislos sah Lucy Mary an. „Na, vor Jakes Party.“ 

Lucy schloss gequält die Augen, sagte dann jedoch: „Jetzt verstehe ich den Wahnsinn hier auch!“ Gespielt bedauernd fügte sie hinzu: „Oh nein, das habe ich ja völlig vergessen. Ich bin doch heute schon verabredet.“

Mary verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie grimmig an. „Du hast es versprochen. Außerdem, welches Date könnte wichtiger sein, als das mit deiner Familie?“

Lucy stöhnte. „Meine Badewanne erwartet mich sehnsüchtig und das neue Buch von Dan Brown ist echt spannend.“

Entschlossen schüttelte Mary den Kopf. „Statte deiner Dusche einen Besuch ab, um deine Beine zu rasieren, und wirf dich in Schale, Baby. Du wirst mitkommen!“ Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf Emily und versetzte jeglicher Argumentation von Lucys Seite den Todesstoß. „Denk an Emily. Sie braucht unsere Unterstützung.“

„Bist du sicher, dass es nicht auch ohne mich geht? Ihr seid doch auch noch da.“ Mary riss die Tüte mit Kuchenleckereien demonstrativ aus Lucys Hand, die sie mürrisch ansah. 

„In Ordnung. Wann soll ich da sein?“ 

„Ich schreibe dir später eine genaue Uhrzeit.“ Zuckersüß lächelnd reichte Mary ihr die Tüte.

Der Tag konnte weg – eindeutig. Lucy quetschte sich an den Leuten vorbei in die Freiheit. Schwestern zu haben war ein großartiges Geschenk, wenn sie einem Süßigkeiten schenkten, dachte sie beiläufig. Allerdings hatten diese Leckereien immer ihren Preis. Mit dem Leben versöhnt, steuerte sie auf direktem Wege auf ihre Praxis zu. Kurz vorher erregte jedoch eine kleine Menschentraube ihre Aufmerksamkeit, sodass sie nicht rechts zu ihrer Tierarztpraxis abbog, sondern dem Lärm folgte. Lucy lief dem parkenden Einsatzwagen entgegen und hielt erschrocken die Luft an, als sie die Ansammlung der Menschen sah. Panik erfüllte sie und der Kaffeebecher fiel ihr aus der Hand, als sie sich durch die kleine Menschentraube gedrängt hatte, um die Ursache zu betrachten. Als sie das Polizeiauto sah, das mit einem toten Schweinskopf und einer Schmiererei versehen war, bekam sie Angst. ‚Bullenschweine‘ stand auf der Windschutzscheibe mit roter Farbe geschrieben. Sofort sah sie sich panisch um. Da erblickte sie ihren Vater und die Angst ebbte ab.

„Oh Gott sei Dank, Dad!“, stieß sie aus und eilte auf ihn zu. Erleichtert schlang sie die Arme um ihn.

„Mir geht es gut, Lucy. Alles ist okay“, versuchte er, sie zu besänftigen, und schob sie eine Armlänge von sich.

Skeptisch betrachtete sie ihn. „Sicher?“

„Ja, wirklich. Das war nur ein blöder Scherz“, bestätigte er automatisch und winkte hastig ab. Etwas zu hastig für ihren Geschmack. Ihr Dad war ein Meister darin, sie alle in Sicherheit zu wiegen, während er gegen den Teufel höchstpersönlich kämpfte.

„Wo steckt Oliver?“

„Ihm geht es auch gut. Wir waren im Ort unterwegs, als es geschah.“

Schockiert betrachtete sie zuerst ihren Vater, dann den Wagen. „Was genau ist geschehen?“

„Irgendwer hat wohl gedacht, das sei ein Scherz.“

„Was?“ Lucy schüttelte fassungslos den Kopf. „Wer sollte so was Dummes tun?“ Ihr Vater zögerte merklich und Lucy drängte: „Dad!?“ 

„Ich fürchte, Bud Henderson wollte mir eine Nachricht übermitteln.“

„Keine Ahnung, ob er es wusste, aber dafür gibt es Telefone, die Post …“, murmelte sie sarkastisch. „Im Ernst Dad, wieso sollte er solch drastische Maßnahmen ergreifen?“

