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Drittes Buch: Krieg in Macedonia

Im Tal des Axios, heutiges Bulgarien, Februar 279 v. Chr.

 

Der Boden des fremden Landes zerstach mit eisigen Nadeln seine Füße. Die Sohlen seiner dünnen Ledersandalen waren durchgescheuert von den langen Märschen über felsigen Untergrund. Aleso fühlte nur noch Kälte. Er sehnte sich danach, an sein Feuer zurückzukehren, sich in die dicke Decke von seiner Mutter zu wickeln und die Füße nahe an die Flammen zu halten. Vielleicht würde er ja diesmal richtig durchwärmen, bevor der kärgliche Holzstoß heruntergebrannt war. Schön wäre das, wenigstens einmal für kurze Zeit nicht so erbärmlich zu frieren.

Sie standen dicht gedrängt, jedoch weniger aus Interesse an der Verabschiedung der berittenen Abordnung, die Bolgios, ihr Anführer, für Verhandlungen zum Lager des Macedonenkönigs geschickt hatte. Sie suchten Schutz vor dem Wind, der die an den Seiten stehenden traf wie Schwerthiebe. Wenn sie im Lager um ihre Feuer saßen, dann gruben sie ihre mannshohen Schilde schräg in den Schnee ein und setzten sich darunter wie unter ein kleines Dach. Doch der Wind ließ sich nicht täuschen. Es gab in diesem verfluchten Land kein Versteck, das gut genug war, sich vor den eisigen Böen zu verbergen.

Erleichtert sah Aleso, wie die Reiter endlich ihre Pferde wendeten und das Lager in Richtung Talausgang verließen. Sie würden frühestens in drei Tagen zurück sein.

Wenn denn die Informationen über den Aufenthaltsort des Königs der Macedonen stimmten.

Die Masse ihres Heeres zerbröckelte, und die einzelnen Kriegergrüppchen bewegten sich wie dunkle Klumpen über den Boden des verschneiten Felsbeckens. Der Schnee war so weiß, dass selbst ihre grellbunten Umhänge ihre Farben verloren zu haben schienen und einheitlich grau wirkten.

Aleso schlurfte in Richtung seines Schlafplatzes. Müde wollte er mit dem Fuß einen kleinen Schneehaufen auseinander stoßen - und blieb halb betäubt vor Schmerz stehen. Diese verfluchten Felsen! Dieses verfluchte Macedonia!

Er merkte, wie er sich in seine Wut hineinsteigerte. Sie waren in Feindesland, aber sie kämpften nicht gegen Armeen von Männern. Sie kämpften gegen das Land selbst, dieses Land, das sich gegen sie wehrte wie ein Rind gegen lästige Fliegen. Aleso versuchte, seine schmerzenden Zehen zu krümmen, doch diese waren steif gefroren. Den Kopf voller Verwünschungen humpelte er weiter.

Als Aleso an dem Platz ankam, an dem er und ein paar andere Krieger vorhin ein Feuer entfacht hatten, sah er, dass es nur noch schwelte. Er erinnerte sich, wie er vor einiger Zeit noch in Panik geraten war, weil er gefürchtet hatte, dass das Feuer verlöschen könnte. Doch ein alter, erfahrener Krieger hatte ihm erklärt, dass man die Feuer auf dem Marsch absichtlich so klein hielt. Ein schwelendes Feuer sparte Holz. Und sparen mussten sie, denn es gab nicht allzu viel Brennmaterial in dieser Gegend. Unter den Dingen, die der Alte mit sich getragen hatte, hatte sich auch ein dickes Bündel befunden, welches er gehütet hatte, als würde sein Leben davon abhängen. Irgendwann hatte Aleso es heimlich geöffnet. Lange hatte er in dem getrockneten Gras gewühlt, bis er erkannte, dass das Gras selbst der Schatz war. Also ... genau genommen erkannte er das erst, als er den Alten grinsend hinter sich stehend entdeckte. Und während seine Ohren brannten, hatte er Aleso erklärt, dass es ohne dieses Gras schwierig, wenn nicht sogar unmöglich war, ein halb totes Feuer wieder zum Leben zu erwecken.

Aleso hatte einen kleinen Busch abgerissen und den Schnee zur Seite gefegt, den der Wind gefährlich nahe an die Feuerstelle heran geweht hatte. Er fütterte die Glut, bis sich der schwache Schein in helle, tanzende Zungen verwandelte. Dann breitete er sein Hundefell aus und ließ sich darauf nieder. Dabei rieb er sich den immer noch höllisch schmerzenden Fuß.

Nach und nach fanden sich auch die anderen Krieger des Feuers wieder ein. Sie kamen grußlos, zogen sich schweigend die Decken über ihre Schultern und starrten vor sich hin.

Der Mann neben Aleso sagte etwas. Er hatte es nicht verstanden, hatte eigentlich auch gar nicht hingehört. Und da er ohnehin keine Lust auf ein Gespräch hatte, machte er sich auch nicht die Mühe, nachzufragen.

Dann fühlte er einen Stoß gegen den Oberarm. „Was meinst du?“

„Wie?“ knurrte Aleso.

„Denkst du, er wird darauf eingehen?“

„Wer? Worauf?“

Der andere schüttelte den Kopf. „Wer schon! Der König von diesem ‚Macedonia‘! Der, den sie den ‚Wetterstrahl‘ nennen! Denkst du, er wird uns Gold und Land geben, dafür, dass wir ihn nicht angreifen?“

„Ich wünschte fast, er würde ablehnen, und wir hätten endlich mal eine richtige Schlacht“, sagte Aleso verbittert. „Kaum sind wir auch nur in der Nähe einer Stadt, da kommen schon die Fürsten gerannt und zahlen jeden Preis, den wir fordern, nur damit wir wieder weiterziehen. Und kommt es wirklich einmal zum Kampf, dann sind es nichts als kleine Gemetzel, die schon vorüber sind, bevor sie überhaupt angefangen haben!“ Er hatte sich in Wut geredet. „Haben diese Macedonen nicht gelernt zu kämpfen?!“

„Es könnte sein, dass dir die Götter deinen Wunsch diesmal erfüllen“, sagte ein anderer Krieger. „Ich habe vorhin gehört, dass dieser Ptolemaios Keraunos anders sein soll, als die Herren, mit denen wir es bis jetzt zu tun gehabt haben. Man erzählt sich, er wäre hochmütig und gewalttätig, und dass es nichts geben soll, was er nicht tun würde, um zu Macht zu gelangen. Es heißt sogar, dass er es gewesen ist, der den alten König hat töten lassen.“

„Angeblich reitet er auf einem Tier aus der Anderen Welt“, tönte es aus dem Hintergrund. „Keiner hat es bis jetzt gesehen, aber es soll so groß sein wie zwei Männer übereinander. Es hat Beine so dick wie Baumstämme, eine Stimme wie eine Kriegstrompete und frisst mit der Nase.“ Die anderen lachten. Einer rief: „Und wenn es mit den Ohren wackelt, kann es dann auch fliegen?“ Das Lachen wurde lauter. „Keine Ahnung“, antwortete der Mann. „Ich habe nur gehört, dass die Macedonen das Tier ‚elephanton‘ nennen.“

„Ich möchte ihm lieber nicht begegnen“, sagte der Krieger neben Aleso.

„Kann ich verstehen, bei einem Wesen aus der Anderen Welt.“

„Nein, nicht deswegen.“ Der Mann lehnte sich nach vorn, so, als würde er ein großes Geheimnis preisgeben. „Aber stell dir mal vor, du gewinnst den Kampf und müsstest den Kopf von einem Vieh mit dir herumschleppen, das so groß ist wie zwei Männer!“ Brüllendes Gelächter antwortete ihm.

Es wurde langsam dunkel. Nein, das war nicht richtig. Dunkel wurde nur der Himmel. Der Schnee dieses seltsamen Landes schien das Licht des Tages in sich aufzunehmen und nachts, wenn das Sonnenrad des Belenus längst verschwunden war, weiter zu leuchten.

So, wie das Wasser aus einem Kessel mit einem Loch herauslief, so wurde auch der Fluss des Gesprächs immer dünner. Bald tropften nur noch vereinzelte Worte in das Becken des Schweigens. Alle Körperteile, die die Wärme des Feuers nicht erreichte, drohten zu Eis zu werden. Es würde noch eine Weile dauern, bis die Frauen aus dem anderen Teil des Lagerplatzes das Abendessen bringen würden. Bis dahin würden die Krieger weiter unbeweglich um das Feuer herumsitzen und in die Flammen starren, ohne sie zu sehen.

Wie jeden Abend.

Die Kälte lähmte sie alle.

Drei, vielleicht vier Tage, dann würde ihre Abordnung aus dem Kriegslager des Macedonenkönigs zurück sein. Drei oder vier endlose Tages des Wartens, gefüllt mit bedeutungslosen Gespräch, mit kleinen Arbeiten, die man suchte, weil sie den Fluss der Zeit beschleunigte. Gefüllt aber auch mit Gedanken, von denen man geglaubt, gehofft hatte, dass sie für immer in der Vergangenheit zurückgeblieben waren.

Doch wenn Aleso in der Verbannung eines gelernt hatte, dann war es das: Es gab vieles, was man vergessen konnte; die Farbe eines Kleidungsstücks, das Ornament auf einem Schild oder den Geschmack einer Speise. Doch niemand vergaß das Haus, in dem er aufgewachsen war, seine Eltern, seine Freunde, sein erstes Mädchen, seinen ersten Kampf.

Niemand vergaß seine Heimat.

Und niemand vergaß, wie er sie verlassen hatte.

Aleso schloss die Augen, und die Bilder von vor mehr als einem Jahr kamen wieder ...

 

Meine Befürchtungen, erkannt zu werden, verschwanden in dem Augenblick, als ich den Platz erreichte, an dem sich die Verbannten zum Aufbruch gesammelt hatten. Hier standen Tausende! Die Zahlen rasten durch meinen Kopf. Aus Belorix’ Ansprache an die Dru Vid, mit der er uns auf die Verhandlung vorbereitet hatte, wusste ich, dass mindestens sechstausend Krieger an dem geplanten Aufstand beteiligt gewesen waren, etwa eintausend von ihnen Männer mit hoher Stellung. Der Rest waren entweder deren Abhängige oder Freie, die sich den Aufständischen von sich aus angeschlossen hatten.

Wenn man die Frauen, Kinder und Alten dazurechnete, zählten die Ausgestoßenen etwa dreißigtausend Menschen. Die Tectosagier waren dabei, auseinander zu brechen. Ich spürte, wie ein heißer, eiserner Reifen meine Brust zusammenschnürte. Tränen füllten meine Augen. Verschleierten meinen Blick.

Nein!

Nicht das!

Der Nebel in meinem Kopf lichtete sich und machte Platz für einen einzigen Gedanken.

Der Junge!

Der Grund, warum ich hier stand, mit meinem kleinen Bündel über der Schulter, in meinem unscheinbaren, leicht ausgefransten Leinenhemd, den blassblauen, ausgewaschenen Hosen und der unförmigen Lederkappe, die für die nächste Zeit meinen in der Art der Dru Vid geschorenen Kopf verbergen sollte.

Aleso.

Egal, was mit den Tectosagiern passierte, ihn durfte ich nicht aus den Augen verlieren.

Unsere Schicksale waren verbunden.

Vielleicht konnte er mich vor dem „Blutlosen Tod“ bewahren, dem Abgeschnittensein vom eigenen Volk auf der Insel im Westen, der Trennung von dem mir anvertrauten Stamm und nicht zuletzt auch von unserer Bruderschaft.

Den Dru Vid.

Ich hob den Kopf und blickte mich vorsichtig in der Menge um, die den Auszug der Verstoßenen beobachtete.

Doch da war kein bekanntes Gesicht.

 

Aleso erschrak als er erkannte, wie viele sie wirklich waren.

Sie, die Vertriebenen der Tectosagier, würden ein wanderndes Volk sein.

Eines, wie sie es selbst noch vor wenigen Tagen bekämpft hatten.

Ebenso würden sie bekämpft werden.

Von dem Moment an, wo sich ihr Zug in Bewegung setzte, begann Aleso, wie in einem Traum zu leben. Ein Traum, aus dem er nicht aufwachen konnte.

Zusammen mit ihren vielleicht eintausend Reitpferden, etwas Vieh und zwei- bis dreitausend Trosswagen zogen sie von Tohiosa aus nach Norden. In weniger als zwei Tagen, am Tag des Samhain-Festes, erreichten sie die Grenzen des Stammesgebietes der Tectosagier. Es war die reine Ironie: Samhain, der Tag des Winterbeginns, an dem alles Überlebte zugrunde ging, brachte für die Ausgestoßenen einen neuen Anfang.

Oder sollte es doch das Ende sein? Samhain war die Nacht, in der sich die Tore zur Anderen Welt öffneten und sich die Geister unter die Menschen begaben, um ihnen böse Streiche zu spielen. In der behüteten Gemeinschaft des Stammes war das Ganze ein Spiel, wo jeder sein Haus und sich selbst schützte, indem er den Geistern etwas zum Tausch für den Frieden anbot. Doch was war hier draußen? Würden die Geister von den aus der Gemeinschaft Verstoßenen überhaupt etwas annehmen?

Aber waren hier, an der Grenze ihres Stammesgebietes, nicht die Geister der Anderen Welt ein eher kleines Problem? Wo jenseits der Grenze die mächtigen Arvernier lebten?

Sie hatten die Grenze kaum überschritten, da kam es zum Kampf. Die Arvernier versuchten gar nicht erst, einen Preis für den freien Durchzug auszuhandeln. In ihrer Entschlossenheit, kein Eindringen in ihr Land zuzulassen, verließen sich die Arvernier auch nicht auf die Hilfe der Götter. Die Tectosagier sahen sich einer Übermacht gegenüber, die von vornherein keinen Zweifel daran ließ, wer am Ende der Sieger sein würde. Einzelkämpfe wurden nicht ausgefochten, denn es ging nicht um Ehre. Die Arvernier forderten sie auch nicht auf, die Waffen niederzulegen und sich zu ergeben, und so begann das Gemetzel, dessen Verlauf vorgezeichnet war, wie der Strom des Wassers in einem Flussbett. Als die Arvernier von allen Seiten auf sie eindrangen, rief sich Aleso verzweifelt die alten Heldensagen in Erinnerung, die Erzählungen, in denen das Unmögliche die alltägliche Wirklichkeit war.

Doch das Hoffen auf ein Wunder oder den Beistand der Götter war vergebens.

Kräftige Arme hielten ihn fest, entwanden ihm sein Schwert, zwangen ihn zu Boden. Von dort, Schweiß, Blut und Tränen in den Augen, sah er seinen Vater sterben.

Viele gute Männer starben an diesem Tag, doch die meisten der Tectosagier wurden gefangen genommen. Keiner von ihnen hatte sich kampflos ergeben. Und zum zweiten Mal in seinem kurzen Kriegerleben musste Aleso miterleben wie es war, unterlegen und der Gnade des Siegers ausgeliefert zu sein.

Die arvernischen Krieger brachten sie zu ihrer nächstgelegene Hügelfestung. Keiner ihrer Versammlungsplätze war groß genug, sie alle aufzunehmen, und so wurden die hohen Krieger und ihre Angehörigen in die Hügelfestung getrieben, während alle anderen gut bewacht auf der freien Fläche vor der Festung lagern mussten.

In der Festung wurden Frauen und Männer getrennt, dann kamen die Krieger der Arvernier und wählten sich entsprechend der Sitte Frauen aus, die ihnen an den eigenen Herd folgen sollten. Ein riesiger, goldgeschmückter Arvernier mit einem wuchernden rötlich-blonden Schnauzbart trat vor Alesos Mutter hin. Sie war eine schöne Frau, und ihr goldenes, mit geschmolzenem Glas verziertes Diadem verriet sie als Frau höheren Standes. Einen Augenblick lang sahen sie sich an. Seine Mutter kämpfte die Trauer um ihren Mann nieder und hielt stolz seinem Blick stand. Als der Mann daraufhin grinsend ihren Arm ergriff, sprang Aleso auf. Sofort trat eine der Wachen vor und schlug ihn nieder. Durch einen Schleier aus Tränen und Blut musste er zusehen, wie seine Mutter davon geführt wurde.

Er sollte sie nie wiedersehen.

Die Arvernier brachten die entwaffneten Krieger und die Frauen, auf die kein Anspruch erhoben worden war, am nächsten Tag unter starker Bewachung an einen Ort, der etwa eine Tagesreise von ihrer befestigten Siedlung entfernt lag. Nach einer kurzen Nachtruhe gab man ihnen ihre Pferde, die Wagen, einen Teil ihrer Waffen und ihre Lebensmittel zurück und forderte sie auf, das Stammesgebiet der Arvernier zu verlassen. Dann gingen die Krieger in einiger Entfernung in Stellung, um den Weitermarsch der geschlagenen Tectosagier zu beobachten.

Es war ein grauer, kalter Tag. Obwohl es allmählich auf Mittag zuging hatten sich die Nebelschwaden des Morgens noch nicht aufgelöst. Aleso hatte sich für die Nacht einen Schlafplatz etwas abseits der Feuer gesucht, an denen die Familien schweigend ihre kargen Abendmahlzeiten eingenommen und sich dann zum Schlafen niedergelegt hatten. Vor seinem inneren Auge sah er immer wieder, wie sein Vater starb und seine Mutter weggeführt wurde. Den Anblick der schweigenden und niedergeschlagenen Gemeinschaften ertrug er nicht. Er löschte sein eigenes kleines Feuer früh und wickelte sich in seine Decke. Doch der erlösende Schlaf wollte nicht kommen.

Durchgefroren, übernächtigt, mit brennenden Augen und schmerzenden Gliedern stand er am nächsten Morgen da und wartete auf das Signal zum Aufbruch. Da war eine Bewegung. Er bückte sich mit einem leisen Stöhnen und hob sein Bündel auf seinen Rücken. Da spürte er eine Hand auf seiner Schulter und fuhr herum.

Vor Aleso stand Tendomos, ein ehemaliger Kampfgefährte seines Vaters; ein Riese mit einem Haarschopf wie Feuer. Er war noch nie ein Freund großer Worte gewesen, und so sagte er einfach nur: „An unserem Feuer ist noch Platz. Komm heute Abend zu uns. Ich denke, niemand muss hier allein sein.“ Und als Aleso ihn aus müden Augen ungläubig ansah: „Meine Frau würde sich auch freuen. Sie hätte gern einen Sohn gehabt.“

Alesos Hals wurde eng. Er presste die Lippen aufeinander und nickte. Den Rest des Tages liefen sie schweigend nebeneinander her, ohne zu wissen, wo sie am Ende dieses Tages sein würden.

Der Abend kam früh, wie immer in der dunklen Jahreszeit, selbst wenn diese nur wenige Tage alt war. Die Erlebnisse der vergangenen beiden Tage hatten ihre Füße gelähmt. Die Strecke, die sie seit ihrem Aufbruch zurückgelegt hatten, erschien ihnen lächerlich.

Der Zug hielt, und die Gruppe der an der Spitze marschierenden Krieger zerbröckelte fast augenblicklich. Wie selbstverständlich trottete Aleso hinter Tendomos her, als dieser zum Lagerplatz seiner Familie ging. Sie langten an einem Kochfeuer in einer kleinen Felsnische an, an dem eine etwa vierzigjährige, hellblonde Frau saß. Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte sie die Männer, als sie näher kamen. Aleso registrierte mit Erstaunen, dass Tendomos trotz seiner riesigen Statur in der Gegenwart seiner Frau beinahe schüchtern wirkte.

Tendomos legte seinen Arm um ihn. „Äh ..., das ist Aleso, der Sohn von Critognatos. Er hat niemanden mehr, also habe ich ihn an unser Feuer gebeten.“

„So, hast du das“, sagte die Frau. „Auf die Idee, mich vorher zu fragen, bist du nicht zufällig gekommen, oder?“

„Ja, also ehrlich gesagt ... nein ... ich habe gedacht, wo Platz und Nahrung für drei ist, da reicht es auch noch für einen Vierten ...“

Drei?

Die Frau sah Aleso von oben bis unten an. Er konnte ihren Blick nicht deuten. Ob er besser wieder ging? Lieber allein als unerwünscht. Entschlossen wandte er sich um und wollte mit einer gemurmelten Entschuldigung weggehen, da ...

„Magst du etwas Suppe?“

Aleso sah Tendomos an. Der nickte mit einem breiten Grinsen. Erleichtert ließ er den angestauten Atem heraus und setzte sich. Nein, er wollte nicht mehr gehen. Er wollte keine weitere Nacht allein sein, mit all den furchtbaren Bildern im Kopf.

Sie hatten gerade die ersten Löffel Suppe gegessen, und Aleso genoss das sich in ihm ausbreitende Gefühl der inneren Wärme, als ...

„Und wer ist das hier, bitteschön?“

Tendomos und Aleso fuhren herum. Hinter ihnen stand ein Mädchen, etwas jünger als Aleso, doch bereits mit unverkennbar - unübersehbar - weiblichen Formen, einem hübschen, aber momentan wütend dreinblickenden Gesicht, funkelnden Augen unter den zusammengezogenen Augenbrauen und in die Hüften gestemmten Fäusten. Doch was seine Augen sofort fing - und gefangen hielt - war die wilde Mähne aus hellblondem, nein, fast weißem Haar. Tendomos verdrehte die Augen und wandte sich wieder seiner Suppenschüssel zu. Aleso konnte nur starren.

„Grisala, das ist Aleso“, antwortete Tendomos‘ Frau. „Er hat im Kampf gegen die Arvernier seine Eltern verloren und wird ab jetzt an unserem Feuer leben.“

Grisala schnappte hörbar nach Luft. „An unserem Feuer? Und ich werde wohl überhaupt nicht gefragt?“

„Erstens wurde ich auch nicht gefragt“, entgegnete die Frau mit einem Seitenblick auf Tendomos, der plötzlich etwas unheimlich Interessantes auf dem Boden seiner Suppenschüssel entdeckt hatte und mit dem Löffel daran herumkratzte, „und zweitens ist es unhöflich, einen Gast so unfreundlich an einem Feuer der Tectosagier zu begrüßen!“

„Genauso unhöflich, wie mich unentwegt anzustarren, als hätte ich Warzen im Gesicht!“ schnappte Grisala. Mit heißen Ohren drehte sich Aleso wieder zum Feuer.

Das konnte ja noch heiter werden!

Ihre Flucht ging weiter. Sie zogen nach Nordosten, wählten bewusst dünn besiedelte, karge Gebiete für ihren Marsch aus, um nicht wieder und wieder angegriffen zu werden. Der Winter schritt fort, die Lebensmittel wurden knapper und die Luft immer kälter. Und je kälter es wurde, desto enger rückte man an den Abenden an den Feuern zusammen.

Tendomos und seine Frau waren eifrig bemüht, Aleso an ihren Gesprächen teilhaben zu lassen, ihn in ihr Leben mit einzubeziehen, während Grisala schwieg oder es zumindest vermied, ihn direkt anzusprechen. Auch seinen Blicken wich sie aus. Aleso fand dieses Verhalten eigenartig und höchst albern. Als noch eigenartiger empfand er allerdings, dass er selbst krampfhaft nach Worten suchte, die er ihr sagen konnte, einfach nur um sich mit ihr zu unterhalten, selten welche fand und die, die er fand, selbst für blöd und unbeholfen hielt, sobald er sie ausgesprochen hatte.

Und es ärgerte ihn.

Dann eines Abends passierte es. Sie hatten nach mehreren Tagen des Marsches mal wieder ein festes Lager aufgeschlagen, an dem sie etwas länger ausharren und Kräfte sammeln konnten. Sie alle sehnten diese Tage herbei, denn außer, dass man am nächsten Morgen nicht mit klammen Kleidern und steif gefrorenen, schmerzenden Gliedern wieder loslaufen musste, bauten die Handwerker im ganzen Lager kleine Lehmöfen auf, und der Duft von frischem, weißem Brot erfüllte die Luft. Tendomos hatte gerade einen Laib aufgeschnitten und reichte die Stücke an Grisala weiter, die die Aufgabe hatte, die Stücke zu verteilen, während Tendomos‘ Frau einen Topf mit frisch ausgelassenem Fett herumreichte. Als Aleso das Brot von Grisala entgegennahm, berührten sich ihre Hände.

Er blickte auf und sah direkt in ihre Augen. Und zum ersten Mal hielt sie seinem Blick stand. Noch immer berührten sich ihre kalten Finger. Auf einmal kribbelte es in Alesos Magen.

Dann erklang ein erzwungenes Husten aus der Richtung, in der sie Tendomos wussten, und der Zauber versank in der betonten Geschäftigkeit der gemeinsamen Abendmahlzeit.

Was Aleso anging, so hätten in seiner Schüssel auch Holzspäne liegen können. Er sah nichts, er schmeckte nichts, er hörte nichts von der Unterhaltung des Abends. In seinem Kopf tobten wilde Gedanken und noch wildere Bilder. Was passierte hier?

Der Zustand seines Kopfes besserte sich auch in den folgenden Tagen nicht. Noch immer brachte er nicht viel Sinnvolles heraus, wenn er vor Grisala stand, doch es störte ihn nicht mehr. Vor allem deswegen, weil Aleso den Eindruck hatte, dass es ihr nicht viel besser ging als ihm. Doch etwas hatte sich verändert. Ihre zufälligen Berührungen hörten auf, zufällig zu sein. Und die tiefen Blicke dauerten länger.

Für Aleso hätte es ewig so weitergehen können, mit einem Gefühl und einer Spannung, die immer größer wurde und ihn die Strapazen des Marsches vergessen ließ. Doch an einem Tag mitten im tiefsten Winter sollte sich für die Tectosagier alles ändern ...

 

Ich war ein Dru Vid.

Kein Bauer, kein richtiger Krieger, kein Töpfer.

Ein Dru Vid.

Und das rächte sich jetzt.

Ich fror. Meine Glieder schmerzten. Und ich hatte Hunger. Mein ganzer Körper bestand nur aus Schmerzen und Hunger.

Daran hatte ich nicht gedacht. Als Dru Vid hatte man uns versorgt, hatte uns ein Haus gebaut, uns Kleidung und Nahrung gegeben.

Hier, im Zug der verbannten Tectosagier, war ich ein Nichts. Nein, ich war noch weniger als nichts. Ich konnte nicht jagen, denn ich hatte keinen Speer. Ich konnte nichts herstellen, was irgendjemand gebrauchen konnte. Sicher, ich wäre vermutlich als ein ganz passabler Kämpfer durchgegangen. Wie jeder Dru Vid war auch ich ein ausgebildeter Krieger. Es gab nur ein Problem: Mein Speer, mein Schild und mein Schwert hatte ich – natürlich – zurücklassen müssen. Und spätestens seit der Niederlage gegen die Arvernier gab es in unserem Zug nicht einmal genug Waffen für diejenigen, die wirklich Krieger waren.

