Cover

Drittes Buch – Ante portas

 

 

Im September des Jahres 616 nach Gründung der Stadt Rom

Das Lager der römischen Legionen vor Numantia

 

„Los, ihr schlappen Säcke! Die Zeit der Faulheit ist vorbei! Oder habt ihr etwa geglaubt, der Müßiggang geht eure ganze Dienstzeit so weiter?“

Das Lager auf dem der Stadt Numantia an ihrer nördlichen Seite gegenüberliegenden Hügel lebte. Die Centurionen rannten zwischen den Unterkünften der Legionäre hin und her und brüllten Befehle. Die Krämer und Wahrsager brachten sich und ihre Waren, Amulette und Pülverchen fluchtartig in Sicherheit, Legionäre kamen panikartig und kleiderordnend aus den Zelten der Huren gestürzt. Und die durch die lange Kampfpause ungeübten Bläser leisteten durch misstönendes Getröte ihren ganz eigenen Beitrag zu dem allgemeinen Chaos.

Lucius und Marcus hatten ihren Platz in der Formation bereits gefunden, als sich Antonius keuchend zwischen sie drängte. „Weiß jemand, was hier passiert?“

„Keine Ahnung“, antwortete Marcus. „Vielleicht endlich mal wieder eine Kampfübung?“

Antonius schnaufte verächtlich. „Das klingt ja gerade so, als hätten sie dir gefehlt! Beim Jupiter, mir brummt der Schädel! Hoffentlich sind wir Mittag fertig, ich brauche ganz dringend etwas Schlaf ...“

„Sauf einfach nicht soviel“, knurrte Lucius. „Was, wenn das jetzt eine richtige Schlacht wäre? Ich habe keine Lust, deinem Vater zu erzählen, dass sein Sohn gefallen ist, weil er seine zugequollenen Augen nicht aufgekriegt hat und einem Numantiner auf die Speerspitze gelaufen ist!“

Antonius winkte ab. Aber ihnen blieb auch keine Zeit mehr für weitere Spekulationen.

„Wie steht ihr denn da, ihr traurigen Gestalten? Ihr wollt ein consularisches Heer sein? Wollt ihr eurem Oberfeldherrn und darüber hinaus Rom Schande bereiten? Oder wollt ihr, dass sich die Numantiner über euch totlachen und wir kampflos in die Stadt einziehen können?“

Der erste Ansatz eines Gelächters wurde sofort niedergebrüllt. „Haltung annehmen! Die Waffen auf! Halblinks schwenkt!“

„Ist der auch noch besoffen?“ zischte Antonius. „Wieso halblinks? Zum Tor geht es doch ...“

„Antonius!“ unterbrach ihn Marcus. Doch der neben ihnen laufende Centurion enthob ihn der Aufgabe, seinen Freund über das Offensichtliche aufzuklären. „Ruhe beim Marsch! Oder habt ihr etwa noch zuviel Atem? Das können wir ganz schnell ändern! Und was guckt ihr wie die Rindviecher? Haben die Herren in den vergangenen Monaten den Weg zum Südtor vergessen!? Soll ich ihn euch vielleicht aufmalen!?“

Zum Südtor! Antonius war schlagartig nüchtern und starrte Lucius entsetzt an.

Das war keine Kampfübung!

Sie waren bislang nur wenige Male zum Südtor ausgerückt, zuletzt unter dem Consul Quintus Pompeius, fast unmittelbar nach ihrer Ankunft. Ausmarsch zum Südtor, also an der Numantia zugewandten Seite, hieß in jedem Fall, dass eine Schlacht bevorstand. Seit mehr als zwei Jahren waren die drei Freunde in Hispania. Und immer hatte eine Schlacht große Verluste für die römischen Legionen bedeutet. Die Tatsache, dass sie noch nie unter Consul Quintus Popillius Laenas gekämpft hatten, tröstete sie dabei nur schwach, um nicht zu sagen gar nicht. Einen Feldherrn, unter dem man schon ein- oder zweimal – wenn auch erfolglos – gekämpft hatte, konnte man einschätzen, konnte sich im Rahmen der Möglichkeiten eines Legionärs darauf einstellen. Aber wie erkannte man, ob ein Feldherr ein guter oder ein schlechter war, wenn nicht nur seine ganze Amtszeit lang Waffenstillstand geherrscht hatte, sondern der Consul darüber hinaus die meiste Zeit über gar nicht anwesend gewesen war?

„Bei allen Göttern Roms“, keuchte Antonius, als sie im Laufschritt aus dem Südtor den Hang hinabhetzten. „Er wird die Stadt doch wohl nicht direkt angreifen wollen?“

Die mit Sturmleitern beladenen Legionäre, die ihren Zug links und rechts überholten, beantworteten seine Frage.

Sie ließen ein kleines verlassenes Dorf rechts liegen und erreichten nach ungefähr zweitausend Schritten den Fuß des numantinischen Stadthügels. Der Consul ließ die Legionen kurz halten und in eine schmale Angriffsformation auflaufen, da sich der Weg hinauf zur Nordmauer der Stadt zwischen den Resten älterer Mauern und Verteidigungsanlagen verengte. Die Sturmleiterträger wurden ganz nach vorn geholt. Es war offensichtlich, dass Laenas tatsächlich einen Frontalangriff auf Numantia vorhatte.

Doch noch wartete man.

‚Bitte’, flehte Lucius insgeheim. ‚Bitte lass die Numantiner aus ihrer Stadt herauskommen!’ Die Vorstellung, durch enge Gassen zu stürmen, von den Dächern der Häuser herunter mit heißem Wasser oder siedendem Öl übergossen und aus Fenstern, Türen und verborgenen Winkeln heraus mit Speeren und Pfeilen beschossen zu werden, erfüllte ihn mit Angst. Ein Seitenblick auf Antonius und Marcus zeigte ihm, dass es seinen Freunden genauso ging. Keiner wollte den Häuserkampf. Schon gar nicht in einer Stadt, die sie nicht kannten.

Aber genau genommen wollte auch keiner von ihnen eine offene Feldschlacht.

Doch zu der schien es auch nicht zu kommen, denn oben in der Stadt blieb alles ruhig.

Ein einzelner Reiter erschien vor der römischen Angriffslinie. Quintus Popillius Laenas. Er warf einen verächtlichen Blick nach oben, dann wandte er sich den ängstlich wartenden Legionen zu.

„Mir scheint“, begann er mit lauter Stimme, „mir scheint, dass die Numantiner nur dann mutig sind, wenn sie uns auf dem Marsch aus dem Hinterhalt heraus überfallen können. Mir scheint, dass sie sich ansonsten außerhalb ihrer Mauern unwohl fühlen. Nun“, seine Stimme wurde lauter, „dann lasst uns die Feigheit der Hispanier als Einladung werten.“ Er zog sein Schwert und reckte es in Richtung des Stadthügels. „Zeigt ihnen, dass die Legionen Roms keinem Kampf aus dem Weg gehen!“

„Vorwärts!!“ brüllten die Centurionen los, kaum dass Laenas geendet hatte. „Angriff!!!“

Ein Ruck ging durch die Reihen, doch schon nach den ersten Schritten verlangsamte sich das Tempo des Angriffs merklich, was nicht notwendigerweise an der zunehmenden Neigung des Anstiegs lag. Lucius fluchte innerlich, denn schon nach dieser kurzen Strecke war er schweißgebadet. In seinen schmerzenden Muskeln fühlte er jeden einzelnen der zurückliegenden untätigen Monate. Und dabei hatte er sich noch zurückgehalten, was den Wein und vor allem Frauen anging. Wie musste erst der arme Antonius leiden!

Die Männer mit den Sturmleitern waren nur noch knapp einhundert Schritte von der Stadtmauer entfernt. Unwillkürlich packte Lucius seinen Schild fester und hob ihn etwas höher. Gleich darauf ließ er ihn wieder sinken. Unsinn! Keiner von ihnen würde sehen, woher der erste Pfeil oder Speer kam!

Noch fünfzig Schritte! Und noch immer zeigte sich keiner der Verteidiger auf der Stadtmauer. In Lucius keimte die unsinnige Hoffnung, dass die Stadt leer war, dass die Einwohner Numantia angesichts des drohenden Angriffs heimlich verlassen hatten. ‚Hör auf zu träumen!’ schalt er sich. Niemand wusste genau, wie viele Verteidiger die Stadt hatte, doch es waren sicher einige Tausend, Frauen, Kinder und Alte noch nicht einmal mitgezählt. Wie sollten sich so viele Menschen unbemerkt davonschleichen können?

Dreißig Schritte. Zwanzig. Noch immer keine Spur von Widerstand.

Die ersten Reihen erreichten die Mauer. Die Sturmleitern wurden angestellt, und deren Träger traten zur Seite. Die nachfolgenden Legionäre verlangsamten ihren Schritt. Lucius, Antonius und Marcus sahen sich an. Nur noch wenige Augenblicke, dann würden sie über die Leitern in eine unbekannte Stadt eindringen. Was sie am meisten fürchteten war der Moment, in dem sie das obere Ende der Leitern erreichten, wenn diese nicht vorher schon umgestoßen worden waren. Mit einer Hand an der Leiter festhalten, mit dem Schwert in der anderen die Verteidiger abwehren, das war eine der schwierigsten Kampfsituationen, vor allem, weil sie bei den Übungen der armatura nicht vorgekommen war. Viele würden sterben, und es würde lange dauern, bis es genügend von ihnen geschafft haben würden, die Mauer zu überwinden, um die Verteidiger zurückzutreiben und den Nachfolgenden ein gefahrloses Erklimmen der Befestigungen zu ermöglichen.

Dann würde das eigentliche Gemetzel in den Straßen Numantias beginnen.

Und noch mehr von ihnen würden sterben.

Die Sturmleitern standen. Doch gerade als die Ersten mit dem Aufstieg beginnen wollten ...

„Halt! Zurück! Das ist ein Hinterhalt!“ schrie jemand. Lucius war sich nicht sicher, doch er glaubte, dass es die Stimme von Quintus Popillius Laenas gewesen war.

Das glaubten wohl auch fast alle anderen Legionäre, denn sie drehten sich auf der Stelle um und traten den Rückzug an.

Rückzug? Selbst in einer Schlacht bedeutete Rückzug, dass Befehle gegeben und befolgt wurden, dass sich die hinteren Reihen zurückfallen ließen, um dem Hauptheer den Rücken freizuhalten. Und vor allem bedeutete es, dass auch beim Rückzug die Marschordnung erhalten blieb. Von all dem konnte hier keine Rede sein. Der Rückzug erinnerte eher an die Flucht eines aufgeriebenen Heeres, nur, dass sie bisher noch nicht einen einzigen Feind zu Gesicht bekommen, geschweige denn gekämpft hatten. Jeder lief, so schnell es das Gedränge zuließ, schubste auch schon einmal einen anderen Legionär, nur um selbst schneller voranzukommen; das einzige, was sich niemand getraute war, seine Waffen wegzuwerfen, um besser laufen zu können.

Normalerweise hätten in solch einer Situation die Centurionen und Tribunen dafür gesorgt, dass die Ordnung erhalten blieb oder zumindest wiederhergestellt wurde.

Normalerweise hätten die Legionäre vor ihren Centurionen und Tribunen auch mehr Angst als vor dem Feind gehabt.

Nicht so hier.

Denn auch die Centurionen und Tribunen der römischen Legionen der Provinz Hispania citerior rannten.

Lucius registrierte mit Erstaunen, wie leicht sich seine Beine auf einmal wieder anfühlten.

Keinem von ihnen kam in den Sinn, wie eigenartig diese Szene auf einen Beobachter wirken musste. Besonders dann, wenn dieser Beobachter hinter den Mauern der Stadt Numantia saß.

Doch sie würden auch keine Zeit haben, darüber nachzudenken, welch seltsames Bild sie als Heer abgaben, das vor einem unsichtbaren Feind floh.

Vor Lucius stolperte ein Legionär und stürzte zu Boden. Lucius konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen, verfing sich in den Beinen des Mannes und fiel ebenfalls. Schnell rappelte er sich auf, um nicht von den Nachdrängenden überrannt zu werden. „Komm hoch“, keuchte er, während er an dem Lederpanzer des Legionärs zerrte, „ehe du hier noch zertrampelt wirst.“ Doch der Mann rührte sich nicht. „He!“ rief Lucius. „Wir müssen hier weg!“ Er fasste etwas tiefer, um den Kameraden hochzuziehen – und griff in warme Nässe. Beim Wegzucken stieß seine Hand gegen einen harten Gegenstand.

Lucius erstarrte. Doch ehe er begriff, dass der Mann da vor ihm tot war, niedergestreckt durch einen Pfeil, brach das Chaos über sie herein.

Jemand riss an seinem Arm. Antonius! Erst jetzt vernahm Lucius das ohrenbetäubende Geheul, das in dieser verhassten rauen, kehligen Sprache ausgestoßene Kriegsgeschrei und die Todesschreie der Kameraden, die unter Speeren und Pfeilen der Numantiner zusammenbrachen.

Jetzt brüllten die Tribunen Befehle, die wohl bewirken sollten, dass die Legionen stehenblieben, sich umwandten und dem angreifenden Feind entgegenstellten. Viele Legionäre starben jedoch mit ihren tödlichen Wunden im Rücken. Doch sie erwiesen ihren Kameraden noch einen letzten Dienst: der Angriff der numantinischen Fußkämpfer wurde langsamer, weil diese über die zahllosen toten Legionäre hinwegsteigen mussten. In den Übungskämpfen in der Ausbildung hatten sie gelernt, dass das die Aufgabe von den hinter den Linien knienden, schwer gepanzerten triarii mit ihren Lanzen war. Doch das hier war nicht einmal eine Schlacht. Das hier war nur Chaos. Viel zu spät gelang es den Centurionen, die Legionäre in eine einigermaßen stabile Verteidigungslinie zu zwingen.

Zu ihrem Entsetzen fanden sich Lucius, Antonius und Marcus in der ersten Reihe eben dieser breiten, drei Mann tiefen Verteidigungslinie wieder.

Sie würden kämpfen müssen, das allererste Mal seit ihrer Ankunft in Hispania. Damals, unter Quintus Pompeius, hatten sie Glück gehabt und bei den Gegenangriffen der Hispanier zu denen gehört, deren Rückzug gesichert wurde.

Jetzt war es an ihnen, ihren Kameraden den Rücken freizuhalten.

Die Numantiner waren nur noch etwa zweihundert Schritt entfernt. Soweit Lucius sehen konnte, waren es nur Fußkämpfer, die jedoch mit ungeheuerer Geschwindigkeit den Hang heruntergeprescht kamen. „Ihr müsst die erste Welle überstehen!“ schrie der Centurion, der die Kohorte der drei Freunde anführte. „Nur die erste Welle! Wenn sie beim ersten Anlauf scheitern, ziehen sie sich in ihre verfluchte Stadt zurück!“

Lucius zitterte am ganzen Leib. Er schwitzte und fror gleichzeitig. Er hörte, wie Marcus rechts neben ihm in einer Art monotonem Sprechgesang irgendwelche Götter beschwor, deren Namen Lucius noch nie gehört hatte, und Antonius zu seiner Linken rieb und küsste unaufhörlich einen kleinen glänzenden schwarzen Stein an einem Lederband. Lucius schloss für einen Moment die Augen und zwang sich, tief und ruhig zu atmen. Sein Kurzschwert lag fest in seiner rechten Hand.

Als er die Augen wieder öffnete, waren die Numantiner bis auf weniger als einhundert Schritte heran. Und jetzt sah Lucius zum ersten Mal aus unmittelbarer Nähe, was er bislang nur aus Erzählungen gekannt und für eine maßlose Übertreibung gehalten hatte: die am meisten gefürchtete Waffe der Hispanier, die falcata, ein riesiges Schwert, das von seiner Form her eher an das Hackebeil eines Riesen erinnerte, so lang wie das Bein eines Römers und sicher unglaublich schwer; dennoch schwangen es die Numantiner zum Teil mit nur einer Hand über dem Kopf. Aber sonst hatten die Angreifer nichts mit den barbarischen Wilden gemein, die sich Lucius in seinen Vorstellungen ausgemalt hatte, wild bemalt, mit freiem Oberkörper oder sogar ganz nackt, mit langem, wehendem, ungepflegtem Haar und struppigen Bärten. Im Gegenteil. Die Numantiner waren ehrlicherweise besser ausgerüstet als die Legionäre Roms. Viele trugen Kettenhemden, noch mehr hatten Helme mit wehenden Pferdeschweifen auf dem Kopf und schützten ihren Oberkörper mit einem Brustpanzer aus Metall- und Lederstreifen. Ihre Schilde waren so groß, dass sie den ganzen Körper decken konnten. Speere hatten sie keine mehr. Die meisten der Wurfgeschosse mit den zum Teil drei Fuß langen Blättern steckten im Boden oder in den Rücken toter Legionäre.

Mit einem schnellen Kopfschütteln löste Lucius seine Starre. Er spürte das Beben des Bodens unter seinen Füßen und glaubte den Schweißgeruch der herannahenden Numantiner zu riechen. Er packte seinen Schild und sein Schwert noch fester und erwartete den Aufprall. Fieberhaft suchten seine Augen den Mann, der auf ihn treffen würde.

Dann schien sich der Fluss der Zeit mit einem Mal zu beschleunigen. Lucius nahm nur noch einen Schatten vor seinen Augen wahr, dann wurde er von einer ungeheueren Gewalt zurückgeschleudert und prallte gegen die hinter ihm Stehenden. Sein Helm verrutschte, und für einen unendlich langen, panischen Augenblick war er blind. Ein Stoß in den Rücken richtete ihn wieder auf. Mit der Schulter ruckte er an seiner Kopfbedeckung bis er wieder sehen konnte. Wieder wurde er von einem in die Linien stürmenden Numantiner angerempelt. Links und rechts von Lucius stürzten Männer zu Boden, Legionäre, Angreifer, Verletzte, Tote oder solche, die wie Lucius durch die Wucht des Angriffes einfach nur aus dem Gleichgewicht gebracht worden waren. Doch soweit er sehen konnte, hielt ihre Linie noch. Die meisten der anrennenden Hispanier blieben spätestens in der dritten Reihe stecken und wurden in Einzelkämpfe verwickelt.

Lucius sah wieder einen numantinischen Krieger auf sich zukommen, doch diesmal war er vorbereitet. Er stemmte seinen rechten Fuß in den Boden. Ein Blick nach rechts zeigte ihm, dass auch Marcus und Antonius noch standen; Marcus kämpfte bereits, während Antonius noch auf seinen Gegner wartete. Lucius spürte, wie er ruhiger wurde. Er fasste den Angreifer ins Auge. Die Hand, die das Schwert hielt, hörte auf zu zittern.

Plötzlich brach der Numantiner aus und wollte sich links an Lucius vorbeidrücken. Entschlossen trat ihm Lucius in den Weg.

Der feindliche Krieger stutzte einen Augenblick, dann verzog sich sein Gesicht zu einem Grinsen. Seine Hand mit der falcata vollführte eine kreisende Bewegung, wie um das Gelenk zu lockern. Lucius schluckte, doch er blieb stehen.

Plötzlich machte der Numantiner einen Schritt nach vorn und hob sein Schwert. Instinktiv wollte Lucius den Schildarm hochreißen, doch irgendwie sagte ihm sein Unterbewusstsein, dass sein kleiner Lederschild kaum eine Chance hatte, den Schlag mit dieser furchtbaren Waffe abzuwehren. Im letzten Augenblick machte er einen schnellen Ausfallschritt nach links und der Schlag ging ins Leere. Die Wucht riss den Angreifer nach vorn und er stolperte an Lucius vorbei. Der sah seine Chance und versetzte ihm einen Hieb in den Rücken. Schon wollte das Gefühl des Sieges in ihm durchbrechen, da drehte sich der Numantiner um. Er war unverletzt; der Metallstreifen, der den Brustpanzer hinten zusammenhielt, hatte Lucius Schwert abgefangen. Doch das Grinsen war von dem Gesicht des Angreifers verschwunden. Er sah Lucius einen Moment lang unverwandt an, dann stürzte er mit einem Wutschrei auf ihn los. Die falcata jetzt beidhändig schwingend, drang er auf Lucius ein, der seinerseits jedoch schnell genug war, den Schlägen auszuweichen. Erst jetzt merkte er, dass es zu regnen begonnen hatte.

Das ständige Danebenschlagen ließ die Arme von Lucius’ Gegner schnell ermüden. Jeder Schlag wurde jetzt von einem schnaufenden Stöhnen begleitet. Wieder daneben! Plötzlich stieß Lucius Fuß gegen einen toten Legionär. Er geriet ins Straucheln, kämpfte um sein Gleichgewicht. Dabei rutschte ihm sein Schild vom Arm und fiel in den zertrampelten Schlamm, der sich durch den Regen gebildet hatte.