„Es gab da wohl den ein oder anderen Zusammenstoß“, gestand ihr Vater, sichtlich darum bemüht seine Tochter zu beschwichtigen. „Bitte Lucy mach dir keine Gedanken, ja?“

„Du hast eine direkte Warnung bekommen … Das ist der falsche Augenblick, um mich zu besänftigen, Dad.“ Sie seufzte. „Die Hendersons haben uns schon Collin genommen. Ich bin nicht bereit zu akzeptieren, dass sie uns noch mehr Kummer machen.“

Ihr Vater lächelte nachdenklich und strich über Lucys Wange. „Unkraut vergeht nicht, wie oft soll ich dir das noch sagen?“

„Genau so oft, wie ich dich darum bitte, Tofu eine Chance zu geben, statt dem roten Fleisch, das du in aller Regelmäßigkeit in dich hineinstopfst.“ 

Robert rollte mit den Augen, schnaubte und verzog das Gesicht wie ein Kleinkind, das Spinat essen soll. „Falls du mich vergiften willst, können wir gern darüber reden. Allein von dem Geruch falle ich auf der Stelle tot um.“ Er deutete auf die Tüte in Lucys Hand. „Abgesehen davon, darf ich dich daran erinnern, was du selbst gerade in der Hand hältst. Das duftet nicht nach einem Apfel.“

Lucy errötete und drückte die Tüte an ihre Brust. „Ich hatte einen harten Tag. Wehe, du nimmst einem Mädchen die Süßigkeiten weg.“

„Das fiele mir nicht im Traum ein.“ Er zwinkerte ihr zu.

„Chief?“, rief ein weiterer Polizist, der neben ihn trat.

„Ich muss jetzt los, aber Lucy? Bitte sag deinen Schwestern nichts davon, ja? Ich möchte, dass sie den heutigen Abend genießen und sich keine Sorgen machen, okay?“ Er zeigte mit dem Finger auf sie. „Ich verlass mich auf dich!“

Sie stöhnte übertrieben und steckte die Hände in die Hosentasche ihrer Jeans. Dann verdrehte sie genervt die Augen und murmelte: „Dieser Tag kann unmöglich noch schlimmer werden!“

Jake O’Reiley, der Rennfahrer, den es vor einigen Wochen nach Jarbor Hydes verschlagen hatte, gab einen Maskenball, und Lucy wurde von ihren Geschwistern geradewegs gezwungen, mitzugehen. Immerhin war Emily furchtbar verliebt in den gut aussehenden Jake, der mit seiner Raserei kurzzeitig den Ort in Atem gehalten hatte. Lucy freute sich ehrlich mit Emily, auch wenn sie es nervte, deswegen ein Kleid tragen zu müssen. Sie stöhnte, als sie einen Blick in den Spiegel warf. Diese Party war der letzte Punkt auf einer langen Liste von Erledigungen, die diesen Tag noch furchtbarer machten. Sie hätte nichts lieber getan, als es sich mit einer riesigen Portion Eiscreme auf dem Sofa gemütlich zu machen, weit weg von Dingen, die sie kaputtmachen oder Menschen, die sie verletzen konnten. Allerdings hatte sie es ihren Schwestern versprochen und Lucy wollte kein Spielverderber sein, vor allem nicht, wenn sie ihnen allen immer predigte, ihre Chancen zu nutzen. Also ging sie zuerst unter die Dusche, rasierte ihr Winterfell ab und brachte ihre widerspenstigen Locken unter Kontrolle. Warum sah ihre Zwillingsschwester immer wie Curly Sue aus und sie, als hätte sie in die Steckdose gefasst. Während sie ihr Gesicht mit einem Hauch von Make-up, Wimperntusche und dezenten Lippenstift aufhübschte, trank sie ein Glas Wein und lauschte den Klängen von Sarah Jaffe. Sie war überrascht, als es plötzlich an der Tür klopfte. Wer war denn das? Sie kniff die Augen zusammen, um die Schemen der männlichen Gestalt besser erkennen zu können, die sich im Milchglas ihrer Eingangstür in der Abenddämmerung abzeichnete. Sie öffnete die Tür und staunte nicht schlecht. Luke. Er stand im gedämmten Hausflur und blinzelte gegen das grelle Flurlicht. „Wow, Lucy! Du siehst …“ Er suchte offenbar nach den richtigen Worten, ohne ihren alltäglichen Stil zu kränken, doch Lucy schüttelte den Kopf, bevor sie den Satz selbst vervollständigte: „Wie eine Frau aus?“ Grinsend zuckte er mit den Achseln. Sie sahen sich nur an und Lucy trat einen Schritt zurück, um ihn reinzulassen. Er beugte sich im Vorbeigehen zu ihr hinab und gab ihr einen Kuss aufs Haar. „Wunderschön, wollte ich sagen.“ Er grinste jedoch spitzbübisch dabei. Sie lächelte und folgte ihm in ihre Souterrain-Wohnung. 