Vielleicht sollte ich mir einen Holzspeer schnitzen?

Ganz große Idee!

Hätte direkt von den Göttern kommen können!

Den Göttern, die vielleicht nie wieder zu mir sprechen würden.

Eine Weile hatte ich die Hoffnung, mich wenigstens von Beeren, Wurzeln und Pilzen ernähren zu können, doch selbst beim Sammeln gab es welche, die um Längen besser waren als ich: die Kinder, die mit freiem Geist und ohne Sorgen sich nur darum kümmern mussten, während mich die schweren Gedanken blind machten.

Mit dem Hunger als meinem ständigen Gefährten lebte ich schließlich von dem wenigen, was als Abfall liegenblieb oder mir andere aus Mitleid gaben.

Welch ein Aufstieg!

Aber bei allem Leiden, eine Sorge schienen die Götter dann doch von mir genommen zu haben. Dieser Junge, Aleso, war von einer Familie aufgenommen worden. Das erleichterte meine mir selbst auferlegte Aufgabe ungemein. Es war ungleich leichter, eine ganze Familie im Auge zu behalten, als einen einzelnen Jungen.

Ich Leichtgläubiger ..!

 

Bislang waren die einzigen anderen Kriegervölker, denen sie begegnet waren, diejenigen gewesen, deren Land sie durchquert hatten. An diesem Tag jedoch trafen die Tectosagier auf ein großes, nach Osten ziehendes Heer, bestehend aus vielen größeren und kleineren Stämmen oder Stammesgruppen. Die Kriegerschaft der vereinigten Stämme war wenigstens zehnmal so groß wie ihre eigene. Wie sie erfuhren, waren es zum großen Teil ebenfalls Verstoßene und Vertriebene, zum Teil aber auch solche, die freiwillig ausgezogen waren, um Reichtum und neuen Lebensraum zu finden. Etliche waren zu diesem Zweck sogar von ihren Stammesführern ausgeschickt worden. Zu Alesos Erstaunen bemerkte er, dass bei diesen sogar einige heilige Männer – wenn auch keine Druiden – dabei waren. Warum würden heilige Männer das ihnen anvertraute Land verlassen? Weil ihre Bindung zu den ihnen von den Göttern anvertrauten Menschen größer war?

Warum war dann kein Druide bei den Tectosagiern?

Der Anführer dieses Heeres war ein Mann vom Stamm der Prauser, einem kleinen Volk, so lernten sie, das ebenfalls zu den vertriebenen Stämmen gehörte. Und was immer dieser Mann an sich hatte, es musste ungeheuer stark sein, wenn sich die vielen tausend Kriegsherren freiwillig seiner Führung unterworfen hatten.

Der Name des Mannes war Brennus.

Der Kriegerrat der Tectosagier fasste einen schnellen Entschluss. Sie würden, nein, sie mussten sich dem Heer des Brennus anschließen, um zu überleben. Mit Frauen, Kindern, den Wagen und nur noch knapp fünftausend Kriegern würden ihnen über kurz oder lang nicht einmal mehr die Götter helfen können.

Wenn diese denn überhaupt noch bei ihnen waren.

Zu seiner großen Überraschung sollte Aleso trotz seiner gerade einmal achtzehn Winter zu der Abordnung gehören, die bei Brennus vorsprechen und um seinen Schutz und das Recht, mit ihm ziehen zu dürfen, bitten sollte. Wie groß musste das Ansehen seines Vaters gewesen sein, dass es selbst aus der Anderen Welt weiterwirkte. Er sollte zu seiner Enttäuschung erst hinterher erfahren, dass es in erster Linie darum gegangen war, Brennus zu zeigen, dass es auch junge Krieger bei den Tectosagiern gab, wenn sie schon sonst kaum etwas als Gegenleistung für Brennus’ Schutz anzubieten hatten.

Sie betraten das stark bewachte Zelt des Anführers. In der Mitte brannte ein kleines Feuer, dessen Rauch durch das spitze, offene Zeltdach entwich. Brennus saß auf einem fellbezogenen Holzblock. Sein Schatten, der von dem flackernden Licht an die hintere Zeltwand geworfen wurde, ließ ihn riesig erscheinen. Als sie ihm gegenüberstanden begriffen sie, warum ihm so viele Tausend Krieger freiwillig ihr Schwert zugeschworen hatten.

Brennus‘ Blick glitt ruhig über sie hinweg. Niemand sprach. Sie alle starrten nur diesen Mann an, der - ohne auch nur ein einziges Wort gesagt zu haben - eine Sicherheit ausstrahlte, die ihnen die Ruhe wiedergab, die sie alle schon längst vergessen hatten.

Plötzlich blieb sein Blick an Aleso hängen. Genau in diesem Moment loderte das Feuer hell auf und ließ Brennus‘ Gesicht aufglühen. Ihre Augen konnten sich nicht mehr voneinander lösen. Aleso sah sich auf einmal wieder an der Quelle des Cernunnos. Doch hier erschien keine goldene Sichel eines Druiden vor seinen Augen. Sie sahen sich an, und es war, als wäre da etwas, was sie sogar am Blinzeln hinderte, weil das den Blickkontakt für den Bruchteil eines Moments unterbrochen hätte. Dann war die Erscheinung vorüber, so wie sie gekommen war. Doch noch immer sahen sie sich an.

Der Anführer der Abordnung der Tectosagier begann zu sprechen. Es waren vorgefertigte Formeln, die ihr Anliegen - die Bitte um Schutz - ausdrückten, ohne den eigenen Stolz zu verletzen. Brennus hörte mit unbewegtem Gesicht zu, vernahm die Worte, die er in den vergangenen Monaten vermutlich schon so oft gehört hatte, den Blick unverändert auf Aleso gerichtet.

Dann sprach Brennus. Nicht einmal, dass er etwas Ungewöhnliches sagte, es war vielmehr die Art, in der er redete: ruhig, aber dennoch kraftvoll; überlegen, aber nicht herablassend. Und noch immer dieser Blick! ‚Warum schaut er mich an?‘ dachte Aleso, während seine Gedanken allmählich in ihre Bahnen zurückkehrten. ‚Warum nur mich?‘ Und die Blicke der anderen sagten ihm, dass er nicht der einzige war, der den Eindruck hatte, dass Brennus nur zu Aleso sprach.

Wenig später verließen sie das Zelt unseres neuen Anführers. Die Tectosagier würden als Stamm ihre Eigenständigkeit behalten. Brennus hatte nicht vor, sich in ihre inneren Angelegenheiten einzumischen, noch hatte es ihn interessiert, weswegen sie ihre Heimat verlassen hatten. Die einzige Bedingung, die er gestellt hatte war, dass ihre Krieger in den Schlachten, die unweigerlich auf sie zukommen würden, ihn Brennus, als Oberbefehlshaber anerkannten.

An diesem Abend war Aleso geistig völlig abwesend. Die Gedanken und Bilder rasten durch seinen Kopf. Immer wieder kehrte er im Geist in das Zelt des Brennus zurück, durchlebte noch einmal die Momente, als ihre Augen sich trafen, ihre Blicke sich festhielten. Plötzlich saß er wieder im Haus der Druiden in Tohiosa, ihm gegenüber der Geschichtsbewahrer. ‚Dein Schicksal ist untrennbar mit dem eines anderen Mannes verbunden.’ Und: ‚Du wirst ihn erkennen, wenn er vor dir steht.’

Konnte es noch deutlichere Zeichen geben? Nein, Brennus war dieser Mann, daran hatten die Götter keinen Zweifel gelassen.

Irgendwann an diesem Abend zogen sich Tendomos und seine Frau zum Schlafen zurück. Aleso blieb sitzen und starrte in die Flammen.

Sein Herz drohte stehen zu bleiben, als sich plötzlich von hinten zwei Arme um ihn legten.

„Wenn du jetzt nicht zusammengezuckt wärst hätte ich gedacht, du hättest absichtlich gewartet, bis sich meine Eltern schlafen gelegt haben, um mit mir allein sein zu können“, flüsterte Grisala in sein Ohr. Dabei berührte ihr nach vorn gefallenes weißes Haar sein Gesicht.

Schlagartig war das Bild von Brennus aus seinem Kopf verschwunden. Aleso drehte sich halb um, zog Grisala an sich und verschloss ihren Mund mit einem langen Kuss. Als er plötzlich ihre Hand unter seinem Hemd spürte, war ihm klar, dass sie heute mehr wollte, als nur festgehalten und gewärmt zu werden.

Gerade hatte er seine Gedanken wieder halbwegs unter Kontrolle, gerade hatte er sich eingeredet, dass er ja schon sehr erfahren war, dass er schon einer älteren Frau große Freude beschert hatte und es also keinen Grund gab, sich Sorgen zu machen, da spürte er ihre Lippen an seinem Ohr. „Sei bitte vorsichtig, ich ... Ich habe es noch nie gemacht.“

Diese wenigen Worte reichten aus, um jegliche Erinnerungen an eventuell vorhandene Erfahrungen und damit sein gesamtes Selbstbewusstsein in seinem Kopf zu tilgen. Selbst der Knoten des Strickes, der seine Hose hielt, erschien ihm fremd. Hilflos und tollpatschig fummelte er an Grisalas Kleidung herum, die schließlich seine Hände wegschob und sich ihr langes Leinenhemd selbst über den Kopf zog.

Der Anblick ihres Körpers nahm Aleso den Atem, und er vermutete richtig, dass er nicht viel Zeit haben würde. Ein heftiger Blitz durchfuhr seinen Körper schon beim ersten Eindringen. Verlegen lag er hinterher neben ihr, nicht einmal sicher, ob er ihr überhaupt etwas Freude hatte bereiten können, da er plötzlich einen Widerstand gespürt und Grisala einen kleinen Schrei ausgestoßen hatte, der nach allem möglichen, nur nicht nach Spaß, geklungen hatte. Doch nach kurzer Zeit begann sie, seine Brust zu streicheln, ihn zu küssen, während ihre Hand nach unten glitt und seine Männlichkeit umfasste, die sofort wieder zum Leben erwachte. Er küsste sie, legte sich auf sie und glitt in sie hinein. Und dann erlebten sie gemeinsam den Zauber des gegenseitigen Entdeckens ihrer Körper.

 

Ich hatte Recht! Ich hatte die ganze Zeit über Recht gehabt! Keine Rede mehr davon, dass ich nicht den Weisungen der Götter, sondern einer selbst eingeredeten Phantasterei gefolgt war, als ich das Land der Tectosagier und die Bruderschaft der Dru Vid verlassen hatte.

Zuerst hatte ich es nicht glauben wollen, doch die Geschichte hatte sich hartnäckig an den Feuern gehalten. Dieser Tectosagierjunge, Aleso, hatte die Zeichen der Götter empfangen. Und das glücklicherweise nicht irgendwo in einem dunklen Winkel oder – noch schlimmer – in einem Traum. Nein, in der Gegenwart nicht nur der wichtigsten Krieger der Tectosagier, sondern auch des Mannes, der von nun an unsere Geschicke lenken würde, Brennus der Prauser.

Alle erzählten sie davon, wie plötzlich das Feuer heller geworden war, wie sie alle die schweigende Verbindung der beiden Seelen beobachtet hatten. Das Tragische an dieser Sache sah ich nicht in diesem Augenblick. Wieder einmal hatten mir die Götter gezeigt, dass Aleso etwas Besonderes war. Mehr brauchte ich nicht.

Ich war zerlumpt, hungrig, müde, ruhelos, ständig zweifelnd an dem, was ich getan, was ich aufgegeben hatte. An diesem Abend jedoch sank ich mit einem unglaublichen Glücksgefühl in mir auf mein Lager und schlief tief und traumlos – das erste Mal seit vielen, vielen Tagen.

Genaugenommen das erste Mal seit unserem Aufbruch.

 

Viel zu früh endete die Nacht, und völlig erschöpft und die forschenden Blicke von Tendomos ignorierend halfen Aleso und Grisala am nächsten Morgen gemeinsam, das Lager abzubauen.

Ihr wanderndes Volk zog weiter. Imbolc, das Fest der Wintermitte, ging vorüber, ohne dass es auch nur ein Mensch bemerkte oder beachtete. Es war nicht die Zeit, Feste zu feiern. Zu Kämpfen kam es nur selten. Brennuns hatte verboten, unnötige Auseinandersetzungen zu provozieren, und die Stämme, durch deren Land ihr Weg sie führte, ließen sie meist unbehelligt, auch, wenn die Wandernden gelegentlich ihre Vorratshäuser plünderten, um selbst nicht zu verhungern. Außerdem war ihr Zug der Vertriebenen und Glückssuchenden mit jedem Tag seiner Wanderung weitergewachsen. Sie waren inzwischen zu viele, als dass ein einzelner Stamm es gewagt hätte, sie anzugreifen. Sie errichteten keine dauerhaften Siedlungen, ein Ziel schien es dennoch zu geben, denn inzwischen zogen sie nicht einfach planlos nach Osten, sondern ihr Weg war vorgezeichnet. Sie folgten einem großen Fluss, der den Erzählungen nach nicht einfach nur irgendein Fluss war. Es war der Strom der Göttin Danu, der Urgöttin allen Lebens. Entlang diesem Fluss, nur in umgekehrter Richtung, sei vor vielen Tausend Wintern angeblich alles zu den Kriegervölkern gelangt, was ihr Leben ausmachte, unter anderem sogar die Fähigkeit, Getreide anzubauen. Bei allen Göttern, wie hatten sich die Menschen hier denn davor ernährt? Von Wurzeln und Beeren?

Während der ganzen Zeit wartete Aleso darauf, dass etwas geschah. Immer wieder drückte er sich in der Nähe des Anführerzeltes herum, doch er bekam Brennus nicht zu Gesicht. Und je länger er wartete, desto mehr wandelte sich die Spannung in Enttäuschung und Zweifel. Was, wenn er die Zeichen falsch interpretiert hatte? Was, wenn es gar kein Zeichen gewesen war?

An einem Abend mehr als fünf Monde nach ihrer Verbannung saß Aleso am Ufer des Flusses der Göttin Danu, blickte entgegen der Fließrichtung des Wassers den Strom entlang, in dem sich der Mond spiegelte. An diesem Abend schien er für einen Augenblick aus seinem Traum aufzuwachen. Er starrte auf das Wasser, und auf einmal spürte er eine große Endgültigkeit in sich. Aleso wusste nun, dass es der Wille der Götter war, dass er diesen Weg nicht zurückgehen würde.

Grisala spürte wohl, wie schwer die Gedanken auf ihm lasteten. Sie kam zu ihm, aber sie sagte kein Wort. Sie kuschelte sich nur in seine Arme und wartete darauf, dass er einschlief.

In dieser Nacht träumte Aleso, und das erste Mal seit langer Zeit waren es keine Alpträume von ihrem Aufstand und dem Sterben von Motuedios und seinem Vater. Er sah Tohiosa, doch ihm war, als wären es nicht seine Augen, die von einem Hügel hinab ins Tal der Garuna blickten. Dann erschien das Gesicht seines Vaters vor seinen Augen. Gerade wollte er ihn rufen, da wurden die Bilder undeutlich, für einen Moment nur. Als sie wieder klar waren, war der Mann nicht mehr sein Vater, sondern Brennus. Mit einem Schrei auf den Lippen wachte Aleso schweißgebadet auf und klammerte sich fest an Grisala.

Am nächsten Tag fasste er einen Entschluss. Er nahm all seinen Mut zusammen und ging zu einem der Priester. Dieser hörte sich seine Geschichte an, doch die Erklärung des heiligen Mannes, dass Alesos Traum nur dem Wunsch entstammte, wieder zu Hause zu sein und einen Vater zu haben, hinterließ eher ein Gefühl der Unzufriedenheit bei ihm. Er hatte Antworten gesucht, vielleicht sogar Erleichterung, eine weitere Bestätigung, dass Brennus der Mann aus der Prophezeiung am Tag seiner Kriegerweihe war. Nichts davon hatte er gefunden.

Je weiter sie nach Osten zogen, desto häufiger tauchte ein Name in den Gesprächen der Männer auf: Griechenland, ein Land, das den Erzählungen nach selbst den Göttern eine würdige Heimat wäre. Städte sollte es dort geben, viel größer als die beim Kriegervolk und sogar größer als Massalia, mit riesigen weißen Häusern, die auf runden Beinen standen, und Reichtümer sollten dort angehäuft sein, wie sie noch keiner von ihnen vorher gesehen hatte. Die Geschichten waren schwer zu glauben, doch sie gaben den Wandernden Bilder, die sie beim Einschlafen vor ihr inneres Auge führen konnten, und die ihnen einen Grund gaben, am nächsten Tag wieder aufzustehen und weiterzulaufen.

Eines Tages geriet ihr Zug ins Stocken und blieb schließlich ganz stehen. Das wandernde Volk war inzwischen so groß, dass die Nachricht mit dem Grund dafür innerhalb des Lagers fast drei Tage brauchten, um auch den letzten zu erreichen.

Sie hatten eine Grenze erreicht. Wenn sie sich von hier aus nach Süden wandten und weitermarschierten, würden sie das sagenumwobene Griechenland erreichen.

Doch zwischen ihnen und Griechenland lag das Reich eines Königs mit dem Namen Lysimachos.

Macedonia ...

 

Die Geschichten über den Aufstieg des Lysimachos waren durchaus von der Art, wie man sie sich abends an den Kriegerfeuern erzählte, um sich wichtig zu machen. Vor allem, wenn man genug Bier und Wein getrunken hatte und nun den Drang verspürte, die Erzählungen der anderen Krieger zu überbieten.

Lysimachos, inzwischen ein alter Mann, war damals in der Leibgarde des ehemaligen Königs der Macedonen gewesen, der in einem gewaltigen Feldzug nach Osten ein riesiges Reich errichtet hatte, ein gewisser König Alexandros von Macedonia, den nach diesem Feldzug alle nur noch mit seinem Beinamen - ‚Megas‘ - der Große - anredeten. Diesem Alexandros war Lysimachos durch seinen Mut, aber auch seinen Eigensinn aufgefallen, und so hatte sich der König etwas einfallen lassen, um ihn zu disziplinieren. Er hatte ihn zusammen mit einem riesigen Raubtier, einem leontos, in einen Raum eingesperrt. Doch die Prüfung war anders verlaufen, als der König sich das vorgestellt hatte. Lysimachos hatte die Bestie mit bloßen Händen überwältigt und sich so die Achtung des Alexandros erworben. Nach dessen Tod war Lysimachos in einem erbitterten Krieg zwischen den vertrauten Generälen des Alexandros König über Macedonia und einem Teil des im Osten angrenzenden Thracia geworden. Aber wie konnte ein einziger Mann Herrscher sein über ein Land, dass noch größer war, als alle Stammesgebiete der Kriegervölker zusammengenommen? Wie mächtig war solch ein Mann? Mächtiger als Brennus?

Aleso war sich nicht sicher, aber er hatte den Eindruck, dass Brennus den Vorstoß nach Süden absichtlich hinauszögerte. Die Grenze lag unsichtbar vor ihnen, sicher bewacht, jedoch nicht durch gut bewaffnete Soldaten, sondern allein durch den Gedanken daran, dass auf der anderen Seite dieser König mit dem Namen Lysimachos existierte.

Die wandernden Kriegervölker bauten große Lager; im Unterschied zu allen vorherigen ordnete Brennus jedoch an, diese zu befestigen und unterhielt eine kleine Reitereinheit, die als Boten die einzelnen Stammessiedlungen miteinander verbanden. Alles sprach dafür, dass sie sich für längere Zeit einrichteten.

Ihre Ruhe kehrte zurück. Die Frauen hörten auf, die Speisen über dem offenen Feuer zuzubereiten, hoben Kochgruben aus und befestigten sie mit Steinen. Die Schmiede ließen sich von den Baumeistern Steinöfen errichten, die Töpfer bauten große, hügelförmige Brennöfen aus Lehm und die Krieger beschlugen große, runde Steine für ihre Frauen, mit denen sie mehr Mehl in kürzerer Zeit mahlen konnten, als mit den kleinen, tragbaren, die sie aus der Heimat mitgenommen hatten.

Jedoch nur einen knappen Mond später brach eine große Unruhe im Lager aus.

Lysimachos war tot. Und zwar schon lange, denn die Nachricht hatte mehrere Monde gebraucht, um ihr Lager überhaupt zu erreichen.

Wie nicht anders zu erwarten war dieser große Mann im Kampf gefallen, an einem Ort, der irgendwo jenseits der ‚Kuh-Furt‘ lag, was immer das heißen mochte. Ein Krieg der Greise sei es gewesen, so erzählte man sich, denn Lysiamchos soll zur Zeit der Schlacht vierundsiebzig Jahre gezählt haben. Sein Besieger, ein Mann namens Seleukos, sogar siebenundsiebzig. Letzterer hatte den Thron übernommen, wobei er sich gerühmt hatte, dass dieser Sieg ein Geschenk der Götter an ihn gewesen sei.

Nur wenige Tage später kamen neue Nachrichten. Seleukos, so hieß es, sei inzwischen ermordet worden. Sein Mörder, dessen Namen zu diesem Zeitpunkt noch niemand kannte, war angeblich ein Mann aus Aigyptos, dem Sandland jenseits des großen Wassers im Süden gewesen. Ein Königssohn, den man in seinem Land von der dort erblichen Thronfolge ausgeschlossen hatte. Dieselbe Quelle hatte berichtet, dass inzwischen eben dieser Mann den Thron des gemeuchelten Seleukos bestiegen hätte.

Zwei Tage nach dem Eintreffen dieser Nachricht versammelte Brennus die obersten Feldherren der einzelnen Stämme um sich. Eine Entscheidung war fällig geworden, so oder so, denn inzwischen war ein anderes Problem aufgetreten. Die wandernden Kriegervölker zählten inzwischen mehr als neunhunderttausend Menschen. Sie hatten alle verfügbaren Lebensmittelvorräte der Region aufgebraucht. Wenn sie nicht weiterzogen, würden sie verhungern.

Am nächsten Tag ritten Kuriere durch das Lager und verkündeten, dass Brennus und sein Kriegsrat beschlossen hatten, nach Süden vorzustoßen. Macedonia versprach reiche Beute, denn es galt als sicher, dass der Tod des mächtigen Lysimachos und die daraus entstandenen Thronstreitigkeiten Unruhen und Machtstreitigkeiten im Land selbst und bei den Nachbarn nach sich ziehen würde.

Um effektiv zu sein, musste das Heer jedoch neu organisiert werden. Brennus‘ Plan war, das riesige Heer zu teilen und den Vorstoß an drei Stellen gleichzeitig zu wagen. Ein Teil würde gegen Paionia ziehen, ein weiterer nach Macedonia und dann weiter nach Illyria, der dritte schließlich gegen Thracia. Zu diesem Zweck hatte Brennus zwei gleichrangige Mitfeldherren ernannt, einen Mann namens Bolgios und einen gewissen Cerethrios. Zumindest für die Zeit des Feldzuges waren sie Brennus gleichgestellt.

Der Rat der Feldherren hatte weiterhin festgelegt, dass man die Feldzüge zunächst auf den Norden der jeweiligen Region beschränke und dort Schrecken verbreiten sollte. Dann, zum Ende des nächsten Sommers hin, sollten die einzelnen Heere zurückkehren und als vereintes Heer den großen Schlag gegen Griechenland führen, den Ort, an dem die Belohnung für all die Entbehrungen auf sie wartete.

Die Boten kündigten an, dass in den nächsten Tagen die Führer der einzelnen Heere durch das Lager reiten und sich ihre Krieger aussuchen wollten. Die Obersten der Stämme, die Brennus ihr Schwert zugeschworen hatten, sollten sich bereithalten ...

 

Ich glaube heute, dass mir das Erreichen der macedonischen Grenze und die Errichtung des permanenten Lagers das Leben gerettet haben. Ich war bis auf die Knochen abgemagert, meine Kleidung hing in Lumpen an mir herunter, und wahrscheinlich stank ich, als hätte ich mich während eines Kriegerfestes in einem großen Haufen Erbrochenem gewälzt.

Als es hieß, dass wir uns hier festsetzen würden, dies wahrscheinlich sogar für mehrere Monate, brach ich noch an diesem Abend zusammen und schlief, bis am nächsten Tag die Sonne schon hoch am Himmel stand. Als ich erwachte, fühlte ich – neben dem dumpfen Hungerschmerz im Magen – eine neue Kraft in mir, deren Quelle ich nicht deuten konnte. Ich erhob mich, ging zum Fluss, um mich zu waschen, warf meine zerschlissene Kleidung weg bis auf ein Stück der Kutte, das ich mir um die Lenden schlang. In dieser eigenwilligen Aufmachung ging ich zu einem der Schmiede der Tectosagier und bot ihm mit trotzig erhobenem Haupt meine Dienste als Gehilfe an, wofür ich nur etwas Anzuziehen und Nahrung verlangte.

Der Schmied musste nichts sagen. Sein Blick wanderte mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen über meinen mageren Körper. Ich reckte meinen Kopf noch höher und drückte die Brust raus.

„Hol mal den Amboss da drüben“, sagte er und ruckte mit dem Kopf. Ich ging mit betont festem Schritt in die angegebene Richtung. Es war ein typischer Amboss, wie Schmiede sie auf Feldzügen mit sich führten, ohne Standfuß, stattdessen mit einem angespitzten Zapfen, der zum Aufstellen des Werkzeugs in den Boden oder einen Baumstumpf gerammt wurde. Ich holte tief Luft, ging in die Knie, schob meine Unterarme unter den Amboss und drückte die Knie durch. Meine Schultergelenke knackten, meine Knie drohten zu brechen, doch ich kämpfte mich hoch. Mein Leben hing davon ab. Mit starr geradeaus gerichtetem Blick stapfte ich Schritt für Schritt zurück zu dem Schmied. Es waren nur fünfzehn, vielleicht zwanzig Schritte, doch jeder einzelne drohte, mich innerlich zu zerreißen. Schließlich versenkte ich mit einem unterdrückten Stöhnen den Amboss zu Füßen des Schmieds.

„Na ja“, ließ der sich vernehmen, „hab ich auch schon schneller gesehen. Aber egal, jetzt lass mal sehen, was du kannst.“

Wie jetzt? Was denn noch?