Er wusste hinterher nicht zu sagen, ob der Numantiner von seinen eigenen Bemühungen Lucius zu treffen abgelenkt war, oder ob ihm das Wasser in die Augen gelaufen war und seine Sicht getrübt hatte, jedenfalls trat sein Angreifer in den am Boden liegenden Schild, rutschte aus und fiel ziemlich unkriegerisch auf den Rücken. Sofort war Lucius über ihm und setzte ihm das Schwert an die Kehle. Durch die zusammengepressten Zähne und mit hasserfüllten Augen sagte der numantinische Krieger etwas Unverständliches. Lucius zögerte einen winzigen Augenblick. Dann stieß er zu. Er spürte das letzte Aufbäumen des Mannes unter sich, und sah die Augen, die sich verdrehten, bis nur noch das Weiße zu sehen war.

Dann begriff er, dass er gesiegt hatte.

Dass er seinen ersten Menschen getötet hatte.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er nur Menschen sterben sehen.

Ein übler, fauliger Gestank stieg in seine Nase. Die Gedärme des Numantiners hatten sich im Todeskampf entleert. Lucius war verstört. Bislang hatte in seiner Vorstellung der Tod im Kampf etwas Heldenhaftes gehabt. Er hatte bis dahin nicht gewusst, dass die Natur einen gewaltsamen Tod gelegentlich dadurch rächte, indem sie dem Toten die Würde nahm. Angewidert stand er auf und sah sich um. Die vorderen beiden Reihen der römischen Verteidigungslinie, die den Rückzug der consularischen Legionen deckte, waren fast vollständig zusammengebrochen; die wenigen, die den ersten Zusammenstoß überstanden hatten, hatten sich in die hinteren Glieder zurückgezogen, so dass sich Lucius genau genommen hinter der feindlichen Angriffslinie befand. Die Geräusche um ihn herum hatten etwas geisterhaftes an sich. Es war, als würde er alles wie durch eine dicke, über den Kopf gezogene Decke hören. Der aufgeweichte Boden und der Regen schluckten das Stöhnen und Grunzen der kämpfenden Männer, hier und da hörte er, wie mit einem kurzen hellen und sofort wieder absterbenden Laut Metall auf Metall schlug, und die Todesschreie der Sterbenden klangen so dumpf, als würde ihnen jemand den Mund zuhalten. Dazu kam das eigenartige, fahle Licht der hinter schlierigen Wolken verborgenen Sonne, das alles in ein totes, gelbliches Licht tauchte. Der Fluss der Zeit schien annähernd zum Stillstand gekommen zu sein.

Wie ein Schlafwandler setzte sich Lucius in Bewegung, als er in einiger Entfernung Marcus und Antonius erblickte. Beide kämpften noch. Als Lucius bis auf etwa dreißig Schritte herangekommen war, gelang es Marcus, seinen Gegner zu unterlaufen und ihm das Schwert in den Leib zu stoßen. Der Numantiner sank auf die Knie. Marcus wandte sich ab und kam auf Lucius zu. Der hörte hinter sich ein Geräusch und drehte sich kurz um. Doch da war nichts. Als er sich wieder Marcus zuwandte, stockte ihm der Atem.

Marcus’ Gegner war wieder aufgestanden. Mit stierem Blick, die falcata hinter sich her schleifend, näherte er sich Marcus von hinten. Dieser bemerkte ihn nicht.

Lucius wollte schreien, doch seine Kehle war zu trocken. Er riss sein Schwert hoch und zeigte damit auf den Mann hinter Marcus. Sein Freund missverstand die Geste und hob triumphierend sein Schwert, um es wie ein Sieger in die Luft zu strecken.

Es war das letzte Mal, dass Lucius seinen Freund lachen sah.

Mit einem Röhren, dass dem Donnern herabstürzender Felsen ähnelte, hob der Numantiner mit beiden Händen seine falcata hoch in die Luft. „Nein!!!“ schrie Lucius. Doch er widerstand dem Drang, die Augen zu schließen, um das Unvermeidliche nicht sehen zu müssen.

Das Gebrüll des numantinischen Kriegers wurde übertönt von dem überkippenden Schrei, der nichts Menschliches mehr an sich hatte. Mit Entsetzen sah Lucius, wie die falcata mit furchtbarer Gewalt herab schoss, Marcus’ rechte Schulter traf und den Schwertarm abtrennte. Der Arm fiel zu Boden ohne die Waffe loszulassen. Marcus’ Beine knickten ein und er sank auf die Knie. Blut schoss in großen Stößen aus der entsetzlichen Wunde. Sein Schreien wurde zu einem undeutlichen Gurgeln und verstummte schließlich ganz, als ein Blutschwall aus seinem Mund kam.

Lucius konnte sich nicht bewegen. Er konnte nur stehen und starren. Der Numantiner, der selbst verwundet war und sich nach dem Hieb halb vornüber gebeugt auf sein Schwert gestützt hatte, um nicht wieder zusammenzusinken, richtete sich wieder auf. Ohnmächtig sah Lucius, wie der Mann sein riesiges Schwert erneut hob. Er warf noch einen Blick auf Marcus’ inzwischen ausdrucksloses Gesicht, auf die halbgeschlossenen Augen, die nichts mehr sahen.

Der seitlich geführte Schlag schleuderte Marcus’ Kopf fast zehn Schritte weit zur Seite.

Langsam, unglaublich langsam fiel der enthauptete Rumpf vornüber.

Lucius sah, wie der Numantiner sich jetzt Schritt für Schritt auf ihn zu bewegte, doch er war unfähig, sich zu rühren. Er stand, Schild und Schwert herabgesunken, während der verletzte Krieger auf ihn zu wankte.

Einen Moment lang trafen sich ihre Augen.

Dann brach der Numantiner zusammen.

Lucius warf sich zur Seite und erbrach sich. Dann richtete er sich auf und begann, sich vor Schmerz stumm gegen die Brust zu schlagen.

Er wusste nicht, wie lange er so gekniet hatte, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Er sah auf und blickte in Antonius’ blasses, blutverschmiertes Gesicht.

„Komm“, sagte er mit brüchiger Stimme. „Die Barbaren ziehen sich in ihre Stadt zurück und die Legionen haben das Lager auf dem Hügel erreicht. Wir sollen wieder einrücken.“

„Und Marcus?“ flüsterte Lucius.

„Wir ... die ...“ Antonius hustete. „Die Toten werden nachher geholt. Wir sollen nur die Verletzten mitnehmen. Wenn wir welche finden.“ Er hustete wieder. „Dieses furchtbare Schwert! Und wir mit unserem lächerlichen Schild und dem Lederpanzer! Warum kämpfen wir denn nicht gleich nackt?“

In Lucius schnappte etwas. Die Tränen stoppten, das Zittern hörte auf. Er legte Schwert und Schild ab und stand auf. Antonius sagte etwas, aber er hörte nur Laute, die keine Bedeutung für ihn hatten. Ganz langsam ging er zu der Stelle an der Marcus’ Kopf lag, nahm ihn in die Hände und ging zurück. Er ignorierte Antonius’ entsetzten Blick und legte den Kopf neben den Leichnam des Freundes. Er sah sich suchend um, dann entdeckte er auch den abgeschlagenen Arm. Die blutleere Hand umkrampfte immer noch den Schwertgriff.

Als Marcus’ Körper vollständig war, nahm er Schild und Schwert wieder auf und wandte sich zu Antonius um.

„Lass uns gehen“, sagte er mit einer Stimme, die ihm selbst fremd war.

 

Zur selben Zeit im Forum Romanum

 

Das Peitschenknallen schallte von den Mauern der umstehenden Gebäude wider. Senator Furius Philos Augen zuckten bei jedem Schlag. Publius Cornelius Scipio stand dagegen ungerührt und sah der öffentlichen Bestrafung der Hispanier zu, die die Dreistigkeit besessen hatten, aus den römischen Hilfstruppen zu desertieren, in die zwangsrekrutiert worden zu sein sie das Privileg gehabt hatten.

„Was meinst du, was es war?“ fragte Furius Philo. „Mut oder Feigheit?“

Scipio blickte weiter unverwandt auf das Schauspiel zu seinen Füßen. Ohne den Blick abzuwenden antwortete er: „Das liegt im Auge des Betrachters. Ist es Mut, seinem Dienstherrn wegzulaufen? Ist es Feigheit, nicht als Angehöriger römischer Truppen gegen seine eigenen Leute kämpfen zu wollen?“

Furius Philo verdrehte die Augen. „Du warst eindeutig zu lange mit Panataios unterwegs. Oder die Eindrücke von deiner Wiederbegegnung mit Polybios waren zu stark. Du klingst schon genauso wie deine Philosophenfreunde.“

Jetzt lächelte Scipio, aber mehr zu sich selbst. Das war wohl der erfreulichste Aspekt seiner Rückkehr gewesen: die Versöhnung mit seinem väterlichen Freund. Sie waren ohne Angst aufeinander zugegangen, körperlich, aber auch in ihren Ansichten. Es war offensichtlich: Scipios Reise und die damit verbundene Trennung hatte ihrer Freundschaft gut getan.

„Was ist mit unserem Plan?“ wechselte Scipio das Thema.

„Alles läuft wie es soll“, antwortete Furius Philo.

„Und unser spezieller Freund?“

„Denkt, er hat das große Los gezogen und glaubt tatsächlich daran, dass er der Retter Roms wird.“

„Und das Schweinchen?“

Furius Philo hob die Schultern in einer bedauernden Geste. „Der wird dich sicher ein ganz klein bisschen weniger liebhaben, wenn er mitbekommt, dass er sich keine großen Ehren auf den hispanischen Schlachtfeldern wird verdienen können.“

„Er wird es überleben.“

Die Auspeitschung der Deserteure war inzwischen beendet. Die Menge der Schaulustigen löste sich auf. Scipio blickte in den wolkigen Septemberhimmel. ‚Noch ein Jahr!’ dachte er. ‚Noch ein Jahr, dann ist es geschafft!’

Und er fühlte sich leicht.

 

 

Anfang Februar des Jahres 617 nach der Gründung der Stadt Rom

Rom

 

„Es ist soweit alles zur Abreise bereit, Consul.“ Der Tribun deutete ein kurzes Kopfnicken an.

„Was heißt ‚soweit’?“

„Nun, Consul, das einzige was noch fehlt, ist dein quaestor.“

Gnädig winkte ich ab, und der Mann entfernte sich.

Ich lehnte mich zurück, genoss noch einmal die Stille meines Hauses und gab mich meinen Gedanken hin.

Consul Caius Hostilius Mancinus.

Ich hatte es geschafft.

Nach jener denkwürdigen Senatssitzung war alles genauso perfekt weiterverlaufen, wie es von der Gruppe um Senator Lucius Furius Philo geplant gewesen war. Die Senatoren hatten die numantinische Abordnung unter Rhetogenes nach ihrer Entscheidung noch über zwei Wochen warten lassen, ein offener Affront. Dann hatte man den verärgerten Abgesandten erklärt, dass die Versammlung der römischen Bürgerschaft nach „langer und schwieriger Beratung“ zu dem Schluss gekommen wäre, dass es keinerlei Grund gäbe, die Glaubwürdigkeit der Consuln Quintus Pompeius und Marcus Popillius Laenas anzuzweifeln. Insofern könne nicht von der Existenz eines wirksamen Freundschaftsvertrages zwischen Rom und Numantia ausgegangen werden. Das wiederum hätte zwangsläufig zur Folge, das Numantia nunmehr die Wahl habe zwischen einer bedingungslosen Kapitulation und Übergabe der Stadt an die in Hispania stationierten römischen Truppen unter inzwischen Proconsul Laenas oder der Fortführung des Krieges. Ohne sich Bedenkzeit auszubedingen waren die Numantiner aus dem Saal gestürmt und hatten dabei gebrüllt, dass es eine Kapitulation ohne Berücksichtigung der ihnen zugesicherten Bedingungen nicht geben würde, und dass die Römer ihren Verrat bereuen würden.

Damit hatte festgestanden, dass der Krieg in Hispania weitergehen würde. Somit war auch die Zeit gekommen, den Marcus Popillius Laenas aus der Provinz abzuziehen, zumal sich seine Amtsperiode als Proconsul ohnehin dem Ende entgegen neigte. Das gesamte letzte Jahr hatte der neue Consul Decianus Iunius Brutus damit verbracht, sich aus einem Krieg mit den Numantinern herauszuhalten, und stattdessen die kleinen Aufstände der Lusitanier niederzuschlagen, die trotz des Todes ihres Anführers Viriathus eine erstaunliche Renitenz an den Tag legten. Und hatte ich zunächst noch die Befürchtung gehabt, dass sich der Brutus doch noch gegen den mir zugedachten Gegner zu wenden entscheiden könnte, so erreichte uns etwa im Juli eine Geschichte, die mir sämtliche Sorgen nahm. Auf einem Marsch hätten sich wohl seine abergläubischen Legionen geweigert, einen Fluss zu überqueren, nachdem jemand verbreitet hatte, dass der Name dieses Flusses ‚Lethe’ war, so wie der des Flusses in der römischen Unterwelt. Und nach vielen Nächten, in denen ich in meinen Träumen abwechselnd den größten Triumph meines Lebens oder eine weitere der üblichen Niederlage durchlebte, geschah tatsächlich, was die Männer um Senator Lucius Furius Philo vorausgeplant hatten: Als die Frage des Consulats für das Folgejahr und damit die des Nachfolgers des Laenas erörtert wurde, war es – da die Hispania-Frage aktuell das einzige drängende militärische Problem für Rom darstellte – für niemanden eine Überraschung, dass man mich als den erwiesenen Landeskundigen unter dem üblichen Gemurmel derer, die sich selbst Chancen auf das höchste aller römischer Ämter ausgerechnet hatten, mit großer Mehrheit als Consul vorschlug. Mit fast allen Senatoren als Fürsprecher brachte dann auch die Volksabstimmung bei den Wahlen das gewünschte Ergebnis. Mein Amtskollege, und auch das war zumindest für mich keine Überraschung, wurde „das Schweinchen“, der Marcus Aemilianus Lepidus [Er trug wegen seiner Fettleibigkeit den Beinamen „Porcina“ – Anmerkung d. Autors]. Sehr zu dessen Verdruss stand die Aufgabenteilung zwischen uns von Anfang an fest: Lepidus sollte sich in Rom um eventuelle Kritiker unserer Außenpolitik kümmern, während ich in der Provinz Hispania das zuende brachte, woran soviele vor mir gescheitert waren.

Ich würde nicht scheitern. Numantia sollte für mich das werden, was Carthago für den Scipio gewesen war. Als Consul Caius Hostilius Mancinus Numantinus wollte ich ein Teil der römischen Geschichte werden.

Mit einem großen Fest hatte ich meine Freunde, Klienten, meine Gönner und meine Familie an meiner Freude an meiner Wahl zum Consulat teilhaben lassen. Sie hatten mich gefeiert und mich ihrer Loyalität und Unterstützung versichert, sollte ich sie denn je nötig haben. Nachdem sie alle wieder gegangen waren, hatte ich noch mit meiner Frau und meinen Kindern zusammen gesessen. Bei Fannia hatte sich eine wundersame Wandlung vollzogen. Seit es wahrscheinlich war, dass ich diesmal mit meinen Bemühungen um politischen Aufstieg erfolgreich sein würde, buhlte sie um mein Wohlwollen und war eifrig bemüht, mir alles recht zu machen. Es gab mir zusätzliches Selbstvertrauen, denn man konnte über meine Frau sagen was man wollte, eines hatte sie mit Sicherheit: ein Gespür für die wahre Macht. Und die lag jetzt so nah wie nie zuvor. Außerdem bedeutete das Consulat endgültig und für viele Generationen gesicherten Wohlstand und für meinen Sohn eine vorgezeichnete Karriere.

Das war jetzt gerade einmal zwei Wochen her. Heute würde ich Rom verlassen mit dem Ziel Hispania citerior. Da es üblich war, nicht nur den ehemaligen Oberfeldherrn einer Provinz selbst, sondern auch seinen gesamten Stab, mit dem er die Provinz und die Legionen verwaltete, auszutauschen, befanden sich in der Gruppe, die letztlich mit mir reisen würde, außer meinen direkten Dienern auch diverse Beamte, darunter ein neuer quaestor.

Und während ich alle anderen Angehörigen meines Stabes bereits von Angesicht her kannte, wusste ich bis zu diesem Moment von meinem quaestor noch nicht einmal, wie er hieß.

Ausgerechnet dieser Mann verzögerte jetzt meinen Aufbruch. Ich war bereits gehörig ungehalten und hatte mir eigentlich auch schon eine Rede zurechtgelegt, mit der ich den jungen Mann bedenken wollte. Doch dann kam mir eine Idee, die mir noch viel besser gefiel.

Warum sollte ich, ein Consul, auf einen kleinen quaestor warten?

War es nicht viel besser, meine Überlegenheit auch gegenüber den Angehörigen meines Stabes zu zeigen?

Ich schwang mich auf und holte tief Luft, um den Tribun zu rufen. Mein Ruf war kaum verhallt, da stand er auch schon im Raum. Guter Mann!

„Macht alles bereit, wir brechen auf“, sagte ich. „Unser neuer quaestor mag uns folgen; vielleicht findet er auf seinem einsamen Ritt die Zeit, um über solche Dinge wie Pflichtbewusstsein und Pünktlichkeit nachzudenken.“

Ich hatte erwartet, dass der Tribun sich sofort entfernen und meinen Befehl ausführen würde und war dementsprechend irritiert, als er unschlüssig im Zimmer stehenblieb.

„Gibt es ein Problem, Tribun?“ fragte ich, bewusst etwas Schärfe in meine Stimme legend. Man sollte auch gute Leute nicht über Gebühr verwöhnen.

„Kein Problem, Consul. Es ist ein Besucher angekommen, den ich melden wollte.“

Ein Besucher? Ausgerechnet jetzt? Dann sollte es besser wirklich wichtig sein. „Also gut, führ ihn herein, wenn es denn unbedingt sein muss“, sagte ich und ließ mich wieder auf meiner Liege nieder. Wer mochte mir wohl so kurz vor meiner Abreise noch seine Aufwartung machen wollen? Irgendein Klient, dem inzwischen auch schon aufgefallen war, dass ich Consul geworden war und der noch rasch einen Gefallen für sich und seine Familie herausschlagen wollte? Unwahrscheinlich, denn der Tribun hatte Anweisung, unwichtige Besucher abzuweisen, und der Mann hielt sich in der Regel an das, was ich ihm sagte. Einer meiner einflussreichen Freunde? Auch das würde mich verwundern, da wir uns erst gestern bei einem Abendessen im Hause des Lucius Furius Philo ausgiebig voneinander verabschiedet hatten, in dem Haus, in dem alles angefangen hatte.

Ein Geräusch an der Tür versprach die Auflösung des Rätsels.

Ich sprang auf, als ich sah, wer der Besucher war. „Tiberius Gracchus, welch eine angenehme Überraschung!“ rief ich, während ich auf ihn zueilte.

„Nun“, antwortete er mit einem rätselhaften Lächeln, „wirklich überrascht dürftest du eigentlich nicht sein, Consul Caius Hostilius Mancinus.“ Auf meinen fragenden Blick hin erntete ich ein weiteres seltsames, undurchdringbares Lächeln von Tiberius Gracchus, der sich dann plötzlich kurz vor mir verneigte und sagte: „Verzeihst du deinem Untergebenen die Verspätung? Ich wurde noch in einer dringenden Unterredung aufgehalten.“

Es dauerte noch einen langen Augenblick, dann begriff ich: Gracchus war mein quaestor.

In diesem Moment verstand ich noch etwas. Die Einsetzung des Tiberius Gracchus als mein quaestor war das erste wirkliche Zeichen dafür, dass ich die Sphären der wahren Macht erreicht hatte. Natürlich war ich, solange ich denken konnte, von meinen Klienten um kleinere und größere Gefallen gebeten worden. Natürlich war die Zahl meiner Klienten seit meiner Wahl zum Consul gewachsen. Doch das hier war etwas völlig anderes. Ich sollte als Consul der politische Mentor für den Sohn des großen Gracchus sein, nach dem in Hispania sogar eine Stadtgründung – Gracchuris – benannt war! Ich sollte für einen Angehörigen der großen Familien Roms etwas tun, was diese aufgrund ihrer eigenen auctoritas ohne weiteres auch selbst bewerkstelligen konnten. Das konnte doch eigentlich nur eines bedeuten: meine auctoritas wurde als gleichwertig angesehen. Als quaestor unter mir gedient zu haben, wurde als förderlich für die politische Karriere des jungen Gracchus betrachtet.