Nach ihrem vorangegangenen Streit wusste keiner so recht, was er sagen sollte. Ihr Mangel an Feingefühl war unbestritten, nachdem sie ihm zu Bruce Fortgang offen ihre Meinung gesagt hatte. Bruce, Lukes Affäre, hatte ALS diagnostiziert bekommen und war kurz nach der Diagnose von heute auf morgen verschwunden, was Luke nur schwer verkraftete. Dennoch hätte sie sich deutlich mehr Mühe geben können, nettere Worte zu finden.

Sie schwiegen beide und Lucy holte ganz selbstverständlich ein Glas für ihren Bruder aus der Küche, das sie mit einem großzügigen Schluck Wein füllte. Sie reichte es ihm, setzten sich auf ihr weißes Sofa und Luke streckte eine Hand nach ihr aus, die sie sofort ergriff. „Ich …“

„Ich weiß, ich auch“, murmelte Lucy leise. Sie streckte die Hand nach ihm aus, strich sanft durch sein volles, weiches Haar und dann stießen sie an, als hätte es ihren Streit nie gegeben.

„Es ist Emily, die nun unsere Unterstützung braucht“, entschied Luke und zog einen von ihren BHs unter seinem Po hervor. Bewundert riss er die Augen auf und nickte anerkennend bei dem Anblick der Spitzendessous. „Du bietest deinem George ja richtig was. Respekt!“ 

Lucy griff nach dem BH und sagte entrüstet: „Er ist nicht mein George! Sag so was lieber nicht laut. Das bringt ihn nur auf blöde Gedanken.“

Luke hob verwundert die Brauen. „Ich dachte, es sei bloß Sex?“

Schnaubend verstaute sie die Unterwäsche in einer Schublade der Kommode im angrenzenden Schlafzimmer und antwortete: „Für mich ist es das auch. Langsam entpuppt sich George als Klette. Ich meine, er wirft den ganzen Tag in der Praxis mit Anzüglichkeiten um sich und möchte, dass ich über Nacht bleibe …“

„Ach Süße, du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass er sich nicht in ein Mädchen wie dich verlieben würde?“ Luke schaffte es immer, die richtigen Worte zu finden, die selbst Lucy nicht kalt ließen. Hitze stieg in ihre Wangen. „Sieh dich nur an. Diese Beine, dein Haar, dein Lächeln – du bist ein verdammtes Pralinen-Bouquet und er darf zumindest hin und wieder mal davon naschen.“ Lucy lachte. „Und dann fangen wir von deinem äußerst eigenwilligen, aber auch anziehenden Humor an, oder deine Vorliebe für Fußball und das dir Dreck nichts ausmacht. Du bist für jeden Kerl ein verdammter Hauptgewinn.“ Seine Beine waren übereinandergeschlagen und er hielt das Glas Wein in einer grazilen Haltung von seinem Körper weg, dass Lucy kicherte. Ihr Blick fiel auf die Uhr, die an der Wand hing.

„Und du bist ein Charmeur“, tat sie seine Worte ab und zog ihn auf die Beine, weil sie langsam losmussten. Bevor er sein Glas abgestellt hatte, umfing sie seine Mitte und drückte ihn an sich. „Danke!“, hauchte sie nur und löste sich so schnell von ihm, dass er keine Chance hatte, darauf einzugehen.