Der Schmied drückte mir ein Stück Eisen in die Hand. „Leg es auf den Amboss und halte es mit der Zange dort fest, während ich mit dem Hammer draufschlage.“

Ich klammerte mich mit allem, was mir an Kraft geblieben war, an das Eisenstück und schloss die Augen in Erwartung des ersten Schlages. Als der kam war es, als hätte mir der Schmied mit dem Hammer direkt zwischen die Schultern geschlagen.

Doch ich hielt fest, auch noch, als der zweite, fünfte und zehnte Schlag kam. Als der elfte Schlag ausblieb, öffnete ich vorsichtig die Augen.

Der Schmied grinste mich breit an. „Willst du was essen?“

Mir war egal, dass er meine Tränen sah ...

 

Seit der Nachricht vom Tod des Lysimachos und dem bevorstehenden Feldzug war Alesos Hoffnung wieder gewachsen. Natürlich würde er mit Brennus ziehen! Es konnte gar nicht anders sein! Die Götter hatten Brennus und ihn zusammengeführt, ihre Schicksale waren miteinander verbunden. Der gemeinsame Feldzug würde beweisen, dass er sich nicht getäuscht hatte, dass die Zeichen bei ihrer ersten Begegnung echt gewesen waren. Aleso hatte noch keine Vorstellungen davon, wie ihr gemeinsames Schicksal genau aussehen würde. Er trug in sich nur die feste Überzeugung, dass sich die Bestimmung, die ihm der Druide bei seiner Kriegerweihe vorausgesagt hatte, nur mit Brennus gemeinsam erfüllen konnte.

Aleso war so aufgeregt und mit sich und seinem Schicksal beschäftigt, dass ihm entging, dass sich der Rat der hohen Krieger der Tectosagier noch am selben Abend von ihrem Lagerplatz entfernte und zu einer geheimen Beratung zusammentrat.

Am nächsten Morgen wurden Grisala und Aleso durch Aufbruchslärm geweckt. Unter dem verstörten Blick von Grisala stürzte er aus dem Zelt. Hatte er Brennus verpasst? War er schon hier gewesen und wieder weggeritten, ohne dass Aleso ihn zu Gesicht bekommen hatte?

Er griff sich den ersten Krieger, der schwerbeladen an ihm vorbeilief. „Wo ist Brennus?“ schrie Aleso ihn an. Der Mann sah ihn nur fragend an.

„Wo ist er hingeritten?“

„Wer?“ fragte der Andere.

Hatte der Kerl Dreck in den Ohren? Oder im Kopf?

„Wer?“ schrie Aleso „Brennus!“

Der Krieger zuckte nur mit den Schultern und lief weiter. Verzweifelt wollte Aleso ihm hinterher rennen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Es war Tendomos.

„Tendomos, was ist hier los? Wo ist Brennus? Wann ist er hier gewesen? Wann brechen wir auf?“

„Ganz ruhig, mein Junge“, antwortete Tendomos.

Doch an Ruhe war von seiner Seite aus gar nicht zu denken. „Wann geht es los? Und wohin wird Brennus mit uns ziehen?“

„Brennus? Wir ziehen nicht mit Brennus. Der Rat der Tectosagier hat entschieden, dass wir mit den Tolistobogiern und den Trocmern gehen. “

Aleso fühlte eine Dunkelheit, die ihn einzuhüllen drohte.

Doch der Rat der Tectosagier hatte entschieden. Brennus‘ Pläne waren ihnen egal. Unter der Führung der Feldherren Lutarios und Lanorios wollte Alesos Volk das große Heer verlassen und auf eigene Faust nach Osten ziehen, weiter den Strom der Göttin Danu entlang.

„Was glaubt ihr denn dort zu finden?“ fragte Aleso verzweifelt. „Wie wollt ihr ohne die Stärke von Brennus überhaupt überleben?“ Er redete auf Tendomos ein, als hätte der die Macht, die Entscheidung umzustoßen, doch der wehrte ihn nur stumm ab.

Die Vorbereitungen für den Aufbruch liefen an Aleso vorbei. Am Abend war er so verzweifelt, dass er durch das halbe Lager irrte, um einen der heiligen Männer zu finden. Als Aleso ihn um Rat fragte, war die Antwort eindeutig. Die Götter hatten seinen Weg vorgezeichnet, das stand fest. Wenn er fühlte, dass dieser Weg ein anderer war als der seines Stammes, dann musste er die ihm vertrauten Menschen verlassen.

Aleso starrte den Priester an. Verlassen? Die Tectosagier verlassen? Seine neue Familie verlassen? Grisala? Doch so ungeheuerlich ihm dieser Gedanke auch erschien, in dem Moment, als der Priester ihn ausgesprochen hatte, wusste Aleso, dass er es tun würde.

Mit unbewegtem Gesicht hörte Tendomos zu, als Aleso ihm von seiner Vision und dem Gespräch mit dem heiligen Mann erzählte. Als er geendet hatte, wandte sich Tendomos einfach ab und ging. Was kümmerten ihn die Prophezeiungen eines Priesters? Er würde jemanden verlieren, der ihm wie ein Sohn gewesen war!

Aleso fühlte sich schlecht.

Doch das Gespräch mit Tendomos war nichts im Vergleich zu seiner nächsten Nacht mit Grisala.

„Aleso, ich liebe dich, wir teilen das Lager, vielleicht trage ich auch schon dein Kind in mir. Und du sagst mir, dass du mich verlassen musst, weil es dir im Traum erschienen ist, dass du diesem Brennus folgen musst?“

Er schwieg. Was sollte er darauf auch antworten? „Der Priester ...“ begann er stockend.

„Mir ist egal, was irgendein Priester in deine Träume hineindeutet!“ fauchte Grisala. „Und wenn es Cernunnos selbst wäre, der dir befiehlt, mit diesem Feldherrn zu ziehen, wo immer es ihn hintreibt, mir muss es doch nicht gefallen, oder?“

Noch während Aleso nach Worten suchte, warf sie sich plötzlich zur Seite und brach in unkontrolliertes Schluchzen aus. Hilflos hielt er das weinende Mädchen in seinen Armen, verzweifelt um Erklärungen ringend. Er fand keine. Er wusste ja selbst nicht einmal, was ihn zu Brennus trieb. Aleso fühlte nur, dass sein weiteres Leben bei Brennus lag. Diese Gefühle in Worte zu fassen, überstieg jedoch sein Vermögen. Seinen eigenen stockenden Sätzen zuhörend, wurde ihm schließlich klar, dass Grisala ihn nicht verstehen konnte.

Drei Tage vergingen. Insgeheim war Aleso Grisala dankbar dafür, dass sie ihm aus dem Weg ging. Es tat ihm jedoch weh, sie bleich, übernächtigt und geistesabwesend herumlaufen zu sehen. Sie fehlte ihm, vor allem nachts, denn sie hatte ihr gemeinsames Lager verlassen und schlief bei ihrer Mutter.

Schließlich kam der Morgen, an dem die Tectosagier aufbrachen. Zusammen mit den Tolistobogiern und den Trocmern verließen insgesamt mehr als dreißigtausend Menschen den Ort, der in den vergangenen Monaten ihr Zuhause gewesen war.

Aleso stand zitternd da und sah zu, wie sie abzogen. Dreißigtausend Menschen kamen nur langsam voran. Von seinem Lagerplatz aus würde er das Verschwinden seines Volkes mindestens noch einen ganzen Tag vor Augen haben, in der kommenden Nacht noch die Feuer sehen. Tränen stiegen in seine Augen.

Nein!

Morgen würde sein neues Leben anfangen. Morgen würde Brennus seine Krieger zusammenrufen, und der Feldzug nach Griechenland würde Alesos schweren Gedanken verschwinden lassen.

Und die Bilder von Grisala.

Immer noch zerrissen von Zweifeln blieb Aleso allein in dem leeren Lager zurück. Nachdem die Menschen, die ihm bis vor kurzem noch alles bedeutet hatten, verschwunden waren, nahm er sein Zelt und baute es in der Nähe des Lagerplatzes eines anderen Stammes wieder auf. In der ersten Nacht zog er sich die Decke über den Kopf, die ihm seine Mutter an ihrem letzten gemeinsamen Abend im Gefangenenlager der Arvernier noch gegeben hatte. Dann weinte Aleso, wie er noch nie zuvor in seinem Leben geweint hatte.

Zum zweiten Mal hatte er seine Familie verloren.

Am nächsten Morgen rissen ihn laute Rufe aus seinem unruhigen Schlaf. Ja! Es war soweit! Aleso stürzte aus dem Zelt, sein Kopf gefüllt mit diesem einzigen Wort: Brennus! - und prallte zurück.

Auf dem Pferd saß nicht Brennus.

Es war ein Feldherr, der sich in einer kurzen Rede als Bolgios vorstellte.

Er war jünger als Brennus, aber seinen Worten nach zu urteilen ganz sicher nicht weniger ehrgeizig. Die anderen Krieger in Alesos Nähe hörten ihm aufmerksam zu und jubelte schließlich begeistert, als er erklärte, dass er zunächst wie mit Brennus abgesprochen den Norden Macedonias anzugreifen plante und anschließend nach Westen zum Land der Illyrer weiterzuziehen gedachte. Das klang nach einer Menge Ehre und Beute.

Aleso drängte sich durch die schreienden Männer. Er musste zu Bolgios. Als er vor dem Feldherrn stand, blickte der ihn von seinem Pferd herab an. Aleso stockte. Nein, das waren nicht die Augen eines Brennus! Er hätte allerdings auch nicht sagen können, was an ihnen anders war.

„Wo ist Brennus?“

Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte der junge Feldherr sicher jede Frage erwartet, nur nicht diese. „Brennus?“ fragte er zurück.

Aleso nickte heftig.

Bolgios zuckte mit den Schultern. „Wo soll er schon sein? Er ist vor vier Tagen nach Paionia aufgebrochen.“

Aleso sackte in sich zusammen. In seiner Verzweiflung lief er fast den ganzen Tag lang herum, bis er die verlassenen Überreste dessen fand, was einmal das Lager der Prauser gewesen war. Es stimmte, Brennus war fort. Aleso war verzweifelt und verwirrt. Was hatte er getan, dass die Götter sich entschieden hatten, ihren ursprünglichen Plan zu ändern? Warum hatten sie ihm bei seiner ersten Begegnung mit Brennus ein Zeichen gegeben, wie es deutlicher kaum noch hätte sein können, wenn sie ihn nun doch wieder von ihm trennen wollten? Oder hatte Aleso das Zeichen doch missverstanden? War am Ende alles nur ein einziger großer, schrecklicher Irrtum?

Hatte er dafür seine Familie aufgegeben?

War ein Bolgios es wert, Grisala verloren zu haben?

Aleso blieb nur ein Tag, sich mit seinen Selbstzweifeln zu quälen. Am Morgen darauf löste sich das Lager der Kriegervölker ganz auf. Über einhundertundzwanzigtausend Krieger und ihre Familien waren mit Brennus gegangen. Fünfundzwanzigtausend waren mit Cerethrios weiter nach Osten, nach Thracia gezogen, und der Rest, mehr als siebzigtausend Männer und ungefähr zweihunderttausend Frauen und Kinder, trat unter Bolgios seinen Weg nach Süden an.

Vom ersten Tag des Feldzugs an merkten sie, dass sich etwas verändert hatte. Zu Alesos Erleichterung - denn viel länger hätte er den Anblick nicht ertragen - hatte das Zusammenleben der Familien ein Ende gefunden. Bolgios hatte angeordnet, dass die Krieger als Heer zusammenblieben, um sie im Fall eines Angriffs schneller zusammenziehen zu können. Die Familien würden in einem Tross unter Bewachung von fünftausend Männern hinterher ziehen. Der gesamte Zug würde sich in seiner Geschwindigkeit nach dem Tross richten. Man war im Land eines Feindes, den man noch nicht einschätzen konnte. Es war ratsam, die Abstände nicht zu groß werden zu lassen.

Auch, wenn Alesos eigenen militärischen Erfahrungen vermutlich eher dürftig waren, so erkannte doch jeder, dass Bolgios offensichtlich wusste was er tat.

Und doch: er war nicht Brennus ...

Ohne dass es ihnen wirklich bewusst wurde, überquerten sie die Grenze zu Macedonia, betraten erstmals Boden, der nicht von den Kriegervölkern beherrscht war, deren Kampfweise man kannte und deren Sprache man verstand. Sie folgten dem Lauf eines nach Süden fließenden Flusses mit Namen Axios, dessen trübes Wasser in einem Tal durch Macedonia strömte, bis er sich ganz im Süden in die Meeresbucht ergoss, die nach der an ihr liegenden Stadt Therma benannt war.

Aleso hatte erwartet, dass die Macedonen wie ein Rudel Wölfe über sie herfallen würden, so wie die Arvernier es getan hatten, als die verbannten Tectosagier auf ihrer Flucht in ihr Stammesgebiet eingedrungen waren. Doch es dauerte mehrere Tage, bis sie überhaupt auf Widerstand stießen. Das nur etwa eintausend Mann starke Heer der Macedonen schaffte es dann noch nicht einmal, ihren Marsch merklich zu verlangsamen. Sie wurden einfach überrannt, so wie ein Fluss über einen einzelnen hineingeworfenen Stein hinweg floss.

Sie hatten diesem Gefecht keine größere Bedeutung beigemessen. Die meisten von ihnen waren nicht einmal zum Kämpfen gekommen. Die Auswirkungen in der einheimischen Bevölkerung waren jedoch verheerend. Es hatte fast den Anschein, als wäre diese kleine Streitmacht alles gewesen, was die Macedonen dem Heer des Bolgios entgegenzusetzen hatten. War etwa ihre vernichtende Niederlage gleichbedeutend mit dem Ende des macedonischen Staatswesens? Es schien fast so, denn wo immer sie danach auftauchten, schickten ihnen die Fürsten der Regionen, durch die sie zogen, Abordnungen entgegen, die ihnen Lebensmittel, Silber und Gold anboten, nur damit sie deren Dörfer und Städte verschonten. Also plünderten sie die Speicher und Felder nur, wenn das, was ihnen angeboten wurde, nicht reichte. Schnell drangen sie nach Süden vor. Es war eine völlig absurde Situation. Sie waren in Feindesland und bewegten sich, als befänden sie sich auf ihrem eigenen Stammesterritorium. Zu Anfang machten sie sich noch darüber lustig, dass sie für das Durchqueren des Landes eines anderen Volkes nicht selbst zahlen mussten, sondern im Gegenteil noch dafür bezahlt wurden, damit sie nur schnell weiterzogen.

Schnell kehrte die Bequemlichkeit des Lebens zurück. Die Frauen der Krieger, die mit den Kindern in den Nächten ihr eigenes Lager hatten, hatten zu Anfang des Feldzugs - wenn es denn überhaupt einer war! - am Abend das Essen für die Krieger in schnell ausgehobenen Kochgruben bereitet und es den Männern gebracht. Inzwischen aßen die Krieger wieder gemeinsam mit ihren Familien, und entgegen der ausdrücklichen Anordnung des Bolgios kehrten die meisten von ihnen erst am Morgen in das Lager der Krieger zurück. Doch mit der Zeit wuchs die Unzufriedenheit innerhalb der Kriegerschaft. Waren sie ein Heer oder ein Zug von Handelsreisenden?

Das eigentlich Witzige war, dass sie von den Macedonen mit Gold und Silber angefleht wurden, Dinge nicht zu tun, die sie ohnehin nicht getan hätten. Nie wäre es ihnen in den Sinn gekommen, die befestigten macedonischen Städte anzugreifen, obwohl sie natürlich größere Reichtümer bargen als die kleinen Dörfer und die kleinen Tempel am Weg. Die Galli taten dies aus gutem Grund. Auf dem Schlachtfeld waren sie unübertroffen, doch wie man Städte oder gar Festungen angriff oder belagerte, das hatten sie in ihrer Heimat nie gelernt. Die wenigen Male, die sie es in Macedonia versucht hatten, sollten eher unerwähnt bleiben. Entweder hatten sie den Schutzwall im ersten oder - ganz selten - vielleicht auch zweiten Anrennen durchbrochen, oder sie hatten es bleiben lassen. Das Erstürmen einer Stadt bedeutete, einen erbitterten Straßenkampf auf engstem Raum zu führen, vielleicht sogar in Häusern zu kämpfen. Die Galli brauchten Raum für ihre Kampfwagen, Raum für die Pferde und Raum, um ihre großen Schwerter zu schwingen.

Aleso hatte nie begriffen, wie ihre Führer bei den Verhandlungen um den ‚Friedenspreis‘ es geschafft hatten, dass die macedonischen Fürsten nie durchschauten, dass ihre kostbaren Städte und deren Reichtümer in Wahrheit vor ihnen sicher waren.

Eigentlich war die trockene Hitze des macedonischen Sommers ihr größter Feind. Größer als die Krieger, die sie ja fast nie zu Gesicht bekamen. Ihr Heer bewegte sich meist innerhalb der kleinen Felsenbecken, aus denen das ganze Land zu bestehen schien. In diesen Becken wehte kein Wind, und Aleso hatte ständig das Gefühl, mitten in einer Feuerstelle zu leben. Schatten spendende Bäume waren selten. Meist waren es Kiefern, ähnlich denen bei den Kriegervölkern, und eine Baumart, die Aleso nicht kannte. Zum Teil waren diese Bäume so hoch wie zwei, drei Männer übereinander, hatten riesige Kronen, kleine, harte, dunkelgrüne Blätter und gelblich-weiße Blüten, die später zu eigenartigen kleinen Früchten wurden. Aleso kostete einmal eine von ihnen, sie war jedoch so bitter, dass er sie sofort wieder ausspuckte.

Kaum vorstellbar war dagegen das Gefühl, als Aleso die ersten Eichen entdeckte.

Die Götter des Kriegervolkes würden sie nicht verlassen.

Dachte er.

Der heiße Sommer hatte sie auf einen milden Winter hoffen lassen. Das erwies sich rasch als Irrtum. Es war mindestens so kalt wie in ihrer ehemaligen Heimat, allerdings mit dem Unterschied, dass sie hier keine Häuser hatten. Schilde, aufgespannte Felle, alles musste als Schutz gegen den Schnee und den eisigen Wind herhalten. Dauerte die Rast an einem Ort länger als einen Tag, dann wurden eilig Felle zusammengenäht und notdürftige Zelte errichtet. Nach der Überquerung eines Seitenarms des Axios erreichten sie schließlich eine Gegend, die von den Einwohnern Amphaxitis genannt wurde. Hier, in dieser ausgedehnten Ebene, ordnete Bolgios endlich an, ein dauerhaftes Lager aufzubauen.

Doch Ruhe wollte nicht kommen. Nach ungefähr zehn Tagen begann ein Gerücht umzugehen. Niemand wusste, woher es gekommen war, und es gab auch keine sichtbaren Zeichen, die es bestätigten. Doch es hielt sich hartnäckig. Angeblich war der Nachfolger des greisen Seleukos mit einem Heer hierher unterwegs. Nicht bekannt hingegen war die Größe dieses Heeres, und so blieb unklar, ob die Macedonen kamen - wenn sie denn tatsächlich kamen - um mit den Galli zu verhandeln oder um sie gewaltsam am weiteren Vordringen zu hindern.

Nach weiteren zehn Tagen hörte das Gerücht auf, ein Gerücht zu sein. Die Macedonen waren auf dem Marsch zu ihnen. Und ihr Gegner hatte von nun an einen Namen.

Er hieß Ptolemaios Keraunos und war der derzeitige König von Macedonia.

Die Macedonen nannten ihn den ‚Wetterstrahl‘.

 

Mein Leben verlief wieder in geordneten Bahnen, wenn man das Dasein eines Dru Vid als Schmiedegehilfe so nennen konnte. Die Arbeit war hart, doch schon allein die regelmäßigen Mahlzeiten sorgten dafür, dass sich mein körperlicher Zustand innerhalb weniger Tage spür- und sichtbar verbesserte. Und hatte ich auf dem Marsch meist in meine Kutte gehüllt unter einem Strauch zusammengerollt geschlafen, so hatte ich jetzt sogar mein eigenes Zelt. Dieses hatte ich natürlich so aufgeschlagen, dass ich die neue Familie des Jungen Aleso im Auge behalten konnte.

Auch hier schien alles in Ordnung. Im Gegenteil, ich hatte den Eindruck, dass er und die Tochter der Familie mehr als nur ein freundschaftliches Verhältnis pflegten. Von fast allen Sorgen erleichtert hatte mein Geist wieder die Freiheit, Spekulationen darüber anzustellen, die genau das Schicksal wohl aussehen mochte, das die Götter dem Aleso zugedacht hatten.

Und nicht zu vergessen mir.

Dann kam der Tag, an dem die große Unruhe begann. Wahrscheinlich war ich einer der wenigen, die sich nicht davon anstecken ließen. Was sollte auch passieren? Die Tectosagier würden zusammenpacken und aufbrechen, und wohin immer sie ziehen würden, dahin würde ich auch gehen. Der Schmied würde mich weiter beschäftigen, also war auch meine eigene Existenz gesichert. Noch mehr Zuversicht schöpfte, als ich erfuhr, dass die Tectosagier sich nicht von den ehrgeizigen Plänen dieses Brennus anstecken lassen, sondern zusammen mit zwei anderen Stämmen ihren eigenen Weg nach Osten gehen wollten.

Die große Reise.

Am Tag des Aufbruchs packte ich in aller Ruhe zusammen. Dann half ich dem Schmied, seine Werkzeuge auf seinem Wagen zu verstauen. Das dauerte etwas länger, so dass wir erst gegen Mittag aufbrachen. Dort, wo letzte Nacht noch die Tectosagier gelagert hatten, gab es nur noch niedergetrampeltes Gras, erloschene Feuerstellen und Berge von Abfall.

Der riesige Stammesverband bewegte sich langsam nach Osten. Es war unmöglich zu erkennen, wo er begann und wo er aufhörte. Die Anführer, zwei Stammesfürsten mit Namen Lanorios und Lutarios, schienen es eilig zu haben, denn fünfzehn Tage lang wurden nur provisorische Lager aufgeschlagen, nur um beim ersten Sonnenstrahl wieder aufzubrechen. Und auch, wenn Nachtlager und Essen nicht mehr zu meinen Sorgen zählten, so sehnte ich mich doch nach ein paar Tagen am selben Ort, selbst wenn das lediglich bedeutete, dass ich die Strapazen des Marsches gegen die Knochenarbeit in der provisorischen Schmiede tauschte.

Da es keine Informationen darüber gab, wie lange wir an diesem Ort bleiben würden, nutzte ich die erste sich bietende Gelegenheit, um mich auf die Suche nach dem Lagerplatz der neuen Familie des Aleso zu machen. Nach einem halben Tag des Herumirrens wurde mir der Wahnsinn meines Vorhabens bewusst. Das Gebiet, das das Lager der drei Stämme einnahm, war so riesig, dass ich mehrere Tage brauchen würde, alles abzusuchen.

Resignation paarte sich mit Verzweiflung. Das Wissen um die Unmöglichkeit, Aleso zu finden, lähmte mich. Als die Sonne zu sinken begann, trat ich schließlich den Rückweg zu meinem Lagerplatz an.

In diesem Augenblick sah ich das Licht.

Genaugenommen war es kein Licht, sondern nur in helles Leuchten zwischen den Bäumen.

Meine Füße reagierten schneller als mein Kopf. Mit schnellen Schritten schoss ich auf das Leuchten zu und blieb schließlich schwer atmend vor dem Mädchen mit dieser unglaublich weißblonden Haarmähne stehen.

Und was jetzt?

Das Mädchen nahm mir den ersten Schritt ab. „Und?“ fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. „Genug geglotzt? Denk dran, nach dem Stieren kommt der Wahnsinn!“

Meine Fassung kam langsam wieder. „Wo ... wo ist ...?“

„Wo ist was? Der Wald? Der gestrige Tag?“

Ich atmete tief durch. „Dieser Junge, Aleso, ich muss mit ihm sprechen.“

Ihr hübsches Gesicht lief rot an. „So! Musst du das! Na, so ein Pech für dich! Aber vielleicht versuchst du es mal bei irgend so einem Traumdeuter, der kann dir vielleicht sagen, wo dieser Mistkerl gerade steckt!“

Ganz ruhig bleiben! Wahrscheinlich hatte er es sich letzte Nacht mit ein paar Freunden und etlichen Krügen corma gut gehen lassen ...

Ich holte tief Luft für einen neuerlichen Versuch. „Und du weißt wirklich nicht, bei wem ...?“

Weiter kam ich nicht.

„Warum suchst du nicht diesen ... diesen Brennus? Dann findest du auch diesen Idioten!“ fauchte sie, drehte sich abrupt um und ließ mich stehen.

Brennus? Was hatte Brennus ...?

Oh, ihr Götter!

Nein! Nicht das!

Ich blickte mich gehetzt um, starrte auf den Wald, meine Füße zuckten. Ich wollte losrennen, doch in diesem Augenblick setzte mein Verstand wieder ein.

Fünfzehn Tage.

Wir, wie auch das Heer des Brennus, waren fünfzehn Tage ununterbrochen marschiert. Selbst wenn ich den ganzen Weg zurückging, war Aleso jetzt schon mehr als dreißig Tagesreisen entfernt von unserem jetzigen Lager. Welche Chancen hatte ich als einzelner Mann, einem Heer mit mehr als einem Mond Vorsprung zu folgen und es einzuholen?

Selbst ein Bauer hätte die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens erkannt.

Und ich war ein Dru Vid.

Ich sank auf die Knie, fiel vornüber und vergrub mein Gesicht im Moos.

Alles war verloren.

 

Er schreckte hoch. „Was ist los?“

„Was los ist? Die Abordnung ist wieder da! Komm!“

Aleso sprang auf die Füße. Die Reiter waren viel früher zurück als erwartet. Bedeutete das, dass Keraunos näher war, als sie ursprünglich angenommen hatten? Oder waren sie so schnell übereingekommen, dass die Abordnung noch am selben Tag den Rückweg angetreten hatte?

Auf dem provisorischen Versammlungsplatz des Kriegerlagers erstickte das Stimmengewirr jeden klaren Gedanken. Dann wurden vorn einige laute Rufe hörbar. Gleich darauf ebbte der Lärm ab.

„Meine Krieger!“

Aleso konnte Bolgios nicht sehen, dessen kräftige Stimme die kalte Winterluft füllte.

„Unsere Reiter sind zurückgekehrt, und sie haben eine Botschaft, von der ich meine, dass ihr sie alle hören solltet. Metolatos“, wandte er sich an den neben ihm stehenden Krieger. Was er dann sagte, war nicht zu verstehen. Aleso drängte weiter nach vorn.