Hätte es mich nicht stutzig machen sollen, dass Tiberius Gracchus mit seinen sechsundzwanzig Jahren vier Jahre zu jung für das Amt eines quaestors war? Doch selbst wenn, hatte nicht der Tiberius Gracchus schon vor neun Jahren zu den ersten gehört, die unter Scipio die Mauern Carthagos erklommen hatten? Hatte er sich diese Ehre, unter mir zu dienen, nicht verdient?

Ich trat neben meinen neuen quaestor, legte ihm den Arm um die Schulter und sagt gönnerhaft: „Keine Sorge, Tiberius Gracchus. Ich werde in Hispania schon gut auf dich aufpassen.“

Und vor meinen Augen stand wieder das Bild von meinem Triumphzug durch Rom nach meinem Sieg über die Numantiner, natürlich in einer großen Schlacht mit Zehntausenden toten Feinden, von dem anerkennenden Kopfnicken der Senatoren, dem Jubel der Bürger dieser großartigen Stadt, den wohlwollenden, einladenden Gesten eines Lucius Furius Philo und den neidvollen Blicken eines Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus, den ich seines Triumphes in Hispania beraubt hatte.

Ich war an meinem Ziel angekommen.

 

„Scipio, bitte unterschätze nicht meine Intelligenz!“ Erregt war Marcus Aemilius Lepidus aufgesprungen und durchmaß jetzt mit hastigen Schritten Scipios Arbeitszimmer.

Scipio blieb gelassen sitzen. „Marcus Aemilius, ich weiß wirklich nicht, wovon du redest“, sagte er. Er bemühte sich, gleichgültig zu klingen. Natürlich wusste er sehr genau, worauf Lepidus anspielte. Sein Blick folgte dem kleinen, dicken, und trotz der Kühle im Zimmer schwitzenden Mann.

„Er weiß nicht, wovon ich rede!“ knurrte Lepidus. „Er weiß nicht wovon ich rede!“ Er blieb stehen. „Scipio, mir ist durchaus gegenwärtig, dass wir beide unterschiedliche politische Ansichten vertreten. Insofern ist es auch völlig normal, dass du, obwohl wir weitläufig miteinander verwandt sind, mit aller dir zu Gebote stehenden Macht versucht hast zu verhindern, dass ich mit meiner Kandidatur für das Consulat erfolgreich bin. Da ich dennoch Consul geworden bin, zürne ich dir nicht.“

Scipio lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann verstehe ich den Grund deines Hierseins nicht.“

Lepidus schnaufte. „Du willst den Begriffsstutzigen spielen? Bitte! Ich spiele mit! Du wirst mir doch zustimmen, dass die Aemiliani eines der ältesten Adelsgeschlechter Roms sind, oder? Und wirst auch zugeben müssen, dass uns die Hostilii Mancini nicht nur aufgrund ihrer Abstammung unterlegen sind, sondern auch eine Betrachtung ihrer Geschichte, ihrer Taten – oder besser: Untaten – für Rom, nicht viele Gründe für uneingeschränkte Hochachtung liefern.“

Scipio nickte und zuckte dann mit den Schultern. „Und?“

Lepidus holte tief Luft. „Und? Und warum geht dann der Hostilius Mancinus nach Hispania, um den Brutus dort abzulösen und nicht ich? Und komm mir jetzt nicht mit der Ausrede, darauf hättest du keinen Einfluss gehabt!“

„Warum sollte der Hostilius Mancinus nicht nach Hispania gehen?“ fragte Scipio mit ruhiger Stimme.

Lepidus warf die Arme in die Luft. „Weil er als militärischer Befehlshaber völlig ungeeignet ist!“

Scipio zuckte wieder mit den Schultern. „Das bist du auch. Und weiter?“

Sein Gegenüber schnappte nach Luft. „Wie kannst du so etwas behaupten?“

„Frage dich, wann du das letzte Mal ein Schwert in den Händen hattest. Frage dich, wann du das letzte Mal auf einem Pferd gesessen hast. Frage dich, wann du das letzte Mal von der Curie bis zum Tempel gelaufen bist, ohne zwischendurch eine Verschnaufpause einzulegen. Schau in deinem Haus nach, ob du noch eine Rüstung findest, die dir passt. Und dann überleg dir, ob du mir diese Frage noch einmal stellen möchtest.“

Consul Marcus Aemilius Lepidus stand mit offenem Mund, was seinem feisten Gesicht einen schafsmäßigen Ausdruck verlieh. Dann schloss er den Mund und schluckte.

„Oder willst du so enden wie der Vetillius vor fünf Jahren?“ setzte Scipio noch einen drauf. Vetillius war damals in einem Gefecht in Hispania gefangengenommen worden. Aufgrund seines Alters und vor allem seiner Fettleibigkeit hatten ihn die Hispanier jedoch nicht für einen Offizier gehalten und ihn entsprechend umgebracht, statt ihn auszutauschen.

„Dann verrat mir nur noch eins“, sagte Lepidus mit zittriger Stimme.

Scipio hob die Augenbrauen.

„Was soll die Sache mit dem quaestor für den Hostilius Mancinus?“

Scipio sah ihm fest in die Augen. „Du weißt doch, dass ich gern die Kontrolle über die Dinge habe, die in Hispania passieren. Und da brauche ich vor Ort Männer, denen ich vertrauen kann, Männer, die mir auf eine ganz besondere Art und Weise verbunden sind.“

„Aber warum, bei allen Göttern Roms, der unserer zugeschissenen Kanalisation, Cloacia, eingeschlossen, muss es ausgerechnet dein Schwager sein?“

 

 

Mitte Februar des Jahres 617 nach der Gründung der Stadt Rom

Winterlager der römischen Legionen in Carthago Nova

 

Stöhnend richtete sich Antonius auf und drückte das Kreuz durch. Der Schweiß lief ihm aus den nassen, dunklen Haaren über Brust und Rücken. Er stützte sich auf seinen Spaten. Seine Augen suchten Lucius. Dieser Verrückte hatte sich freiwillig zum Steineschleppen gemeldet! Als ob das Graben nicht schon schlimm genug wäre! Aber seit Marcus’ Tod vor Numantia schien es Antonius, als hätte er noch einen Freund verloren, so sehr hatte Lucius sich verändert. Eine dicke graue Strähne hatte sich nur wenige Tage später in seinem schwarzen Haar gebildet, aber das war nur eine kleine Äußerlichkeit, die zwar auffiel, aber ansonsten nicht weiter störte. Was auffiel war, dass Lucius seit jenem Tag keinen einzigen angebotenen Becher Wein abgelehnt, sondern sich im Gegenteil einen eigenen kleinen Vorrat in der Barracke angelegt hatte, den er auch regelmäßig auffüllte. Und wenn sich Antonius nicht völlig täuschte, ging Lucius inzwischen auch zu den Huren. Gut, in dieser Zeit soff er sich wenigstens nicht das Gehirn aus dem Kopf.

Es hatte seit jener Schlacht nur noch eine nennenswerte militärische Auseinandersetzung zwischen dem consularischen Heer unter Quintus Popillius Laenas und der einheimischen Bevölkerung gegeben. Nach der verheerenden Niederlage von Numantia hatte Laenas von der Hauptstadt der Arevaci abgelassen und sich gegen einen Nachbarstamm, die Lusonen gewandt. Es war keine wirkliche Schlacht gewesen, eher einzelne kleine Gemetzel, doch Antonius hatte mit Entsetzen festgestellt, dass Lucius aufgehört hatte zu denken. Natürlich verlangte man von einem Legionär, dass er die Befehle seiner Centurionen und Tribunen widerspruchslos befolgte, doch Antonius erschien es, als würde Lucius die Befehle zum Vorrücken gegen den Feind beinahe dankbar entgegennehmen. Wenn es dann zum Kampf Mann gegen Mann kam, drang Lucius ohne Rücksicht auf sich selbst auf seinen Gegner ein und hörte nicht auf, bis der Krieger tot am Boden lag. Er wurde dabei auch ein oder zwei Mal selbst verwundet, doch er schien die Verletzungen gar nicht wahrzunehmen.

Antonius war letzten Endes froh darüber, dass Quintus Popillius Laenas nach seinen erfolglosen Vorstößen gegen die Lusonen beschlossen hatte, die militärischen Aktionen für diesen Winter einzustellen, und aus dem hispanischen Hochland an die wesentlich weniger unwirtliche Ostküste zu ziehen. Zur großen Freude der Legionen schien ihr Oberbefehlshaber ein großer Liebhaber der wärmeren Gefilde zu sein, denn er hatte das Heer nicht nach Tarraco geführt, wo sonst die Kommandoübergaben stattgefunden hatten, sondern in das weiter südlich gelegene Carthago Nova.

Und seitdem hatten die Legionäre der consularischen Legionen ihre Schwerter und Schilde gegen Hacken und Spaten eingetauscht und kämpften nur noch gegen fest in der Erde sitzende Baumstümpfe, gegen die Steinsplitter, die beim Behauen der Blöcke wie kleine Ballisten durch die Luft schossen oder auf dem Boden lagen und denen, die einmal ihre Sandalen vergessen hatten, erbarmungslos die Fußsohlen zerschnitten. Der größte Feind war jedoch der ständige Durst.

Lucius fühlte weder Durst noch das Gewicht des Steinquaders, den er gemeinsam mit einem anderen Legionär an einem Seilgeschirr hinter sich her zerrte. Mit stierenden Augen stapfte er vorwärts, den Blick zwei Schritt vor sich auf den Boden gerichtet. Plötzlich blieb der andere Legionär stehen und begann, sich aus dem Geschirr zu schälen. Verstört blickte Lucius auf. Dann sah er, dass auch alle anderen Gruppen von Legionären ihre Arbeit einstellten. Er hatte das Signal, das das Ende des Arbeitstages markierte, wohl überhört. Wieder einmal.

Wortlos legte Lucius sein Seilende auf den Boden, drehte sich um, zog sich die Tunika über den Kopf und stellte sich an seinen Platz in der Kolonne, die dann vom Centurion zurück zum Lager geführt wurde.

Lucius und Antonius gingen zu ihrer Barracke. Nachdem sie sich gereinigt hatten, setzten sie sich nieder um zu essen. Lucius stopfte lustlos zwei trockene Fladen in sich hinein und griff dann sofort zum Wein. Lucius merkte, dass ihn Antonius aus den Augenwinkeln dabei beobachtete, wie er die ersten Becher gierig und unverdünnt herunterstürzte. Er sah, wie sich sein Freund zur Seite wandte und leicht den Kopf schüttelte. Lucius schloss die Augen und wartete sehnsüchtig auf den Augenblick, wo der Geist des Weines seine Gedanken erreichte, sie einhüllte und ihnen die Fähigkeit nahm, ihm Schmerzen zu bereiten.

Als Lucius seinen Becher erneut nachfüllte hörte er, wie Antonius tief Luft holte. „Was?!“ fragte er unfreundlich.

„Lucius, ich ... du ...“, begann Antonius, winkte jedoch ab als er sah, dass Lucius mit unbewegtem Gesicht den Becher ansetzte und in einem Zug leerte. Dann stellte er den Becher ab, stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort das Zelt. Beim Rausgehen sah er, wie sich Antonius’ Gesicht entspannte und er wusste, dass er seinen Freund wieder einmal in dem beruhigenden Glauben zurückließ, dass er zu einer der zahllosen Huren ging, die im Lager der Legionen und der näheren Umgebung ihrem Geschäft nachgingen.

Vor dem Zelt blieb Lucius einen Moment lang stehen und atmete die kühle Abendluft ein. Er spürte den Wein schon deutlich in seinem Kopf. Doch sein Geist war noch klar.

Zu klar.

Er setzte sich wieder in Bewegung. Die Wachen am Tor erkannten ihn und ließen ihn anstandslos passieren. Als er vorbeiging schob der eine mit einem bedeutungsvollen Blick seine Lanze in seiner Hand auf und ab. Der andere Posten grinste zurück.

Lucius ignorierte beide und schlug den Weg ein, den er inzwischen wenigstens jeden dritten Tag ging. Nach einer guten Stunde hatte er das Hafenviertel erreicht und steuerte zielsicher auf ein kleines, schiefes Haus zu. Die winzigen Fenster waren dunkel. Die kleine Öllampe über der Tür war das einzige sichtbare Zeichen dafür, dass dieses Haus bewohnt war. Lucius zögerte einen Augenblick, dann klopfte er. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit und das faltige Gesicht eines alten Mannes erschien. Er sah Lucius mit halbgeschlossenen, müden dunklen Augen an und nickte. Lucius trat ein. Er bewegte sich sicher durch den dunklen Gang, den er schon so oft durchschritten hatte, und betrat das ihm so vertraute Zimmer. Der alte Mann war ihm gefolgt; Lucius drehte sich um und drückte dem Alten eine Münze in die Hand. Der nickte wieder und entfernte sich.

In dem stickigen kleinen Zimmer gab es nur eine Matte auf dem Boden und eine große Weinamphore in der Ecke. Das einzige Licht kam von einem kleinen rußenden Öllämpchen. Lucius ließ sich schwer auf die schmuddelige, ausgefranste Matte plumpsen, lehnte den schmerzenden Kopf gegen die kühle Mauer und schloss die Augen. Dann betrat jemand den Raum. Lucius hielt die Augen geschlossen und lauschte den vertrauten Geräuschen. Dann spürte er die Nähe eines Menschen. Er öffnete die Augen. Vor ihm kniete ein junges, hübsches, dunkelhaariges Mädchen, das ihm mit traurigem Gesicht einen Weinbecher reichte. Er versuchte ein Lächeln, nahm ihr das Trinkgefäß ab und trank. Er bemühte sich, den Wein nicht in einem Zug herunterzustürzen, damit ihr Gesicht nicht noch trauriger wurde, und so leerte er den Becher in vielen kleinen, hastigen Schlucken. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass es völlig unnötig war, sich vor dem Mädchen zurückzuhalten, da dieser Abend wie jeder andere davor verlaufen würde.

Den zweiten Becher schüttete er herunter, wobei er es vermied, das Mädchen anzusehen. Sie schenkte ihm nach, wieder und wieder. Zwischendurch war da noch der Gedanke, dass er unbedingt nachschauen musste, ob in der Amphora noch genug Wein für die kommenden Abende war, oder ob er seinen heimlichen Vorrat, den er sich vor einem Monat angelegt hatte, um den vorwurfsvollen Blicken seines Freundes Antonius zu entfliehen, wieder auffüllen musste. Vielleicht sollte er dem Alten auch einfach nur Geld dalassen und ihm klarmachen, dass er sich darum kümmern sollte, dass immer genug Wein da war. Ja, das sollte er tun. Morgen, gleich beim Reinkommen, solange ihm seine Glieder noch gehorchten.

Lucius trank, bis sein Geist ins Dunkle trat. Besinnungslos sank er um und blieb auf der Matte liegen. Das Mädchen rutschte an ihn heran, nahm ihm den Becher weg, den seine Hand immer noch umschlossen hielt, wischte ihm mit einem Tuch den Speichel ab, der ihm aus dem halbgeöffneten Mund lief. Anders als an den Abenden davor blieb sie heute jedoch neben Lucius sitzen. Sie strich ihm über das schweißnasse Haar. Ihr Großvater erschien an der Tür und warf ihr einen fragenden Blick zu. Sie schüttelte den Kopf und der Mann verschwand wieder. Sie löschte die Öllampe und legte sich zu Lucius auf die Matte.

Irgendwann in der Nacht wälzte sich Lucius in seinen trunkenen Träumen herum und legte dabei seinen Arm um das Mädchen. Sie schob sich noch näher an ihn heran und streichelte seinen Arm.

Doch Lucius merkte davon nichts.

 

 

Anfang März des Jahres 617 nach der Gründung der Stadt Rom

Bei der consularischen Gesandtschaft in Genua

 

„Und?“ fragte ich ungeduldig. „Was sagen die Zeichen?“

Der haruspice tat, als hätte er mich nicht gehört. Es sollte wohl zufällig aussehen, als er sich ein wenig zur Seite drehte, so dass die Kapuze seines gelben Gewandes sein Gesicht vor mir verbarg, doch mich konnte er nicht täuschen.

Ich stellte mich neben den Priester, reckte demonstrativ den Hals und beäugte mit kritisch hochgezogenen Augenbrauen den aufgeschnittenen Tierkadaver. Angeblich konnten die haruspices aus der Form, Farbe und Lage der Leber eines Opfertieres ablesen, wie die Götter einer politischen Entscheidung wie meiner Mission gegenüberstanden. Ich für meinen Teil hatte schon Schwierigkeiten, in dem blutigen, schleimigen Haufen das in Frage kommende Organ überhaupt zu finden, gar nicht zu sprechen von irgendwelchen Deutungen.

Doch ich war ein Mensch, der den Willen der Götter sehr ernst nahm. Ich pflegte meinen häuslichen Schrein, ehrte meinen Hausgeist, den lar, und die Geister der Lager- und Vorratshäuser, die penaten, den Geist der Familie, den genius und die meiner Ahnen, die manes, opferte regelmäßig im Tempel, zog bei Gebeten brav eine Bahn meiner Toga über meinen Kopf und traf keine wirklich wichtige Entscheidung, ohne die Götter vorher zu befragen.

Und ich vertraute den Göttern.

Nun hatte ich vor meiner Abreise aus Rom bereits die augurer befragt, und ihre Antworten waren eher beunruhigend gewesen. Ein Vogel aus dem Schwarm, den sie beobachtet hatten, sei zuerst steil nach oben geschossen, um danach im Sturzflug abwärts zu fliegen. Die anderen Vögel im Schwarm seien gleichförmig, ohne eine Reaktion weitergeflogen. Den rätselhaften Andeutungen der Propheten entnahm ich schließlich, dass sie das ganze für ein sehr ungünstiges Vorzeichen meines Vorhabens betrachteten.

Damit steckte ich in einem echten Dilemma. Natürlich konnte ich den Willen der Götter nicht ignorieren, und ganz sicher stand es mir nicht zu, die Deutungen der augurer anzuzweifeln. Doch war es nicht andererseits völlig undenkbar, dass ich jetzt, nach meiner Wahl zum Consul, jetzt, wo ich dort war, wo ich immer hingewollt hatte, jetzt, wo sich die Bürger Roms auf mich verließen, vor den Senat von Rom hintrat und ihm erklärte, dass ich leider nicht nach Hispania gehen konnte, weil die Zeichen ungünstig standen?

In dieser Stunde des Zweifels hatte ich mich meinem Freund, dem Lucius Furius Philo anvertraut. Er hatte sich mit ernstem Gesicht meine Erzählung angehört und mir versichert, dass auch er die Zeichen der Götter sehr ernst nahm. Doch er hatte mir auch erklärt, dass der Wille der Götter nicht unverrückbar sei und dass ich mir sicher sein konnte, dass die Großen Roms, zu denen ich ja nun auch zählte, hinter mir stünden und in der kommenden schweren Zeit für mich opfern und die Götter um ihr Wohlwollen bitten würden.

Ich hatte ihm mit Tränen in den Augen gedankt und hatte mich wieder den Vorbereitungen für meine Abreise gewidmet.

Aber die Zweifel waren geblieben, und so hatte ich kurz nach unserem Aufbruch in Lavium ein weiteres Tieropfer dargebracht und mir die Zeichen deuten lassen. Und wieder hatte ich beunruhigende Aussagen erhalten: Mein Weg sei gefahrvoll (wobei nicht zu erkennen war, ob er den Reise- oder meinen Lebensweg meinte); ich sollte mein Glück nicht herausfordern.

Dieses hatte ich mir zu Herzen genommen und beschlossen, mich nicht den Gefahren des Landwegs auszusetzen. Sehr zum Verdruss meines quaestors Tiberius Gracchus ordnete ich an, unsere Gesandtschaft in Genua einzuschiffen, um auf direktem Weg nach Carthago Nova zu gelangen und so eventuellen Überfällen der Räuberbanden an der ligurischen Küste zu entgehen.

Und in der beruhigenden Gewissheit, dem Willen der Götter entsprechend zu handeln, und auch nur um wirklich jeden weiteren Zweifel auszuschließen, war ich heute hierher gekommen, hatte den großen weißen kampanischen Stier mitgebracht, der jetzt mit aufgeschlitztem Leib vor dem niedrigen Steinaltar lag.

Doch der Priester stand immer noch reglos.

Ich beherrschte mich mühsam. Was sollte es auch bringen, einen Priester zu drängen? Oder anders gefragt, warum sollte ich ihn drängen? Um schneller zu hören, was ich gar nicht hören wollte? Denn was anderes konnte sein Schweigen bedeuten, als dass mir die Götter immer noch nicht gesonnen waren?

Das Schweigen wurde unerträglich. Ich hielt den Atem an, als der haruspice tief Luft holte.

Doch es kam nur ein langes Schnaufen.