LUCY

Während sie auf das Halleberry Castle zuliefen, zappelte Mary an ihrer Seite wie ein aufgeregtes Kleinkind. Das erinnerte sie so sehr an ihre Ausflüge zum Rummel, dass Lucy den Kopf schüttelte. Sie hatte sich bei ihr untergehakt und Lucy rollte mit den Augen, lächelte jedoch. „Du Nervenbündel, was ist nur mit dir?“

„Das fragst du noch? Sieh dich doch mal um! Ich meine, wie kannst du bei diesem Auflauf an Prominenz nur so cool bleiben? Ich glaube, da vorne habe ich gerade Nicholas Hoult und Cara Delevingne gesehen.“

„Wen?“ Lucy sah sich um und erkannte zwar lauter Menschen, aber sie konnte weiß Gott niemanden ausmachen, der ihre Aufregung verdient gehabt hätte. „Diese Leute beugen die Knie auf dem Klo, ebenso wie wir. Sie sind nicht besser als du und ich.“ Sie hielten inne, sahen sich nach Luke und Emily um, die stehen geblieben waren. Emilys Gesicht wirkte nervös und einen Hauch unsicher. „Ihre Aufregung kann ich verstehen“, fügte Lucy hinzu.

„Vielleicht ist diese Nacht ja für uns alle magisch. Wer weiß das schon. Oder möchtest du am Ende doch George heiraten?“, neckte Mary ihre Schwester.

„Wer sagt, dass ich überhaupt heiraten möchte? Die Ehe ist eine veraltete Institution von Kerlen, die eine Frau rechtlich und gesellschaftlich an sich binden wollen. Früher war es ein anerkanntes Gefängnis für jede Frau. Alle, die einen eigenen Willen hatten, wurden von der Gesellschaft ausgestoßen und verachtet. Wenn man viel Pech hatte, gab es für solch ein Verhalten eine Tracht Prügel.“

Mary sah Lucy bestürzt an. „Wo kommt diese Verbitterung her? Du solltest dich mal hören, Lucy.“

„Was denn? Ich genieße nur meine Rechte als moderne Frau und die daraus resultierenden Freiheiten.“ Sie grinste frech und Mary flüsterte ihr zu: „Warte nur ab, wenn du den richtigen Kerl triffst, dann änderst du deine Meinung schon noch.“

„Du glaubst auch an Märchen und Wunder, oder? Was ist mit dem Weihnachtsmann, oder Hogwarts? Warte, dieses Kleid hat dir die gute Fee gezaubert, richtig?“

Augenrollend wandte Mary ihr den Rücken zu und griff nach Emily, der sie ihre beiden Hände entgegenstreckte. „Alles gut, Süße?“

Lucy grinste und zwinkerte Emily zu. „Sag nur ein Wort und ich verschwinde mit dir. Das verspreche ich“, wisperte Lucy ihrer kleinen Schwester zu.

Im Eingangsbereich trafen sie auf bullige Männer einer Sicherheitsfirma, die den Einlass regelten und natürlich hatten sie alle ihre Einladung zu Hause liegen gelassen. „Wer denkt denn daran, dass diese Flyer wichtig sein könnten?“, murmelte Lucy zu sich selbst und erwartete, wieder gehen zu müssen, als plötzlich eine Stimme ertönte, die ihr durchs Mark ging. Jedes Haar auf ihrer Haut richtete sich auf und sie schluckte. Das war unmöglich!

„Die Familie Carhill sind enge Nachbarn und überaus willkommen.“ Wie in Zeitlupe suchte sie nach dem Mann, dessen Stimme sie nach all den Jahren unter Tausenden ausgemacht hätte. Sein Klang jagte einen Schauer nach dem nächsten über ihren Körper und ihr Blick traf seinen. Seine Augen fokussierten sie sofort und Lucy blieb der Mund offenstehen, während sie ihn und seine wahnsinnig grünen Augen betrachtete. Wie oft war sie in ihnen versunken, hatte sich in seinem warmen Blick gesonnt und seine Liebkosungen genossen? Sie kamen ihr so vertraut vor, als hätte sie sie in den letzten Jahren jeden Tag betrachtet. Sein Anblick brachte ihren Herzschlag ins Stolpern, nur um im nächsten Augenblick viel zu schnell weiterzuschlagen. Einem Kardiologe hätte dieses Phänomen ohne Frage helle Freude bereitet. Den Ausdruck seiner Miene zu deuten, so geheimnisvoll und unnahbar, war unmöglich.