„Meine Freunde“, begann Metolatos. „Wir haben den neuen König von Macedonia, Ptolemaios Keraunos, getroffen. Wir haben ihm ein Angebot gemacht, das er nicht ablehnen konnte. So hatten wir jedenfalls gedacht. Doch dann hat der König uns ein Angebot gemacht.“ Metolatos machte eine Pause. Unter den Zuhörern herrschte gespannte Stille.

„Keraunos ließ uns wissen, dass er nur dann bereit sei, mit uns über einen Frieden zu verhandeln, wenn wir, also das gesamte Heer, unsere Waffen übergeben und ihm unsere Führer als Geiseln ausliefern. Außerdem hatte er bereits vor unserer Ankunft seinen Untertanen durch reitende Boten verkünden lassen, dass wir nur aus Angst vor ihm angekrochen kämen und um Frieden betteln würden.“

Niemand sagte etwas. Doch Metolatos sprach nicht weiter. Die Krieger blickten sich fassungslos an. Das konnte doch nur ein Scherz sein! Gleich würde Metolatos sagen, dass er ihnen in dieser trüben Jahreszeit nur etwas aufheitern wollte. Einer rief: „Komm, sag uns schon den Preis, den ihr ausgehandelt habt!“ Doch Metolatos sah nur Hilfe suchend zu Bolgios und zuckte mit den Schultern.

Bolgios wandte sich wieder an seine Krieger. „Es gibt aber auch eine gute Nachricht. Wie mir Metolatos berichtet hat, ist Ptolemaios Keraunos mit einem Heer auf dem Weg, um sich uns entgegen zu stellen. Er wird voraussichtlich in zwei Tagen hier eintreffen.“ Und als aus der Menge noch immer keine Reaktion kam: „Freut euch, Männer! Wir werden wieder kämpfen! Wir werden ihn fühlen lassen, wie viel Angst wir vor ihm haben!“

 

Sie waren da.

Vorhin war einer der Späher durch das Lager geritten und hatte geschrien: „Die Macedonen! Ein Stück flussabwärts kommt ihre Vorhut!“

Aleso hatte sein Schwert und seinen Schild ergriffen und war mit den anderen Kriegern seines Feuers zu dem Platz geeilt, wo Bolgios die Kampfaufstellung geplant hatte. Und jetzt wartete Aleso wie die anderen darauf, dass das Hauptheer der Macedonen mit seiner Vorhut aufschloss.

Die Zeit verging, und um das Warten in der Kälte etwas erträglicher zu machen, begannen die Krieger, sich über ihren Gegner auszulassen.

Und im Vergleich zu den kleinen Geplänkeln, die sie bislang erlebt hatten, mit kleinen, schlecht ausgerüsteten Macedonenheeren, gab es heute eine Menge, worüber sie diskutieren konnten.

Diese Vorhut der Macedonen bestand ausschließlich aus Hopliten, schwer bewaffneten, gepanzerten Fußkämpfern. Das wunderte die Galli, denn Hopliten bildeten normalerweise die Linientruppen des Hauptheeres. Sie waren gefährlich, immerhin hatten sie das Rückgrat des Heeres gebildet, mit dem dieser Alexandros Megas vor über fünfzig Jahren sein Weltreich erobert hatte, durch dessen Reste sie jetzt zogen. Sie waren im Wesentlichen viel besser ausgerüstet als die Galli - wenn man Rüstungen mochte. Metallhelme waren bei den Macedonen keine Ausnahme wie bei ihnen, sondern jeder dieser Hopliten schien einen zu besitzen, genauso wie einen mehrteiligen eisernen Panzer, der Brust, Rücken und Schultern bedeckte, und bronzene Beinschienen. Der Unterleib war durch einen Schurz aus eisenbeschlagenen Lederstreifen geschützt. Ihre Schilde waren genauso groß wie die der Galli, hatten aber eine interessante Eigenheit, die Aleso früher schon aufgefallen war. An der rechten oberen Seite hatte der Schild eine kleine Aussparung, durch die der Kämpfer beim Angriff den Speer stecken konnte, ohne dabei auch nur einen winzigen Teil seiner Deckung preisgeben zu müssen.

Was die gallischen Krieger jedoch am meisten belustigte - abgesehen von den weibischen roten und blauen Federkämmen auf den geschwungenen Helmen: Die Macedonen besaßen wundervoll verzierte Schilde. Hätten sie selbst solche Schilde gehabt, sie hätten sie vermutlich nicht einmal zum Schlafen abgelegt. Doch diese Macedonen hielten ihre prächtigen Schilde ständig in leinene Überzüge verpackt und entfernten diese erst unmittelbar vor einer Schlacht. Ein Angehöriger des Kriegervolkes würde dagegen peinlich darauf achten, dass noch nicht einmal ein abgestorbenes Blatt den Ausblick auf die Ornamente versperren würde!

Die Speere der Hopliten waren erheblich länger als die der Galli und so schwer, dass sie nicht geworfen, sondern nur als Lanze benutzt wurden. Es kreisten Gerüchte, dass es bei den Macedonen sogar Lanzen geben sollte, die sieben Schritt lang waren. Dafür machten deren Schwerter – aus gallischer Sicht - eher den Eindruck von etwas länger geratenen Dolchen, kaum länger als eine Unterarmspanne. Aber wahrscheinlich hätten längere Schwerter auch eigenartig gewirkt, denn die Macedonen waren allesamt mindestens einen Kopf kleiner als die Galli.

Doch das unglaublichste überhaupt war wohl, dass diese Hopliten ihre Waffen nur in der Schlacht selbst trugen. Sicher, auch bei den Galli gab es Waffenträger für hochgestellte Krieger, doch waren das in der Regel die Söhne von niederen Kriegern, Bauern und Handwerkern, für die es als Ehre galt, einem bekannten Kämpfer ihres Stammes zu dienen. Die Waffenträger der Hopliten waren jedoch Sklaven, meist Kriegsgefangene. Kein Krieger der Galli würde es einem Gefangenen erlauben, seine Waffen auch nur zu berühren!

Die Zeit verstrich. Ihnen wurde langweilig. Auf der Seite der Macedonen geschah nichts, außer dass die Vorhut - zur allgemeinen Belustigung der Galli - peinlich genau um eine möglichst gleichmäßige Aufstellung bemüht war, mit jeweils einem großen Schritt Abstand zwischen den Kriegern.

Alesos Blick fiel auf einen kleinen grauen Felsen hinter den Macedonen, den er vorher nicht beachtet hatte. Oder war er vorher vielleicht noch gar nicht da gewesen? Unsinn! Seit wann konnten Steine laufen?! Aber andererseits, warum war der Felsen dann nicht schneebedeckt wie all die anderen hier? Aleso schüttelte den Kopf. Doch der nackte Felsen stand immer noch da.

Er musste sich vergewissern, dass sein Geist noch nicht gelitten hatte, und stieß seinen Nebenmann an.

„Was ist denn?“

Aleso zögerte einen Augenblick. Dann fragte er: „Siehst du auch den grauen Felsen da drüben?“

Der Angesprochene kniff die Augen zusammen. „Ja, und? Was ist damit?“

„Hat der vorhin auch schon da gestanden?“

Der Krieger warf ihm einen so mitleidigen Blick zu, dass er seine Frage sofort bereute. „Junge, wir haben eine harte Zeit hinter uns, aber ich hätte eigentlich gedacht, dass so ein kräftiger Kerl wie du ein bisschen mehr aushält.“ Aleso spürte, wie seine Ohren brannten.

Plötzlich kam Bewegung in die Reihen der macedonischen Vorhut. Es war nicht genau zu erkennen, was dort drüben vorging. Dann, völlig unerwartet, teilte sich die vorderste Linie. Durch die Reihen der Galli lief ein Ausruf des Erstaunens. Aleso stockte der Atem. Das war doch nicht möglich! Liefen die Macedonen rückwärts? Um den Felsen herum? Nein, soweit er erkennen konnte, traten die Hopliten nur zur Seite.

Aber das würde ja bedeuten ...

„Der Felsen! Er kommt auf uns zu!“ schrie Aleso heraus, ehe er es verhindern konnte.

Niemand sah ihn an, als wäre er gestört. Denn so unglaublich es auch klang, es stimmte. Leicht schwankend bewegte sich der graue Schatten über die verschneite Ebene. Langsam kam er näher. Und dann ...

„Bei allen Göttern, es sitzt jemand darauf!“

„Das muss der elephanton sein!“

Alle schrien durcheinander. Aleso schrie mit. Dann blieb ihm bei offenem Mund der Schrei im Hals stecken.

Wenn das der elephanton war, dann war der, der da in dem turmähnlichen Gebilde auf dem Rücken des Wesens saß, der macedonische König Ptolemaios Keraunos! Und wenn das Keraunos war, dann ... Dann war das keine Vorhut! Dann war das das macedonische Heer, von dem Metolatos gesprochen hatte!

„Bollgijos!“ Die kehlige Stimme klang über den Platz.

Der gallische Anführer lenkte sein Pferd nur wenige Schritte vor ihre Linien, dann drehte er sich um und winkte einen Priester heran. „Übersetze! Laut, so dass es alle hören können!“

Der macedonische König begann zu sprechen. Seine Sprache klang rau in Alesos Ohren. Er musste nicht verstehen, was Keraunos sagte. Der Tonfall allein verriet, dass er nicht gekommen war, um den Galli einen guten Weg durch sein Land zu wünschen.

„König Ptolemaios Keraunos fragt, ob es vielleicht möglich sei, dass wir seine Botschaft nicht erhalten oder nicht verstanden hätten. Anders könne er es sich nicht erklären, dass sich das Volk der Galli noch immer auf seinem Territorium aufhalte.“

Bolgios erstickte die aufkommende Unruhe in ihren Reihen mit einer Handbewegung.

„Sag dem König der Macedonen, dass wir seine Botschaft sehr wohl erhalten haben, nur dass wir sie leider wirklich nicht verstehen. Umso weniger, als dass wir uns nicht vorstellen können, wie er uns mit dieser Handvoll Männer, die er ‚sein Heer‘ nennt, gedenkt, uns von unseren Plänen abzubringen.“

Der Priester übersetzte. Viele Angehörige des heiligen Standes, besonders die der Stämme aus dem Süden der alten Heimat der Galli, beherrschten die Sprache der griechischen Händler, die sich zwar etwas von der der Macedonen unterschied, jedoch von diesen verstanden wurde.

Er hatte noch nicht einmal geendet, da begann Keraunos, in abgehackten Sätzen etwas herüber zu bellen. Der Krieger, der als Lenker vor dem Turm auf dem Hals des elephanton saß, hatte einige Mühe, den Koloss ruhig zu halten.

„Er sagt, dass er uns noch eine letzte Möglichkeit gibt, unsere Entscheidung zu überdenken. Er wird die anderen ziehen lassen, dahin, woher sie gekommen sind, wenn sich Bolgios und seine Feldherren freiwillig als Geiseln zur Verfügung stellen.“

Aleso konnte es nicht glauben. War der Geist des fremden Königs derart verwirrt, dass er die Wirklichkeit nicht mehr wahrnehmen konnte? Selbst ein Kind hätte die Aussichtslosigkeit erkannt, in der sich das Macedonenheer befand!

Oder hatte Keraunos geheime Mächte auf seiner Seite, so dass der bloße Vergleich der Kriegerzahlen nicht mehr zählte?

Auch Bolgios wusste offenbar nicht sofort, ob der Priester nicht vielleicht falsch übersetzt hatte. Glaubte Ptolemaios Keraunos ernsthaft, er könne mit dieser Truppe von zwei-, höchstens dreitausend Mann dem Führer eines mehr als siebzigtausend Krieger zählenden Heeres gegenübertreten und Forderungen stellen?

„König der Macedonen, noch einmal ganz langsam, extra für dich. Du verkennst die Situation. Du drohst uns? Womit? Mit deiner ‚Armee‘? Mit dem Monster, auf dem du reitest? Merkst du nicht, wie lächerlich deine Worte klingen? Nimm deine Männer und verlasse diese Ebene, solange du noch kannst.“ Und sein grinsendes Gesicht den Galli zugewandt, fügte er hinzu: „Ich erlasse dir auch den Preis für unseren schnellen Weitermarsch. Dein Land scheint so arm zu sein, dass es nicht einmal genügend Krieger ernähren kann.“

Nachdem der Priester diese letzten Worte übersetzt hatte, schwieg Keraunos noch einen Augenblick. Dann schrie er einen Befehl, und der Krieger vor ihm schlug mit einem langen Stab nach dem elephanton. Das Wesen legte den Kopf zurück und hob seine überlange Nase. Sie war von gut einer Manneslänge und so dick wie ein junger Baum. Der misstönende Laut einer Kriegstrompete dröhnte zu ihnen herüber. Die grellroten Ohren des elephanton schlugen wie zwei große Lappen um seinen Kopf. Dann wandte er sich um und setzte sich langsam in Bewegung, zurück zu den Linien der Hopliten.

Bolgios drehte sich um. „Sie werden gleich angreifen. Macht euch bereit.“

Die Macedonen ließen nicht lange auf sich warten. Kaum dass ihr König bei ihnen angelangt war, nahmen sie ihre großen Schilde auf und begannen, Schritt für Schritt gegen die Galli vorzurücken. Aleso begann unbewusst, eine kreisende Bewegung mit der rechten Schulter zu vollführen. Der Arm, mit dem er das Schwert führte, musste locker sein.

Als die Hopliten etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, wurden die Galli Zeugen eines seltsamen Schauspiels. Die macedonischen Krieger hielten für einen Moment an, um dann mit schnellen kurzen Schritten in eine schiefe Schlachtordnung aufzulaufen. Bei manchen sah es dabei so aus, als würden sie wie ungezogene Kinder auf der Stelle trampeln. Die gallischen Krieger sahen sich an, dann konnten sie nicht mehr. Sie brüllten vor Lachen, und in dieses Lachen hinein ertönte Bolgios‘ Ruf: „Vorwärts!“

Endlich wieder kämpfen! Jubelnd stürmten sie los. Aleso fiel jedoch auf, dass die Krieger versuchten, die Mitte zu meiden. Natürlich! Der elephanton! Bei aller Kampfesfreude und allem Mut; niemand wollte auf den elephanton treffen. Bei der Vorstellung, unter die gewaltigen Beine des Kolosses zu geraten, wurden auch seine Schritte unbewusst langsamer. Doch gleichzeitig schoss ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf. Wenn alle versuchten, Keraunos auf seinem Riesenwesen auszuweichen, dann war ihre Mitte zu schwach. Momentan hatten die Macedonen keine Chance, da die gallische Angriffslinie viel, viel breiter war als ihre. Sollten es die Macedonen jedoch schaffen, in der Mitte durchzustoßen, dann wäre das gallische Heer geteilt und die macedonische schiefe Schlachtordnung könnte sich wie eine Zange um einen der beiden Heeresteile schließen. Diesen konnten sie dann in aller Ruhe aufreiben, während ein paar wenige hundert Krieger ausreichen würden, den anderen Heeresteil auf Distanz zu halten.

Aleso sah die Bilder von ihrem Untergang vor seinen Augen und erschrak vor sich selbst. Woher kamen diese Gedanken? Er war doch kein Feldherr! Warum sah er das Offensichtliche, während Bolgios es offenbar nicht tat?

Und warum begann sein Körper plötzlich, ein Eigenleben zu entwickeln? Warum hatte er das Gefühl, nicht er selbst zu sein, sondern vielmehr neben sich her zu laufen und sich selbst zu beobachten.

„Die Mitte! Passt auf die Mitte auf!“ Aleso schrie, ohne es selbst wahrzunehmen. Und ohne dass er wusste, was ihn trieb, drängte er nach links, dem Strom der auseinander strebenden Männer entgegen.

Die macedonischen Krieger waren jetzt keine fünfzig Schritt mehr entfernt. Aleso sah die Ornamente auf ihren riesigen Schilden, sah die hohen Kämme ihrer Helme. Doch die Gesichter waren verborgen hinter metallenen Masken, die nur die Augen und den unteren Teil der Bärte freiließen.

Dreißig Schritte. Die Macedonen hoben ihre Schilde noch etwas höher und positionierten ihre Speere in der dafür vorgesehenen Aussparung. Ihre Front machte jetzt den Eindruck einer schräg nach hinten versetzten bewehrten Festungsmauer.

Aber diese Mauer bewegte sich.

Die Macedonen waren heran. Zwischen den Galli. Über ihnen. Von den Seiten ertönten Schreie, vertraute Schreie von vertrauten Männern, Schreie nach den Göttern ihrer Völker. Aleso sah, wie schräg vor ihm zwei Männer von den gesichtslosen Hopliten aufgespießt und vor ihnen hergeschoben wurden. Bei einem ragte die Speerspitze aus einem blutigen Loch in seinem Rücken wieder heraus.

Aleso wich dem Speer eines macedonischen Kriegers aus und prallte gegen dessen Schild. Es war, als wäre er gegen eine Felswand gelaufen. Aleso taumelte zurück und rannte erneut gegen den Hopliten an, der seinen Marsch nicht einen Augenblick verlangsamt oder gar unterbrochen hatte. Diesmal legte er sein ganzes Körpergewicht in den Schwung, durch seine Schulter zuckte ein stechender Schmerz, doch der Krieger fing Aleso wieder ab und warf ihn zurück. Diesmal verlor er das Gleichgewicht und stürzte.

‚Hoch!‘ hämmerte es in seinem Kopf. ‚Hoch, ehe er mich mit seiner Lanze auf dem Boden festnagelt!‘ Schnell wälzte sich Aleso auf den Rücken und sah über seine ausgestreckten Beine hinweg den herannahenden Mann.

Und sah die bronzebewehrten Schienbeine des Macedonen unter dem erhobenen Schild.

Da war sie, die Idee, die ihn retten würde.

Wenn er schnell genug war.

Aleso sprang wieder auf die Füße. Hinter ihm war eine Lücke entstanden, in die er mit zwei Sätzen zurückwich. Der Hoplit folgte ihm. Gut, das sollte er auch. Aleso warf sein Schwert und seinen Schild weg und machte einen schnellen Schritt auf seinen Gegner zu. Dann ließ er sich mit angezogenen Beinen auf den Boden fallen. In dem Augenblick, in dem Aleso aufschlug, streckte er die Beine aus und trat mit aller Kraft gegen die Beinschienen des Hopliten.

Dieser hatte ihn wohl hinter seiner eisernen Maske für einen kurzen Moment aus den Augen verloren, und so lief er völlig unvorbereitet gegen das Hindernis vor seinen Füßen.

Er wankte. Aleso sah, wie er mit den Armen rudern wollte, um einen Sturz zu verhindern, sich aber mit dem Speer in seinem Schild verfing. Blitzschnell warf sich Aleso zur Seite und zog den Dolch. Krachend schlug der Mann neben ihm auf. Durch seine schwere Panzerung und den Bügel seines Schildes, der seinen Arm festhielt, war er praktisch bewegungsunfähig. Er drehte Aleso seinen Kopf zu. Der zögerte einen Augenblick, als er die Angst in den Augen des Hopliten sah. Dann stieß er zu, in die Seite, in den Spalt zwischen Brust- und Rückenpanzer. Der Besiegte bäumte sich auf, unter der Maske wurde ein erstickter Schrei hörbar. Dann sank der Körper wieder zurück in den Schild, der den Sterbenden aufnahm wie eine Schale.

Auch an anderen Stellen war der Angriff der Hopliten zum Stehen gekommen. Ihre einheitliche Linie war zerrissen. Doch die Krieger der Galli hatten Schwierigkeiten, ihre Gegner hinter deren mannshohen Schilden mit dem Schwert zu treffe. Außerdem behinderten sich die dicht gedrängten Männer gegenseitig.

Als Aleso wieder auf den Beinen war sah er überrascht, dass er hinter den feindlichen Linien stand. Während er mit dem Hopliten am Boden gekämpft hatte, war der Angriff der Macedonen einfach über sie hinweg gerollt. Er blickte sich suchend um. Sein Schild war verschwunden, sein Schwert lag in einiger Entfernung im festgestampften und rotgefleckten Schnee. Aleso bückte sich, um es wieder aufzunehmen, da ertönte ganz in seiner Nähe die Trompete des elephanton.

Aleso blickte auf und sah Ptolemaios Keraunos, der, wütend unverständliche Worte ausstoßend, hinter seinen Truppen auf und ab ritt. Wenn er merkte, dass einer seiner Hopliten zurückwich, beugte er sich herab und schlug mit einem langen Stock, an dessen Ende ein Eisenhaken saß, auf seine Krieger ein.

Etwas Seltsames ging in Aleso vor. Die Hopliten waren seine Feinde, er hatte gerade einen von ihnen getötet, doch sie waren auch Krieger wie er selbst. Bei den Kriegervölkern hatte kein Stammesherrscher das Recht, die Männer, die für ihn kämpften, zu misshandeln oder gar im Angesicht des Feindes zu demütigen. Ohne weiter darüber nachzudenken begann Aleso, sich langsam auf den macedonischen König zuzubewegen.

Die Wut zog ihn wie ein unsichtbares Seil.

Keraunos bemerkte ihn nicht. Als Aleso näher kam sah er, dass der elephanton eine aus Handflächen großen Eisenstücken bestehende Rüstung trug, die nur die massiven Füße freiließ. Wie auch die Hopliten hatte er eine Maske, die die Vorderseite seines großen Kopfes bedeckte. Seitlich unter der Maske ragten zwei kurze, gelblich weiße, angespitzte Stangen hervor, die sich Aleso nicht erklären konnte. Und seine Ohren waren auch nicht rot, wie er ursprünglich angenommen hatte, sondern lediglich mit roten Stoffbahnen umhüllt. Der Eisenpanzer wies an mehreren Stellen Löcher auf, aus denen eine dunkle Flüssigkeit strömte.

Blut.

Aleso schnappte nach Luft.

Der elephanton war verwundbar!

Er war ein ganz normales, wenn auch großes Tier, kein Wesen aus der Anderen Welt!

Doch seine Wunden lagen zu hoch, als dass sie ihm im Kampf durch Schwerter beigebracht worden sein konnten.

Keraunos schlug sein Reittier, genau so, wie er es gerade jetzt wieder mit seinen Kriegern tat. Die Wut bäumte sich in Alesos Brust auf, wie ein Pferd an einem Kampfwagen. ‚Keraunos, die Götter sollen dich verfluchen!‘ dachte er.

Er hatte den elephanton erreicht. Ein wandelnder Felsen, doch das Blut verriet seine Sterblichkeit. Und seine Trompetenschreie klangen nicht mehr kriegerisch. Sie klangen nach Angst.

Die Hopliten waren in Bedrängnis geraten. Noch waren nicht viele von ihnen gefallen, doch die vielfache Übermacht der Galli hatte sie ermüdet. Es war so, als würden sie sich durch ein wildes Gestrüpp schlagen, das nach jedem Schwertstreich wieder nachwuchs. Ihre Bewegungen waren langsamer geworden. Viele wurden jetzt Fußbreit um Fußbreit zurückgedrängt, und so sehr sie ihre schweren Rüstungen auch schützten, so sehr behinderten sie auch.

Aleso stand schräg hinter dem elephanton und legte den Kopf in den Nacken. Keraunos tobte vor Wut und schlug nun blind abwechselnd nach seinen zurückweichenden Kriegern und dem Tier. Panisch vor Angst und Schmerzen machte auch der elephanton einige Schritte rückwärts und schüttelte sich schwerfällig.

Der macedonische König dort oben in seinem Turm kämpfte um sein Gleichgewicht.

In diesem Augenblick sah er Aleso, wie er da stand und ihn anstarrte.

Ihre Blicke griffen ineinander.

Es gab keine Hopliten mehr, und auch kein Heer der Galli.

Nur noch sie beide.

Aleso und Ptolemaios Keraunos. Der ‚Wetterstrahl‘.

Der eine ein Verbannter seines Stammes, der andere der König eines riesigen Reiches.

Keraunos saß starr. Er hatte sogar aufgehört zu schreien. Jetzt sah Aleso, dass er seine Augenränder mit schwarzer und seine Lippen mit roter Farbe bemalt hatte. Trotz der Anspannung war Aleso für einen Moment lang irritiert.

Jetzt beugte er sich vor.

Aleso sah den erhobenen Eisenhaken und sein Denken setzte aus. Er beobachtete seine eigenen Arme, als würden sie nicht zu ihm gehören, sah, wie sie das lange Schwert hoben, weit ausholten und zuschlugen.

Der elephanton schrie seinen Schmerz heraus. Aus einer langen Wunde an seinem linken Vorderbein sprudelte das Blut. Die graue, faltige Haut klaffte. Sie war viel dünner, als Aleso vermutet hatte. Darunter lag weißliches Fleisch.

Das gepeinigte Tier warf den Kopf hin und her, und der Lenker stürzte herab. Doch die Angst vor dem Eisenhaken hielt den elephanton noch auf der Stelle. Keraunos hatte den Arm wieder heruntergenommen. Aleso musste vor dem Koloss zurückweichen, glitt dabei aus und stürzte. Das linke Hinterbein des Tieres kam ihm dabei bedrohlich nahe. Sich mit den Ellenbogen abstützend versuchte er, weg zu robben, Abstand zu gewinnen, doch die Bewegungen des elephanton wurden zunehmend wilder und unberechenbarer. Noch immer auf dem Rücken liegend packte Aleso sein Schwert mit beiden Händen und hieb ein zweites Mal zu.

Mit einem Schrei, der nichts mehr von dieser Welt hatte, preschte der elephanton los. Seinen Reiter hatte er vergessen. Von hinten brach er durch die Kampfeslinien, erbarmungslos alles niedertrampelnd, was ihm in den Weg geriet. Aleso sprang auf und lief hinterher. Die Schlacht war festgefahren, und die Lücke, die der elephanton in die Reihen der Kämpfenden riss, wurde nicht mehr geschlossen.

Die gallischen Krieger auf der anderen Seite der Front wichen entsetzt zurück, als der gepanzerte Riese mit aufgestellten Ohren auf sie losstürmte. Doch als die Vordersten von den hinter ihnen Stehenden in ihrem Zurückdrängen gestoppt wurden und sie eingekeilt mit Schreck geweiteten Augen auf die Beine des elephanton starrten, die den Säulen ähnelten, die sie auf unserem langen Weg an den heiligen Stätten der Macedonen gesehen hatten, begannen sie die Götter ihres Volkes anzurufen.

Ungläubige und warnende Rufe wurden laut, als sich Aleso von hinten an das Tier heranschlich, vorsichtig, Schritt für Schritt, und dabei immer darauf achtend, nicht in dessen Blickfeld zu geraten.