Das reichte. Unter den empörten Blicken des Gehilfen wandte ich mich um und verließ den Tempel mit betont heftigen Schritten.

Was auch immer die Götter mir für Vorzeichen senden mochten, ich konnte sie ohnehin nur noch als wohlgemeinte Warnungen betrachten.

Zurück konnte ich nicht mehr.

Der Rest des Tages gehörte den Vorbereitungen zum Einschiffen. Als ich im Hafen von Genua das Schiff erblickte, das uns nach Hispania befördern sollte, kehrte meine Sicherheit zurück. Es war eine trireme, eines jener Kriegsschiffe, mit denen Rom die stolzen Carthager vom Mittelmeer gefegt hatte. Mächtig lag es auf dem Wasser, mit drei übereinanderliegenden Reihen von Ruderbänken, der stolz nach oben gebogene Bug frisch angestrichen mit schwarzer und goldener Farbe. Ein wunderbarer Anblick sollte es für die Legionen in Hispania sein, wenn ihr neuer Consul im Hafen einlief, um sie zum Sieg über die Numantiner zu führen.

Das Wetter meinte es sehr gut mit uns, und auch sonst schienen uns Neptun und Mercur wohlgesonnen zu sein. Nach all den schlechten Vorhersagen hätte ich zumindest damit gerechnet, von einem der für diese Jahreszeit normalen heftigen Frühjahrsstürme durchgeschüttelt zu werden. Einer meiner Tribunen äußerte gar die Befürchtung, dass wir von Piraten aufgebracht werden könnten. Lächerlich! Welcher Mensch mit einem auch nur halbwegs gesunden Geist würde ein römisches Kriegsschiff angreifen?

Nach sieben Tagen liefen wir planmäßig im Hafen von Carthago Nova ein. Mit Freude hatte ich bemerkt, dass es während der vergangenen Tage spürbar wärmer geworden war. Ich würde also ohne weitere Verzögerungen nach Norden aufbrechen und meine Aufgabe erfüllen können.

Numantia sollte vor mir erzittern!

 

Das Geschepper eines zerbrechenden Kruges ließ Antonius hochfahren. Empörtes Gebrabbel der anderen Legionäre in der Barracke kam auf. Verstört blickte er sich in der Barracke um und sah Lucius, wie dieser an seinem Bündel herumzerrte. „Beim Jupiter“, brummte er, „geht das nicht ein bisschen leiser? Oder vielleicht auch zu einer anderen Tageszeit? Morgen früh zum Beispiel?“

Er drehte sich um und wollte gerade die Augen wieder schließen, als Lucius unvermittelt losbrüllte: „Es geht dich überhaupt nichts an, wann ich meine Sachen packe! Und wenn ich der Meinung bin, dass ich alle Töpfe hier zerschlagen möchte, dann werde ich das tun, auch ohne dich um deine Erlaubnis zu fragen!“

Antonius starrte seinen Freund an. Lucius stand da, schweißnass, mit wilden Augen, am ganzen Leib bebend. Sein Blick fiel auf Lucius’ Hände. Sie zitterten unkontrolliert.

Wie so oft in den vergangenen Tagen.

Gleich würde er wieder verschwinden. Doch Antonius wusste schon lange, dass Lucius nicht zu den Huren ging.

Lucius spürte den Blick, und in einem Anflug von kindischem Trotz versteckte er seine Hände hinter seinem Rücken.

„Lucius ...“ Antonius war aufgestanden und machte einen Schritt auf den Freund zu. Der wich zurück. „Was willst du? fragte er. Es sollte wohl unfreundlich klingen, doch die leichte Heiserkeit in der Stimme verriet ihn.

„Was ich will?“ Antonius fühlte Wut in sich aufsteigen. „Was ich will? Meinen Freund will ich zurück! Ich weiß nicht, was das ist, was hier vor mir steht, aber es ist nicht Lucius und es gefällt mir nicht!“

Lucius versuchte, Antonius in die Augen zu schauen. Es gelang ihm nicht. Er schnaufte schwer und hielt die Kiefer so fest aufeinandergepresst, dass sein Kinn zitterte. Schließlich drehte er sich um und rannte aus der Barracke.

Es gab nur einen Ort, zu dem er jetzt gehen konnte. Und was ihn dorthin trieb, war die nackte Angst.

Vor ungefähr einer Woche war der neue Consul Caius Hostilius Mancinus in Carthago Nova eingetroffen. In einer offiziellen Zeremonie hatte er das Oberkommando über die römischen Legionen in Hispania citerior aus den Händen des Quintus Popillius Laenas erhalten und noch in seiner Antrittsrede verkündet, dass er plane, unverzüglich die Bewältigung der ihm gestellten Aufgabe – die Bezwingung Numantias – anzugehen.

Und in zwei Tagen würden sie aufbrechen.

Doch die Angst, die Lucius inwendig auffraß, war nicht die vor dem langen, anstrengenden und entbehrungsreichen Marsch die Ostküste hinauf und dann ins hispanische Hochland hinein. Auch nicht die vor den Numantinern, denselben, die vor reichlich sechs Monaten seinen Freund Marcus getötet hatten. Seine Angst war eine andere.

Ein Heer auf dem Marsch folgte anderen Regeln als ein Heer im bequemen Winterlager.

Erst recht ein Heer, das sich in Feindesland befand.

Die Versorgung würde schlechter sein, denn vielen der Händler waren die Risiken des Handelns an einem Kriegsschauplatz zu groß, verglichen mit den erzielbaren Profiten. Und da es weniger Händler gab, würden sich diejenigen, die mit dem Heer ziehen würden, ihr Risiko teuer bezahlen lassen.

Doch außer dass Lucius befürchten musste, dass sein Sold nicht mehr ausreichen würde, sich mit der Menge Wein zu versorgen, die sein Geist in der Zwischenzeit brauchte, um zu vergessen, gab es noch etwas, was ihm viel größere Sorgen bereitete.

Es würde im Kampflager der Legionen vor Numantia nicht mehr erlaubt sein, abends das Lager zu verlassen.

Er würde nicht mehr heimlich trinken können.

Und er wusste nicht was stärker sein würde: Das Gefühl der Scham, das ihn bislang davon abgehalten hatte, sich in Antonius’ Gegenwart in die Bewusstlosigkeit zu trinken und die ihn dazu gebracht hatte, sich den heimlichen Weinvorrat im Haus des Alten und seiner Enkelin anzulegen, oder die Sehnsucht nach der Vernebelung des Geistes, nach dem Gefühl der inneren Wärme, nach dem Verschwinden des Knotens in seiner Brust, den er spürte, seit er Marcus’ hatte sterben sehen.

Aber zumindest heute musste er sich darüber keine Gedanken machen. Entschlossen stieß er sich von dem Baum ab, gegen den er sich gelehnt hatte. Seine Füße fanden den Weg inzwischen schon ganz allein.

Lucius bemerkte die Gestalt nicht, die ihm in sicherer Entfernung folgte.

Er hatte die Gestalt auch in den vergangenen zwei Wochen nicht bemerkt.

Lucius hatte nicht die Kraft, dem Drang zu widerstehen, den Rest des Weges rennend zurückzulegen. Es war das letzte Mal, dass er zu diesem Haus ging. Er musste jeden Augenblick dort auskosten.

Völlig außer Atem langte er an dem kleinen Haus an, und wie gewöhnlich wurde ihm bereits nach dem ersten Klopfen die Tür geöffnet. Mit langen Schritten durchmaß er den kleinen Flur ohne sich darum zu scheren, ob ihm der Alte folgen konnte. Schließlich sank er mit dem Rücken an die kühlende Wand des ihm so vertrauten Raumes, den er bald schmerzhaft vermissen würde.

Das Mädchen mit den traurigen Augen erschien, und Lucius musste sich sehr beherrschen, ihr den ersten Becher Wein nicht ungeduldig aus den Händen zu reißen. Zumindest dieses Ritual, das langsame, schluckweise Austrinken des ersten Kelches, hatte er beibehalten. Und auch, wenn jedem ersten Becher unweigerlich der Absturz gefolgt war, so war er auf eine wohl nur ihm verständliche Art und Weise stolz auf sich.

Als sie ihm den dritten Becher einschenkte wurde es draußen unruhig. Unwillig schüttelte Lucius den Kopf, als das Mädchen aufstehen wollte. Zögernd ließ sie sich wieder neben ihm auf dem Boden nieder. Die Geräusche draußen wurden lauter; Stimmengewirr wie bei einem Streit näherte sich. Lucius spürte eine beginnende Wut in sich aufsteigen. Was sollte das? Warum gönnte man ihm seine letzte Nacht nicht? Hastig stürzte er den Wein herunter und wollte aufstehen, da wurde es vor der Tür still. Ächzend ließ er sich wieder zurückplumpsen und winkte dem Mädchen zu. Doch ehe sie reagieren konnte, flog die Tür auf. Ein Mann trat herein und setzte sich mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand gelehnt auf den Boden und blickte Lucius ruhig an. Der starrte entsetzt.

„Was ist?“ sagte Antonius. „Kriege ich hier auch was zu trinken? Oder hast du die ganze Amphora schon allein ausgesoffen?“

„Was machst du hier?“ flüsterte Lucius mit brüchiger Stimme.

Antonius sah ihm ruhig in die Augen. „Meine Schuld bezahlen und dein Leben retten“, sagte er.

Lucius hatte sich wieder etwas gefangen. „Mein Leben retten?“ fragte er bitter und schaffte es sogar schon wieder, ein wenig unwirsch zu klingen. „Mein Leben ist nicht in Gefahr, nur meine Ruhe.“

„Stimmt“, antwortete Antonius nach einem Moment. „Wie kann etwas in Gefahr sein, was man schon längst verloren hat?“

Lucius versuchte, dem Blick des Freundes standzuhalten. Dann, nach einem endlosen Moment, senkte er die Augen und murmelte: „Ich habe nichts verloren, außer einem guten Freund.“

Antonius nickte. „Ich weiß. Ich war dabei. Und Marcus war auch mein Freund, du erinnerst dich?“

Lucius schwieg.

„Du täuschst dich, wenn du glaubst, dass er mir nicht fehlt. Du irrst dich auch wenn du denkst, dass ich die Bilder vergessen habe. Bei den Göttern Roms, du hast keine Ahnung wie oft ich dieses Bild vor Augen habe, dich mit Marcus’ Kopf in den Händen!“

Lucius sagte noch immer kein Wort. Er spürte nur, wie seine Augen heiß wurden.

„Aber du hast recht“, fuhr Antonius fort. „Du hast dein Leben noch nicht verloren. Du hast nur vergessen was das ist, ‚Leben’.“

Lucius Kinn begann zu zittern. Er kämpfte gegen den übermächtigen Strom von Tränen, der aus ihm herauszubrechen drohte.

Er verlor den Kampf. Mit einem Schrei brach der Schmerz aus ihm heraus, der Schmerz, den er solange in seiner Brust eingesperrt gehalten hatte. Sein Körper wurde von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt. Antonius kam zu ihm herüber und nahm ihn in die Arme. Lucius klammerte sich an den Freund wie ein ängstliches Kleinkind an seine Mutter. „Lass alles raus“, flüsterte Antonius. „Ich will, dass du wieder Lucius wirst.“ Er spürte, wie auch seine Augen feucht wurden.

Nach einer Weile ließ das Beben nach. Antonius griff in Lucius Haar, zog seinen Kopf zurück und blickte in sein tränennasses Gesicht. „Und jetzt zeige ich dir, was das wahre Leben ist“, sagte er leise.

Auf Lucius verständnislosen Blick hin stand er auf und ging zu dem Mädchen hinüber, das die ganze Zeit über still in seiner Ecke neben der Amphora gesessen hatte. Antonius reichte ihr die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Sie sah ihn fragend an, ließ sich jedoch widerstandslos zu Lucius hinüberführen. Zusammen mit ihr kniete sich Antonius vor Lucius hin.

„Sieh sie dir an, Lucius“, sagte er. „Sie ist das Leben. Schau in ihre Augen. Sie hat lange darauf gewartet, in diesem Raum einmal wichtiger für dich zu sein als diese Weinamphora.“

Lucius schluckte. Sein Mund war auf einmal sehr trocken. Das Mädchen ergriff seine Hand und legte sie auf ihren Kopf. Hilflos schaute er zu Antonius, der aber nur aufmunternd nickte. Lucius ließ seine Hand von ihrem Haar herunter gleiten und streichelte die zarte Haut ihrer Wange. Sie lächelte schüchtern, und auf einmal lag sie in seinen Armen. Ihre Hände huschten über sein Gesicht, dann fanden sich ihre Lippen. Völlig überrascht von diesem neuen Gefühl gab sich Lucius ganz den Empfindungen hin, die durch seinen Körper schossen. Er spürte, wie das Mädchen an seiner Tunika zerrte, wie ihre eine Hand an seinem nackten Bein hinauf glitt, einen Moment zögerte und dann unter sein Schamtuch schlüpfte. Lucius zog geräuschvoll die Luft ein und hielt den Atem an, als ihre kühlen Finger seine heiße Männlichkeit umfassten. Mit einer schnellen Bewegung riss er sich die Tunika herunter, während sie sich zunächst vergeblich an der Verknotung seines Schamtuches zu schaffen machte. Das Mädchen hob kurz die Arme, als er ihr das braune Hemd über den Kopf schob, dann versuchten vier Hände das letzte Stück Stoff zu beseitigen, dass die Erfüllung ihres Verlangens noch verhinderte.

Als das Tuch fiel, ließ sie sich einfach hintenüber sinken und zog ihn mit sich. Lucius fühlte sich unbeholfen, als er auf ihr lag, stets in der Angst, das zierliche Mädchen mit seinem Gewicht zu erdrücken. Er stützte sich mit den Armen ab, die schon bald zu zittern begannen. Sie führte ihn langsam in ihre feuchte Hitze hinein. Als er den Eingang spürte, drängte er stärker vorwärts, stockte jedoch in der Bewegung, als er einen Widerstand spürte. Erschrocken wollte er zurück gleiten, doch sie umfasste sein Hinterteil und zog ihn in einer schnellen Bewegung zu sich. Der Widerstand brach, er fühlte den Ruck, der durch ihren Körper ging als sie ihren Kopf zurückwarf. Dann explodierte sein Unterleib in heftigen Eruptionen.

Lucius rollte sich zur Seite und lag wie betäubt. Das Mädchen kuschelte sich sofort an seine Seite und legte ihren Arm um ihn. Ein wenig später erinnerte sich Lucius mit einem Schreck an Antonius. Er dreht den Kopf, doch sein Freund hatte das Zimmer schon längst verlassen. Aber Lucius kam nicht dazu, sich Gedanken darüber zu machen, wann und wohin Antonius verschwunden war. Das Mädchen schob sich auf ihn, und es dauerte nur wenige Augenblicke bis die inneren Feuer wieder entfacht waren.

Als es am nächsten Morgen hell wurde, war nicht nur der neue Tag erwacht.

 

 

Mitte April des Jahres 617 nach der Gründung der Stadt Rom

Das Marschlager der römischen Legionen in Hispania 15 Tage nach dem Aufbruch in das hispanische Hochland

 

Die kleine Öllampe gab gerade genug Licht, dass der Mann die winzigen Buchstaben erkennen konnte, die er mit dem stylus in das Wachs der vor ihm liegenden Schreibtafel kratzte. Er hielt kurz inne und rieb sich die schmerzenden Augen. Er war versucht, alles zur Seite zu legen und sich seiner Müdigkeit zu ergeben.

Doch das konnte er nicht.

Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Er musste tun, was Rom von ihm erwartete.

Ein Geräusch vor dem Zelt ließ ihn zusammenschrecken. Gedankenschnell beschirmte er mit seiner Hand die flackernde Flamme. Zischend zog er die Luft durch die Zähne ein, als die Hitze die Haut an seinen Fingern zu versengen drohte. Er drehte die Hand ein wenig, immer darauf achtend, dass kein heller Lichtstrahl auf die Zeltwand fiel.

Niemand durfte wissen, was er hier tat. Nicht einmal der Consul.

Vor allem nicht der Consul!

Angestrengt lauschte er, doch draußen war jetzt alles still. Zögernd zog er jetzt die schmerzende Hand zurück und nahm den stylus wieder auf.

„Du kannst dir nicht vorstellen, in was für einem erbärmlichen Zustand das Heer ist. Das Winterlager im warmen Carthago Nova hat die Legionäre vollends verdorben. Sie geben sich dem Suff, den Huren und den Hirngespinsten von Wahrsagern und Bettelpriestern hin. Und ihr Oberfeldherr, der Consul Caius Hostilius Mancinus, ist viel zu schwach, um sich gegen diese dicke Mauer aus Bequemlichkeit, Faulheit und Ignoranz durchzusetzen, nicht im Winterlager, und noch viel weniger hier draußen im Feld. Ich will nicht behaupten, dass er sich den Centurionen anbiedert, um sie bei Laune zu halten, aber seine Zugeständnisse, zu denen er sich immer wieder nötigen lässt, vernichten die letzten Reste an militärischer Disziplin. Die Folgen dieses schändlichen Verhaltens haben wir inzwischen am eigenen Leib zu spüren bekommen: Zweimal wurden wir auf dem Marsch von feindlichen Banden angegriffen, und beide Male hatten sie leichtes Spiel gegen den fetten, trägen Haufen, den der Hostilius Mancinus immer noch voller Stolz ‚seine großen, consularischen Legionen’ nennt. Wobei ich mir sogar sicher bin, dass er selbst an das glaubt, was er sagt. Und glaub mir, ich kann nur deshalb so leichten Herzens über die beiden Niederlagen schreiben, weil es wirklich nur kleine Überfälle waren, die lediglich unsere Vorräte zum Ziel hatten. Mögen uns die Götter davor bewahren, dass wir es in absehbarer Zeit mit einem richtigen einheimischen Heer zu tun kriegen ...“

Der Mann gähnte. Er sollte schlafen gehen. Morgen würde der Marsch in das Hochland weitergehen. Noch vier Tage, dann würden sie im Standlager vor Numantia eintreffen.

Wenn sie vorher nicht einem numantinischen Heer begegneten.

Er nahm die Schreibtafel und klappte die beiden Rahmenhälften zusammen. Dann verstaute er den Bericht in einem großen Stapel bereits beschrifteter Tafeln.

Hier, in den Rechnungsbüchern der Legionen, die niemand außer ihm verstand oder auch nur lesen wollte, die selbst der Consul sich nie hatte vorlegen lassen, würde niemand einen Bericht vermuten, den er dem nächsten Kurier nach Rom heimlich zustecken würde, und der nach seiner Rückkehr dem wichtigsten Mann Roms dazu dienen sollte, einen weiteren Schritt auf dem Weg zur unbeschränkten Macht zu machen.

 

Ich hasste dieses Land!

Ich hasste dieses elendig hohe Gebirge, das die numantinische Hochebene säumte! Das jetzt, Mitte April, immer noch mit Schnee bedeckt war!

Ich hasste die engen Pässe, die unsere Legionen zwangen, in einer endlos langen Kolonne, weit auseinandergezogen zu marschieren und sie zu leichten Zielen für die blitzartigen Überfälle der einheimischen Krieger machten.

Und war ich zuerst erleichtert gewesen, als wir das Randgebirge hinter uns gelassen hatten, so sehr hasste ich jetzt auch dieses Hochland. Es schien nur aus Spalten, Schluchten und Wäldern zu bestehen, die den Hispaniern unendlich viele Möglichkeiten für ihre heimtückischen Angriffe aus dem Hinterhalt boten. Großer Mangel herrschte hingegen an befahrbaren Straßen für unsere Transportwagen mit den Lederzelten für die Marschlager, den Katapulten und Ballisten, und nicht zuletzt dem Proviant. Letzterer bereitete uns ernsthafte Sorgen. Unsere Legionen waren es gewöhnt, sich in erster Linie von Brot zu ernähren, doch die hispanische Hochebene stellte unsere Nahrungsmittelbeschaffer vor schier unüberwindliche Probleme. Getreide gab es um diese Jahreszeit noch nicht, und das wenige, was die Legionen aus den Vorratshäusern der winzigen Hochlanddörfer konfiszieren konnte, reichte weder zum Leben noch zum Sterben. Darüber hinaus mangelte es auch an Öl, Wein, Essig und Salz, da die Händler, die uns von Carthago Nova aus gefolgt waren, selbst noch Station in Tarraco machten, um sich auf dem Seewege ihre Handelswaren kommen zu lassen. Und so ernährten sich die Legionäre des römischen consularischen Heeres bald fast ausschließlich von dem, was es als einziges hier im Überfluss zu geben schien: von Hirschen und vor allem wilden Kaninchen. Diese ungewohnte Kost führte auch schon sehr schnell dazu, dass sich die Soldaten kohorten-, ach was! – centurienweise ihre Seele in der Form von blutig-schleimigem Durchfall aus dem Leib schissen, das Gefühl hatten, scharfkantige Felsbrocken zu pissen und mit ihren schmerzenden Knochen kaum noch die Berge hoch kamen.