Eine schrille Stimme riss Lucy aus ihren wirren Gedanken. „Seht nur, ich trage sogar ihre Schuhe“, rief die strahlende Schönheit, die an Darrells Arm baumelte und wie ein Flummi auf- und absprang. Lucy konnte kaum an sich halten und wäre liebend gern auf direktem Wege geflohen, doch diese Blöße ertrug sie nicht. Mit geöffnetem Mund sah sie von ihm zu ihr und wieder zurück, ehe sie ihn sogleich unverrichteter Dinge schloss, wie ein Fisch. Es war, als hätte der Blitz sie getroffen und die Kontrolle über ihren Körper übernommen. „Es ist schön, euch alle wiederzusehen“, fügte Darrell leiser hinzu und sah Lucy mitfühlend an. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie geglaubt, es täte ihm leid, sie so ohne Vorwarnung erwischt zu haben. Sie wusste jedoch genau, dass es ihm egal war. Jemand zwickte sie von hinten, um sie aus ihrem Dämmerzustand zu erwecken, und Lucy atmete hörbar ein. Im Leben hätte sie nicht damit gerechnet, ihm hier zu begegnen. Immerhin war es wie lange her? Neun oder gar zehn Jahre? Sie betreute den Hof seiner Eltern und hätte erwartet, ihn dort anzutreffen, aber diese Hoffnung hatte sich in den vergangenen Jahren gelegt. Darrell trug einen schwarzen Anzug, der seine breiten Schultern besonders zur Geltung brachte, und darunter ein weißes Hemd. Sein Haar war braun, auch wenn es einen Hauch heller wirkte, als sie es in Erinnerung hatte. Mit Gel hatte er es locker über seinen Kopf gestrichen, doch ein paar Strähnen fielen in seine Stirn. Sie musterte ihn weiter und wurde schließlich von Mary, ausgerechnet ihrer Schwester Mary, den Gang mitgezogen. „Ich hoffe, wir sehen uns später noch“, hörte sie ihn sagen, doch dann straffte sie die Schultern, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Dies war ihre Stadt! So einfach war das!

Luke sagte etwas zu Emily, doch Lucy war zu erschüttert, um sich auf irgendwas anderes zu konzentrieren, als ihren eigenen unregelmäßigen Herzschlag. Die Räume waren bereits überfüllt mit Menschen und das gedämmte Licht ließ den riesigen Saal düster und geheimnisvoll wirken. Jeder hatte eine dieser albernen Masken umgelegt, die häufig mit reichlich Glitzer oder knalligen Federn verziert waren. Die Kleider der Frauen reichte von prächtiger Abendrobe zu modernen Laufsteg-Outfits. Beim Anblick dieser bunten Gestalten kam Lucy sich mehr denn je wie eine graue Maus vor oder wie das Landmädchen, dass sie offenkundig war. Normalerweise schämte sie sich nicht dafür. Sie trug ein schwarzes Kleid, das zwar schlicht, dafür aber kurz war und somit viel von ihren langen Beinen zeigte. Es war aber eben nichts Besonderes. Ein Allrounder, wie ihre Schwester Mary es genannt hätte. Augenblicklich wünschte Lucy sich, sie hätte sich mehr Gedanken um ihr Aussehen gemacht. Der Zappelfrosch an ihrer Seite zog sie direkt zur Bar, was Lucy sehr gelegen kam. Sie blickte an Mary hinunter, deren blondes Haar zu prächtigen Korkenzieherlocken und einer wundervollen Hochsteckfrisur aufgetürmt war. Ihr Kleid war rosa und fiel in unregelmäßigen Schichten an ihrem Körper hinab, während ihr Dekolleté tiefe Einblicke gewährte. Sie trug Stilettos, die sie natürlich selbst kreiert hatte, und sah absolut feenhaft darin aus. Ihre Augen schienen dank der von grüner Spitze verzierten Maske zu leuchten und Lucy spürte eine furchtbare Gefühlsregung in sich aufwallen: Eifersucht. Eine Empfindung, die sie entschlossen gewesen war, nie wieder zu fühlen, vor allem nicht ihrer Schwester gegenüber. Doch die Kiste, in die sie dieses Gefühl neben einigen anderen gepackt hatte, war vor wenigen Augenblicken von ihrer Jugendliebe geöffnet worden. Sie hasste Darrell. Warum musste er zurückkehren und sie so unvorbereitet treffen? 