„Bei allen Göttern ...“

„Pass auf, Junge, er dreht sich!“

„Er zertrampelt dich!“

„Vorsicht!“

Mit einer Gewandtheit, die diesem Koloss niemand zugetraut hätte, vollführte der elephanton eine Drehung und stand nun mit seiner massigen Stirn Aleso zugewandt. Seine Nase griff wie ein Arm nach ihm. Aleso riss das Schwert hoch und zielte auf eine der klaffenden Wunden. Im letzten Moment jedoch drehte er die Waffe ein wenig und schlug nur mit der flachen Klinge zu.

Das riesige Tier bäumte sich auf vor Schmerz. Da ertönte von oben ein erstickter Schrei.

Keraunos!

Er fiel!

Der König der Macedonen fiel!

Aleso schaffte es gerade noch zur Seite zu springen, als der elephanton an ihm vorbei raste. Irgendwo hinter ihm schrie jemand im Todesschmerz.

Doch es war nicht wichtig.

Vor Aleso im zerstampften, schmutzigen, blutigen Schnee lag Ptolemaios Keraunos.

Diese verkrümmte Gestalt hatte nichts Königliches mehr an sich. Zwei gallische Krieger sprangen vor, ergriffen ihn und zerrten ihn hoch.

„Keraunos! Wir haben Keraunos!“

Er war viel kleiner, als Aleso gedacht hatte. Nur sein Tier war groß gewesen. Und er war jung, nicht älter als dreißig Winter. Wahrscheinlich zu jung, um König eines so großen Landes zu sein.

„Los, sag deinen Kriegern, sie sollen endlich mit dem Kämpfen aufhören!“

Keraunos hing mehr in den Armen der Männer, als dass er stand. Er war noch benommen von dem Sturz, wahrscheinlich hatte er auch einige gebrochene Knochen. Und natürlich verstand er kein Wort von dem, was die Krieger brüllten.

„Komm, rede! Ihr seid doch schon besiegt! Mach dem Ganzen ein Ende!“

Der macedonische König reagierte nicht. Aleso war sich nicht einmal sicher, ob er im Geist überhaupt noch auf dem Schlachtfeld anwesend war.

Was dachte ein geschlagener König?

Die Krieger um ihn herum wurden zunehmend gereizter. Sie schüttelten den willenlosen Körper und warfen ihn schließlich in den Schnee.

„Der ist völlig nutzlos. Bindet ihn zusammen und nehmt ihn mit ins Lager“, sagte einer.

„Wartet!“ rief ein anderer und trat neben den Gefangenen. Ehe irgendjemand auch nur eine Hand rühren konnte, hob er das Schwert und schlug Keraunos den Kopf ab. Die Hände des schon Toten krallten sich in den Boden, der sehr schnell sehr rot wurde.

Aleso konnte nicht fassen, was er gerade gesehen hatte. Enthauptet! Der König der Macedonen! Ohne Ritual, einfach so, wie man einem gewöhnlichen Krieger den Kopf abschlägt. Doch was der Krieger da trieb machte nicht den Eindruck, als hätte er vor, den Kopf des Keraunos als besonders wertvolle Trophäe mitzunehmen.

„Eine Lanze!“ forderte der Mann, den tropfenden Schädel in der Hand. Stumm reichte ihm einer der umstehenden Krieger die Waffe. Er packte die Lanze unter dem Ansatz der eisernen Spitze und spießte den Kopf darauf. Und noch immer schwiegen die anderen.

Dann richtete er die Lanze auf.

„So, König Keraunos, nun rede zu deinen Männern!“

Das brach die Spannung. „Schlagt die Macedonen!“ begannen die ersten zu schreien. „Die Götter sind auf unserer Seite!“

Einer brüllte: „Selbst der König der Macedonen kämpft mit uns!“ Grölendes Gelächter antwortete ihm.

Der Tod des ‚Wetterstrahls‘ hatte eine neue, unbekannte Kraft in ihnen geweckt. Sie hatten seinen Kopf, also hatten sie seine Macht.

Diese neue Kraft in den Galli schienen auch die Hopliten zu spüren. Als sie sahen, wie der Kopf ihres Königs, aufgespießt auf eine Lanze, über ihren Häuptern tanzte, brach ihr Widerstand zusammen. Annähernd kampflos ließen sie sich die Waffen abnehmen. Viele blieben einfach dort stehen, wo sie gerade waren.

Auch Aleso wusste im ersten Augenblick nicht, was er tun sollte, als der Kampf so ganz urplötzlich beendet war. Mit seinem verbogenen, blutigen Schwert in den Händen stand Aleso auf gebeugten Beinen da, sich nach allen Seiten hin absichernd. Doch nichts geschah.

Die so unvermittelt eingetretene Ruhe währte nur einen kurzen Moment, gerade so lange, wie man brauchte, sich einmal umzusehen. Dann schlug der Jubel über ihren Köpfen zusammen, wie das Wasser nach einem befreienden Sprung in einen See. Und über allem ertönte Bolgios‘ Ruf, ein Ruf, den die Krieger in seiner Nähe aufnahmen und weitergaben: „Das Land der Macedonen gehört uns!“

Tat es das? Hieß der Sieg über das Heer des Keraunos wirklich, dass sie Macedonia bezwungen hatten? Würde ihr Zug der vielen Völker jetzt auseinander brechen? Würden sich die Stämme jetzt in Macedonia feste Siedlungsgebiete suchen?

Hatten sie endlich eine neue Heimat gefunden?

Hatte Aleso eine neue Heimat gefunden? Ohne Brennus? Ohne sein Volk, von dem nur die Götter wussten, wo es gerade war?

Konnte er ohne Grisala überhaupt ein neues Zuhause finden?

Wollte er ohne Grisala ein neues Zuhause finden?

 

Meine Hand, die den Speer hielt, zitterte. Doch das durfte nicht sein! Zu oft schon in den vergangenen Tagen hatte die Erwartung alles zunichte gemacht.

Ich zwang mich, im Jetzt zu bleiben, nicht von dem zu träumen, was kommen würde, was vielleicht kommen würde.

Doch heute schienen mir die Götter gewogen. Mein Ziel bewegte sich, kam auf mich zu.

Das Zittern hörte auf. Mein Blick wurde klar. Ich atmete tief ein und hielt die Luft an.

Dann warf ich den Speer. Ein ersterbendes Quieken sagte mir, dass er sein Ziel gefunden hatte. Das erste Mal seit drei Tagen.

Aber heute würde ich essen.

Als ich wenig später meine Zähne in das würzig duftende gebratene Hasenfleisch schlug, rauschte das Blut in meinem Kopf. Gleichzeitig fühlte ich so etwas wie Stolz auf mich selbst. Trotz des Hungers hatte ich meine Beute ausgeweidet und gebraten, statt sie roh herunter zu schlingen.

Mit dem Gefühl der Sättigung kam die Ernüchterung. War ich irre? War ich etwa stolz darauf, kein rohes Fleisch zu fressen wie ein primitiver Gair* aus dem Norden [*Altkeltisches, abwertendes Wort für ‚Nachbar’, der mögliche Ursprung des Wortes ‚Germane’]? Nein, es gab nichts, worauf ich stolz sein konnte! Wie ein Dieb hatte ich mich davon geschlichen! Aberw as hieß ‚wie’? Ich war ein Dieb! Hatte ich dem Schmied, der mich aufgenommen und durchgefüttert hatte, etwa nicht die Sandalen gestohlen, die meine nackten Füße auf meinem endlosen Marsch schützten? Den warmen Mantel? Und den Speer mit dem Eisenblatt, den er noch mit meiner Hilfe für einen Krieger gefertigt hatte, der sich kein Schwert leisten konnte?

Oh ihr Götter, wie tief konnte ich noch sinken!

War es das wirklich wert?

Nun, jetzt war es eh’ zu spät. Seit mehr als zehn Tagen war ich allein auf dem Weg zurück zu dem Ort, an dem sich der riesige Stammesverband vor fast einem Mond getrennt hatte, nur um von dort aus dem Heer des Brennus zu folgen. Meine einzige Hoffnung: Ich hatte eine grobe Marschrichtung und das Wissen, dass sich ein derart großer Heeresverband nicht durch das Land bewegen konnte, ohne Spuren zu hinterlassen.

Was, wenn ich Brennus nicht fand?

Oder noch schlimmer: Was, wenn ich das Heer des Brennus fand, dieser Junge Aleso aber inzwischen im Kampf gefallen war?

Nein, das war undenkbar. Das konnten die Götter nicht gewollt haben.

Und dennoch: Es gab nur einen Weg, genau das herauszufinden ...

 

Der Rat der Feldherren hatte entschieden: Es würde keine Gefangenen geben.

Niemanden überraschte das Urteil, nicht einmal die Hopliten, die die Schlacht überlebt hatten. Kein Heer auf dem Zug belastete sich mit unnützen Essern und nicht kampffähigen Männern. Den Macedonen wurde alles außer ihren Leinenhemden abgenommen, die Rüstungen und die Waffen wurden zu großen Haufen aufgeschichtet. Ein Priester kam und wählte etwa zwanzig der Gefangenen für rituelle Opferungen aus. Den Rest führten die Wachen zu einer abgelegenen Schlucht, wo sie in Gruppen von fünfzig entlang einer Felswand aufgestellt und durch Speerwerfer getötet wurden.

Am Abend des folgenden Tages trat der Kriegsrat der Galli erneut zusammen um zu beraten, wie es weitergehen sollte. Einige vertraten die Meinung, man sollte, entsprechend der Absprache mit Brennus, auf schnellstem Wege nach Westen weiterziehen, nach Illyria. Die meisten waren jedoch dafür, den Sieg in Macedonia auszukosten. Das Land lag vor ihnen, königslos, wehrlos, bereit, ihnen alles zu geben, was sie verlangen würden. Und es gab niemanden, der sie daran hindern würde, sich zu nehmen, was immer sie wollten.

Nur einer gab zu bedenken, dass die Macedonen einen weiteren Angriff planen könnten. Und jetzt, da die Galli einmal mehr ihre Stärke unter Beweis gestellt hatten, würden sie nicht noch einmal den Fehler machen, mit einer so offenkundig unterlegenen Streitmacht anzugreifen. Das nächste macedonische Heer würde größer sein. Doch Bolgios zerstreute jeden Zweifel an ihrer Überlegenheit. Sie hatten soeben das Heer des Königs geschlagen, und wer wäre wohl in der Lage, ein größeres Heer zusammenzuziehen als der König selbst?

Und so wurde beschlossen, das Tal des Axios zu verlassen und quer durch Macedonia zu ziehen. Zwar würde man sich ungefähr nach Westen richten, aber keineswegs würde man die Früchte des Sieges einfach so liegen lassen, nur um so schnell wie möglich nach Illyria zu gelangen, ein Land, von dem keiner wussten, was sie dort erwartete. Nein, wichtig waren im Augenblick nur Macedonia und die Kriegsbeute.

Am nächsten Tag überbrachten die Kuriere im Lager das Signal zum Aufbruch.

Und Aleso fühlte tatsächlich so etwas wie Erleichterung, dass ihm die Entscheidung, wie es für ihn weitergehen würde, abgenommen wurde.

Vorerst zumindest ...

 

Mehr als drei Monde zogen sie ungehindert durch Macedonia. Der Frühling veränderte die Landschaft. Ganz vorsichtig kündigte er sich an. Kaum merklich wurde es wärmer. Eines Tages trat Alesos Fuß nicht mehr auf Schnee, sondern auf trockenen Felsen, und ihm fiel auf, dass er seinen Atem nicht mehr sehen konnte. Bald schon legten sie ihre bunten Hemden ab und trugen ihre karierten Umhänge um die nackten Schultern geschlungen.

Dann kam der Abend, der Alesos Leben verändern sollte. Die Krieger lagerten wieder abseits der Familien, als dieser Bote an ihrem Feuer erschien und ihn zu Bolgios holte.

Wieder saß Aleso an einem Feuer einem Anführer der Kriegervölker gegenüber. Diesmal gaben ihm die Götter kein Zeichen wie damals bei Brennus, sondern Bolgios redete ihn direkt und mit einfachen Worten an.

„Es ist mir zu Ohren gekommen, dass du es warst, der den elephanton des Macedonenkönigs allein angegriffen hat, so dass dieser den Keraunos abgeworfen hat. Man könnte fast sagen, dass du die Schlacht allein gewonnen hast“, fügte er mit einem Lächeln hinzu.

Aleso konnte nichts sagen. Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Gerade einmal zwei Winter war er ein Krieger, und jetzt saß er hier und ein großer Heeresführer rühmte seine Taten!

„Ich möchte, dass du dich den Kriegern anschließt, die immer in meiner Nähe kämpfen“, fuhr Bolgios fort. „Das heißt nicht“, fügte er schnell hinzu, „dass du mir dein Schwert zuschwören musst. Du bleibst ein freier Krieger und kannst gehen, wann immer du willst, aber ich möchte nur die Besten um mich herum wissen. Und du weißt ja, wie sie dich inzwischen nennen, oder?“

Aleso schüttelte den Kopf.

Bolgios grinste: „Du bist ‚Aleso, der, der den elephanton besiegt hat’.“

Aleso starrte. Die Prophezeiung! Plötzlich glaubte er, die Stimme des Geschichtsbewahrers wieder zu hören: ‚Ich sehe zwei große Schlachten, die du schlagen wirst. Die erste wird dir einen Namen verdienen, den mehr Menschen kennen, als das Volk der Tectosagier Köpfe zählt.’

Und jetzt war er ‚der, der den elephanton besiegt hat’!

„Aleso?“

Er schreckte hoch. „Ja?“

„Wirst du einer meiner engsten Krieger werden?“

Mit trockenem Mund nickte Aleso. Natürlich wollte er! Welcher Krieger gesunden Geistes hätte solch ein Angebot abgelehnt?

Noch am selben Abend packte er unter den neidischen Blicken seiner Kampfgefährten seine Sachen und zog zum Lagerplatz der Krieger des Bolgios. Sein neuer Name zog mit ihm.

Bolgios schien Recht zu behalten. Niemand stellte sich den Galli in den Weg. Das Land sah nach der Niederlage des Keraunos zwei neue Könige kommen und auch wieder gehen. Der erste war der Bruder des ‚Wetterstrahls‘, ein Mann namens Meleagros, doch er regierte nur zwei Monde. Dann wurde er von einem Antipatros Etesias, genannt ‚der Nordwind‘, abgelöst. Nach Aussagen eines zwei weitere Monde später abgefangenen Kuriers hatte sich Antipatros jedoch nur fünfundvierzig Tage gehalten, dann sei er abgelöst worden. Der neue König wäre ein ehemaliger Feldherr des Lysimachos, dessen Namen niemand kannte oder kennen wollte. Sie wurden vorsichtiger und begannen, die Bevölkerung der kleinen Dörfer auszufragen. Die Menschen schwiegen jedoch, und es war einige Zeit nicht klar, ob sie nur verängstigt waren oder wirklich nichts wussten.

Dann, als die Galli schon nicht mehr mit ihnen gerechnet hatten, waren sie da.

Aber waren die, die ihnen hier gegenüberstanden, wirklich noch dieselben verängstigten und verwirrten Macedonen, die ihnen aus den Dörfern und Städten entgegen gezogen waren, um den ‚Friedenspreis‘ zu zahlen, noch bevor die Galli ihn gefordert hatten? Vereint in einem Heer, das ihres zahlenmäßig sogar noch übertraf? Mit noch besserer Bewaffnung, mit Reitern und Bogenschützen, und einer neuen Strategie, die die Galli nicht einmal herankommen ließ? Die ihre Schwerter zu einer sinnlosen Last in ihren Händen werden ließ? Geführt von einem Kriegsherrn, dessen Namen sie nicht einmal kannten?

Die Truppe um Bolgios wurde von einigen älteren, erfahrenen Kriegern geführt. Während einige andere neben ihnen im blinden Kampfesrausch auf die Lanzenspitzen rannten, blieben sie stehen und suchten nach Lücken, in die sie hineinstoßen konnten, um die Formation der Macedonen aufzubrechen.

Sie fanden keine.

Bei dem Versuch, trotzdem anzugreifen, wurde Aleso von einer Lanze in die Seite getroffen.

Nach einigen weiteren verlustreichen Angriffen erkannte Bolgios die Aussichtslosigkeit ihrer Lage und gab das Signal zum Rückzug. Einige Tausend von ihnen waren bereits tot, und bei jedem Anrennen starben Hunderte weitere. Ihre gefürchteten Schwerter kamen nicht zum Einsatz. Die Macedonen waren Meister darin geworden, die Galli auf Distanz zu halten.

Sie waren völlig hilflos.

Erst bei ihrem Rückzug zeigte sich der Nachteil der überlangen macedonischen Lanzen. Die schweren und unhandlichen Waffen hinderten die Macedonen daran, schnell nachzusetzen, als die Galli sich zurückzogen. Ihre Flucht gelang. Die Reiterei der Macedonen attackierte sie noch ein, zwei Mal von hinten, brach ihre Angriffe jedoch ab, als die Gefahr bestand, sich dafür zu weit von ihrem Hauptheer entfernen zu müssen.

Oh ja, sie hatten gelernt!

Aleso konnte nicht denken. Sein Körper war nur Schmerz. Es war das erste Mal, dass er im Kampf ernsthaft verwundet worden war. Er sah an sich herunter. Sein Hemd war auf der linken Seite zerrissen, und das Blut ließ es kalt an seinen Rippen kleben. Die Stelle, an der ihn die Lanze getroffen hatte, brannte wie ein Kriegsfeuer, und die Flammen breiteten sich über seinen ganzen Oberkörper aus.

Kurz nachdem Aleso getroffen worden war, hatten ihn zwei Krieger hochgezerrt. „Los, weg hier! Diese verfluchten Macedonen!“ Überall waren Todesschreie gewesen, und Schreie nach den Göttern, und fast alle kamen aus den Kehlen sterbender Galli.

Sie trugen ihn vom Schlachtfeld. Aleso wusste, dass sie sein Leben retteten, trotzdem fluchte er bei jedem Schritt. Die Erschütterungen jagten ihm Dolchstiche durch den Leib.

Bei einer kurzen Rast nahm sich einer der älteren Krieger seiner Wunde an. Nachdem Aleso einen notdürftigen Verband erhalten hatte, wollte er allein weiterlaufen, doch schon nach wenigen Schritten wurde ihm schwarz vor den Augen und er brach zusammen. Er brauchte dringend einen richtigen Heilkundigen. Zu Hause, im Land der Kriegervölker, wurden nach Stammeskämpfen alle Verwundeten mitgenommen. Alle Wunden waren heilbar, so sagten die Druiden, außer wenn der Kopf abgeschlagen oder der Rücken zerschmettert war. War ein Heer jedoch auf der Flucht, wurden Verwundete getötet und zurückgelassen. War der Verletzte ein angesehener Krieger, dann rettete man seinen Kopf.

Erst viel später sollte Aleso erfahren, warum man ihn weder zurückgelassen, noch enthauptet hatte. Er war „Der, der den elephanton besiegt hatte“. Die Götter mussten ihn mit besonderen Kräften ausgestattet haben. Seinen Körper zu töten und zurückzulassen konnte nur Unglück bedeuten. Und wer wusste schon, wann der nächste elephanton daher kam? Also legten sie ihn trotz seines Protestes auf einen ihrer großen Schilde und trugen ihn, wobei sich vier Krieger jeweils abwechselten. Aleso spürte die Hochachtung, die ihm seine Kampfgefährten entgegenbrachten, obwohl er einer der Jüngsten war. Doch die immer stärker werdenden Schmerzen raubten ihm die Freude und wenig später auch das Bewusstsein ...

 

Der Fußtritt riss mich aus dem Schlaf und schleuderte mich mehr als einen Schritt von meinem Feuer weg. Gehetzt tastete ich nach meinem Speer, doch gerade als ich ihn entdeckte, nagelte ihn ein riesiger Fuß auf der Erde fest. Im selben Augenblick spürte ich eine Eisenspitze am Hals.

„Wer bist du?“

Ich öffnete den Mund, um zu antworten, da tönte eine andere Stimme: „Frag lieber, was er ist. Der hat keine Läuse, die Läuse haben ihn. Und wie der stinkt ...!

Ich konnte nicht anders, ich musste lachen. Es war ein Lachen der Erleichterung. Ich verstand, was die beiden Gesellen zu mir sagten! Ich war nicht in die Hände von irgendwelchen Einheimischen gefallen. Ich hatte gefunden, wonach ich in den letzten drei Monaten gesucht hatte. Oder, um es genau zu nehmen, es hatte mich gefunden.

„Ist wahrscheinlich nur ein armseliger Schwachsinniger, dessen Gestank sie in seinem Dorf nicht mehr ertragen haben“, kam es aus der anderen Richtung. „Wer wäre wohl sonst so dämlich, allein mitten in Kriegsland an einem nicht verdeckten Feuer zu schlafen?“

Ja, wer wohl? Höchstens ein Dru Vid ...

Ich stemmte mich auf die Ellenbogen, griff mit der rechten Hand nach der Speerspitze an meinem Hals und schob sie zur Seite.

Eine schnelle Bewegung, und die Speerspitze zeigte jetzt auf meine Brust.

„Also, so dreist hat bei mir noch keiner um den Tod gebettelt.“

„Ich wollte auch nicht um den Tod betteln“, krächzte ich. „Warum bringt ihr mich nicht einfach zu eurem Anführer, statt euch an meinem Zustand zu ergötzen, der, mit Verlaub, daher rührt, dass ich euch seit mehr als drei Monden hinterher ziehe?“

Leider war es zu dunkel, so dass ich die Gesichter der Beiden nicht sehen konnte.

„Was bist du denn für einer?“ fragte der links von mir Stehende mit hörbarer Irritation in der Stimme.

„Also, ein Krieger ist er nicht, soviel steht schon mal fest“, ließ sich der andere vernehmen. „Dafür ist er zu schwächlich.“

„Bauer oder Handwerker ist er aber auch nicht, dafür redet er zu geschwollen“, kam es wieder von links.

„Bleibt nur noch Priester, aber dafür stinkt er zu sehr.“

Sehr witzig. „Äh ... Ihr wisst schon, dass ich jedes Wort verstehe ...“

Die Beiden traten näher. „Und?“

„Ach nichts, aber ich wüsste zumindest schon gern, wer euer Anführer ist.“

Die beiden Krieger sahen sich an. „Schwachsinniger“, sagten beide gleichzeitig.

„Also, ich muss doch bitten ...“

„Ja, also, und du musst schon entschuldigen, aber welcher Mann gesunden Geistes, zieht mehr als drei Monde lang allein einem Heer hinterher, ohne zu wissen, wer dessen Anführer ist?“

Ja, wenn man es so sah ...

„Kannst du irgendetwas, was einem Heer nützlich sein könnte?“

„Ich war der Gehilfe eines Schmiedes ...“

„Ja sicher, du halbes Hemd, und ich poliere Cernunnos täglich das Geweih.“

Zumindest schien er schon einmal von den Göttern der Kriegervölker gehört zu haben. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren.

„Ich bin eigentlich ein Heilkundiger.“ Das war glatt gelogen. Zwar hatte ich während meiner Ausbildung bei den Dru Vid einiges über Wunden und Kräuter gelernt, aber ich war weit davon entfernt, mich innerhalb der Bruderschaft „Heilkundiger“ nennen zu dürfen.

Die Bruderschaft.

So lange her ...

Und vor allem: So weit weg!

„Na, das ist doch ein Anfang. Aber bevor wir dich auf unsere Kranken und Verwundeten loslassen, brauchst du dringend eine Wäsche, neue Kleidung und jemanden, der dir Haare und Bart schneidet. Du siehst aus wie eine wandelnde Seuche.“

Lohnte es sich, sich darüber aufzuregen? Wohl eher nicht.

Ich seufzte. „Und wann sehe ich euren Anführer?“

„Sobald du nicht mehr stinkst wie ein Haufen Wildschweinscheiße ...“

 

Nach dem vierten Teil eines Tagesmarsches erreichten die geschlagenen Galli ihr Hauptlager. Noch am selben Abend begannen sie mit den Vorbereitungen für den Aufbruch. Ein Heilkundiger kam zu Aleso, der inzwischen fieberte und alles nur noch wie durch einen dicken Nebel wahrnahm. Der Heilkundige flößte ihm einen entsetzlich bitteren, mit starkem, unverdünntem Wein versetzten Trank ein, der die Schmerzen lindern sollte. Danach reinigte er die Wunde mit heißem Wasser, die dabei erneut stark zu bluten begann. Daraufhin wies er seinen Gehilfen an, ein Schaf zu schlachten und die Haut des Magens abzuziehen. Er drückte die Wundränder zusammen und legte die noch blutige Magenhaut darüber. Sie saugte sich sofort fest und hielt die Wunde geschlossen. Die Blutung hörte auf. Dann befahl der Heilkundige zwei Kriegern, Stofffetzen mit kaltem Wasser zu tränken und damit Alesos Beine, Handgelenke und Stirn zu bedecken. Es sah nicht gut aus, aber der Junge war stark. Er würde leben.

Als sich am nächsten Morgen das Sonnenrad des Belenus über die Felsenklippen schob, zogen sie los, zurück zum Tal des Axios und von dort aus weiter nach Norden, dorthin, woher sie gekommen waren.

Aleso bemerkte nichts von dem Aufbruch. Er hatte sich in der Nacht im Kampf mit dem Feuer in sich und den Schatten aus der Anderen Welt hin und her geworfen, hatte sich heiser geschrien, geschwitzt und geweint, und war gegen Morgen in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen.

Als er wieder erwachte, hatte er den bisher größten Sieg seines Lebens errungen.

 

„Jetzt bin ich aber gespannt, was ein Heilkundiger von mir will, wo ich mich doch vollkommen gesund fühle“, sagte Brennus und lehnte sich erwartungsvoll zurück.

Ich holte tief Luft. Jetzt gab es kein Zurück mehr. „Nun, eigentlich bin ich nicht wirklich ein Heilkundiger... Also, nicht nur“, fügte ich hastig hinzu, als ich sah, wie Brennus die Augenbrauen hob. „Ich bin eigentlich ein Dru Vid, und die Götter haben mich angewiesen, diesem Jungen zu folgen, Aleso, dem Tectosagier. Diesem wiederum haben die Götter gezeigt, dass er mit dir ziehen soll, um sein Schicksal zu finden. Ich als Dru Vid habe Zeichen gesehen, dass ich auf diesen Aleso aufpassen soll, weswegen ich ihn jetzt finden muss.“

Brennus musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. „Und was habe ich damit zu tun?“

Hatte er gehört, was ich eben gesagt hatte?