Wie gesagt, ich hasste dieses Land.

Und um die Liste der hassenswürdigen Dinge zu vervollständigen: Ich hasste auch und vor allem meine Legionen.

Die Wut, die ich beim ersten Anblick dieses verlotterten Haufens verspürt hatte, der es nicht einmal geschafft hatte, mir, ihrem Consul, einen würdigen Empfang bei seiner Ankunft zu bereiten, war schierem Entsetzen gewichen. Denn mir wurde klar, dass ich mit diesen Legionen meine Mission erfüllen und Numantia zu Fall bringen sollte.

Momentan war die einzige Chance, dieses Ziel zu erreichen, die, dass sich die Hispanier beim Anblick meines Heeres totlachten.

Doch das hatten sie schon bei den beiden Angriffen auf unserem Marsch von Tarraco ins Hochland nicht getan. Ich sah im Augenblick keinen Grund, warum sie es mit ihrer starken Festung Numantia im Hintergrund tun sollten.

Aber außer, dass die Legionen völlig kriegsuntauglich waren, hatten mir diese beiden Geplänkel etwas viel wichtigeres gezeigt: Die Legionäre, Centurionen und Tribunen hatten sich in den vorangegangenen Monaten der Bequemlichkeit und des Müßigganges ihre eigene kleine Welt geschaffen. Es war eine Welt, in der sie ihre eigenen Herren gewesen waren, in der ihre eigenen Befehlsstrukturen existierten, in der die Centurionen die eigentlichen Führer der Legionen waren, deren Wort mehr galt als der Befehl ihres Consuls.

Eine Welt, die zu stören mein Vorgänger Quintus Popillius Laenas offenbar nicht einmal versucht hatte.

Eine Welt, in der ich keinen Platz hatte.

Und es war wenig tröstlich für mich, dass es den anderen Offizieren und Beamten meines Stabes, den quaestor Tiberius Gracchus eingeschlossen, ebenso schwerfiel, ihren Platz zu finden. Im Gegenteil, im Fall des Gracchus konnte mich eine schwache Position als Consul meine politische Karriere kosten. Für ihn musste ich der starke Mann sein, den die Senatoren Roms hierher geschickt hatten, um die Provinz endgültig zu befrieden.

In zwei Tagen würden wir das Lager vor Numantia erreichen. Zwei Tage, in denen ich mir Gedanken machen konnte – machen musste! – wie ich, Caius Hostilius Mancinus, Consul Roms, meiner potestas als Oberfeldherr der consularischen Legionen in Hispania citerior auch die entsprechende auctoritas hinzufügen konnte. Ich musste den Titel des Consuls mit meiner starken Persönlichkeit füllen.

Dabei war mir klar, dass ich das nur auf die eine, die römische Art und Weise schaffen konnte: Ich brauchte einen militärischen Erfolg. Doch dieser Erfolg musste vor der Entscheidungsschlacht um Numantia liegen. Nur durch diesen Erfolg würde ich die sich im Augenblick noch mehr oder weniger selbst führenden Männer zu einem schlagkräftigen Heer zusammenschmieden. So krank es klang: Ich brauchte den militärischen Erfolg, um militärisch erfolgreich zu sein.

So müde wie ich war, versuchte ich erst gar nicht, gedanklich tiefer in dieses Paradoxon einzudringen.

Doch was sollte ich mehr fürchten? Bewusst und gezielt eine Schlacht mit den Numantinern zu provozieren, ohne die Möglichkeit, die Männer darauf vorbereiten zu können? Zu riskieren, viele von ihnen zu verlieren, noch bevor ich ihnen beweisen konnte, dass sie nur unter meiner starken Führung überleben würden? Oder diese Gelegenheit nicht mehr zu bekommen und mit den Legionen in ihrem jetzigen Zustand gegen Numantia vorgehen zu müssen, um dort vielleicht komplett unterzugehen?

Meine innere Stimme sagte mir, dass die erste Variante die weitaus bessere war. Gegen Numantia musste ein ausgebildetes, diszipliniertes römisches Heer unter einer starken Führung ziehen.

Egal wie viele Männer es kostete: An Numantia würde man mich in Rom messen.

 

Zur selben Zeit in Numantia

 

„So sieht es also aus“, beendete Theogenes seinen Bericht an Rhetogenes. „Die Römer sind noch verwahrloster aus dem Winterlager ausgerückt, als sie dorthin gezogen sind, obwohl das schon kaum vorstellbar ist. Ich kann mir nicht denken, dass jemand so dumm sein kann, mit diesen Legionen ernsthaft Krieg gegen uns führen zu wollen.“

Rhetogenes seufzte. „Es geht also wieder einmal nur darum, den Krieg irgendwie am Laufen zu halten, um dann wieder irgendwelche irrsinnigen Friedensgeldforderungen zu stellen.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin am Überlegen, ob ich nicht selber ausziehen und die Römer zu einer offenen Feldschlacht herausfordern sollte, damit das Elend endlich ein Ende hat.“

„Dann würde dir unser teurer Ältestenrat ein persönliches Racheinteresse unterstellen.“

Rhetogenes zog die Augenbrauen zusammen. „Das verstehe ich nicht. Jeder hasst die Römer.“

„Das schon, aber du ahnst nicht, wer ihr neuer Consul ist.“ Theogenes machte ein geheimnisvolles Gesicht.

Rhetogenes stöhnte. „Nun sag schon! Schlimmer als dieser Pompeius kann es ja nicht sein ...“

Theogenes wiegte bedächtig den Kopf. „Sag das nicht ...“ Und als ihm Rhetogenes starr in die Augen blickte: „Es ist der Caius Hostilius Mancinus.“

„Hm“, machte Rhetogenes. „Und wer soll das sein?“

„Erinnerst du dich nicht? Das ist der Dummschwätzer, der dem römischen Senat eingeredet hat, dass der Friedensvertrag mit Pompeius eigentlich eine bedingungslose Kapitulation gewesen sei.“

Rhetogenes schnaufte hörbar. „Dann hätte unser Ältestenrat Recht. Dann wäre es eine persönliche Sache. Dieser Mann hat nicht nur mich, sondern alle Angehörigen des arevacischen Stammesbundes gedemütigt.“

Eine Weile saßen die beiden Männer schweigend. Dann sagte Theogenes: „Deine Zeit wird kommen.“

Rhetogenes nickte langsam. „Früher oder später.“ Und nach einer Pause: „Früher wäre mir lieber.“

 

 

Anfang Mai des Jahres 617 nach Gründung der Stadt Rom

Ein öffentliches Badehaus in Rom

 

„Vierzehn, ... fünfzehn, ... sech ... zehn ... arrrggh!“ Mit einem lauten Stöhnen ließ der Mann die steinerne Kugel zur Seite fallen. Sein Körper glänzte vor Schweiß. Er wartete bis sein Begleiter das Gewicht scheinbar mühelos zwanzig Mal in die Höhe gestemmt hatte, dann schlang er sich demonstrativ das Tuch über die Schulter zum Zeichen, dass er die Übungen für sich als beendet betrachtete.

„Schon am Ende deiner Kräfte?“ fragte Scipio belustigt. „Wie willst du denn den Wahlkampf für deine Kandidatur zum Consulat im nächsten Jahr durchstehen? Und dann erst das Consulat selbst! Diese Verantwortung wird weitaus schwerer auf deinen Schultern lasten, als dieses Übungsgewicht.“

Lucius Furius Philo warf Scipio einen genervten Blick zu. Es war ihm anzusehen, dass er die Umgebung des Badehauses alles andere als genoss. Der Lärm dröhnte in seinen Ohren. In das Stöhnen der Männer, die sich, wie sie selbst auch, mit den Gewichten abquälten, mischten sich das laute Klatschen von öltriefenden Händen auf nackten Schultern und das Geschrei der zahllosen Krämer, die sich darin überbieten wollten, ihre Sälbchen, Öle, Striegel, Tücher sowie kleine Häppchen an den Mann zu bringen. „Verrat du mir lieber was du daran findest, dich hier im Gedränge des Badehauses herumzutreiben und uns vor der Tür der Schnorrer erwehren zu müssen, die auf eine Einladung zu einem Gelage bei dir spekulieren, während wir beide durchaus repräsentative Möglichkeiten in unseren eigenen Häusern haben!“

„Von denen du nicht wissen kannst, wieviele Augen und Ohren sie haben“, ergänzte Scipio ungerührt. „Abgesehen davon finde ich nichts Anstößiges daran, mit den Menschen ein Vergnügen zu teilen, für die wir als Politiker doch arbeiten. Oder denkst du wir sind bessere römische Bürger, weil wir von Geburt an wohlhabend waren? Und besser als in deiner Taverne damals ist es hier allemal.“

Lucius Furius Philo knurrte etwas Unverständliches, während er sich auf der Massagebank niederließ. Zwei dunkelhäutige Sklaven traten näher. Sie hielten kleine gläserne Flaschen, die ein wohlriechendes Öl enthielten, welches sie mit geübten Händen auf den Körpern der beiden Männer verteilten. Die angenehme Wärme, der aromatische Duft des Öles und die Entspannung, die die Massage verursachte, schienen Lucius Furius Philo wieder zu versöhnen. „Nun, wenigstens beim Öl haben sie nicht gespart“, brummte er.

„Das Öl stammt aus meinen eigenen Beständen“, sagte Scipio mit geschlossenen Augen. „Die beiden Sklaven übrigens auch. Man weiß ja, wie geschwätzig die Bediensteten heutzutage sind. Im Forum werden zurzeit mehr Informationen als Waren verkauft.“

„Und wer garantiert dir für ihre Loyalität?“ fragte Philo.

„Die Eigenschaften, nach denen ich sie mir ausgesucht habe“, entgegnete Scipio mit geschlossenen Augen. „Es sind Numidier, ein Geschenk von Masinissa, Großvaters altem Freund, stumm, taub und des Lesens und Schreibens unkundig. Wem sollten die was erzählen? Und vor allem wie?“

Lucius Furius Philo holte tief Luft. „Nun denn, was ist der Grund für unser Treffen an diesem, äh, öffentlichen Ort?“

„Ich habe Nachricht aus Hispania“, sagte Scipio. „Unser Caius Hostilius Mancinus funktioniert wie geplant.“

Furius Philo drehte den Kopf und öffnete die Augen. „Sind die Informationen vom jungen Gracchus?“

„Hmm“, brummte Scipio. „Der funktioniert auch.“

„Und was heißt das nun im einzelnen?“

„Also“, Scipio richtete sich ein wenig auf. Sofort unterbrach der Sklave seine Arbeit mit dem gebogenen Striegel, mit dem er das Öl und die abgestorbenen Hautreste vom Körper herunterrieb. „Laut unserem Mann vor Ort hat unseren frischgebackenen Consul wohl der Schlag getroffen, als er in Carthago Nova das consularische Heer des Quintus Popillius Laenas übernommen hat. Der Zustand dürfte wohl ähnlich dem gewesen sein, in dem ich damals unsere Legionen vor Carthago angetroffen habe. Immerhin scheint er kein Feigling zu sein, denn er ist so ziemlich unmittelbar nach seiner Landung nach Norden aufgebrochen. Aber es zeichnet sich ab, dass es kein glückliches Jahr für ihn werden wird. Schon auf dem Weg nach Tarraco ist sein Tross zwei Mal von einheimischen Räuberbanden angegriffen und ausgeplündert worden. In Tarraco dann hat er wohl vergessen, dass Legionäre auch essen müssen und ist gleich weitermarschiert, ohne auf die Errichtung der Nachschublinien zu warten. Die Vorräte waren wohl noch nicht einmal in Tarraco gewesen, so dass die Versorgungstruppen den Legionen mit mehr als zwei Wochen Verspätung hinterher gezogen sind. In der Zwischenzeit haben unsere Truppen wahrscheinlich hinlänglich den Geschmack des einheimischen Kaninchens kennen und schätzen gelernt ...“

Aus Lucius Furius Philo Richtung war ein glucksendes Lachen zu hören. „Na, dann hat dein Schwager wohl eine harte Zeit hinter sich.“

„Eine harte Schule hat noch niemandem geschadet. Aber es kommt noch besser. Kurz vor Numantia, in der kleinen Ebene östlich des Stadtberges, hat Caius Hostilius Mancinus das Heer aufmarschieren lassen. Dann hat er Boten losgeschickt, die die Numantiner zu einer offenen Feldschlacht herausfordern sollten. Die Numantiner sind auch gekommen, nur haben sie sich natürlich nicht der offenen Schlacht gestellt, sondern haben das römische Heer durch ihre bekannte Scheinfluchttaktik durcheinandergebracht. Die ganze Schlacht – wenn es denn eine war – geriet zum Desaster. Es sind, den Göttern sei Dank, nicht allzu viele Legionäre umgekommen, aber andererseits waren es wahrscheinlich noch nicht genug, denn nur acht Tage wiederholte unser vom Größenwahn gerittene Consul das ganze Spiel! Ließ wieder das Heer in der Ebene antreten! Ließ wieder Boten zu den Numantinern reiten und sie zur Schlacht fordern!“

„Sag nichts, lass mich raten“, unterbrach ihn Lucius Furius Philo. „Er fällt auf dieselbe Taktik der Numantiner herein und wird erneut geschlagen.“

Scipio nickte. „Und diesmal so gründlich, dass ihm nichts anderes übrigbleibt, als sich mit seinen Truppen in das Lager auf dem nordöstlichen Hügel gegenüber der Stadt zurückzuziehen.“

„Und?“

„Nichts ‚und’. Das ist unser letzter Kenntnisstand. Der Bericht des Tiberius Gracchus ist knapp zwanzig Tage alt. Allerdings war das ganze nur ein kurzer Brief. Er wird bei seiner Rückkehr einen detaillierten Bericht über die Machenschaften des Consuls und vor allem die desolate Situation in Hispania vorlegen.“

Scipio stand auf und begann, sich mit seinem Umhang trocken zu reiben. Als auch Lucius Furius Philo soweit war, gingen die beiden Männer nach nebenan, in den Raum mit dem großen Schwimmbecken. Sie legten ihre Umhänge ab, stiegen in das eiskalte Wasser und schwammen schweigend ein paar Runden.

„Was wird nun weiter geschehen?“ fragte Furius Philo prustend zwischen zwei Schwimmstößen.

Scipio blies in das Wasser. „Die Zeit für Feldzüge ist recht kurz im hipanischen Hochland, und Mancinus wird nicht denselben Fehler machen wie seinerzeit vor sechzehn Jahren der Consul Nobilior, der seine Truppen im Lager erfrieren ließ. Also, wenn nicht noch ein Wunder passiert, dann wird der Caius Hostilius Mancinus noch zwei, drei Monate im Lager ausharren und sich dann langsam aber sicher ins Winterlager im warmen Tarraco zurückziehen.“

„Aber dann hat er noch ein weiteres Jahr als Proconsul in Hispania vor sich. Und ich hoffe doch nicht, dass du in Betracht ziehst, dass ich nach meiner Wahl als Consul zu den Wilden nach Numantia ziehe.“

Statt zu antworten hievte Scipio mit einer schnellen Bewegung seinen Körper aus dem Becken. Lucius Furius Philo, glücklich das eisige Wasser verlassen zu können, beeilte sich, es ihm nachzutun. Dann nahmen die beiden Männer in ihre großen Tücher gewickelt auf einer Marmorbank etwas abseits vom Becken Platz.

„Um auf deine Frage zurückzukommen“, nahm Scipio das Gespräch wieder auf, „ich glaube nicht, dass das Winterlager im warmen Tarraco die Legionen besser machen wird. Und wenn man nun zu dem heruntergekommenen Heer auch noch die kurze Feldzugzeit von höchstens drei bis vier Monaten rechnet und das ganze mit dem militärischen Genius unseres Caius Hostilius Mancinus abrundet, was glaubst du, wie viel Schaden der dann Proconsul in seinem zweiten Jahr in Hispania wirklich noch anrichten kann?“

„Ich hoffe vor allem für unsere Legionen und nicht zuletzt für deine Pläne im Bezug auf Rom, dass du recht behältst“, sagte Lucius Furius Philo. „Immerhin sind das die Männer, mit denen du letztenendes die Hispania-Frage wirst lösen müssen. So hoffnungslos pleite wie der Senat ist – und absehbar auch weiterhin sein wird – kann ich mir nicht vorstellen, dass man dir gestatten wird, die Männer vor Ort, die regulär noch drei bis vier Jahre Dienstzeit in Hispania vor sich haben, durch frisch ausgehobene Rekruten zu ersetzen.“

Scipio grinste. „Also nehmen wir mal an, der Hostilius Mancinus schickt die Legionen vor Numantia nicht durch eine grenzenlose Dummheit über den Styx, dann denke ich, dass kein Legionär so schlecht sein kann, als dass ich ihn mit meinen Methoden nicht wieder auf den rechten Weg zurückbringen kann.“

„Zum Beispiel durch Spiele.“

„Zum Beispiel.“

„Und was erwartest du nun konkret von mir?“

Scipios Gesicht wurde ernst. „Du weißt, dass ich nicht als Redner im Senat auftreten und die Numantia-Frage diskutieren kann. Jeder würde diesen plumpen Versuch durchschauen. Also möchte ich, dass du die Informationen aus Tiberius Gracchus’ Brief, nun sagen wir, beiläufig in Gespräche mit anderen Senatoren einfließen lässt. Fang mit denjenigen an, die ohnehin unzufrieden mit dem Gang der Dinge sind. Ich denke, es ist an der Zeit, das hohe Haus auf die Dinge vorzubereiten, die auf Rom zukommen. Die Verzweiflung muss sich langsam aufbauen, die Senatoren brauchen Zeit, damit sie von selbst auf die einzig richtige Lösung kommen. Es bringt gar nichts, wenn sich der Senat durch irgendwelche Ereignisse zu spontanen, unüberlegten Entscheidungen hinreißen lässt.“

„Das ist eine sensible Angelegenheit, aber wird sich machen lassen. Es gibt viele Unzufriedene im Senat, auch wenn sie zur Zeit noch nicht zu denen gehören, die selbst etwas unternehmen würden, um etwas an ihrer Unzufriedenheit zu ändern. Doch sind diese wahrscheinlich die ersten, die einem starken Mann folgen würden, der ihnen die Entscheidung abnimmt.“ Lucius Furius Philo erhob sich. „Du wirst mich jetzt entschuldigen müssen, aber dringende Senatsgeschäfte rufen. Oder hattest du vor, mich in diesem gepflegten Haus noch zu einem Wein einzuladen?“

Scipio schüttelte den Kopf. „Nein, Wein habe ich nun nicht mitbringen lassen, und um die Hausmarke zu probieren geht meine Liebe zur Volksnähe nicht weit genug.“

„Das sind dann die berühmten Momente, wo sich die wahre Abstammung zeigt. Man kann nun einmal nicht verleugnen, dass man einer edlen Familie angehört.“

Auch Scipio stand auf. „Und um in diesem Zusammenhang noch einmal auf unseren werten Consul zurückzukommen: Man kann sich noch so viele Ämter, Titel, Clienten und Lobhudler zulegen, man wird trotzdem nie zur wahren Macht Roms gehören.“

„Besonders dann nicht, wenn man Hostilius Mancinus heißt“, ergänzte Lucius Furius Philo.

„Besonders dann nicht, aber ein solch hartes Schicksal teilen ja, den Göttern sei Dank, nicht allzu viele ...“

 

 

Ende Juni des Jahres 617 nach Gründung der Stadt Rom

Das Lager der consularischen Legionen vor Numantia

 

Mir war klar, dass ich sterben würde. Wenn mich die Numantiner nicht umbringen würden, würde es die Hitze tun. Sollte ich sowohl die Numantiner als auch die Hitze überleben, durfte ich vielleicht mit dem Dolch eines unzufriedenen Centurionen, dem meine Entscheidungen und Befehle nicht gefielen, zwischen den Rippen rechnen. Ich war mir im Augenblick nur noch nicht ganz klar, welche der drei Möglichkeiten ich bevorzugte. Es wurde aber von Tag zu Tag offensichtlicher, dass es wohl ein Rennen zwischen der zweiten und der dritten Möglichkeit werden würde, da ich mich nicht in der Lage sah, mit diesen Legionen gegen die Numantiner auch nur mit der geringsten Aussicht auf einen Sieg antreten zu können.