Sie spürte die verunsicherten Blicke von Mary, die dem Kellner gerade ihren Getränkewunsch zugeschrien hatte. „Was möchtest du?“ Sie rührte sich nicht und Mary fügte hinzu: „Lucy?“

Lucy schluckte ihren Neid und den empfundenen Ärger hinunter und knurrte: „Irgendwas mit vielen Umdrehungen on the rocks!“

Mary gab die Bestellung weiter und kurz darauf wurde ein quietschgrüner Cocktail mit Schirmchen und Obst verziert neben ein unspektakuläres Glas mit einer klaren Flüssigkeit und Eiswürfeln vor ihnen abgestellt. Lucy betrachtete zuerst Mary und sich und dann ihre Getränke. Sie beide waren so unterschiedlich, so verschieden wie diese beiden Gläser. Lucy hasste das Gefühl der Unzulänglichkeit, das sie in den vergangenen Jahren auch nicht hatte abstreifen können. Sie griff zu dem Schnapsglas und leerte es in einem Zug, während Mary an ihrem Strohhalm sog und sie mit großen Augen ansah. Lucy bedeutete dem Barkeeper, nachzufüllen, was er auch prompt tat. „Lucy!“, rief Mary aus, als sie das zweite Glas ebenfalls auf Ex hinunterkippte und das Gesicht verzog.

„Was?“, forderte sie ihre Schwester heraus. „Was willst du mir sagen, Mary? Ausgerechnet du!“ Verächtlich wechselte ihre Miene zu einem Grinsen. Die letzten zwei Wörter hatten Mary getroffen, das sah sie ihrer Zwillingsschwester an. Gut so! Sie sollte genauso leiden wie sie. Auch wenn es sie zum absoluten Miststück machte.

„Ich weiß nicht, was ich dir nach all den Jahren noch sagen soll, Lucy.“ Mary blieb ungewöhnlich gefasst, auch wenn ihre Augen traurig wirkten.

„Es gibt nichts zu sagen. Du sollst einfach deine Klappe halten.“

Mary stellte den Cocktail auf dem Tresen ab, fester als es unbedingt nötig gewesen wäre. „Jetzt werde ich etwas sagen. Verdammt noch mal Lucy, wir waren Kinder und ich bin es dermaßen leid, diese Schuld auf meinen Schultern zu tragen, weil du es nicht hinter dir lassen kannst. Du suchst bei jedem die Fehler, bei mir, bei Darrell, sogar Luke konfrontierst du mit seinem fehlerhaften Verhalten in Bezug auf Bruce Umgang mit seiner Diagnose. Nur dir selbst gibst du keine Schuld. Du bist vollkommen frei von irgendwelchen Missetaten. Ich weiß, du blockierst unsere Zwillingsmagie, doch ich nicht. Ich weiß genau, was du denkst, fühle, was du fühlst und sehe, was du siehst. Du irrst dich - in so vielen Dingen. Nur leider lässt du dir von niemandem, am Allerwenigsten von mir helfen. Deswegen sage ich dir nur noch eins: Wenn du etwas willst, dann musst du es dir holen - so einfach ist das.“ Mit diesen Worten rauschte sie an ihr vorbei und verschmolz mit den Menschen im Getümmel. Das schlechte Gewissen kroch wie Galle die Speiseröhre rauf und wollte sich nicht mal mit einem weiteren Glas Schnaps hinunterspülen lassen, an dem sie diesmal nur nippte. Verstohlen blickte sie sich um und hielt Ausschau nach Darrell. 