„Äh, ich dachte, du weißt vielleicht, wo ich ihn finde?“

„Ich befehlige über einhunderttausend Krieger, wie kommst du auf die Idee, dass ich wissen könnte, wo sich einer von ihnen aufhält?“

Jetzt war es an mir, die Augenbrauen zusammenzuziehen. Konnte es tatsächlich sein, dass Brennus die Begegnung mit Aleso vergessen hatte? Das, wo jeder im Zelt damals das Besondere an dieser Begegnung wahrgenommen hatte?

Ich suchte nach Worten, doch Brennus kam mir zuvor. „Du wirst entschuldigen, aber wir sind ein Heer auf dem Marsch, und ich habe wirklich viel zu tun. Was diesen Aleso angeht, so kann ich dir nicht einmal sagen, ob er sich überhaupt in meinem Heer befindet. Die Tectosagier sind meinem Wissen nach direkt nach Osten gezogen. Ja, ich denke, ich weiß von wem du redest, aber ich kann mich nicht erinnern, ihn in den vergangenen drei Monden gesehen zu haben.“ Damit stand er auf, das Zeichen für mich, dass das Gespräch beendet war.

Ich war schon am Zeltausgang, da ...

„He, du!“

Erwartungsvoll drehte ich mich um. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

„Was ist das eigentlich, ein Dru Vid ...?“

Ob es wohl unangemessen war, sich in Gegenwart eines Heerführers auf den Boden fallen zu lassen und zu schreien?

 

Die Trompeten schmetterten, doch ihr Klang hatte diesmal nichts Misstönendes, nichts Kriegerisches an sich. Es war der Klang von Triumph, Erleichterung und einfacher, ungetrübter Freude. Und die Unruhe an der Spitze des Treks war eine gute Unruhe. Sie waren nicht auf Feinde getroffen. Dort vorn stand nicht der Macedone, der sie vor einem Mond geschlagen hatte - Sosthenes mit Namen, wie sie inzwischen wussten - sondern das Heer des Brennus.

Seit die Galli die Schlachtebene verlassen hatten, waren sie von Sosthenes in Ruhe gelassen worden. Zwar waren ihnen von Zeit zu Zeit kleine Reitertrupps aufgefallen, doch schienen diese nur den Auftrag zu haben, ihre Flucht zu beobachten. Aber selbst, als ihnen klar wurde, dass sie nicht verfolgt wurden, achteten sie darauf, gerade nur so viel zu rasten, wie absolut notwendig war, um Kraft für das nächste Wegstück zu sammeln. Die Macedonen sollten nicht den Eindruck gewinnen, dass sie einen Gegenschlag vorbereiteten. Geschwächt wie sie waren, wollten die Galli ihnen keinen Anlass für einen erneuten Angriff geben. Als sie über längere Zeit keine macedonischen Späher mehr gesehen hatten, wussten sie, dass es vorbei war.

Sie hatten wieder das von den Kriegervölkern besiedelte Gebiet südlich des großen Flusses der Göttin Danu erreicht.

Sie errichteten ihr Lager in einem der Täler die an die Ebene angrenzten, in der das Heer des Brennus seit seiner Rückkehr aus Paionia vor etwa einem halben Mond siedelte. Diesmal war es nichts Provisorisches, sie hatten vor, länger zu bleiben. Sie wollten auf den Teil des großen Heeres warten, der damals unter dem Feldherrn Cerethrios nach Osten, nach Thracia gezogen war. Und insgeheim hofften sie, dass es lange dauern würde.

Sie brauchten Ruhe.

Diese Ruhe würden sie hier finden.

Brennus war hier.

Keiner aus dem Heer des Bolgios erfuhr zu diesem Zeitpunkt von dem geheimen Treffen zwischen ihm und Brennus nur zwei Tage nach ihrer Ankunft. Und niemand sollte je etwas vom Inhalt ihrer Gespräche erfahren.

Nur einen Tag später erschien ein Mann in dem Teil des Lagers, in dem die Verletzten untergebracht waren. Der fein gearbeitete Brustpanzer und der Helm mit den bronzenen Adlerschwingen wiesen ihn als Krieger mit hohem Status aus.

„Nimm dein Schwert und komm!“

Aleso saß gerade mit gekreuzten Beinen auf dem Boden und polierte mit einem alten Leinenlappen den Griff seiner Waffe, ganz langsam, denn noch immer schmerzte seine inzwischen verschorfte Wunde. Er hob den Blick. „Wohin?“

Der Mann war es offenbar nicht gewöhnt, dass auf seine Anordnungen hin noch irgendwelche Fragen gestellt wurden. Doch er beherrschte sich, wandte sich ab und lief langsam los. Über die Schulter hinweg sagte er: „Zu Brennus.“

Aleso hatte das Gefühl, als würde sein Herz stehenbleiben. Benommen stand er auf und humpelte dem Krieger hinterher.

 

„Setz dich!“ Brennus wies mit der Hand auf ein am Boden liegendes Fell.

Aleso wurde bewusst, dass es erst das zweite Mal war, dass er Gelegenheit hatte, den Anführer aller Galli richtig anzusehen. Brennus war groß, sogar im Vergleich zu ihm, der er viele seiner Kampfgefährten überragte. Jetzt trug er einen gehörnten Helm, graugrüne Hosen, ein grellrotes Hemd und einen rotgrün karierten Umhang, der vorn durch eine schwere, silberne Brosche zusammengehalten wurde. Ein riesiger, blonder Schnauzbart beherrschte sein Gesicht.

„Möchtest du Wein?“ Aleso schüttelte den Kopf. Brennus zuckte mit den Schultern und goss sich selbst einen Becher voll.

„Wie alt bist du?“

„Neunzehn Winter, diesen mitgezählt.“

„Dein Vater?“

„Tot.“

„Und deine Mutter?“

Aleso holte tief Luft. Er hatte eigentlich vergessen wollen.

„Sie ist die Gefangene eines anderen Stammes.“

„Ja“, sagte Brennus nachdenklich. „Ja.“ Für einen Augenblick schienen ihm seine Gedanken davonzulaufen.

Dann sah er Aleso wieder an. „Man hat mir von deinen Taten berichtet. Die Geschichte von deinem Kampf mit dem elephanton wird seit eurer Rückkehr an allen Feuern erzählt.“ Er lachte kurz auf. „Du hast ganz allein eine große Schlacht gewonnen.“ Dann wurde er wieder ernst. „Ich möchte, dass du in Zukunft an meiner Seite kämpfst, und wenn ich sage ‚an meiner Seite‘, dann meine ich das wörtlich. Nein warte“, sagte er, als er sah, wie Aleso den Mund öffnete, „ich weiß, was du jetzt denkst. Nein, ich will nicht, dass du als abhängiger Krieger zu meinen Leibwächtern gehören sollst. Siehst du“, fuhr er fort und lehnte sich zurück, „ich habe derzeit nur einen einzigen Mann, auf den ich mich voll und ganz verlassen kann. Er heißt Acichorius und wird meinen Platz einnehmen, wenn es den Göttern eines Tages gefallen sollte, das Kriegsglück gegen mich zu wenden. Er ist ein erfahrener Krieger und hat mehr als einmal bewiesen, dass er in der Lage ist, auch ein großes Heer zu führen.“ Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Becher, dann sprach er weiter. „Du bist noch sehr jung, Aleso, doch du hast bereits einen Ruf, der weit über dein Feuer hinaus bekannt ist. Ich habe vor, dich zum Führer einer kleinen Abteilung von Reitern zu machen, die meine verlängerte Faust gegen die Macedonen und später gegen die Griechen sein soll. Du hast nur einen Mann über dir, mich. Acichorius ist zwar der nächste in der Rangfolge nach mir, doch Befehle empfängst du nur von mir persönlich. Und denk daran: Du bist ein freier Krieger und triffst als Anführer auch eigene Entscheidungen. Was sagst du?“

Die Frage kam nach der langen Rede so plötzlich, dass Aleso kein Wort herausbrachte. Seine Gedanken rasten. War es das? War das die Erfüllung seiner Träume? Die Erfüllung dessen, was die Zeichen prophezeit hatten? Dessen, was ihm der Druide am Tag vor meiner Kriegerweihe vorhergesagt hatte? An der Seite des Brennus Griechenland erobern? Sein, Alesos, Schicksal verbunden mit dem des größten Feldherrn, den das Kriegervolk je hatte?

Brennus deutete Alesos Schweigen falsch. Hastig redete er weiter. „Die Sache hätte noch andere Vorteile. Du hast keine Frau, keine Familie. Du hältst deine Kleidung selbst in Ordnung und bereitest dein Essen selbst zu, oder lebst von dem, was die Frauen deiner Kampfgefährten kochen. Ich habe selbst auch keine Familie - ich habe nicht einmal eine Frau - doch es gibt einige Frauen, die sich um mein Wohlergehen und das meiner persönlichen Freunde kümmern. Sie werden von nun an auch für dich sorgen, vorausgesetzt, dass du mein Angebot annimmst.“

Alesos Hände waren trotz der Wärme kalt. Sein Atem ging flach. Manch anderer hielt es schon für vermessen, nur davon zu träumen, in den Rang eines berittenen Kriegers erhoben zu werden. Aber dann auch noch Führer? „Werden mir die Männer denn auch folgen?“ fragte er. „Du sagst selbst, dass ich noch sehr jung bin.“

Brennus schüttelte den Kopf. „Wenn ein Krieger einen Bogen bauen will, nimmt er das Holz von einem jungen Baum. Das heißt jedoch nicht“, fügte er schnell hinzu, „dass alte Bäume nichts wert sind, denn ohne sie könnten wir keine Palisaden errichten. Aber du hast mir noch nicht geantwortet. Wirst du mit mir kämpfen?“

Diesmal war Alesos Mund schneller als sein Kopf: „Ja, natürlich. Ich will an deiner Seite kämpfen.“

War ihm in diesem Moment bewusst, dass gerade in Erfüllung gegangen war, weswegen er vor vielen Monaten die Tectosagier, Tendomos und Grisala aufgegeben hatte?

Erst viel später sollte Aleso begreifen, dass das hier nichts mit Schicksal und Prophezeiungen zu tun hatte. Er war ‚Der, der den elephanton besiegt hatte‘, einer der wenigen Krieger, deren Name weithin bekannt war. Brennus hatte gar keine andere Wahl, als ihn an sein Feuer zu bitten. Er, das Zentrum der Macht der wandernden Kriegervölker, musste alles Mächtige um sich vereinigen.

Selbst, wenn es nur ein Name war.

Während Aleso zu seinem Lagerplatz zurückging, um seine Sachen zu holen (denn natürlich würde sein Zelt ab jetzt in der Nähe von dem des Brennus stehen), überkam ihn ein eigenartiges Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht. Aber was? Einen Moment lang verlangsamte sich sein Schritt ...

Bolgios!

Brennus hatte ihn mit keinem Wort erwähnt.

Und Aleso selbst hatte unter dem Eindruck seines wahr gewordenen Traumes auch keinen Augenblick daran gedacht, Brennus zu fragen, ob Bolgios denn einverstanden war, dass er dessen Heer verließ.

Doch er war zu beschäftigt mit sich selbst und dem, was da eben in Brennus‘ Zelt passiert war, um noch länger darüber nachzudenken.

 

Seine Beine zitterten. Er fror, gleichzeitig waren seine Stirn und der Rücken seines Hemdes schweißnass. Der Stolz, mit dem Aleso heute Morgen aufgewacht war, hatte längst einer Angst Platz gemacht, wie er sie selbst in Kämpfen nicht gespürt hatte. Es war eine andere Art von Angst. Auf dem Schlachtfeld war es ihm, nun, vielleicht nicht egal, aber nicht ganz so wichtig, ob ihn sein Gegner für einen guten oder schlechten Krieger hielt. Man würde sich nicht mehr begegnen.

Jetzt war alles anders.

Aleso war mit Brennus auf dem Weg zu den Kriegern, die er als seine ‚Berittene Faust‘ ausgewählt hatte.

Deren Anführer Aleso werden sollte.

‚Ich hab dir zwar gesagt, dass du dir deine Krieger selbst aussuchen wirst‘, hatte Brennus gesagt, als Aleso heute Morgen bei seinem Zelt angelangt war, ‚aber ich werde dir jetzt zehn Männer vorstellen, die sich in meinem Heer durch ihre außergewöhnliche Tapferkeit ausgezeichnet haben. Sie sollten der Kern deiner Truppe sein, denn es sind gute Männer. Doch nur du kannst ihr Anführer sein. Dein Name ist größer als ihre Namen zusammengenommen.‘

In diesem Augenblick war ihm heiß geworden vor Stolz. ‚Ich bin jetzt ein Kriegsherr!‘ hatte er gedacht. ‚Ich habe meine eigenen Männer, die auf mich hören, die mir ihre Schwerter zuschwören werden!‘

Dann sah er die Männer, und sein Stolz und sein Selbstbewusstsein bröckelte von einem Augenblick auf den anderen auseinander, wie ein Tontopf unter dem Schlag eines Hammers.

Sie waren alle deutlich älter als Aleso. Es waren Männer mit alten Narben, die von harten Kämpfen zeugten; einer hatte bereits eisgraues Haar und war sicher sogar noch älter als Alesos Vater heute gewesen wäre! Ihre Waffen waren alt und trugen die Spuren vergangener Schlachten. Ihre Gesichter waren ausdruckslos.

Und jetzt kam er, um ihr Anführer zu sein. Keine zwanzig Winter alt. Um die Schlachten zu zählen, die richtigen Schlachten, die er geschlagen hatte, reichten die Finger einer Hand, seine Waffen waren neu, und seine einzige nennenswerte Kampfesspur war die Verletzung, die er im Kampf gegen Sosthenes erhalten hatte.

Wenn Brennus sein Zögern bemerkte, dann zeigte er es nicht. Als sie vor den Männern, seinen Männern, zum Stehen kamen, legte Brennus seine rechte Hand auf Alesos Schulter und begann ohne Umschweife: „Das ist Aleso, ‚der, der den elephanton besiegt hat‘. Er wird euer Anführer sein. Er mag nicht dem entsprechen, was ihr erwartet habt, dennoch urteilt nicht vorschnell. Ich weiß, dass einige von euch mehr Jahre an Kampferfahrung haben, als Aleso auf dieser Welt ist. Doch die Götter lieben ihn. Nur das sollte zählen.“

Er nahm die Hand weg, nickte Aleso noch einmal zu, drehte sich um und ging.

Das Ganze geschah so schnell, dass Aleso einige Augenblicke brauchte um zu begreifen, dass sein neues Leben als Kriegsherr eben begonnen hatte.

Noch immer musterten ihn die Männer unverhohlen misstrauisch. Sein Mund wurde trocken. Worte rasten durch seinen Kopf, Worte, die er sich heute früh so schön zurechtgelegt hatte, und die ihm jetzt so falsch, so aufgesetzt erschienen. Er hustete.

Es war schließlich der Grauhaarige, der die peinliche Situation beendete. Und Aleso damit noch mehr in Verlegenheit brachte.

„Herr“, sagte er. „zeig uns bitte, wo dein Zelt steht, damit wir alles hierher tragen können.“

Herr! Und diese Männer, die seine Väter hätten sein können, wollten ihm seine Sachen tragen!

„Nicht nötig“, krächzte Aleso. „Es ist nicht viel ...“

Es dauerte etliche Tage, bis das Gefühl der Beklemmung aus seiner Brust weichen sollte. Es war eine absurde Situation; Aleso lebte jetzt bei ihnen und war gleichzeitig einsamer als vorher, als er noch allein durch das Lager gestreunt war. Die Gespräche an den Feuern wurden steif, wenn er sich dazusetzte; hin und wieder fragten sie ihn etwas, doch das war eher Höflichkeit als wirkliches Interesse. Aleso hatte seinerseits auch nicht wirklich viel zu erzählen, angesichts der Kriegserlebnisse, die seine Männer in ihrem langen Leben angehäuft hatten. Er merkte bald, dass sie sich zurückhielten, um ihn nicht zu beschämen.

Oft lag er in diesen Tagen nachts wach und suchte nach einem Weg, dieses ungute Gefühl loszuwerden. Und dann eines Morgens, nach einer weiteren schlaflosen Nacht, als es draußen gerade grau zu dämmern begann, schlug es in seinem Kopf ein wie das Feuer des Taranis.

So, wie sie jetzt lebten, würde sich nichts ändern, egal was er tat. Was sie brauchten, um die ‚Berittene Faust‘ des Brennus zu werden, waren neue, gemeinsame Kriegserlebnisse, in denen sich Aleso als ihr Anführer beweisen konnte. Nur diese Erlebnisse würden sie zusammenwachsen lassen.

Von diesem Augenblick sehnte er sich nach dem nächsten Kampf. Doch der ließ noch auf sich warten.

 

„Krieger aller hier versammelten Stämme!“ Die Beine breit, die Hände in die Hüften gestützt, stand er vor den Männern. Brennus, der Prauser, der derzeit einzige Mann diesseits der Grenze, der für Macedonia einen ernsthaften Gegner darstellte.

„Ich weiß, dass ihr Fragen habt. Ich weiß auch genau, welche Fragen es sind. Ich habe euch heute hier zusammenrufen lassen, um euch alle eure Fragen zu beantworten.“ Er machte eine Pause. Brennus kannte seine Wirkung auf die Männer, selbst, wenn ihn, wie hier in dieser großen Ebene, nur ein kleiner Teil des Heeres hören konnte. Er wusste, dass er sie schon allein dadurch auf seiner Seite hatte, dass er ihnen die folgenden wichtigen Entscheidungen nicht über die jeweiligen Stammesführer mitteilen, sondern sie an den Entscheidungen teilhaben ließ.

Oder ihnen zumindest den Eindruck vermittelte, dass sie die Geschicke des Heeres mitbestimmten.

Sie?

Wieso dachte Aleso auf einmal von sich, als würde er nicht mehr zum Heer gehören? Weil er jetzt ein Krieger des Brennus war?

Weil er nicht in der Menge, sondern bei den Männern hinter Brennus stand?

Soweit Aleso wusste, hatte Brennus die letzten beiden Tage damit verbracht, in aufreibenden Einzelgesprächen und kleinen Versammlungen die Führer der einzelnen Stammesgruppen auf seine Seite zu bekommen. Nun würde sich zeigen, ob die Versprechen und die zahlreichen Gold- und Silbergeschenke ausgereicht hatten.

„Zunächst einmal, was machen wir hier noch? Worauf warten wir? Gefällt uns das Land hier so gut, dass wir gar nicht wieder weg wollen?“ Lachen wurde laut. Brennus ließ den Blick schweifen. Er hatte den richtigen Ton getroffen.

„Männer, ich habe eine Nachricht für euch. Cerethrios ist in Thracia, und er hat vor, dort zu bleiben. Es gibt also keinen Grund, auch nur einen Tag länger auf ihn zu warten.“

„Aber wie soll es denn weitergehen?“ Ein großer Krieger in der ersten Reihe stieß herausfordernd einen Arm in die Luft. Hatte Aleso den Mann nicht gestern Abend noch am Zelt von Brennus gesehen? „Ja!“ schrie ein anderer. „Wohin sollen wir gehen? Zurück nach Hause, wo man entweder über uns lachen oder uns bekämpfen wird?“

„Nein“, sagte Brennus. „Wir gehen nach Süden.“

Aleso war einer der wenigen hier, die Brennus‘ Pläne kannten und hatte das, was jetzt hier passierte, erwartet. Und zwar genau so. Brennus‘ Worte waren in das Meer der vor ihnen stehenden Männer hineingefallen wie ein Stein in einen See, und wie die Kreise des Wassers breitete sich erregtes Flüstern und angespanntes, unterdrücktes Murmeln aus. Weiter hinten wurden einzelne besorgte Rufe laut.

Die Niederlage des Bolgios war noch nicht vergessen.

Brennus tat, als würde er die Reaktionen der Krieger nicht wahrnehmen. Unbeirrt fuhr er fort.

„Ich weiß, was euch ängstigt. Bolgios und seine Männer haben euch von einem furchtbaren, übermächtigen Macedonenheer erzählt. Ich will ja nicht bezweifeln, dass es tatsächlich ein macedonisches Heer gibt, doch wer sagt uns, dass es wirklich so stark ist? Wer sagt uns, dass die Stärke der Macedonen nicht nur eine Erfindung ist, um ihre Flucht in einem anderen Licht erscheinen zu lassen?“

Brennus‘ Stimme hatte einen fast lauernden Unterton bekommen.

Dieser Ton gefiel Aleso nicht.

Er blickte zu Brennus. Der wartete.

Die Reaktionen der Krieger waren unterschiedlich. Diejenigen, die wie Aleso Bolgios‘ Heer angehört hatten, protestierten lautstark. Andere schienen durch Brennus‘ Frage verunsichert und diskutierten mit den Nebenstehenden, dabei heftig mit den Händen gestikulierend.

Aleso spürte plötzlich die heiße Wut in sich aufsteigen. Was erzählte Brennus da? Er, Aleso, war dabei gewesen! Hatte seine Kampfgefährten sterben sehen! War sogar selbst verwundet worden! Er selbst hatte Brennus auf dessen Bitte hin von der Schlacht gegen Sosthenes erzählt. Wie konnte Brennus jetzt behaupten, ja, auch nur andeuten, sie wären vor Sosthenes‘ Heer davongelaufen und versuchten nun, ihre Ehre zu retten?

Dann sah er Brennus‘ Gesicht.

Die Augen!

Und plötzlich war alles klar. Es war alles Absicht gewesen. Brennus musste klargewesen sein, dass er nicht alle Männer auf seiner Seite hatte. Seine Rede hatte auch nicht den Zweck gehabt, sie für sich zu gewinnen. Sie sollte lediglich Zweifel wecken. Das hatte er geschafft.

Der Zweifel war das trockene Gras.

Er, Brennus, war der Funke.

Ihre Augen trafen sich. Fast gleichzeitig machten sie einen Schritt aufeinander zu. Einen Moment lang blickten sie sich unbewegt an. In einer einzigen Bewegung drehten sie sich zur Menge um.

„Seht her!“

Die Unruhe versickerte.

„Seht euch diesen Krieger an!“ Brennus‘ Hand ruhte auf Alesos Schulter. „Ist er ein Riese? Nein, er ist sogar kleiner als ich. Hat er Zauberwaffen? Nein, er trägt ein Schwert wie wir alle. Ist er unverwundbar? Nein, ihr könnt seine Verletzung sehen, sie ist noch frisch. Und doch hat er Großes vollbracht.“

Pause.

„Er ist Aleso, der Tectosagier, ‚der, der den elephanton besiegt hat‘.“

Ein Raunen lief durch die Menge. Alesos Gesicht brannte. Die Erinnerung an die Prophezeiung war wieder da. Ein Mann in einem weißen Gewand saß ihm gegenüber. ‚Du wirst ein großer Krieger sein‘, sagte er. ‚Dein Name wird über die Grenzen deines Stammes hinaus bekannt sein. Es werden ihn mehr Menschen kennen, als das Volk der Tectosagier Köpfe zählt.‘

Für einen Augenblick war Aleso unaufmerksam gewesen. Er hatte nicht gesehen, dass Brennus inzwischen zwei Kriegern ein Zeichen gegeben hatte. Er spürte eine leichte Berührung an seinem linken Arm und drehte sich um.

Neben ihm stand der Tod.

Erst bei näherem Hinsehen erkannte Aleso in dem, was da neben ihm stand, einen Menschen.

Einen lebenden Menschen.

Es war ein Gefangener, den Brennus offenbar von seinem Feldzug in Paionia mitgebracht hatte. Sein Schädel war glattrasiert und zeigte deutliche Spuren verkrusteten Blutes. Die Farbe seiner zerlumpten Kleidung war nicht mehr erkennbar. Die Schultern hingen nach vorn, der Rücken war gebeugt. Doch selbst, wenn der Mann aufrecht gestanden hätte, so hätte Aleso ihn um Kopfes Länge überragt.

„Seht euch nun diesen Mann hier an und entscheidet selbst, ob ihr vor solchen Gegnern Angst habt oder nicht. Wenn ihr euch entschieden habt, lasst es mich wissen.“ Damit drehte sich Brennus um und machte ein paar Schritte zum hinteren Rand der Plattform. Für die Krieger unten musste es so aussehen, als würde er wirklich heruntersteigen, doch Aleso sah, dass er bei den letzten Schritten absichtlich langsamer wurde.

Brennus hatte nicht vor, die Plattform zu verlassen.

„Brennus!“

„Brennus!“

„Wir folgen dir nach Süden, Brennus!“

„Nieder mit den Macedonen! Brennus ist unser Führer!“

Noch einmal gebot Brennus Ruhe. „Ich danke euch. Ja, ich werde euch führen, doch ich kann diese große Aufgabe nicht allein vollbringen.“

Er winkte nach hinten, ohne sich umzudrehen. Ein anderer Mann trat neben ihn.

„Das ist Acichorius, mein treuer Gefährte auf meinem Feldzug gegen Paionia. Ich schlage euch vor, ihn hier und heute zu meinem Mitfeldherrn zu wählen.“

Einen Moment war Ruhe. Dann schrie einer: „Acichorius!“

Die Menge stimmte ein. Aleso sah in ihre Gesichter. Brennus hatte es geschafft. Sie hätten jeden Namen gerufen, den Brennus ihnen genannt hätte, und wäre es der seines Pferdes gewesen.

Den Rücken zur Menge gewandt verzog sich Brennus‘ Gesicht zu einem Grinsen. Aleso hatte das Gefühl, jetzt Stolz für seinen Heerführer empfinden zu müssen, selbst stolz sein zu müssen, für diesen Mann kämpfen zu dürfen. Doch es war wie an jenem Tag, als er nach Brennus‘ Angebot dessen Zelt verlassen hatte. Das Grinsen gefiel ihm ganz und gar nicht. ‚Ich brauche einen Mann, dem ich voll und ganz vertrauen kann‘, hatte Brennus damals gesagt. Wem aber konnte Aleso vertrauen? Brennus, dem Mann aus der Prophezeiung des Druiden? Der, wegen dem er damals seinen Stamm hatte ziehen lassen?

Er hoffte es immer noch, aber er wusste es nicht.

Jetzt nicht mehr.