Mein Plan, das Heer durch einen militärischen Sieg unter meiner Führung – sei er letztlich auch noch so unbedeutend – zu einer schlagkräftigen Streitmacht gegen die Hispanier zu formen, war kläglich gescheitert. Zweimal hatte ich die Legionen gegen die Numantiner antreten lassen. Beide Male waren meine Befehle –Befehle, die ich als Consul gegeben hatte! – nicht etwa falsch verstanden, sondern schlichtweg missachtet worden. Für mich hatte es sogar den Anschein gehabt, als ob die Centurionen ihren eigenen Regeln folgten, den Regeln, die besagten, dass der Schutz des Lebens der Legionäre – und vor allem ihres eigenen! – die alleroberste Priorität hatte.

Wussten diese Männer eigentlich, wozu sie hier waren? Hatte denn niemand auch nur einen Funken dessen in sich, was Rom einmal groß gemacht hatte? Keinen noch so schwach glimmenden Funken, den ich, der Inhaber des höchsten politischen Amtes, das dieses großartigste aller Gemeinwesen zu vergeben hatte, würde entflammen können? Was war notwendig, um den Legionären und Centurionen – vor allem den Centurionen, den heimlichen Herren dieses Heeres! - beizubringen, das Wohl Roms über ihr eigenes zu stellen? Ihren sechsjährigen Dienst in der neu zu formenden Provinz Hispania als etwas anderes aufzufassen als eine lästige Pflicht innerhalb ihrer zwanzig Jahre als Legionäre, die ihnen einen gesicherten Lebensabend als Veteranen verdienen sollten? Sahen diese Bauerntölpel nicht die Chance, an der Geschichte Roms mitzuschreiben? Oder übersah ich, der ich eine gute Erziehung und Ausbildung genossen hatte, dass diese großen Gedanken und Ideen zu groß waren für ihre ungebildeten Schädel?

Was auch immer, ich musste etwas an diesen unhaltbaren Zuständen ändern. Und ich hielt es durchaus nicht für ein Zeichen von Schwäche, wenn ich mir zur Lösung dieses offenkundigen Problems Hilfe suchte. Zu diesem Zwecke hatte ich meinen gesamten Stab einschließlich aller höheren Offiziere zu einer dringenden Unterredung gebeten. Auf Tiberius Gracchus’ Frage hin, ob er als Zivilist denn auch eingeladen sei, hatte ich zunächst gezögert, hatte es dann jedoch für unklug gehalten, ihm die Teilnahme zu verbieten. Im Gegenteil, dass ich mit meinen Strategien an meine Grenzen gestoßen waren, stellte inzwischen kein Geheimnis mehr dar. Jetzt nicht aufzugeben, sondern aktiv – wenn auch mit der Hilfe anderer – nach einer Lösung zu suchen, konnte mir eigentlich nur als ein Zeichen von Stärke ausgelegt werden. Und um nichts in der Welt wollte ich riskieren, dass es Tiberius Gracchus entging.

Die Geräusche der Wachablösung draußen im Lager sagten mir, dass die Zeit für die Zusammenkunft heran war. Schnell verabreichte ich mir noch einen großzügig bemessenen Becher verdünnten Wein: Mein Hals sollte nicht trocken und meine Stimme fest sein.

Ich verließ meine Unterkunft und ging schweren Schrittes zu dem Zelt, das ich eigens für diese Versammlung hatte errichten lassen. Am Eingang nickte mir die Wache zu zum Zeichen, dass die anderen bereits anwesend waren. Ich holte noch einmal tief Luft und trat ein.

Der Anblick, der mich empfing, war alles andere als ermutigend. Um den provisorisch gezimmerten Tisch herum saßen meine sechzehn Stabsoffiziere sowie mein quaestor Tiberius Gracchus, allesamt mit betretenen oder düsteren Gesichtern. Bei meinem Eintreten erhoben sie sich, manche recht zögerlich zwar, doch sie blieben stehen, bis ich mich gesetzt hatte. ‚Wenigstens das!’ dachte ich grimmig. ‚Wenigstens hier kann ich noch ein wenig Respekt erwarten!’ Ich erhob mich wieder.

„Männer Roms!“ begann ich ohne Umschweife. „Das consularische Heer steckt in einer äußerst kritischen Situation. Im Grunde lässt sich unser Dilemma auf folgende drei Problempunkte beschränken: Wir stehen vor einem Gegner, der die Strategie der feigen Überfälle aus dem Hinterhalt einem ehrenvollen Kampf im Felde vorzieht; wir haben zwanzigtausend Legionäre und einheimische Hilfstruppen, die unter meinen Vorgängern Quintus Popillius Laenas und Decianus Iunius Brutus derart verkommen sind, dass sie zum Kämpfen nicht mehr taugen, und wir haben zu guter Letzt diejenigen, deren Aufgabe es eigentlich wäre, die Zucht und Ordnung aufrecht zu erhalten, mit eiserner Hand durchzugreifen und dafür zu sorgen, dass die Legionäre vor ihnen mehr Angst haben als vor dem Feinde, die es jedoch vorgezogen haben, sich wie eine Glucke schützend vor die Legionen zu stellen, um sie vor der Unbill consularischer Befehle zu bewahren. Dem gegenüber – nur für den Fall, dass es der eine oder andere vergessen haben sollte – haben wir vom römischen Senat den Auftrag, Hispania citerior zu befrieden und die Voraussetzungen für den Aufbau dieser neuen römischen Provinz zu schaffen. Ich nehme nicht an“, fügte ich mit gespieltem Sarkasmus hinzu, „dass es unbemerkt geblieben ist, dass meine bisherigen Bemühungen, so etwas wie eine militärische Disziplin wiederherzustellen, erfolglos waren. Nichtsdestotrotz haben wir eine Aufgabe zu erfüllen. Meine Herren Offiziere, ich erwarte eure Vorschläge!“ Ich setzte mich wieder und blickte mich herausfordernd um.

Die Reaktionen derer, die sich ‚Offiziere des consularischen Stabes’ nannten, waren genauso, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Man sah sich an, man sah zur Seite, man versuchte Löcher in die grob behauene Tischplatte zu starren, man versenkte den Blick im Weinbecher, kurz, man tat alles, um möglichst nicht so zu erscheinen, als wäre man angesprochen worden. Und so abartig es auch klingen mag, angesichts der Tatsache, dass das verkommene Heer, um das es hier ging, mein eigenes war: Es erfüllte mich mit einem Gefühl aus Befriedigung und Erleichterung, dass die Männer, die eigentlich zu meiner Unterstützung da waren, genau so ratlos waren wie ihr Consul. Das letzte was ich jetzt gebraucht hätte, wäre irgendein vorwitziger, von Ehrgeiz zerfressener junger Mann aus einem Haus mit einer langen militärischen Tradition, der mit der größten Selbstverständlichkeit eine fertige Lösung präsentierte, deren Genialität natürlich sofort alle erkannten, und die mir dann siebzehnfach mitleidige und geringschätzige Blicke einbringen würde.

„Nun“, sagte ich in das Schweigen hinein. „Ich möchte die Herren doch bitten, sich ausreden zu lassen und nicht gegenseitig ins Wort zu fallen, so sehr ich eine angeregte, konstruktive Diskussion wie diese auch schätze.“

Gequältes Schnaufen antwortete mir. Und gerade als ich begann mich zu fragen, ob ich meinen Zynismus noch weiter treiben oder diese nutzlose Versammlung auflösen sollte, zumindest erfüllt mit der grimmigen Befriedigung, dass es niemand hier besser gekonnt hätte als ich, genau in diesem Augenblick räusperte sich Tiberius Gracchus vernehmlich.

„Ja bitte?“ Sofort ließ ich meinen, wie ich meinte, unbarmherzigen Blick in die Richtung schießen, aus der die vermeintliche Wortmeldung gekommen war.

„Mit Verlaub, Consul ...“ Unsicher erhob sich mein Quaestor, sein rundes, rotes, von der Sonne Hispanias verbranntes Gesicht leuchtete. Hilfesuchend sah er sich in der Runde um, doch erntete auch er keine andere Reaktion als ich zuvor.

„Fahr fort“, ermutigte ich ihn, dabei bemüht, meiner Stimme einen väterlichen, gönnerhaften Ton zu verleihen.

„Die drei Problempunkte“, nahm Tiberius Gracchus seine Rede wieder auf. „Die drei Problempunkte stehen unbestritten fest. Uneingeschränkt hoch anzuerkennen sind auch deine Bemühungen, den Missständen zu Leibe zu rücken, aber frage ich mich ...“ Er geriet ins Stocken bei der krampfhaften Suche nach den richtigen Worten. Wie sagte man als kleiner Quaestor seinem Consul und Gönner, dass man das, was er tat, nicht für gut befand?

Diesmal wartete er vergeblich auf eine Ermunterung von meiner Seite. Er atmete tief durch. „Ich frage mich, nachdem die Absicht der beiden provozierten Auseinandersetzungen mit den Numantinern offensichtlich und auch durchaus nachvollziehbar war, ob nicht von den falschen Voraussetzungen ausgegangen wurde.“

Jetzt wurde ich ernsthaft neugierig. Der Gracchus hatte, bei all dem beachtlichen und respektablen familiären Hintergrund, den er ja nun ohne Zweifel aufzuweisen hatte, in all den vorangegangenen Wochen nicht den Eindruck eines Mannes gemacht, der leichtfertig Kritik an den Handlungen eines Consuls üben würde, reinweg um der Kritik willen oder um sich interessant zu machen. Es gab außerdem einfachere Wege, um bei einem Consul in Ungnade zu fallen.

„Wir alle sind begierig darauf, deine Vorschläge zur Verbesserung meiner Strategien zu hören“, sagte ich, diesmal jedoch ohne irgendwelche Untertöne.

„Ich denke, ein Heer, das sich durch seine Unterführer selbst regiert – und dass wir es mit einem solchen zu tun haben, steht wohl nach den Ausführungen des ehrenwerten Consuls Caius Hostilius Mancinus außer Zweifel – ändert seine Haltung nicht, wenn man es vor die Tore einer feindlichen Stadt führt und ihm befiehlt, diese Stadt anzugreifen. Um das zu bewirken ist – und hier bitte ich um Verzeihung – eine größere Macht notwendig, als der Befehl eines Consuls.“

Ich konnte spüren, wie die anderen den Atem anhielten. „Und?“ fragte ich, mühsam um Fassung ringend. „Was für eine Macht sollte das wohl sein? Das Wort eines herabgestiegenen Gottes? Womöglich Mars höchstselbst?“

Niemand lachte über meinen verunglückten, krampfhaften Versuch eines Scherzes.

Tiberius Gracchus schüttelte den Kopf. „In dem jetzigen Zustand der Männer gibt es nur eines, was sie aus ihrer selbsterschaffenen und durch ihre Centurionen beschützten Traumwelt aufwecken kann: Angst.“

Er hatte Recht. Und doch ... „Aber sollten sie diese Angst im Angesicht der Numantiner nicht längst gespürt haben?“ fragte ich. ‚Wenn ihnen schon die Angst vor ihrem Consul und ihren Unterführern abhandengekommen ist!’ wollte ich noch hinzusetzen, ließ es dann aber wohlweislich. Warum sollte ich das Offensichtliche auch noch laut aussprechen?

Wieder verneinte mein Quaestor. „Nein, es ist ... wie soll ich es erklären ... sie hatten keine Angst in den beiden Auseinandersetzungen. Du hast sie aufmarschieren lassen, ihnen den Feind gezeigt und erwartet, dass sie ihre Pflicht tun. Das haben sie nicht getan, wie wir alle nur allzu gut wissen, und sie brauchten auch deinen Zorn nicht zu fürchten, denn sie hatten ja die Centurionen auf ihrer Seite. Es gab nichts, wovor sie Angst haben mussten, oder hast du jemals erwogen, sie hier in Feindesland, vor den Augen der numantinischen Späher, auspeitschen oder gar dezimieren zu lassen?“

Das hatte ich natürlich nicht, aber war ich ein schlechter Oberbefehlshaber, nur weil ich meine Männer nicht demütigte oder umbringen ließ? Zumal ich jeden einzelnen von ihnen brauchte?

„Und wo soll die notwendige Angst deiner Meinung nach dann herkommen?“ fragte ich gereizt.

„Sie kann nur vom Feind ausgehen. Nein warte“, sagte er hastig, als er sah, wie ich Luft holte, um ihn zu unterbrechen. „Ich weiß was du sagen willst: dass genau das das Ziel der durch dich provozierten Schlachten war. Es verhält sich jedoch anders. Bislang hatten die Legionen lediglich den Befehl zum Angriff, ohne weitere ernsthafte Bedrohung, wenn sie diesem Kampf auf die eine oder andere Art und Weise aus dem Weg gingen. Doch was wäre, wenn sie auf einmal keine Wahl mehr hätten zwischen kämpfen und nicht kämpfen? Wenn vom Feind eine reale Bedrohung ausginge? Mit anderen Worten: Was wäre, wenn sie angegriffen würden?“

In das folgende Schweigen hinein wuchs die Erkenntnis, dass uns Tiberius Gracchus die Lösung zu all unseren Problemen gezeigt hatte. Die Numantiner mussten uns angreifen. Es würde die Truppe aufwecken, wobei eine ernsthafte Gefahr nicht bestand. Den zwanzigtausend Legionären und Hilfstruppen standen nach unseren aktuellen Schätzungen höchstens achttausend Numantiner gegenüber; mehr würde die Bergstadt nach den Aussagen unserer Kundschafter gar nicht beherbergen können. Ja, das war es. Die Legionen würden sich auch weiterhin um jegliche Form des Kampfes drücken, es sei denn, der Kampf deckte sich mit ihrer eigenen obersten Priorität: dem Schutz des eigenen Leibes und Lebens.

Aber so schön sich das ganze auch anhörte, so hatte es doch in meinen Augen einen nicht unwesentlichen Haken ...

„Und wie willst du die Numantiner dazu bringen, das römische Heer anzugreifen?“ nahm mir ein Legat aus der Runde, der bislang den Mund gehalten hatte, die Frage aus dem Mund. „Jeder weiß doch, dass sie nicht von ihrem Stadtberg herunterkommen, und wenn doch, dann nur um uns mit Scheinangriffen und –rückzügen mürbe zu machen.“

Die Augen aller Anwesenden hingen an Tiberius Gracchus. Niemand erwartete ernsthaft eine Antwort, meine Wenigkeit eingeschlossen, doch zu unser aller Erstaunen war der junge Mann auch diesmal um eine Antwort nicht verlegen. „Ihr habt Recht. Die Numantiner werden uns mit Sicherheit nicht angreifen. Aber unser Feind besteht ja nicht nur aus den Bewohnern der Stadt Numantia.“

Auf die fragenden Blicke hin fuhr er fort: „Ich denke, wir haben uns in den vergangenen Monaten zu sehr von dem Bild leiten lassen, dass wir nur gegen die Numantiner kämpfen, vielleicht auch eher unbewusst, vielleicht auch gerechtfertigt, da sie die einzigen sind, die uns wirksamen Widerstand entgegenbringen. Doch die Numantiner sind nur ein Teil des Stammes der Arevaker; dieser wiederum hat Verbündete, mit denen wir bislang noch gar nichts zu tun hatten. Da wären zum Beispiel die Cantabrer, die ihnen durch Eid verpflichtet sind, oder die Vaccaei, die die Stadt Numantia gegen Schutzversprechen mit Getreide versorgen.“

„Ich verstehe immer noch nicht, was uns das mit unserem Problem helfen sollte“, unterbrach ich den Gracchus. „Wir haben, wie du schon richtig bemerkt hast, die Verbündeten der Numantiner noch nicht einmal zu Gesicht bekommen.“

„Aber versteht ihr denn nicht? Jeder hier, die Legionen eingeschlossen, weiß, dass uns die Numantiner nicht angreifen werden. Aber wer kann das schon mit Bestimmtheit von den anderen Stämmen sagen?“

„Aber wenn wir schon die Numantiner, deren Stadt wir immerhin belagern, nicht dazu bringen können, gegen uns anzutreten, wie willst du dann deren Verbündeten dazu bewegen?“ warf ein anderer Offizier, ein Tribun ein.

Auf dem Gesicht des Tiberius Gracchus erschien plötzlich ein geheimnisvolles Lächeln. „Wer sagt denn, dass sie uns tatsächlich angreifen müssen? Reicht es denn für unsere Zwecke nicht aus, wenn unsere Legionen glauben, dass sie von den Verbündeten der Numantiner angegriffen werden?“

Ich versuchte mühsam, meine Gedanken zu ordnen. „Willst du uns hier allen Ernstes vorschlagen, wir sollen unseren Legionen einen nicht stattfindenden Angriff von nicht vorhandenen Feinden vorspielen, um sie an ihre Pflichten zu erinnern?“ Ich schüttelte verwirt den Kopf. „Bin ich solch ein schlechter Oberbefehlshaber, dass ich mein Heer belügen muss, damit es seine Aufgaben erfüllt?“ Ich spürte, wie ich wütend wurde.

„Gib der Sache den richtigen Namen, und man wird sie später zu deinen Gunsten auslegen“, antwortete Gracchus.

„Und was wäre deiner Meinung nach der richtige Name für diese ... diese Farce?“ fragte ich mit soviel Häme in der Stimme, wie ich hineinlegen konnte. Es gelang mir nur halb so gut wie ich wollte.

„Nun, wie wäre es mit ‚Planspiel’, oder ‚Strategieübung’? Such dir etwas aus! Und was deine Bedenken angeht, was könnte jemand einem Consul vorwerfen, der in einer vom Feind verursachten Kampfpause die Zeit nutzt, um sein Heer durch militärische Übungen wieder auf Vordermann zu bringen? Im übrigen solltest du wissen, dass sich dererlei Übungen in den Ausbildungslagern der Legionen in Rom wachsender Beliebtheit erfreuen. Ich hatte vor meiner Abreise noch Gelegenheit, mich mit einem jungen Offizier zu unterhalten, Marius war sein Namen, der wohl vom Senat speziell damit betraut war, solche Übungen zur Verbesserung der Ausbildung unserer Legionen zu entwickeln.“

Ich wusste weder von dieser Senatsanordnung, noch hatte ich je den Namen Marius gehört. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass ich eben diesem Marius etwas mehr als drei Jahre später selbst begegnen sollte, allerdings auf eine Art und Weise, wie sie für mich da noch undenkbar war. Ich hatte auch keine Zeit, mich darüber zu wundern, woher Tiberius Gracchus sein Wissen hatte. Meine sechzehn Stabsoffiziere erwarteten eine Entscheidung von mir.

Eine Entscheidung, die eigentlich schon gefallen war. Denn was konnte ich dagegenstellen, wenn ich den Vorschlag verwarf? Ein Blick in die Runde zeigte mir zudem, dass keiner der am Tisch Sitzenden bereit war, über weitere Alternativen nachzudenken.

„So sei es denn. Lasst uns eine ‚Strategieübung’ abhalten. Ihr werdet morgen nach der Abendmahlzeit bei den Centurionen verkünden, dass die Vaccaei und die Cantabrer auf dem Weg hierher sind, um uns im Rücken anzugreifen, was die Numantiner wahrscheinlich ausnutzen werden, um von ihrem Berg herabzusteigen und uns gemeinsam mit ihren Verbündeten in die Zange zu nehmen. Da wir nicht wissen, wie viele Hilfstruppen tatsächlich zur Unterstützung Numantias anrücken, gibt es nur eine vernünftige Strategie zur Abwehr dieses Angriffs: Direkter Sturm und Einnahme der Stadt, die dann sehr schnell zu einer wirkungsvollen Verteidigungsanlage für unsere eigenen Zwecke ausgebaut werden muss, um gegebenenfalls auch einer feindlichen Übermacht standzuhalten. Dann, und erst dann, wenn sie quasi nebenher die Stadt Numantia besiegt haben, um selbst einen Schutz gegen die heranrückenden Hilfstruppen zu haben, wenn sie von den Mauern Numantias herunter nach den Kriegermassen Ausschau halten, erst dann werden wir ihnen sagen, dass unsere Aufklärer sich wohl doch geirrt haben. Und dabei werden wir schon zu wirklichen consularischen Legionen sprechen, die gerade einen großen Sieg errungen haben.“

Ich machte eine Pause, die zu Einwänden oder Ergänzungen einladen sollte. Es gab keine.

„Ich erwarte bis morgen Nachmittag einen detaillierten Plan, aus welcher Richtung genau die Vaccaei und die Cantabrer kommen könnten, und an welcher Stelle die Stadt Numantia am besten angegriffen werden sollte. Diese Informationen werden entsprechend an die Centurionen gegeben. Sie machen die Geschichte glaubwürdiger und nehmen ihnen die Zeit, irgendwelche eigenen Strategien zu entwickeln. Der Angriff auf Numantia beginnt übermorgen unmittelbar nachdem es hell geworden ist. Und um allen Eventualitäten vorzubeugen: Natürlich werden die Centurionen nicht darüber aufgeklärt, dass es nur eine Übung ist.“

Ich blickte in die Runde und war unglaublich zufrieden mit mir.