Darrell Gordon. Sie seufzte. Er war ihre erste und einzige große Liebe gewesen. Er war eine Klasse über ihr und Lucy hatte schon heimlich für ihn geschwärmt, als er sie nicht mal wahrgenommen hatte. Irgendwann war er aufs College gewechselt und sie hatte endlich die ersehnten weiblichen Rundungen bekommen, die ihm dann im Sommer danach auch aufgefallen waren. Ihre Clique brachte sie beide schließlich zusammen und Lucy hatte zwei Jahre ihres Lebens sprichwörtlich durch eine rosa Brille geblickt. Er hatte immer schon eine sanftmütige Art an sich gehabt, die sie bewunderte. Während seine Kumpels mit den Muskeln spielten, um andere zu beeindrucken, half er jüngeren Schülern, die von Älteren schikaniert wurden oder schlecht in Mathe waren. Er hatte dieses prollige Gehabe nie nötig gehabt und ihr Herz damit im Sturm erobert. Alles an ihm war echt gewesen.

„Suchst du etwa nach mir?“, fragte eine hoffnungsvolle Stimme hinter ihr und Lucy seufzte leise, bei dem vertrauten Klang. Sie wusste bereits, dass er dort stand, ehe sie sich zu ihm umwandte. Da war er - keine Armlänge von ihr entfernt, und ihr Herz sank bis zu den Knien. Er trug eine einfache schwarze Maske über den Augen und ein paar Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn, die er vehement zurückstrich, ganz so, als sei er nervös. Er war rasiert, leicht gebräunt und seine Stimme klang ganz genauso wie früher. Weich und melodisch. Anziehend.

„Darrell.“ Ein Name, den sie seit einer Ewigkeit nicht hatte aussprechen können und bei dem ihr, jedes Mal, wenn es ein anderer tat, eine Gänsehaut über den Rücken lief. 

Er wirkte ungewohnt unsicher und zwiegespalten, als er ungelenk vor ihr herum gestikulierte. „Ich hatte gehofft, dich hier zu treffen.“ 

Sie musste sich zusammennehmen und durfte sich von seinem guten Aussehen nicht blenden lassen. Es war eben kein Geheimnis, dass Darrells größte Fähigkeit die Diplomatie war und er in der Lage war, einer Maus eine Katze aufzuschwatzen. „Ehrlich?“ Sie blickte abschätzig drein. 

„Solche Veranstaltungen waren nie dein Ding, ich weiß. Ich werde den Abschlussball nie vergessen, zu dem ich dich regelrecht schleifen musste.“ Die Erinnerungen an den Abend, der sie beide besonders zusammengeschweißt hatten, waren so präsent, als wäre es erst gestern gewesen. „Aber ich war hoffnungsvoll gestimmt, als ich mit Emily sprach und sie andeutete, die ganze Familie käme her.“

Lucy verschluckte sich beinahe an ihrem Schluck Schnaps, oder wohl eher dem Gefühl des Verrates. „Emily?“, echote sie ungläubig. 

„Wollen wir uns nicht lieber woanders unterhalten? Hier ist es so …“ 

Zwanghaft schaute sie an ihm vorbei und betrachtete die Menge, die sie aber nicht wirklich sah. „Für dieses Gespräch behalte ich besser die Bar im Auge.“

Ein Ausdruck von Bedauern huschte über seine Miene. „Ich verstehe“, antwortete er leise. Dann lehnte er sich neben sie an den Tresen und bestellte zwei Mal Whiskey on the Rocks. „Du siehst großartig aus, Lucy und hast dich kaum verändert.“

Darrells Charme war ungebrochen. Allein wie er lässig mit dem Rücken an der Bar lehnte, überzeugte sie davon, dass er ohne großen Widerstand durchs Leben ging. „Danke, du scheinst auch wohlgenährt zu sein“, gab sie zurück und fand ihre Gelassenheit wieder – zumindest fast.