 

Seit diesem Tag wusste ich, dass es den Göttern gefiel, mich zwischen Hoffnung, Verzweiflung, Glück und Trauer hin und her zu reißen. Wie viele Tage war ich nach meinem Treffen mit Brennus durch das Lager geirrt, immer auf der Suche nach Aleso, dem Tectosagier! Zumindest das Hungern hatte ein Ende, denn Brennus hatte mir einen Lagerplatz bei den anderen Heilkundigen zugewiesen. Dann wurde meine Sucherei jäh unterbrochen, als die Überreste des Heeres eines gewissen Bolgios zu uns stießen und die Heilkundigen gebraucht wurden, um die vielen Verwundeten zu behandeln. Es schien kaum einen Krieger in diesem Heer zu geben, der nicht irgendeine Wunde davon getragen hatte. Aber das waren immerhin noch diejenigen Krieger, die allein laufen konnten. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie viele getötet oder so verstümmelt worden waren, dass man sie hätte tragen müssen. Ich konnte nur hoffen, dass die Flucht nicht so überhastet gewesen war, dass die Überlebenden den Zurückgebliebenen nicht hatten die Schmerzen nehmen können. Nur ein einziger Krieger – vermutlich dieser Bolgios – war von seinen Untergebenen offenbar trotz schwerster Verletzungen mitgenommen worden.

Das nahm ich jedoch nur am Rande war, da dieser Kriegsherr sofort von den anderen Verwundeten getrennt und zu dem persönlichen Heilkundigen des Brennus gebracht worden war.

Ich war so beschäftigt, dass das Lagerleben völlig an mir vorbei lief. Das Elend der Krieger und die offensichtliche Aussichtslosigkeit, Aleso zu finden, stumpften mich ab. Ich lebte zwischen Eitergestank und Verbänden und ertappte mich immer öfter dabei, wie ich an den Abenden mehr Bier trank, als gut für mich war. Ich wollte vergessen, sehnte den trunkenen Schlaf herbei und hasste mich dafür, wenn ich am nächsten Morgen mit schwerem Schädel und fauligem Geschmack im Mund aufwachte.

Dann kam der Tag, an dem Brennus in einer großen Versammlung aller Krieger dem wandernden Volk der Galli verkünden wollte, wie es mit uns weitergehen sollte. Lustlos schlurfte ich zum Versammlungsplatz, aber da sich selbst die Verwundeten dorthin schleppten, hatte ich auch keine wirklich gute Ausrede, mich zu drücken. Dabei waren flammende Reden eines Heerführers wirklich das Letzte, was ich jetzt brauchte.

Brennus enttäuschte mich auch nicht. Seine Rede plätscherte an mir vorbei, ebenso das Gegröle der Krieger.

Dann schlug das Feuer des Taranis in meinem Kopf ein.

Aleso?

Hatte ich eben seinen Namen gehört, oder spielte mir mein Bier vernebeltes Hirn einen Streich?

Nein, da war es schon wieder! Wie war das? ‚Der, der den elephanton besiegt hatte’? ‚Berittene Faust’? Was war hier passiert? Und vor allem: Wie hatte es passieren können, ohne dass ich etwas davon mitbekommen hatte?

Und warum hatte mich Brennus nicht davon informiert, dass er Aleso gefunden hatte?

Vielleicht, weil ich unbedeutend für ihn war?

Ich registrierte, wie ich mich unbewusst in Bewegung gesetzt hatte. Ich drängte durch die Menge, Richtung der Plattform, auf der Brennus und Aleso standen. Je weiter ich nach vorn drängte, desto dichter standen die Männer, die mich meist nur finster anstarrten, wenn ich vorbei wollte.

Ich drängelte. Ich schob. Ich boxte.

Es half nichts.

Ich war zu langsam.

Eingeklemmt in einer Gruppe Krieger musste ich mit ansehen, wie Aleso zusammen mit Brennus die kleine Plattform verließ.

Aber Aleso lebte.

Ich würde zwar wieder suchen müssen, aber er lebte.

Aber in den nächsten Tagen würde die Ordnung des Lagers zusammenbrechen. Bald waren wir wieder ein Volk auf dem Marsch.

Nein, die Götter liebten mich nicht ...

 

Es dauerte fünfzehn Tage, bis das riesige Lager abgebrochen und das Heer zum Abmarsch bereit war. Brennus hatte jetzt mehr als zwanzigtausend Reiter, von denen jeder noch einmal zwei junge Krieger zu seiner Unterstützung hatte, über einhunderttausend Fußkämpfer und etwa zweitausend Wagen.

Doch nicht alle folgten Brennus. Ungefähr siebentausend der Krieger des Bolgios - Alesos Kampfgefährten - hatten sich entschlossen, nicht mit nach Süden zu kommen. Sie hatten eigentlich keine Ahnung, wohin es gehen sollte, sie wollten nach seiner Rede nur nicht länger mit Brennus ziehen.

Wieder würde Aleso Menschen verlieren, die ihm vertraut geworden waren. Ihm schien, als würde sein ganzes Leben nur noch aus Verlust bestehen.

Um Spannungen zu vermeiden ließ Brennus verbreiten, dass er angeordnet hätte, dass diese Männer zurückbleiben würden, „um die südlichen Grenzen der Länder der Kriegervölker zu bewachen“. Sie erfuhren nur noch, dass die „Zurückgebliebenen“ einen Mann mit dem Namen Comontorios zu ihrem Führer erwählt hatten.

Bolgios selbst blieb unerwähnt. Niemand wusste, oder wollte sagen, wo er war. Seit sie geschlagen aus Macedonia zurückgekehrt waren, hatte ihn niemand gesehen. Es war, als hätte er nie existiert.

Die ganze Zeit über war Aleso in einer seltsamen, eigenen, und doch fremden Welt gefangen. In dieser Welt gab es keinen Tag und keine Nacht. Er verspürte nie Hunger, aß, wenn ihm danach war, stopfte appetitlos in sich hinein, was immer ihm die Frauen vorsetzten, die an ihren Kochgruben die Speisen für Brennus und dessen persönliche Freunde zubereiteten. Er schlief schlecht, dämmerte nur gelegentlich für kurze Zeit vor sich hin, wenn sein geplagter Körper gewaltsam sein Recht einforderte. Er mied selbst die Nähe seiner Männer, streunte ziellos im Lager herum, war manchmal tagelang nicht an seinem Lagerplatz. Niemand vermisste ihn, noch nicht einmal Brennus selbst. Zuerst hatte Aleso noch befürchtet, nach der Versammlung überall erkannt und in Gespräche verwickelt zu werden. Doch diese Angst war Unsinn. Kaum jemand kannte ihn von Angesicht her, und er vermied es, seinen richtigen Namen zu nennen, wenn er gefragt wurde.

Aleso wusste nicht, wo er hin sollte. Manchmal blieb er die Nacht über bei einer Frau. Er war groß, muskulös, hatte schulterlanges, leicht gewelltes blondes Haar und trug den goldenen Oberarmreifen als Zeichen seiner Kriegerwürde. Die Mädchen seines Alters sahen ihm nach, und nicht ein einziges Mal wurde er abgewiesen, wenn er sich einer von ihnen näherte. Nach einer Weile ließ selbst das letzte Kribbeln nach. Meist versuchten die Mädchen, sich mit ihm zu unterhalten, doch eigentlich interessierte ihn nicht, was sie sagten, und nach kurzer Zeit zog er sie an einen unbeobachteten Ort. Er gab sich keine Mühe, ihnen Freude zu bereiten, und auch er selbst empfand das Ganze nur als eine kurzzeitige Erleichterung. Oft hatten die Mädchen danach einen traurigen Blick, manche weinten auch, wenn sie merkten, dass es ihm nur darum gegangen war, für einige Momente Lust zu empfinden und sie ihm eigentlich egal waren. Das war dann der Augenblick, wo er machte, dass er weg kam.

Eines Abends, Aleso schlenderte gerade wieder einmal ziellos zwischen den Zelten umher, ohne zu wissen, wo er gerade war, stolperte er über ein am Boden liegendes Bündel. Er fluchte und wollte es gerade mit dem Fuß zur Seite stoßen, da ...

„Denk nicht einmal daran!“

Verstört blickte er auf. Vor ihm stand eine Frau, wenigstens doppelt so alt wie er. Er wusste nicht, worauf er zuerst starren sollte, auf ihr langes, leuchtend rotes Haar, oder in ihre dunkelgrünen Augen.

„Komisch“, fuhr sie fort. „Ich hätte nie gedacht, dass die jungen Mädchen auf jemanden fliegen, der ein so dümmliches Gesicht hat wie du. Aber wahrscheinlich hast du Qualitäten, die einen dein herunterhängendes Kinn vergessen machen.“

Aleso klappte den Mund wieder zu, und seine Gedanken kehrten langsam wieder in ihre normalen Bahnen zurück. Wie redete dieses Weib mit ihm? Wusste sie eigentlich, wer er war?

„Ich weiß, wer du bist.“

Aleso fuhr zusammen. Konnte diese Rothaarige in seinen Kopf gucken?

Und warum konnte er sich nicht einfach umdrehen und weggehen?

Die Frau musterte ihn inzwischen von oben bis unten. Aus irgendeinem Grund erinnerten ihn ihre Blicke an einen der Bauern, der damals in Tohiosa eine Kuh von seinem Vater gekauft hatte. Die hatte der Bauer genauso angesehen. Abschätzend.

„Hast du Hunger?“

Aleso schreckte hoch. „Nein“, stieß er heiser hervor, verschluckte sich und hustete. Das erste Wort das er sprach. Toll!

Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Aber Wein trinkst du doch noch, Elephantentöter, oder?“ Sie stemmte ihre Hände in die Seiten und das Kleid spannte sich über ihren großen Brüsten, deren Spitzen sich deutlich unter dem Stoff abzeichneten. Sein Mund war auf einmal sehr trocken. Wie ein abgerichteter Hund trottete er hinter der Frau her, die sich umgedreht hatte und auf den Eingang ihres Zeltes zulief. Bevor sie in dem dunklen Loch verschwand, blieb sie abrupt stehen und drehte sich noch einmal um. „Willst du wissen, wie ich heiße?“ Und ehe Aleso antworten konnte: „Gib dir keine Mühe, höflich zu sein - meinen Namen hast du eh‘ gleich wieder vergessen.“ Mit einem Lächeln, das er nicht deuten konnte, fügte sie hinzu: „Aber aus einem anderen Grund, als dem, der dich die Namen der anderen kleinen Mädchen hat vergessen lassen, denen du gezeigt hast, wie ein Elephantenrüssel aussieht.“

Er schnappte nach Luft. Seine Füße schienen ein Eigenleben entwickelt zu haben. Und nicht nur die, wie er feststellen musste. In der Mitte des Zeltes brannte ein kleines Feuer, und als er davor stehen blieb, verriet der immer größer werdende Schatten unterhalb seines Hosenbunds, dass ihm die ganze Situation offenbar nicht durchweg unangenehm war.

Ohne sich zu ihm umzudrehen löste die Frau den Strick, der ihr als Gürtel diente, griff nach unten, zog sich mit einer schnellen Bewegung das Kleid über den Kopf und ließ es achtlos zu Boden fallen.

Der Anblick ihres ausladenden Hinterteils nahm ihm den Atem. Doch sie ließ ihm keine Zeit, es weiter zu bewundern. Nur einen Moment später lag sie auf einem Stapel Felle auf dem Boden des Zeltes. „Auf was warten der Herr Krieger denn noch? Dass ein Diener erscheint und ihm die Hosen vom Hintern zieht?“ Dabei öffnete sie einladend ihre Schenkel.

Ohne nachzudenken riss er sich das Hemd herunter und ließ die Hose fallen. Er nahm seine harte Männlichkeit in die rechte Hand und kniete sich zwischen ihre Beine, sich dabei mit der linken Hand abstützend. Doch gerade als er sich auf sie legen, und dabei in sie eindringen wollte, stemmte sie ihre Hände gegen seine Brust. „Nicht so schnell“, sagte sie. „Gib dir ein wenig Mühe. Ich bin keins von den jungen Dingern, die noch keinen richtigen Mann gehabt haben. Ich bin Besseres gewöhnt, als mal schnell genommen zu werden.“

Das reichte ihm, um sich plötzlich ganz hilflos und tollpatschig zu fühlen. Er war wieder ein kleiner Junge. Ungeschickt - so kam es ihm zumindest vor - versuchte er sie zu küssen und dabei mit der linken Hand ihre rechte Brust zu kneten. Dabei stieß sein Glied immer wieder gegen ihren Schoß, von dem eine erregende Hitze ausging. Eine Weile ließ sie ihn gewähren, wobei Aleso merkte, dass sich der Spaß, den sie bei der Sache empfand, in Grenzen hielt. Plötzlich packte sie seinen Haarschopf mit einer Kraft, die er ihr gar nicht zugetraut hätte, und schob seinen Kopf zu ihrer Brust. Seine Lippen streiften ihre harten, aufgerichteten Brustwarzen, und plötzlich wusste er wieder, was er tun sollte. Mit Lippen und Zunge liebkoste er die dunkelbraune Knospe und merkte, wie ihr Atem schwerer wurde. Dann spürte er, wie sie seine rechte Hand nach unten zog und seine Finger in die feuchte Hitze zwischen ihren Beinen drückte. In dem Moment stöhnte sie laut auf und drückte den Rücken durch. Ihre Hände wanderten zu seinem Hintern und mit einem Ruck zog sie ihn in sich hinein.

Die Anspannung war vorher schon kaum noch zum Aushalten gewesen. Das plötzliche Umschlossenwerden war zu viel. Die heftige Entladung zuckte wie Blitze durch seinen Kopf. Die Frau unter ihm bewegte ihren Unterleib so stark, dass es ihm weh tat. Dann lag sie auch still.

Nach einer Weile rappelte er sich hoch und kroch zu seinen Sachen. Hinter sich hörte er ein Geräusch. Aufgestützt auf ihren Ellenbogen lag sie da und sah ihm aufmerksam zu. „Und was glaubst du, was du da jetzt tust?“

Verwirrt schob er seine Beine in die Hosen. „Na, ich gehe zu meinem Zelt, was hast du gedacht?“

„Ach weißt du, ich hab mir so gedacht, dass du nicht ernsthaft glauben kannst, dass du hier schon fertig bist.“

Aleso war froh, dass er sein Gesicht in diesem Moment nicht sehen konnte ...

 

Am nächsten Morgen wurde es laut am Zelteingang. Aleso drückte sich hoch - und sackte gleich wieder auf die Polster zurück. Bei allen Göttern, ihm taten Knochen weh, von denen er bis gestern nicht einmal gewusst hatte, dass es sie in seinem Körper überhaupt gab! Nun, zumindest hatte ihm die Frau nicht das Gefühl gegeben, dass sie weniger bekommen hatte, als sie erwartet hatte.

Vor dem Zelt stand ein Bote, dem das Ganze offensichtlich peinlich war.

„Was willst du?“ knurrte Aleso unwillig. Er war müde und sein Rücken schmerzte höllisch.

„Ich suche dich schon seit gestern Abend, Herr, ich ...“

„Was du willst, habe ich gefragt!“

„Brennus schickt mich, Herr. Du möchtest an dein Lager zurückkehren und dich und deine Männer bereit machen. Morgen werden wir aufbrechen.“

Die Hektik des Zusammenpackens, die von den meisten wahrscheinlich als lästig empfunden wurde, ließ die unsichtbare Mauer zerbröckeln, die Aleso in den vergangenen Tagen und Wochen um sich herum errichtet hatte. Und als am nächsten Morgen die Kriegstrompeten zum Aufbruch bliesen, da war es für ihn wie eine Befreiung.

Vielleicht, nein, hoffentlich würden sie bald wieder kämpfen!

Langsam bewegte sich ihr Zug südwärts. Sie benutzten denselben Weg wie acht Monde zuvor das Heer des Bolgios. Das Tal des Flusses Axios war wie eine breite Straße in die felsigen Regionen Nordmacedonias. Doch so vertraut Aleso der Weg auch erschien; die Gewissheit, dass sie diesmal nicht zurückkehren würden, ließ in ihm eine Leere wachsen, wie er sie kennen gelernt hatte, als die Tectosagier aus dem Tal der Garuna vertrieben worden waren.

Mit dem großen Heer und vor allem den Trosswagen kamen sie nur sehr langsam voran. Brennus war vorsichtig. Ständig waren Spähtrupps unterwegs, die den Zug vorn, hinten und an den Flanken sicherten. Die Hitze des macedonischen Spätsommers und besonders die lauen Abende lähmten die Menschen und Tiere, und je weiter so ein heißer Tag voranschritt, um so schwerer fiel es ihnen, nach einer Pause die Kraft und den Willen zum Weiterziehen aufzubringen. Das größte Problem der Frauen im Tross war, die Kinder ruhig zu halten. Es waren natürlich die Kleinsten, die am meisten litten. Das Wasser, das sie zu trinken bekamen, war lauwarm. Saßen sie auf dem Wagen, wollten sie laufen; mussten sie laufen, weil es vielleicht einen schmalen Bergpfad hinaufging, weinten sie, bis sie wieder auf den Wagen gehoben wurden. Immer wieder liefen Kinder davon, und dann irrten die Mütter durch die Felsenbecken und suchten nach ihnen. Und das alles, während der Tross langsam weiter zog.

Niemand versuchte sich vorzustellen, was passieren würde, wenn sie jetzt auf das macedonische Heer gestoßen wären. Die macedonische Sonne hatte ihren Kampfeswillen geschmolzen.

Fast zwei Monde vergingen, ohne dass sie auf einen einzigen macedonischen Krieger stießen. Weniger um sich mit Lebensmitteln zu versorgen, als vielmehr um sich der Eintönigkeit des Marsches zu entziehen, schwärmten hin und wieder Gruppen von Kriegern aus und plünderten Dörfer und kleine, unbefestigte Städte.

Eines Tages jedoch kehrte eine solche Gruppe nicht zurück.

 

Zwei Tage später fand ein berittener Suchtrupp die entsetzlich verstümmelten Überreste des Streifkorps. Alle waren enthauptet worden, den meisten fehlte außerdem der rechte Arm. Die Arme fand man später in einem alten Brunnen. Die Köpfe blieben verschwunden. Die Macedonen hatten sie mitgenommen.

Nein, eine Chance hatten sie wirklich nicht gehabt. Sosthenes Krieger - denn niemand zweifelte daran, dass er dahinter steckte - hatten erst die Dorfbewohner evakuiert und die Krieger der Galli dann ungehindert einziehen lassen. Als sich der Trupp dann in kleinere Gruppen aufgelöst hatte, um das leere Dorf zu durchkämmen, waren die Macedonen in großer Zahl von allen Seiten nachgerückt, hatten die Männer eingekesselt und aufgerieben.

Ein Wutschrei lief durch das Lager, nachdem der Suchtrupp zurückgekehrt war. Was waren das für Kämpfer, diese Macedonen? Welcher Krieger lockte einen anderen in einen Hinterhalt, anstatt sich ihm im offenen Kampf zu stellen? Was hatte das denn mit Kampf zu tun? So schlachtete man nicht einmal Tiere!

Brennus ließ zum Kampf rüsten. Die Waffenschmiede arbeiteten in zwei Gruppen, immer abwechselnd einen halben Tag und eine halbe Nacht. Die Krieger widmeten sich Waffenübungen, Späher suchten die Umgebung nach Senken, kleinen Hügeln und Bodenwellen ab, die sie sich im Kampf zunutze machen konnten.

Brennus war in diesen Tagen überall. Wie ein Geist tauchte er mal an einem Krieger-, mal an einem Schmiedefeuer auf. Dann wieder sah man ihn mit anderen Stammesführern zusammensitzen und heftig diskutieren. An anderen Tagen kam er gar nicht aus seinem Zelt.

Aleso lag nachts lange wach. Immer wieder tauchten die Bilder von ihrer Schlacht gegen Sosthenes vor seinem inneren Auge auf, von ihrer Niederlage, von seiner Verwundung. Doch nein, Brennus würde sich nicht überraschen lassen. Er würde Sosthenes nicht den Rücken zeigen.

Vier Tage später meldeten die Kundschafter das Heranrücken des macedonischen Heeres: Einhundertfünfzigtausend Krieger unter der höchstpersönlichen Führung des macedonischen Generals Sosthenes.

 

Blut.

Überall war Blut.

Drei Tage dauerte die Schlacht nun schon. Beide Seiten hatten aufgehört, am Abend, bevor die Waffen für die Nacht niedergelegt wurden, ihre Toten vom Schlachtfeld zu bergen. Es waren zuviele geworden. Man schaffte es kaum noch, den Verletzten zu helfen.

Die Aufstellung der Macedonen bestand aus einer großen Speerträgerphalanx in der Mitte und zwei weit auseinander gezogenen Flügeln mit etwas leichter bewaffneten Hopliten. Zwischen den Flügeln standen nach hinten versetzte Gruppen von Bogenschützen und Steinschleuderern. Die Macedonen in der mittleren Formation trugen wieder ihre überlangen Speere, doch Brennus hatte einen Teil seiner Krieger so platziert, dass sie die Flügel beschäftigt hielten und sie so daran zu hindern, einzuschwenken und das gallische Heer in einer Zangenbewegung einzuschließen, während ihr Hauptheer versuchte, die macedonische Speerphalanx von der Seite zu treffen.

Die Macedonen wurden durch das ständige Anrennen zwar geschwächt, waren jedoch weit davon entfernt zu wanken oder gar zusammenzubrechen. Die Verluste der Galli gingen bereits am ersten Tag in die Tausende.

Brennus’ ‚Berittene Faust’ belauerte die Macedonen. Bis auf Aleso saßen sie immer zu zweit auf einem Pferd. Wann immer sie eine schwache Stelle in den gegnerischen Linien erblickten, gab Aleso ein Zeichen. Dann preschten seine Männer vor, saßen schnell ab, und während sich der eine mit dem Schwert auf die Macedonen stürzte, wartete der andere mit dem Pferd im Hintergrund, um einen schnellen Rückzug zu sichern und das Tier zu schützen. Die Pferde zu verlieren, hätte ihren Untergang bedeutet. Sie stießen zu, schnell wie das Feuer des Taranis, und zogen sich wieder zurück, noch ehe die macedonischen Krieger wussten, was da über sie gekommen war. Aleso hatte bisher nur etwa zehn Männer verloren, und das mehr durch verirrte Pfeile als im direkten Kampf.

Andere Teile ihres Heeres waren weniger glücklich gewesen.

Die Sonne begann schon wieder zu sinken. Ihre rötlichen Strahlen ließen den Staub noch dichter erscheinen, diesen furchtbaren Staub, der in alle Körperöffnungen drang, die Augen zum Brennen brachte und das Innere der Nase mit einer dicken Kruste überzog.

Obwohl Fremde in diesem Land, waren die Galli von ihrer Kleidung her dem heißen Klima besser angepasst, als die Macedonen. Sie kämpften fast alle mit freiem Oberkörper. Ihre Hosen waren weitgeschnitten und über den Knöcheln zugebunden, damit von unten her kein Staub oder aufragende, dornige Zweige eindringen konnten. Die macedonischen Hopliten hingegen litten unter dem Gewicht ihrer Rüstungen, auch wenn diese sie gegen die langen gallischen Schwerter schützten.

Plötzlich ein Schrei.

Und noch einer.

Aleso hieb gerade mit seinem Schwert auf einen Macedonen ein, der aufgrund der Enge noch nicht einmal seine lange Lanze fallenlassen konnte, um sich zu verteidigen. Für einen Augenblick hielt er inne und sah sich gehetzt um. Doch alles was er sah, waren Staub, Rüstungen und das Meer der Helme der deutlich kleineren Macedonen.

„Was ist los?“ brüllte Aleso einem in seiner Nähe kämpfenden Galli zu.

„Weiß nicht!“ brüllte der Andere zurück.

Aleso schlug noch zweimal zu. Der Hoplit war verwundet, blieb aber stehen. Doch Aleso setzte nicht nach.

„Zurück!“

„Was?!“ schrie einer seiner Männer direkt neben ihm fassungslos.

„Zurück! Wir müssen zurück!“

„Aber warum denn, bei allen Göttern?!“

‚Ich weiß nicht’, wollte Aleso sagen, überlegte es sich aber im selben Augenblick. „Weil ich es sage!“ Ein Anführer verteidigte seine Entscheidungen nicht.

Sie rannten zu ihren Pferden und saßen auf. Jetzt, von ihrer erhöhten Position aus, konnten sie sehen, was passiert war.

Vorn rechts hatten die Galli die Linien des macedonischen Hauptheeres aufgebrochen. Zuerst sah es so aus, als würde das Meer der Hopliten jeden Moment wieder über den blonden und weißen Mähnen der Krieger des Brennus zusammenschlagen. Doch sie hielten sich, wie eine Insel in einem reißenden Fluss.

Alesos Reiter hatten sich gesammelt. ‚Was mache ich jetzt?’ hämmerte es in seinem Kopf. Er sah seine Männer an, Männer, die zum Teil viele Jahre älter waren als er. Männer, die nun auf seinen Befehl warteten. Er fühlte ihre Blicke. Und er spürte, dass sie seiner Jugend nicht trauten.

‚Mach! Tu etwas!’ schrie es in seinem Inneren. ‚Irgend etwas! Denk! Wäg ab! Du bist ihr Führer! Was immer du jetzt sagst, sie werden dir folgen!’

Aleso wandte den Kopf und kniff die Augen zusammen, als könnte er so die dicken Staubschleier zwischen sich und den Kämpfenden auflösen. Die Lücke in den vorderen Reihen der Hopliten war noch da, aber sie schien unsicher, wurde mal größer, mal kleiner.

Die Pferde schnaubten nervös. Von den Männern kamen die ersten abfälligen Bemerkungen. Er fühlte die Hitze aufsteigen. Er musste entscheiden. Jetzt.

„Vorwärts! In die Lücke!“ schrie Aleso. Und als seine Reiter wie selbstverständlich absitzen wollten: „Nein, nicht absitzen! Bleibt auf den Pferden!“

Sie starrten ihn an, als hätten sie einen Schwachsinnigen vor sich. Aleso glaubte, ihre Gedanken laut zu hören. In die feindlichen Linien hineinreiten? Wusste dieser junge Günstling des Brennus, was er da sagte? „Aber die Pferde ...“, begann einer.

Doch er ließ ihnen keine Zeit zum Überlegen. „Los! Wir haben schon viel zu lange gewartet. Wenn wir jetzt nicht zuschlagen, werden wir nie wieder Pferde brauchen!“

Sein Pferd machte einen Satz nach vorn. „Sieg!“ brüllte er in den Kampfeslärm hinein. Woher nahm er den Mut, als erster loszureiten? Er hatte seinen Atem noch nicht ganz verschrien, da setzte hinter ihm das Echo ein. „Sieg!“

In dem Moment, wo der Leib seines Pferdes den ersten Hopliten traf und zur Seite schleuderte, wusste Aleso, dass sein Plan funktionieren würde. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, dass es auch den meisten anderen Reitern seiner Truppe gelang, in die Gasse zu stoßen und diese zu verbreitern, indem sie die Macedonen wegstießen, mit ihren Lanzen zu Boden stachen oder von ihren Pferden niedertrampeln ließen. Einige Pferde starben mit angstweißen Augen unter grauenhaften Schmerzen. Ein Tier brach auf der Hinterhand zusammen und versuchte, sich durch heftiges Schlagen mit den Vorderhufen vom Schlachtfeld wegzuschleppen, während seine Gedärme in einem bläulichen Klumpen aus seinem aufgerissenen Leib heraushingen.