„Gibt es noch Fragen?“

 

Am Abend des nächsten Tages auf einer Anhöhe in der Nähe von Numantia

 

Rhetogenes schloss die Augen. Nach kurzer Zeit öffnete er sie wieder, doch das Bild veränderte sich nicht. Beinahe hilflos blickte er zu Theogenes, der neben ihm auf seinem Pferd saß und gemeinsam mit ihm von der kleinen Anhöhe aus das sich unter ihnen erstreckende Tal beobachtete. Theogenes hob die Schultern. „Was fragst du mich? Du kennst die Römer besser als ich ...“

Rhetogenes wandte sein Gesicht wieder dem Anblick zu, den zu glauben er immer noch nicht bereit war. Und doch, es gab kein anderes Wort um das zu beschreiben, was er dort sah: Flucht. Die Legionen des Caius Hostilius Mancinus hatten unter Zurücklassung großer Haufen der Ausstattung ihr Feldlager abgebrochen und strebten in heilloser Flucht dem Talausgang zu.

„Hast du irgendwelche Informationen darüber, dass irgendeiner unserer verbündeten Stämme eigenmächtig gegen die Römer in den Krieg zieht?“

Theogenes schüttelte den Kopf. „Nein, nicht dass ich davon wüsste.“

„Und was glaubst du, wo die Römer hinwollen?“

„Also, wenn ich angegriffen würde – und es sieht so aus, als ob sie das glauben – dann würde ich mich in das Lager zurückziehen, in dem damals vor sechzehn Jahren der römische Consul seine Legionen hat erfrieren lassen. Im Sommer ist der Ort ziemlich genial: hoch gelegen, das Gelände bis Numantia einsehbar, Wasser und Holz gibt es auch; ja, als Römer würde ich das tun.“

Rhetogenes überlegt einen Moment. „Was denkst du, wie lange sie brauchen, bis sie das Lager erreicht haben?“

Theogenes blies kurz die Wangen auf. „Vier Tage, bei normaler Marschgeschwindigkeit, aber so, wie die rennen, können sie auch schon in drei Tagen dort sein.“

„Drei Tage ...“, sagte Rhetogenes nachdenklich. Dann, nach einem weiteren Blick auf die fliehenden Römer: „Ruf unsere Reiter zusammen! Wir müssen schneller sein. Die Legionen dürfen das alte Lager nicht erreichen!“ Dann mit einem Grinsen: „Sollte unser lieber Consul seinen Truppen tatsächlich etwas von einem Angriff erzählt haben, können wir doch nicht zulassen, dass er als Lügner dasteht ...“

 

Ein Stück Geröll löste sich. Sein rechter Fuß glitt ab, und er spürte ein bösartiges Stechen im Fußgelenk. Zischend zog er die Luft durch die zusammengebissenen Zähne ein. Doch er stapfte weiter. Nur nicht stehenbleiben, nicht langsamer werden, nicht zurückfallen.

Zurückfallen bedeutete den Tod.

Lucius’ Augen sprangen nach rechts und links. Wo war seine Centurie? Seine Linie? Dann wurde ihm die Unsinnigkeit seines Suchens bewusst. Ein Heer auf dem Marsch, selbst ein derart heruntergekommenes wie das ihre, mochte eine Ordnung haben.

Ein Heer auf der Flucht nicht.

Sie waren gerade dabei gewesen ihre Abendmahlzeit einzunehmen, als die Centurionen in den Zelten erschienen waren. Doch diesmal waren sie nicht gekommen, um für den folgenden Tag angeblich geplante Marsch- und Waffenübungen anzukündigen, um sich von ihren Legionären dann mit großzügigen Weingeschenken überreden zu lassen, von den Übungen in der Gluthitze Hispanias abzusehen.

„Schwingt eure faulen Ärsche von euren Lagerfeuern!“ hatte der Centurion gebrüllt, der für Lucius’ und Antonius’ Einheit zuständig war. „Oder bleibt sitzen, wenn ihr von den Scheiß-Barbaren abgeschlachtet werden wollt. Für diejenigen unter euch, die es interessiert: angeblich sind zwei einheimische Heere auf dem Weg hierher, um uns den Arsch aufzureißen. Ich für meinen Teil habe beschlossen, dass ich nicht abwarten möchte um herauszufinden, ob an dem Gerücht etwas dran ist; unsere Herren Legaten und Tribunen – und wahrscheinlich auch unser ehrenwerter Consul – haben dagegen schon sehr konkrete Pläne, was die Reaktion der Legionen auf den bevorstehenden Angriff angeht. Leider decken sich diese Pläne nicht ganz mit den Vorstellungen von Überleben, die die Centurionen dieser Legionen haben, denn sie schließen den direkten Angriff auf dieses Scheiß-Nest auf dem Hügel dort drüben ein!“

„Und was soll nun geschehen?“ hatte einer der Legionäre gefragt.

Der Centurion hatte ihn angestarrt, als hätte er einen Geistesgestörten vor sich. Dann hatte er sich ganz dicht vor den jungen Mann gestellt und ihn in einer Lautstärke angebrüllt, als stände letzterer am anderen Ende des Lagers: „Was nun geschehen soll?! Was nun geschehen soll?! Wir werden uns hier verpissen, und zwar so schnell wie möglich! Und wisst ihr, was das Wunderbare daran ist?“ hatte er lauernd gefragt, dabei dem ganzen Zelt zugewandt. Natürlich hatte niemand gewusst, was der Centurion so wunderbar daran fand, dass zwei Horden Barbaren auf sie zu marschierten, um sie umzubringen. „Das Wunderbare daran ist, dass ihr keine andere Möglichkeit habt, als mit euren lieben Centurionen mitzulaufen und ihnen den Arsch zu decken, weil ihr ansonsten sterben werdet! Und zwar weil ich es mir aussuchen kann, ob ich euch wegen Befehlsverweigerung im Angesicht des Feindes gleich selbst hinrichte oder ob ich warte, bis die Barbaren das für mich erledigen.“ Dann war er in unbändiges, leicht irre klingendes Lachen ausgebrochen. Die Legionäre hatten sich angesehen. Natürlich hatte ein Centurion nicht die Macht, einen Legionär hinzurichten. Andererseits ... wer konnte sich in einem Heer mit solch schwacher Führung da schon sicher sein?

Und so hatten sie in aller Eile alles zusammengepackt, was zum Leben notwendig, und alles „vergessen“, was auf einem schnellen Marsch eher hinderlich war, so zum Beispiel auch die Schanzpfähle zum Befestigen eines eventuellen provisorischen Lagers. Auf diese Schanzpfähle angesprochen hatte der Centurion nur erwidert, dass man sie dort, wo man hingehe, nicht brauchen werde, da der Ort wohl bereits befestigt sei.

Was immer das bedeutete.

Seitdem liefen sie.

Zwei Tage liefen sie fast ohne Unterbrechung. Und jetzt hörten sie hinter sich die Schreie der sterbenden Legionäre; Schreie, die sie noch schneller laufen ließen anstatt stehen zu bleiben und zu kämpfen. Schreie, die immer näher kamen.

Die Numantiner waren deutlich schneller als die in heillosem Durcheinander flüchtenden Römer, die noch nicht einmal stehenblieben, um eine rückwärtige Verteidigung der Flucht aufzubauen.

Diese Erkenntnis löste bei den Numantinern einen wahren Blutrausch aus. Das Gelände war ideal: enge Schluchten, Hänge mit großen Felsbrocken, hier und da kleine Baumgruppen, alles hervorragend geeignet für kleine, blitzartige Überfälle aus dem Hinterhalt, vorzugsweise auf die am Ende der Kolonne Marschierenden.

Es war egal, ob die Römer ihr altes Lager erreichten, solange nur möglichst viele von ihnen auf dem Weg starben.

Gehetzt sah Lucius sich um. Das Schreien der Sterbenden kam immer näher. Oder kamen die Schreie inzwischen auch schon von den Flanken? Hatten die Barbaren sie jetzt etwa überholt? Verzweifelt versuchten seine Augen, die Dunkelheit zu durchdringen, doch vergebens. Die Centurionen hatten ihnen verboten, Fackeln anzuzünden, damit ihre Flucht möglichst lange unbemerkt blieb, und so war das einzige, was ihnen den Weg erhellte und sie vor dem Absturz in eine der zahllosen Schluchten bewahrte, das fahle Licht des Mondes, der sich zu allem Überfluss wieder und wieder hinter über den Nachthimmel ziehende Wolken versteckte. Jedes Mal, wenn das passierte, wurde der Marsch spürbar langsamer.

Und die Schreie aus dem hinteren Teil der Kolonne der fliehenden Römer wurden lauter und zahlreicher. Doch noch lag das Ende weit hinter ihnen.

Unwillkürlich blieben Lucius und Antonius selbst in der Hektik des Gewaltmarsches zusammen. Nur nicht noch einen Freund verlieren!

Doch vielleicht spielte das schon bald keine Rolle mehr.

Hinter einer Biegung öffnete sich der Weg plötzlich und wurde zu einer breiten Talsohle. Die Reihen lockerten etwas auf. Wie weit war es denn noch bis zu diesem verfluchten Lager?

Der Mann vor Lucius stoppte so abrupt, dass dieser aus vollem Lauf auf dessen Rücken prallte. Nur wenige Augenblicke später standen Lucius und Antonius völlig eingekeilt.

„Was ist los?“ schrie Antonius.

Er war nur einer von Dutzenden, die diese Frage brüllten. Niemand von ihnen erhielt eine Antwort.

Lucius fühlte, wie ihm die Brust eng wurde. Das Atmen fiel ihm unendlich schwer. Die laue Nachtluft war wie eine zähe Masse, so dass er meinte, dass die Kraft seiner Lungen nicht ausreichen würde, um sie einzuatmen. Doch in seinem Inneren wusste er, dass die Luft war wie immer, dass er nicht ersticken würde, dass es nur die aufsteigende Angst war, die ihm den Atem abschnürte. Aber auch dieses Wissen half ihm nicht, seinen Körper unter Kontrolle zu bekommen.

Dann durchschnitt ein gellender Todesschrei die Nacht. Und noch einer! Ein dritter!

Sofort erstarb jeder Laut.

Das war die Antwort, auf die sie gewartet hatten.

Diese letzten Schreie waren von vorn gekommen.

Lucius und Antonius starrten sich an.

Das war das Ende.

Das römische consularische Heer in Hispania citerior war eingeschlossen.

 

Sie waren überall! Über uns, vor uns, hinter uns, rechts, links, überall! Um mich herum starben meine Legionäre, niedergestreckt von Speeren, deren Werfer sie nicht sahen, von Schwertkämpfern, die ihnen um ein Vielfaches überlegen waren.

Vielleicht bereute ja jetzt der eine oder andere meiner verfluchten Centurionen, meinen Angriffsbefehl auf Numantia nicht nur ignoriert, sondern schlichtweg verweigert zu haben.

Wenn er noch Gelegenheit hatte, zu bereuen.

Der Ruf vom Angriff der Hispanier hatte etwas bewirkt, was vermutlich noch nicht einmal der Erfinder der Idee, Tiberius Gracchus, vorhergesehen hatte. Mein Heer hatte kurzerhand beschlossen, es den Tausenden erdbraunen hispanischen Kaninchen gleichzutun und wegzulaufen. Ich hatte nun meinerseits vor der Wahl gestanden, mitzulaufen oder Numantia allein anzugreifen. Ich hatte mich für Option eins entschieden. Zu spät erkannte ich, dass ich statt der Dummheit dem Wahnsinn den Vorzug gegeben hatte.

Schon am ersten Tag unserer Flucht begannen die Angriffe auf die hinteren Reihen. Am Ende des zweiten Tages hatten sie uns überholt und griffen seitdem auch von vorn an. Aber noch marschierten wir. Dann geschah es.

Es war das erste Mal, dass auch ich in Hispania in einen Kampf Mann gegen Mann geriet. Natürlich hatte auch ich wie die meisten Anwärter auf politische Ämter meine zehn Jahre bei den Legionen gedient, doch zum einen hatte ich dort den eher ruhigen Posten eines Legaten innegehabt, und zum anderen lag diese Zeit mehr als zwanzig Jahre zurück. Als mein Schwert zum ersten Mal den Schlag eines Hispaniers abwehrte, spürte ich jedes einzelne dieser Jahre der körperlichen Untätigkeit mit aller Härte.

Neben mir kämpften zwei Tribune aus meinem Stab und Tiberius Gracchus. Mit Verzweiflung merkte ich, dass es nicht mehr vorwärts ging; wir kämpften nur noch darum, unsere Position zu halten. Gerade als mir die Aussichtslosigkeit unserer Lage bewusst wurde, passierte es. Ein Stück des Hanges links vor uns löste sich, und drei hispanische Krieger purzelten höchst unkriegerisch vor unsere Füße. Sofort stießen die Tribunen vor und durchbohrten zwei der am Boden liegenden Feinde. Auch ich wollte meinem ersten Instinkt folgen und dem dritten hispanischen Krieger mein Schwert in die Kehle stoßen, doch dann fiel mein Blick auf die schwere runde bronzene Scheibe mit dem Bild von zwei Geiern auf seiner Brust.

Ein Anführer!

Eine Idee durchzuckte meinen Geist. Ich setzte meinen linken Fuß auf die Schwerthand des Hispaniers und drückte ihm die Spitze meines Kurzschwertes an die Kehle. Ein hochrangiger Gefangener! Das konnte der Ausweg sein!

Meine Tribune erkannten sofort, was ich vorhatte. Sie packten den Hispanier und zerrten ihn trotz heftiger Gegenwehr hoch. Der Mann bekam kurz eine Hand frei, doch statt nach dem Dolch zu greifen, schlug er sich auf den Mund. Dann stand er still.

Aber nur für einen Augenblick. Plötzlich begann er, sich mit schmerzverzerrtem Gesicht in furchtbaren Krämpfen hin und her zu werfen, so heftig, dass ihn die beiden Tribune nicht mehr halten konnten. Der Krieger stürzte zu Boden und wand sich mit einem zu einem stummen Schrei verzerrten Mund. Schließlich rollte er auf den Rücken und lag ruhig. Ich trat näher. Gerade, als ich dachte, er wäre tot, verzog sich sein Gesicht zu einem hochmütigen Grinsen. Ich zuckte zurück. Die Tribune richteten sofort ihre Schwerter auf den Liegenden. Doch der blieb reglos liegen. Sein Grinsen hatte er in den Tod hinüber gerettet.

Lautes Jubelgeschrei riss mich aus meinen Gedanken.

Doch es war nicht das Geschrei von römischen Legionären. Es war das Geschrei der Hispanier angesichts unserer Männer, die centurienweise ihre Schwerter zu Boden warfen und die Arme in die Luft reckten.

Ich merkte, wie ich zu zittern begann. Es war der Augenblick, in dem mir klar wurde, dass alles verloren war.

 

„Ergeben?“ Fassungslos beugte sich Avaros nach vorn. „Über zwanzigtausend Römer ergeben sich weniger als viertausend Numantinern?“ Kopfschüttelnd lehnte er sich wieder zurück. „Und dieses Volk hat das große Carthago besiegt?“

Rhetogenes stand ungerührt. Diese Reaktion des Stadtältesten hatte er erwartet. Was er nicht erwartet hatte, war die lächerliche Gegenwehr der römischen Legionen, die den Kampf in einer kürzeren Zeit hatte enden lassen, als der Marsch zum Ort der Schlacht gedauert hatte. Rhetogenes klangen noch die Beschwerden seiner Krieger in den Ohren, die nicht einmal zum Kämpfen gekommen waren.

„Und du sagst, ihr Oberbefehlshaber, ihr ... ihr Consul ist unser Gefangener?“

Rhetogenes nickte. „Er und sein gesamter Führungsstab.“

„Und du bist jetzt hier, weil ...?“

„Ich wollte dein Einverständnis, die Kapitulationsbedingungen mit den Römern allein verhandeln zu dürfen, ohne Beisein des Stadtrates.“

„Gibt es einen besonderen Grund dafür?“ fragte Avaros.

Rhetogenes zögerte vielleicht einen Lidschlag zu lange. „Der Verhandlungspartner bei den Römern ist nicht nur der gewählte Oberste seines Volkes, sondern auch und vor allem Oberbefehlshaber der Truppen Roms. Ich halte es nur für angemessen, wenn ich als oberster Kriegsherr unseres Stammesverbandes die Verhandlungen von unserer Seite führe.“

Avaros sah ihm direkt in die Augen. „Gibt es etwas, was ich wissen sollte?“

Diesmal zögerte Rhetogenes nicht. Er schüttelte den Kopf. „Nichts, was du nicht schon weißt.“

Und das war beinahe die ganze Wahrheit ...

 

Ich hatte mein Gesicht in meinen Händen vergraben. Als Kind hatte ich geglaubt, dass man mich nicht sehen konnte, wenn ich mir die Augen zuhielt. Im Augenblick wünschte ich mir nichts mehr, als dass diese unsinnige Kindheitsvorstellung wahr wäre. Oder wenigstens jetzt und hier für mich ganz allein wahr werden könnte.

„Consul?“

Ich hob den Kopf. Selbst das schwache Licht des kleinen Lagerfeuers blendete mich. Vor mir standen immer noch Tiberius Gracchus, der Numantiner nebst Leibwache sowie der Übersetzer und sahen mich fragend an. Ganz offensichtlich waren meine Gedanken abgedriftet. Aber wie lange? Ich wusste es nicht.

„Ja?“ krächzte ich. Mein Hals war trocken.

„Akzeptieren wir die Bedingungen der numantinischen Führung?“ fragte Tiberius Gracchus.

Vorsichtig, als spürte er, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, von welchen Bedingungen die Rede war.

Ich unternahm einen schwachen Versuch, Haltung zu bewahren.

Zumindest vor den Numantinern.

„Lass uns doch die Bedingungen noch einmal zusammenfassen …“ begann ich, wobei ich Gracchus eindringlich ansah.

Der verstand.

„Für den Augenblick erklären wir uns bereit, im Laufe des morgigen Tages unsere Waffen, die Inhalte der Trosswagen sowie alle Lebensmittel, die den Vorrat für die nächsten zehn Tage übersteigen, zu übergeben. Dazu werden die Legionen jeweils centurienweise und unter Bewachung in das Nachbartal gehen und ihre Waffen an dem ihnen bezeichneten Ort niederlegen. Im Gegenzug erhalten wir anschließend die Gelegenheit, uns mit dem gesamten Heer in das alte Lager des Nobilior zurückzuziehen. Wenn sich das römische Heer dort eingerichtet hat, soll es eine Abordnung nach Numantia schicken, die die Kapitulations- und Abzugsbedingungen verhandelt. Was danach mit uns geschieht, liegt im Ermessen der numantinischen Führung.“

Ich nickte, wobei ich offen ließ, ob ich diesen Bedingungen zustimmte oder lediglich signalisieren wollte, dass ich verstanden hatte.

Ich war gefangen in einem Albtraum. Für einen Augenblick lang war ich versucht anzuordnen, die numantinischen Abgeordneten gefangen zu nehmen und danach den Legionen den Befehl zu geben, sich mit dem Schwert in der Hand aus der Umklammerung des Feindes zu befreien. Nur einen Moment später erkannte ich das Unsinnige an dieser Idee. Wir waren gefangen in einem Talkessel, dessen Ausgänge einige Hundert numantinische Krieger wirksam verteidigen konnten, während die restlichen, was wusste ich wie viele Tausend, in aller Ruhe auf den Hängen sitzen und meine Legionen aus sicherer Entfernung mit Pfeilen, Steinen und Speeren niedermähen konnten.

Ich entstammte einer wohlhabenden Familie und hatte mir in meiner Vergangenheit nie Gedanken um den Preis einer Sache machen müssen. Heute nun lernte ich den Preis für die zumindest teilweise Wiederherstellung meiner Ehre kennen: Zwanzigtausend Männer.

Und auch wenn diese Männer in meinen Augen Feiglinge waren, auch wenn sie mich verraten hatten, auch wenn sie meinen politischen Untergang bedeuteten, so widerstrebte es mir doch, sie mit einem einzigen Befehl in den sicheren Tod zu schicken.

Tiberius Gracchus schien wieder meine Gedanken zu lesen. „Was immer du als Alternative siehst, Consul, ohne dir zu nahe treten oder deine Illusionen nehmen zu wollen, es wird nicht funktionieren. Deine Legionen sind schon vor einem Gerücht davongelaufen. Du kannst jetzt nicht ernsthaft erwarten, dass sie kämpfen werden, wenn der Feind vor ihnen steht, und das in einer besseren Position.“

Langsam drangen die Worte des Gracchus zu mir durch und klangen in meinem Kopf nach. ‚Deine Legionen’? Waren es nicht auch seine Legionen? War er kein römischer Bürger? Kein Angehöriger meines Führungsstabes? Und vor einem ‚Gerücht’ sind sie davongelaufen? War er, Tiberius Gracchus, es nicht selbst gewesen, der dieses Gerücht in die Welt gesetzt und ‚Strategieübung’ genannt hatte?