Er zeigte ein schönes Lachen, wurde jedoch gleich ernst. „Es ist schön, dich wiederzusehen. Das meine ich ganz ehrlich. Es ist ja eine Ewigkeit her.“

„Ja, das ist es, nicht wahr? Wie lange warst du nun nicht mehr zuhause?“, fragte sie eine Spur zu bissig. Wie schaffte er es nur, nach all den wunderbaren und schrecklichen Dingen, die sie zusammen erlebt haben, jetzt Small Talk zu betreiben?

„Definitiv zu lange. Meine Mum hat bestimmt eine Stunde geweint und vom verlorenen Sohn gesprochen, der wieder heimgekommen ist.“

„Deine Eltern haben dich beide schrecklich vermisst. Sie reden ständig von dir.“ Lucy hatte die beiden bereits vor langer Zeit in ihr Herz geschlossen und schämte sich nicht für ihre offen gezeigte Zuneigung.

„Tatsächlich? Du wurdest also informiert?“, fragte er verblüfft.

„Ich konnte nichts dagegen tun.“ Lucy ließ keinen Zweifel daran, dass sie es genau so meinte. Sie sahen sich lange in die Augen, als eine helle Stimme rief: „Darrell! Darling! Da bist du ja!“ Die blonde, attraktive Schönheit mit der Wallemähne und den Schuhen aus Marys Laden, stürzte sich auf ihn und küsste ihn direkt auf den Mund. Lucy sog tief Luft ein, überrascht von dem stechenden Schmerz in ihrem Magen, der sie vollkommen unvorbereitet traf. Sie musste wegsehen. Sie hatte keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn die Frau wandte sich zu ihr um und lächelte übertrieben freundlich. „Ich bin Jenny, Darrells Frau“, stellte sie sich unumwunden vor, was Lucy vergessen ließ, Luft zu holen. 

„Ex-Frau“, stellte Darrell klar, dem das ziemlich unangenehm zu sein schien, und beobachtete ihre Reaktion genau. 

Jenny stieß ein erneutes helles Lachen aus, das Lucy so falsch vorkam, dass sie sich gern übergeben hätte. „Na ja,“, begann sie. „Das mag zur Hälfte stimmen.“

„Es stimmt laut der Scheidungspapiere, die ich unterzeichnet habe“, konterte er grimmig.

„Geschieden ist man doch irgendwie nie so ganz, oder?“ Jenny grinste breit und wedelte sich die Haare aus dem Gesicht. „Wir sind es jedenfalls nicht!“ Das musste furchtbar anstrengend sein, so ein Dauergrinsen, dachte Lucy und war schon vom Zuschauen ganz erschöpft. „Wie du siehst, sind wir uns da noch nicht ganz einig.“ 

Darrell hob beide Brauen verwundert an und Lucy stieß den angehaltenen Atem aus. Sie wollte nur noch weg. 

„Was auch immer, das geht mich nichts an! Es war schön, dich zu sehen, Darrell. Jenny!“ Überrascht davon wie freundlich sie sein konnte, wenn sie musste, stürzte sie den Drink in einem hinunter und wandte sich zum Gehen. Darrell reagierte ebenso eifrig und stellte sich ihr in den Weg. „Ich bin noch ein paar Tage hier … würdest du mit mir … Essen gehen?“

 Lucy schüttelte vehement den Kopf. „Darrell, wofür soll das gut sein?“

„Es gab so viele ungeklärte Dinge, als ich fortgegangen bin…“

„Und es scheint, als hätte sich daran nicht viel geändert“, konterte Lucy zuckersüß. Sie stemmte die Hände entschlossen in die Hüften. „Ich meine, ihr seid euch nicht mal einig, ob ihr geschieden oder zusammen seid.“

„Das ist kompliziert … das hat doch nichts mit uns zu tun.“

„Ich habe mit dieser Sache abgeschlossen. Bitte vergiss es einfach“, winkte Lucy ab und er griff impulsiv nach ihrer Hand. Das Gefühl, dass von seiner Berührung ausging, war elektrisierend und breitete sich von ihrer Hand, über ihren Arm bis hin zu ihrer Brust aus. Ihr Atem ging schneller und ihr Herzschlag hallte laut in ihren Ohren wider. „Bist du dir da sicher?“ Er zeichnete ein Unendlichkeitssymbol

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 16.05.2022
ISBN: 978-3-7554-1385-1

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