Doch der Vorteil dieser Art des Angriffs wurde schnell offensichtlich. Die macedonischen Fußkämpfer konnten mit ihren langen, unbeweglichen Speeren, wenn überhaupt, nur die Tiere treffen. Die Reiter schafften es fast immer, noch rechtzeitig abzuspringen, und während die Hopliten nach dem Aufprall noch wankten oder sogar am Boden lagen, konnten die Angreifer mit ihren Schwertern nahezu ungehindert über sie herfallen.

Die Schlacht kippte. Die große, mittlere Phalanx der Macedonen wurde jetzt durch die keilförmig eindringenden Galli nach den Seiten hin auseinandergedrückt, sodass die Bogenschützen, die immer noch zwischen dem Hauptheer und den beiden Seitenflügeln standen, zwischen den eigenen Heeresteilen eingeklemmt wurden und nicht mehr dazu kamen, ihre Pfeile abzuschießen. Die Flügel gerieten in Unordnung, die Soldaten behinderten sich gegenseitig. Ihre Waffen wurden in der Enge des Raumes wertlos. War der Angriffswille der Macedonen schon vor zwei Tagen gebrochen gewesen, als sich die Schlacht festgefahren hatte, als man nur noch ohne Raumgewinn aufeinander einhieb, so brach jetzt auch ihr Wille zum Widerstand. Im Bewusstsein der Aussichtslosigkeit ihrer Lage und vor Erschöpfung kaum noch fähig, aufrecht zu stehen, ließen viele ihre Waffen sinken und ergaben sich der Wut der gallischen Krieger.

Dann kam der Punkt, an dem den Macedonen aufging, dass ihre Gegner nicht die geringsten Absichten hegten, Gefangene zu machen. Panik brach aus. Die Führer der einzelnen Heeresteile mussten ohnmächtig zusehen, wie sich die Reste dessen, was von der Schlachtordnung noch übrig war, auflösten und viele Hopliten und Bogenschützen bei ihrer Flucht unter die Hufe der reiterlosen und durchgegangenen Pferde gerieten. Wer stürzte war verloren. Am Ende hatte nur etwa jeder dritte Krieger aus dem Heer des Sosthenes überlebt.

Am Abend des vierten Tages war die Ebene gestorben.

Die Macedonen zogen so schnell ab, dass sie sich nicht einmal die Zeit nahmen, mit den Galli über die Herausgabe ihrer Toten zu verhandeln. Über die nächsten beiden Tage hinweg sah man gallische Krieger, die über das Schlachtfeld liefen, um die Köpfe ihrer Kameraden zu retten und den Leichen der Macedonen alles abzunehmen, was irgendwie von Wert war.

Doch auch ihre eigenen Verluste waren gewaltig. Jeder Fünfte war im Kampf gefallen oder zumindest so schwer verletzt, dass er nicht mehr würde weiterziehen können. Brennus wies an, die Verwundeten vom Rest des Heeres zu trennen und ihnen ein eigenes Lager einzurichten. Er wollte verhindern, dass der Anblick der entstellten und vor Schmerzen schreienden Männer den Kampfeswillen der anderen Krieger schwächte. Er ging darin sogar soweit, dass er Wachen aufstellen ließ, um die Familien der Verwundeten daran zu hindern, bei ihren leidenden Männern, Brüdern und Söhnen zu sein.

Am Abend des dritten Tages nach der Schlacht wurde noch etwas klar. Sosthenes lebte. Abgefangene macedonische Kuriere berichteten, sie hätten ihn mit einer kleinen Gruppe Reiter nach Osten fliehen sehen.

Brennus rief seine Feldherren, zusammen. Auf Alesos Frage hin, ob er auch dazukommen sollte, sah er ihn nur mit einem rätselhaften Blick an. Aleso nahm das als Ja.

Und er kam sich wichtig vor.

Das änderte sich schnell. In der Beratung selbst fand er sich wieder einmal im Kreis von Kriegern wieder, die zumeist seine Väter hätten sein können. Er saß da am Feuer, und fühlte plötzlich nur noch Angst bei dem Gedanken, dass er mit entscheiden sollte, wie es nach der gewonnenen Schlacht mit ihren Völkern weiterging.

Auf den ersten Blick standen ihnen drei Wege offen. Die erste Möglichkeit war, in Macedonia zu bleiben, das Land in Besitz zu nehmen und zu siedeln. Doch sie hatten viele Krieger verloren, und Sosthenes war immer noch am Leben. Es würde eine Weile dauern, aber er würde wiederkommen. Und dann würde sein Heer noch größer sein.

Er hatte ein ganzes Land voller Krieger, wenn er wollte.

Brennus nicht.

Die zweite Möglichkeit war, wieder nach Nordwesten zurückzuziehen, in die Heimat der Kriegervölker am großen Fluss der Göttin Danu. Doch für Brennus war das undenkbar. Auch dort würden sie um Land kämpfen müssen, und das gegen Stämme, von denen sich viele Krieger bei ihrem Durchzug Brennus angeschlossen hatten und inzwischen ihrem Heer angehörten. Ganz abgesehen davon, was sollte er den Menschen sagen, nachdem er ihnen großartig verkündet hatte, er würde sie dorthin führen, wo unvorstellbare Reichtümer nur darauf warteten, von ihnen in Besitz genommen zu werden? Nein, er musste ihnen mehr geben, als ein halbes Dutzend gewonnene Schlachten und ein paar Schilde und Schwerter, die sie auch noch blutig hatten bezahlen müssen.

Also blieb nur der ursprüngliche Plan, der Weg nach Süden. Sosthenes würde Zeit brauchen, um ein neues Heer aufzustellen. Zeit, die es ihnen ermöglichen würde, Macedonia über die südliche Grenze zu verlassen. Das dort angrenzende Land hieß Thessalia. Doch keiner wusste, was die Galli dort erwartete.

Eine Sache sprach ganz besonders für den Weg nach Süden. Oder besser: ein Name, der in den Erzählungen der Dorfbewohner und der abgefangenen Kuriere immer wieder aufgetaucht war. Delphoi. Dort, so hieß es, noch weit hinter der südlichsten Grenze Thessalias, läge der omphalos, der Ort, den die Griechen für den Mittelpunkt der Welt hielten. Folglich trugen sie unglaubliche Schätze dort zusammen, nicht jedoch, um damit bestimmte vorgeschriebene Riten durchzuführen und den Handel mit den Göttern abzuschließen. Oh nein! Sie machten all das Gold und Silber - welch absurder Gedanke! - ihren Göttern zum Geschenk! Was waren das für Narren, diese Griechen, die ihren Göttern Reichtümer gaben, ohne dafür um etwas bitten? Und was waren das für Götter, die Geschenke von Sterblichen annahmen, ohne ihrerseits etwas dafür zu geben?

Nach Süden ... Nachdem das feststand ging es nur noch darum, einen Weg zu finden, den alle bewältigen konnten. Sie würden versuchen, zum Meer hinunter zu ziehen und dann so lange wie möglich der Küstenlinie zu folgen, in der Hoffnung, die Berge würden nicht so hoch und das Land nicht so unwegsam sein. Wahrscheinlich war dieser Weg länger, aber mit den Wagen, den Frauen und Kindern hatten sie keine andere Wahl.

Bewusst oder unbewusst hatten sie die schwierigste aller Fragen in den Beratungen immer weiter nach hinten geschoben. Und als sie gestellt wurde, senkten sie alle die Köpfe.

Die Verwundeten.

Die Leichtverletzten konnten zur Not auf den Wagen transportiert werden, oder mit einem zweiten Reiter auch auf den Pferden. Es gab jedoch auch viele, die eine derartige Strapaze nicht überstehen würden. Aber konnte man sie deshalb sterbend und wehrlos hier zurücklassen? Konnte man zulassen, dass ihre Köpfe, die Heimstatt ihrer Seelen, in die Hände der Macedonen fielen? Die sie vielleicht ihren Göttern schenkten?

Aleso spürte die Erleichterung in den Männern, als Brennus schließlich ungehalten ihre Versammlung auflöste und verkündete, dass er sich Rat bei einem Priester holen würde.

Doch so erleichtert sie auch waren, dass ihnen diese Entscheidung offenbar abgenommen werden sollte, irgendwie fanden sie alle mehr oder weniger gute Gründe, sich in der Nähe des Zeltes aufzuhalten, in dem die Unterredung zwischen Brennus und dem Priester stattfand.

Als der Priester mit hochgezogener Kapuze und gesenktem Kopf wieder ging, versuchten sie nicht einmal mehr, sich zu verbergen oder ihre Anwesenheit zufällig aussehen zu lassen. Der Priester verschwand aus ihrem Blickfeld, doch sonst geschah nichts.

Erst geraume Zeit später trat Brennus wieder heraus, und selbst die Röte der untergehenden Sonne konnte die Blässe auf seinem Gesicht nicht verbergen.

Was er ihnen dann mitteilte erschien so ungeheuerlich, dass sie zunächst meinten, es wäre einer seiner grausamen Scherze, an die sich selbst seine engsten Vertrauten noch nicht gewöhnt hatte. Nur allmählich wurde ihnen klar, dass Brennus das, was er da sagte, ernst meinte.

Und dass es der einzige Weg war.

Nur einer wagte, offen einen Vorwurf auszusprechen.

„Bei allen Göttern, Brennus, hast du vergessen, dass du ihr Führer bist?“

Brennus sah ihn an. Unter seinen Augen hingen dicke Tränensäcke, doch auch so waren sie dunkler als sonst.

„Du hast recht“, antwortete er. „Ich bin ihr Führer. Ich bin aber auch der Führer von mehr als sechshunderttausend anderen Männern, Frauen und Kindern. Ich bin für sie alle verantwortlich. Deshalb gibt es keinen anderen Weg als diesen.“

Die wenigen Priester und die Heilkundigen aller Stämme wurden zusammengerufen. Sie nahmen die Anweisungen der Feldherren mit unbewegtem Gesicht. Auch die Priester schwiegen. Sie wussten, dass sie die einzigen waren, die die Macht hatten, die Entscheidung rückgängig zu machen. Sie taten es nicht.

Zwei Tage lang durchstreiften die Heilkundigen unter dem Schutz von Kriegern die Wälder und Schluchten in der Umgebung des riesigen Lagers.

In diesen zwei Tagen wurde abends an den Feuern nicht gesungen und getanzt.

Nach einem weiteren Tag erschien einer der Priester bei Brennus und meldete, dass alle Vorkehrungen getroffen wären.

Am Nachmittag des darauf folgenden Tages ordnete Brennus an, dass die Schwerverwundeten, die klaren Geistes waren, in eine der umliegenden Felsenschluchten gebracht werden sollten. Für diejenigen, denen das Fieber den Geist verwirrt hatte, oder die gar schon im Vortod lagen, sollte jeweils ein naher Verwandter oder ein Kampfgefährte anwesend sein, wenn Brennus seine Rede hielt.

Aleso und seine Reiter erhielten den Auftrag, den Eingang der Schlucht zu sichern. So würden sie zwar sehen und hören, was dort vorging, doch wenigstens würde ihnen der widerlich süße Gestank der schwärenden Wunden erspart bleiben.

Es änderte auch nichts daran, dass es ihre Kameraden waren, die so stanken.

Dann kam Brennus und Aleso erschrak. Es war, als wenn ein alter, gebeugter Mann an ihm vorbeiging. Niemand wollte jetzt er sein. Niemand wollte das tun müssen, was er jetzt tun musste.

Auch er hörte ihr Stöhnen. Auch ihm krochen ihre Ausdünstungen in die Nasenlöcher. Doch als er zu sprechen begann, klang seine Stimme kraftvoll wie immer.

„Männer, ihr wisst alle, warum ich euch hier versammelt habe.“ Die meisten der etwa dreihundert Krieger senkten die Köpfe. „Ihr seid mir bedingungslos gefolgt, habt alles gegeben, was ich von euch verlangt habe und vieles, was ich nie von euch verlangen würde. Ich ...“

„Brennus!“

Irritiert unterbrach der Anführer seine Rede.

Ein älterer Mann mit zotteligem Haar und ungepflegtem Schnauzbart, der bis dahin zusammengesunken an einem Felsen gelehnt hatte, richtete sich auf. Sein Hemd war zerrissen, über der Brust trug er einen blutdurchtränkten Verband. Er hustete und wischte sich mit der Hand über den Mund. Der Handrücken war blutig.

„Verzeih, Brennus, dass ich dich unterbreche, doch die meisten von uns hier haben Wunden, aus denen uns das Leben davonläuft. Wir wissen es zu schätzen und fühlen uns geehrt, dass du dich persönlich an uns einfache Krieger wendest, doch nun bitten wir dich uns zu sagen, welches Schicksal du uns zugedacht hast.“ Erschöpft sank der Mann zurück.

Brennus war sichtlich verstört. Seine Vorrede hatte eigentlich den Sinn gehabt, sich selbst zu beruhigen und die Kraft zu sammeln, die er brauchte, um den Männern das Unvermeidliche zu sagen.

Jetzt hatten sie ihn beschämt.

Sie waren viel stärker, als er gedacht hatte.

Er ließ den Blick über die Krieger gleiten. Er sah ihre Schmerzen, jedes ihrer Stöhnen stach in seiner eigenen Brust wie ein Dolch. Die Wunden hatten sie geschwächt. Viele konnten sich nicht mehr bewegen, um die Kälte der spätherbstlichen Abende und Nächte von ihren Körpern fern zu halten.

Brennus zog den Mantel fester um sich, so, als spürte er ihr Frieren selbst. Seine Augen brannten. Dann schien er aufzuwachen. Sein Blick wurde wieder ruhig und fest. Er winkte einem Priester zu, der sich bis dahin im Hintergrund gehalten hatte.

„Ihr habt Recht, meine Krieger. Unsere Heilkundigen habe ihre Arbeit getan und versucht, eure Schmerzen zu lindern. Jetzt ist es an mir, die Qualen eures Geistes zu lindern.“ Er sah nach oben, als hoffe er, von dort würde jemand kommen und ihm diese Aufgabe abnehmen. Doch der Himmel der Götter war grau und nichts sagend.

„Wenn wir euch hier zurücklassen, in dem Zustand, in dem ihr seid, dann zweifle ich nicht daran, dass ihr euch gegen die nachrückenden Macedonen verteidigen werdet, bis kein Atem mehr in euch ist. Doch was geschieht dann? Denn, und auch daran kann kein Zweifel bestehen, sie werden euch nicht behandeln, wie es euch als große Krieger zusteht. Sie werden eure Körper zerstückeln, und euer Geist wird für immer in diesem Land gefangen sein. Er wird ziellos herumirren, ohne die geringste Aussicht, jemals die Andere Welt zu erreichen.“

„Andererseits, mitnehmen können wir euch auch nicht“, fuhr er fort und wurde bleich, als er sah, wie sich die Gesichter der Männer veränderten. Schnell sprach er weiter. „Abgesehen davon, dass viele von euch auf dem Transport unter großen Qualen zugrunde gehen würden, wären wir gezwungen, langsamer zu reisen. Das würde den Macedonen genug Zeit geben, einen neuen Schlag gegen uns vorzubereiten. Doch wir alle haben dafür zu sorgen, dass unsere Völker weiterbestehen. Das sind wir denen schuldig, die bereits im Kampf für uns gefallen sind, und vor allem denen, die noch am Leben sind.“

Brennus bedeutete dem Priester, neben ihn zu treten. „Die Männer des heiligen Standes, die Heilkundigen, die bislang eure Schmerzen gelindert haben, werden euch heute Abend noch ein letztes Mal dienen. Sprich nun du“, wandte er sich an den neben ihm Stehenden.

Der Priester hielt seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Seine Stimme war tief und ein wenig heiser.

„Ihr wisst, dass wir viele Geheimnisse der Natur kennen. Eine unserer Aufgaben ist es, diese Geheimnisse für die Nichteingeweihten nutzbar zu machen. Wir sagen den Bauern, wann sie ihre Früchte anbauen und einbringen sollen, wann die Zeit ist, das Vieh auszutreiben. Wir sind es auch, die den guten und den bösen Geist in Pflanzen erkennen und beides zum Wohl der Menschen einsetzen. Aus unseren Händen habt ihr bereits erfahren, dass die Kraft der Pflanzen auch den Geist befreien kann. Und nur, wenn der Geist frei ist, frei von der kranken Hülle, die ihn umgibt, kann er mit uns weiterziehen.“

Er griff in seine Kutte und holte einen grünen Zweig hervor. Er hatte sattgrüne, ovale Blätter, und auf den kleinen Blattsternen saßen schwarze, Kieselstein große Beeren.

„Wenn sich heute Abend das Sonnenrad des Belenus hinter den Felsen zur Ruhe begibt, wollen wir noch einmal Kriegerfeuer entzünden. Es werden eure Feuer sein. Wir wollen euch feiern, wie es großen Kriegern zukommt. Die Nahrungsbeschaffer haben für reichlich Fleisch gesorgt, und die Sänger werden von euren Taten singen. Und habt ihr sonst Bier getrunken, so soll es heute Wein sein.“

Der Priester machte eine Pause, dann hielt er den Zweig hoch. „In dieser Pflanze wohnt einer der Geister, die euch die Schmerzen genommen haben. Dieser Geist wird heute Abend in eurem Wein sein, allerdings wird er stärker sein, als bisher. Doch seid unbesorgt“, fügte er rasch hinzu, „es wird nicht schmerzen. Im Gegenteil! Licht werdet ihr sehen, trotz der Dunkelheit der Nacht, und die Götter werden zu euch sprechen! Ihr werdet im Rausch sein, doch dieser Rausch wird anders sein als der des Bieres und des Weines, denn er wird nicht aufhören. Und wenn das Feuer erlischt, dann wird euer Geist den Weg in die Andere Welt gefunden haben.“

Aleso konnte während der Rede des Priesters seine Augen nicht von den Männern abwenden. Auf ihren Gesichtern lag ein Ausdruck, den er nicht deuten konnte. Schrecken? Angst? Enttäuschung? Er wusste es nicht.

Auch Brennus schien zu spüren, dass er jetzt nichts mehr sagen konnte. Er wandte sich um und verließ zusammen mit dem Priester die Schlucht. Als sie an Aleso vorbeikamen, sagte Brennus leise zu dem Priester: „Was denken sie?“

Dieser blickte ihn aus tiefliegenden, durch die Kapuze überschatteten Augen an. „Diese Männer denken nicht mehr“, antwortete er schließlich. „Sie sind tot.“

Und nach einer Pause: „Sie sind gestorben, als du sie rufen ließest.“

 

Sie hatten ihre Schmerzen vergessen.

Sie hatten alles vergessen.

Sie hatten sogar vergessen, dass dieses ihre letzte Nacht war.

Brennus hatte darauf bestanden, dass Aleso und einige seiner besten Reiter mit ihm an den Feuern der Sterbenden saßen, um ihnen die Ehre zu geben, dass ein hochrangiger Krieger ihren letzten Geschichten lauschte. Die Familien der Todgeweihten waren kurz nach Brennus‘ Rede gekommen und hatten sich von ihren Männern, Vätern und Brüdern verabschiedet. Bei ihrer letzten Nacht jedoch sollten sie nicht dabei sein. Es sollte für die Männer eine Nacht der Krieger werden.

Aleso fror. Selbst im Kampf hatte er noch nie solche Angst gehabt. Noch nie hatte er den Anblick seiner Feinde so sehr gefürchtet wie den Anblick der sterbenden Männer, mit denen er in Freundschaft das Feuer teilte.

Doch inzwischen musste sich Aleso von Zeit zu Zeit gewaltsam in Erinnerung rufen, dass diese Krieger mit jedem herunterbrennenden Holzhaufen dem Tod näher kamen. Ausgelassen erzählten sie Geschichten über ihre Heldentaten in Macedonien, prahlten mit der Zahl ihrer Frauen und Kinder und reichten ihre Waffen zur Begutachtung herum. Natürlich waren sie betrunken, aber dann begannen Dinge zu passieren, die er nicht geglaubt hätte, hätte sie ihm jemand anders erzählt. Ein Krieger, der noch zu Beginn des Festes wegen seiner schweren Beinverletzung zu seinem Feuer getragen worden war, stand plötzlich auf und spielte eine Kampfszene nach. Ein anderer, der unmittelbar neben Aleso saß, ließ versehentlich den Eisenhaken, mit dem er sich das Fleisch aus dem Topf angelte, im Feuer liegen, bis dieser rot glühend war. ‚Nein!‘ wollte Aleso schreien, als er sah, dass der Mann plötzlich ohne hinzuschauen nach dem Haken griff.

Zu spät.

Es zischte bösartig, und Aleso stockte der Atem. Aber ... Bei allen Göttern! Der Mann hob seine Hand, die immer noch den Haken hielt, und betrachtete sie, als würde sie ihm nicht gehören. Der Ekel erregende Geruch von verbrannter Haut drang in Alesos Nase, doch der Krieger grinste ihn nur trunken an. „Wi... Willssu auch Fl... Fleisch?“ Alesos Magen verkrampfte sich, und er musste sich abwenden.

Dann irgendwann war er plötzlich da, der Moment, an dem alle Lieder gesungen, alle Geschichten erzählt, alle Fleischtöpfe geleert waren, von dem an kein neues Holz auf die Feuer gelegt wurde. Doch außer Aleso und seinen Männern war auch niemand mehr da, der die Kälte hätte spüren können. Die Ausgelassenheit der Verwundeten war gegangen. Langsam hatte sie einer großen Müdigkeit Platz gemacht, die die Männer manchmal sogar mitten in einer Erzählung angefallen hatte, mit der Macht des Wolfes, der einen Hirsch angreift. Ganz plötzlich unterbrachen sie ihre Rede, gähnten, und hatten dann auf einmal vergessen, was sie eigentlich hatten sagen wollen. Einer nach dem anderen suchte sich eine mehr oder weniger bequeme Stellung in einer Felsnische, oder rollte sich einfach auf dem harten Boden zusammen und fiel fast augenblicklich in einen tiefen Schlaf.

Auch Aleso fühlte sich schläfrig, und für einen Moment kam er sich vor, wie bei einem ganz normalen Kriegerfest. Nur etwas unterschied dieses Fest von allen anderen: als die große Müdigkeit begann, ging Brennus zu jedem einzelnen Mann und verabschiedete sich von ihm.

Die meisten erkannten ihn nicht mehr.

Nachdem Brennus seine Runde beendet hatte, bedeutete er Aleso und seinen Reitern mit einer Armbewegung, zu ihm zu kommen. Das Reden fiel ihm schwer, was nicht nur am Wein lag, dem auch er sehr stark, viel stärker als sonst zugesprochen hatte.

„Bestimme zwanzig Männer, die den Kriegern den Kopf nehmen. Dann lass zehn Schächte graben, wie die Opferschächte in unserer alten Heimat, mindestens zwei Mannlängen tief. Dort hinein wirf die zerstörten Waffen unserer Männer. Wenn die Priester und die Schmiede ihre Arbeit beendet haben und die Schächte geschlossen sind, werdet ihr die Körper unserer Krieger mit Steinen bedecken und den Eingang zur Schlucht mit Felsen verschließen. Ihren Geist konnten wir heute Nacht noch retten; vielleicht können wir auch ihre Körper schützen, für eine Weile wenigstens.“

Dann wandte er sich ab und ging weg.

Aleso drehte sich um und sah in die Augen seiner Männer. Keiner wollte zu denen gehören, die ihren Kampfgefährten die Köpfe abschlagen sollten. Und je länger Aleso in ihre Augen sah, desto mehr wurde ihm klar, dass er als ihr Anführer der Erste sein musste. „Wer kommt mit mir?“ fragte er leise. Zögernd hob einer die Hand. Weitere Hände folgten. Alle Hände. Aleso schluckte und seine Augen wurden heiß. Niemand würde mehr als drei Männern den Kopf nehmen müssen.

Dankbar nahm sein Körper den kalten Wind auf, der ihn unvermittelt ansprang. Die schmerzenden Gedanken in seinem Kopf konnte jedoch auch der nicht wegblasen.

Die Feuer waren noch einmal angefacht worden, als sie die Schlucht betraten. Die Übergänge zwischen Menschen und Schatten verschwammen, und aus dem Inneren des Felsenganges hörten sie das Singen der Priester und das metallische Hämmern, mit dem die Schmiede die Schwerter der toten Krieger für die diesseitige Welt unbrauchbar machten, damit sie diese auf dem Weg in die Andere Welt begleiten konnten. Kein Lebender durfte je wieder mit diesen Waffen kämpfen.

Schon gar kein Macedone.

Aleso spürte die Blicke seiner Männer in seinem Rücken. „Verteilt euch“, sagte er heiser. „Und habt keine Angst, auch wenn ihr nicht beim ersten Mal trefft, könnt ihr ihnen nicht mehr wehtun.“

Sagte er das nur zu sich selbst?

Mit der rechten Hand zog er sein Schwert, die Linke hielt die Fackel.

„Los!“

Seltsamerweise spürte Aleso hinterher nichts mehr, als er sah, wie seine Männer die kopflosen Körper der toten Krieger mit großen, zusammengesuchten Steinen bedeckten. Nein, sie waren nicht tot. Sie hatten sich doch nur ein wenig hingelegt, sie schliefen doch nur.

„Deckt sie gut zu“, sagte Aleso. „Es ist kalt.“

Seine Kampfgefährten sahen ihn fragend an.

Doch er konnte nichts mehr sagen.

In diesem Augenblick spürte Aleso eine Hand auf der Schulter.

Er fuhr herum und blickte in ein mageres, blasses Gesicht mit tiefliegenden Augen. „Was willst du?“ krächzte er heiser.

Der Andere sagte nichts, sah ihn nur unverwandt an.

Aleso drehte sich um und wollte gerade weggehen, da hörte er eine leise Stimme, die ihm nur zu bekannt war: „Aleso, der Tectosagier, ‚der, der den elephanton besiegt hat!’ Die Götter hatten Recht. Es kennen dich jetzt schon mehr Menschen, als dein Stamm Köpfe zählt.“

Aleso spürte, wie ihm die Sinne schwinden wollten.

Vor ihm stand der Mann, auf dessen Prophezeiung hin er seinen Stamm, seine neugefundene Familie verlassen, Tendomos enttäuscht, Grisala verletzt hatte.

Der Geschichtsbewahrer.

 

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Tag der Veröffentlichung: 20.01.2015

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