Mein Blick fiel auf den Numantiner, der noch immer auf eine Antwort wartete. Langes schwarzes Haar quoll unter den Seitenteilen des runden Metallhelmes hervor. Sein braungebranntes Gesicht zeigte keine Spur von Ermüdung. Seine Mundwinkel zeigten nach unten; die Augenbrauen waren hochmütig nach oben gezogen. Warum auch nicht? Er war der Vertreter der Sieger. Wortwörtlich genommen hatte er uns vor die Wahl gestellt; tatsächlich jedoch war er gekommen, um uns die Bedingungen für unsere Kapitulation zu diktieren.

Und während ich ihn anstarrte, wuchs eine Falte des Unwillens zwischen seinen Augenbrauen. Ich begriff, dass ich mit meiner Antwort nicht länger warten sollte. Ich würde mir später überlegen, wie ich mit dem Tiberius Gracchus weiterverfahren sollte.

Wenn es ein Später für mich gab.

Denn was wusste ich denn, wie die Einheimischen hier mit den Oberbefehlshabern feindlicher Heere verfuhren, besiegter feindlicher Heere? Wer sagte mir denn, dass sie nicht dem Vorbild Roms folgten und mit mir dasselbe taten, was wir mit dem Hasdrubal von Carthago getan haben, nachdem der Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus seinen Triumph gehabt hatte?

Doch seltsamerweise hatte der Gedanke, in einem dunklen Verlies durch einen Dolchstoß oder eine Schlinge um den Hals umgebracht zu werden, für mich nichts Bedrohliches an sich; angesichts dessen was mich bei einer Rückkehr in Rom erwartete.

Ich erhob mich und versuchte, eine einigermaßen würdevolle Körperhaltung anzunehmen.

„Sagt euren Obersten, dass wir die Bedingungen für unseren freien Abzug akzeptieren. Sie haben mein Wort als Consul Roms, dass sich alle Legionäre des Heeres an diese Absprache halten und keiner die Waffe gegen die Numantiner erheben wird.“ ‚Sie haben ja nicht einmal die Waffen erhoben, als ich es ihnen befohlen habe!’ dachte ich, während ich beobachte, wie der numantinische Gesandte nach der Übersetzung kurz nickte, sich umdrehte und das Zelt verließ.

Was immer jetzt passierte, es lag nicht mehr in meiner Macht. Normalerweise hätte ich jetzt beunruhigt sein müssen, weil man mir die Kontrolle über die Ereignisse aus den Händen genommen hatte. Dass ich nicht in Panik verfiel lag vermutlich daran, dass mir durchaus bewusst war, dass ich diese Kontrolle nie gehabt hatte. Ich hatte nichts mehr zu verlieren, spätestens seit die Legionen unter der Führung ihrer Centurionen in der letzten Nacht eigenmächtig das Lager abgebrochen hatten, vor den angeblich heranrückenden Vaccaei und Cantabrern geflohen waren und ich ihnen zusammen mit meinen Stabsoffizieren nur ohnmächtig hatte folgen können.

Nein, wenn ich das hier überleben sollte, dann konnte ich nur darauf hoffen, dass man in Rom zumindest die Tatsache würdigen würde, dass ich mit der offiziell ausgesprochenen Kapitulation vor den Numantinern zwanzigtausend Männern das Leben rettete.

Dann würde sich erweisen, ob Rom das große und vor allem großzügige Gemeinwesen war, für das ich bis jetzt gelebt hatte und das ich notfalls auch mit meinem eigenen Leben verteidigen würde.

 

Er warf sich auf die andere Seite. Nein, in dieser Nacht würde er keinen Schlaf finden.

Das hätte nicht passieren dürfen. Doch so oft er auch gedanklich die Geschehnisse der letzten Stunden an seinem inneren Auge vorbeiziehen ließ, so wenig sah er auch jetzt, mit dem entsprechenden zeitlichen Abstand, eine Möglichkeit, wie er den Lauf der Dinge hätte verändern können.

Die Numantiner hatten alles vorbereitet. Sie hatten eine Eingangswache am Durchgang zum Nachbartal postiert, die die Centurien beim Hinein- und Hinausgehen kontrollierte. Als alle Waffen abgegeben waren, hatten sie das Beladen derjenigen Trosswagen überwacht, die die Legionen in das ehemalige Lager des Nobilior mitnehmen würden. Nein, es hatte keinerlei Möglichkeit gegeben, das wertvollste seiner Besitztümer auf einen der Wagen zu schmuggeln, ohne die Aufmerksamkeit der Numantiner oder, was noch viel gefährlicher war, der anderen römischen Offiziere zu erregen. Und so hatte er ohnmächtig mit ansehen müssen, wie seine Berichte zusammen mit den Rechnungsbüchern zurückgeblieben waren, um von den Numantinern als Kriegsbeute abtransportiert zu werden. Seine Berichte, die in den falschen Händen eine politische Katastrophe in Rom auslösen konnten!

Er richtete sich auf. Instinktiv wollte er aufstehen und sich einen großen Becher Wein holen, der ihm Ruhe und vielleicht etwas Schlaf bringen sollte. Mitten in der Bewegung hielt er jedoch inne. Es gab keinen Wein. Wein war in den Augen der Numantinern kein notwendiges Lebensmittel sondern Luxus. Ein geschlagenes Heer hatte keinen Anspruch auf Luxus. Für geschlagene Römer musste Wasser ausreichen, und auch dieses war, wie die gesamten Nahrungsmittelvorräte, streng rationiert worden. Genug zu leben, zu wenig, um zu fliehen. Leise fluchend ließ er sich wieder zurücksinken.

Gut, an dem was geschehen war, konnte er nichts mehr ändern. Jetzt galt es zu überlegen, wie man den Schaden begrenzen konnte.

Mit offenen Augen lag er auf dem Rücken. Doch je mehr er grübelte, desto mehr wuchs in ihm die Verzweiflung. Denn der weitere Verlauf der Dinge war weitestgehend vorgezeichnet: die morgen beginnenden Verhandlungen würden den bedingungslosen Abzug der Römer aus Hispania citerior zur Folge haben. Für das, was dann geschehen würde, gab es ein festes Procedere: Rückgabe der Gefangenen, Verwundeten und – so es denn welche gab – Überläufer, Ausstattung des Heeres mit ausreichend Lebensmitteln, um die Küste zu erreichen, dann Sichtung und Verteilung der Kriegsbeute beziehungsweise Vernichtung oder Rückgabe der Dinge, die keinen Wert für den Sieger hatten.

Und genau diese Unsicherheit, dieses ‚Oder’ war es, was ihn beinahe in den Wahnsinn trieb. Wie groß waren die Chancen, dass die Berichte vernichtet wurden und sie nie jemand zu Gesicht bekam? Wie groß die Wahrscheinlichkeit, dass er im Falle der Rückgabe an Rom zur richtigen Zeit am richtigen Ort war oder zumindest den richtigen Mann dort hatte? Und wann würde das alles geschehen? Wann würde er endlich Gewissheit haben? Selbst wenn es die Gewissheit war, dass er den großen Plan für Rom zunichte gemacht hatte? Selbst wenn es die Gewissheit war, sich selbst vernichtet zu haben?

War nicht alles besser als dieses Nichtwissen? Selbst wenn das Nichtwissen Raum für Hoffnung ließ?

Doch wo hörte Hoffnung auf und wo fing die unsinnige Spekulation an?

Wieder wälzte er sich herum. Sein ganzer Körper juckte unerträglich. Die Rationierung des Wassers setzte Prioritäten: Trinken statt Waschen, und das nun schon seit zwei Tagen. Er hatte sich noch nie in seinem Leben so schmutzig gefühlt; wahrscheinlich stank er wie die römische Stadtkloake. Kein Wunder, bei dieser unglaublichen Hitze des hispanischen Hochsommers. Seine Haut war bedeckt mit einer schmierigen Schicht aus Staub und Schweiß; jedes Abwischen seines schweiß- und fettglänzenden Gesichts führte dazu, dass etwas von dieser Schicht in seine Augen geriet und dort ein unglaubliches Brennen auslöste.

Wahrscheinlich war es auch nur eine Frage der Zeit, bis er sich irgendwelches Ungeziefer einfing. Nun, zumindest die Filzläuse würde er sich ersparen. Gegen alles andere war er vermutlich machtlos.

War es das wert?

War es das alles wirklich wert?

Morgen würde das Warten ein Ende haben. Morgen würde Mancinus mit einer Abordnung zu den Numantinern gehen, die die Bedingungen des Waffenstillstandes und des Abzuges der römischen Legionen verhandeln würde.

Und er ertappte sich dabei, wie ihn ein warmes, völlig unmilitärisches, völlig unrömisches Glücksgefühl durchlief, als er sich vorstellte, wie man sie alle nach Rom zurückschickte.

 

Es war totenstill im Zelt. Niemand wollte wirklich glauben, was er eben gehört hatte.

Am allerwenigsten ich selbst.

Bis eben hatte ich gedacht, dass ich meine schlimmste Demütigung in dem Moment erfahren hatte, als meine zwanzigtausend Legionäre von viertausend (das wusste ich inzwischen) Numantinern eingekreist und gefangen genommen waren.

Ich hatte mich geirrt.

„Aber ich bin der Consul! Ich bin der Oberbefehlshaber dieses Heeres! Ich, Caius Hostilius Mancinus, bin der Vertreter Roms hier in Hispania!“ Meine Stimme war rau. Und ich wusste, dass mein Ausbruch nichts an den Fakten änderte.

Der Anführer der Abordnung, die ich heute früh zu den Numantinern geschickt hatte, stand betreten vor mir. Wahrscheinlich war er schon glücklich darüber, dass ich keine Anstalten machte, ihn zu töten oder töten zu lassen.

In Rom starben Boten schon für weniger schlechte Nachrichten.

Was für ein Gefühl musste es sein, als Bote zu jemandem zu reden, der formal die höchste erreichbare Autorität darstellte, um ihm zu sagen, dass er eigentlich unwichtig war?

„Consul, ich gebe hier nur wieder, was mir die numantinische Führung aufgetragen hat. Ich habe sie darauf hingewiesen, dass du der einzige wärst, der verbindliche Entscheidungen treffen und verbindliche Zusagen machen kann, doch sie sind bei ihrer Forderung geblieben. Sie wollen den Nachfahren desjenigen, der schon vor vielen Jahren mit ihnen verhandelt hat. Nur diesem würden sie vertrauen. Der Anführer der militärischen Führung der Numantiner, ein gewisser Rhetogenes, meinte, er wäre selbst schon in Rom gewesen und hätte sich höchstpersönlich von der Vertrauenswürdigkeit der römischen Regierung überzeugen können. Er meinte auch, der ehrenwerte Consul Caius Hostilius Mancinus würde sich sicher an diese Gelegenheit erinnern und daher seine Beweggründe verstehen.“

Niemand sprach. Alle warteten darauf, dass ich etwas sagte. Was sagte ein Consul, dem gerade von einem Boten mitgeteilt worden war, dass sein Wort weniger wert war als das eines seiner Untergebenen? Der – wieder einmal – den Unterschied zwischen potestas und auctoritas zu spüren bekam?

Natürlich erinnerte ich mich an den Mann, der damals die Abordnung der Numantiner in der Senatsanhörung zu dem Vertrag des Quintus Pompeius angeführt hatte, an sein wildes Gesicht mit den edlen Zügen, die ihn als einen der Oberen auswiesen, und an seinen um die Schultern geschlungenen Wolfspelz, das Zeichen seiner Würde als militärischer Botschafter seines Volkes. Und ich erinnerte mich daran, dass ich es gewesen war, der ihm quasi ins Gesicht gesagt hatte, dass der Vertrag, den er im guten Glauben mit Quintus Pompeius, dem damaligen römischen Proconsul abgeschlossen hatte, den die Numantiner teuer bezahlt hatten, gar nicht existierte.

Ich würde auch nicht mit mir verhandeln wollen, wenn ich in seiner Position wäre.

Auf einmal fühlte ich mich unendlich müde. Ich mochte Consul sein, aber ich war auch Mensch. Und der Mensch Caius Hostilius Mancinus spürte jetzt nur noch eine große Mattigkeit in sich. Am liebsten hätte ich jetzt alle weggeschickt, mich auf mein Feldbett gelegt und mir die Decke über den Kopf gezogen. Warum sollte ein Consul nicht das Recht haben, einmal Mensch sein zu dürfen?

Doch musste die Frage nicht anders lauten? Musste es nicht heißen: Kann es sich ein Consul leisten, im Moment der Niederlage Mensch zu sein?

Mein Körper straffte sich.

„Tiberius Gracchus!“

Mein quaestor war sichtlich erschrocken, dass ich ihn ansprach. „Ja, Consul?“

„Ich habe entschieden, dass es wenig Sinn macht, den Numantinern in ihrer jetzigen Position ihre Forderung zu verweigern. Also wirst du morgen in Begleitung von drei unbewaffneten Stabsoffizieren vor die Tore der Stadt Numantia ziehen und den Obersten dort erklären, dass der Mann, nach dem sie verlangt haben, zu ihrer Verfügung steht, um mit ihnen das Schicksal der römischen Legionen zu diskutieren. Und während du verhandelst, behalte die ganze Zeit über im Kopf, dass auch die Numantiner kriegsmüde sind und einem Friedensvertrag wahrscheinlich offen gegenüberstehen.“

Ich trat einen Schritt auf ihn zu und blickte fest in seine Augen.

„Verkauf uns nicht zu billig, Tiberius Gracchus!“

 

„Antonius?“

„Hm?“

„Was wird mit uns passieren?“

Antonius zuckte mit den Schultern ohne aufzusehen. „Ich weiß es nicht. Es liegt nicht in unserer Hand. Wir können nur abwarten, was sie morgen aushandeln.“

„Nein, ich meine, was wird mit uns passieren, wenn wir nach Rom zurückkehren? Werden sie uns bestrafen? Wir haben doch eigentlich nur die Befehle unserer Centurionen befolgt!“

Antonius schnaufte gequält. „Lucius, es hat doch keinen Sinn, uns jetzt auszumalen, was in Rom sein wird. Wir wissen doch nicht einmal, ob wir Rom je wieder sehen werden!“ Den letzten Satz hatte er beinahe geschrien.

Lucius zuckte zusammen unter der Heftigkeit des Ausbruchs seines Freundes. Er versuchte seine Gedanken, seine Gefühle zu beherrschen, doch nach nur wenigen Augenblicken brach es wieder aus ihm heraus. „Glaubst du, wir hätten den Befehl zur Flucht verweigern sollen?“

„Sag mal“, Antonius holte tief Luft, „hörst du dir manchmal selbst zu? Legionäre, die den Befehl ihrer Centurionen verweigern! Glaub mir, wir würden nicht hier an unserem Feuer sitzen, wenn wir das getan hätten!“

„Aber wenigstens würden wir nicht als Feiglinge sterben“, sagte Lucius leise.

Antonius richtete sich auf. „Noch ist nicht entschieden, ob wir überhaupt sterben werden. Es ist auch nicht entschieden, ob wir entehrt sind. Wir haben Rom gedient. Wir haben Befehle befolgt von denjenigen, die über uns stehen. Wie kann man seine Ehre verlieren, wenn man die Befehle derjenigen befolgt, denen Rom die Macht verliehen hat, Befehle zu geben?“

„Wird Feigheit dadurch weniger ehrlos, dass sie befohlen wird?“

Antonius hob den Kopf. „Du bist Legionär und kein Philosoph. Von dir wird erwartet, dass du Befehle befolgst, nicht dass du sie diskutierst.“ Er rutschte ein Stück vom Feuer zurück, zog die Decke enger um seine Schultern und legte sich nieder zum Zeichen, dass das Gespräch für ihn beendet war.

Fassungslos sah Lucius zu, wie sich sein Freund abwandte und ihn mit seinen quälenden Gedanken allein ließ. Er zog die Beine enger an seinen Körper und starrte mit brennenden Augen in die Flammen.

Er saß und starrte auch noch, als die Holzscheite nur noch eine schwache, zerbröckelte Glut waren, die nicht mehr wärmte.

 

 

Mitte Juli des Jahres 617 nach Gründung der Stadt Rom

Das Arbeitszimmer in der Villa des Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus

 

Er schüttelte den Kopf. Fassungslos überflogen seine Augen die Wachstafeln.

Das konnte nicht wahr sein!

Das durfte einfach nicht wahr sein!

Er las die dürftigen, schnell und nachlässig eingeritzten Zeilen wieder und wieder.

Er hatte richtig gelesen.

Das römische consularische Heer in Hispania citerior hatte sich ergeben!

Stand in Kapitulationsverhandlungen mit der militärischen Führung der hispanischen Barbaren!

Der Consul, der Inhaber des höchsten Amtes Roms, als Verhandlungsführer für Rom abgelehnt! Stattdessen wurden die Verhandlungen von einem römischen Zivilbeamten der untersten Ebene geführt!

Eine außenpolitische Katastrophe, an der auch die Tatsache nichts änderte, dass dieser Beamte sein eigener Schwager war.

Und die größte Schande: römische consularische Legionen, die ihre Waffen an die hispanischen Barbaren übergeben hatten.

Oh, ihr Götter Roms, und das war jetzt schon zwanzig Tage her! Und der Bote war schon schnell gewesen, abgesehen davon, dass er sein Leben riskiert hat, um mit diesen Nachrichten aus Hispania herauszukommen.

Scipio vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Was mochte wohl in der Zwischenzeit passiert sein? Wieder schüttelte er den Kopf und fühlte langsam eine große Übelkeit in sich aufsteigen

Das hatte er nicht gewollt. Was er gewollt hatte war ein schwacher Mann in Hispania. Er hatte sich eingebildet, dass der Senat ihn nach der ersten kleinen Niederlage anflehen würde, das Ansehen Roms in Hispania zu retten. Und er hätte es mit Freuden getan. Für Rom. Und für die Tatsache, dass er danach die Macht gehabt hätte, Rom nach seinen Vorstellungen zu formen.

Er hätte nie zugelassen, dass jemand das Ansehen Roms derart mit Füßen treten würde.

Und, beim Jupiter, welche Rolle spielte sein Schwager Tiberius Gracchus dabei?

Seine Finger krallten sich in seine Kopfhaut. Seine Gedanken wanden sich schmerzhaft in seinem Kopf hin und her, nur um letztlich zu der furchtbaren Erkenntnis zu gelangen, dass er im Augenblick keine andere Wahl hatte, als den Lauf der Dinge abzuwarten.

Und dabei zur Untätigkeit verdammt zu sein.

Natürlich würden der Hostilius Mancinus und sein Stab unverzüglich aus Hispania citerior zurückberufen werden, aber das war Aufgabe des Senats und nicht seine.

Oh, wie er es hasste, keine Kontrolle über die Dinge zu haben!

Und der Gedanke, dass nicht nur sein, sondern auch das Schicksal Roms einzig und allein von der Cleverness eines jungen Mannes ohne nennenswerte politische Erfahrung abhing, verursachte ihm ein schmerzhaftes Brennen in seinem Magen.

Ein leises Klopfen an der Tür zu seinem Arbeitszimmer riss ihn für einen Augenblick aus seinen Gedanken. Doch es war nur der Diener, der ihm wie jeden Abend seinen Schlaftrunk brachte.

Schlafen.

Nein, daran war diese Nacht nicht zu denken.

Und die folgenden Nächte auch nicht.

Solange nicht, bis er Gewissheit hatte.

 

 

Einen halben Monat früher

Vor Numantia

 

Es war vollbracht.

Sechs Tage hatten die Verhandlungen mit der numantinischen militärischen Führung gedauert. Die Numantiner hatten offenbar nichts dem Zufall überlassen wollen und hatten verfügt, dass das römische Heer sein halbwegs befestigtes Lager verlassen und ein provisorisches Zeltlager in der Nähe des Stadtberges beziehen sollte. Die Absicht war offensichtlich: Obwohl wir schon geschlagen waren, sollten wir uns in diesem offenen Gelände besonders ungeschützt fühlen. Ohne Waffen, ohne festen Rückhalt, ohne Mauern, selbst wenn auch nur halb verfallene wie die des Nobilior-Lagers, waren wir geistig in einer noch schwächeren Verfassung für die Verhandlungen.

Wie gefordert hatte der Tiberius Gracchus in den Gesprächen die römische Seite vertreten, wobei er es nach immerhin drei Tagen geschafft hatte zu bewirken, dass man mich, den Consul, als Zuhörer an den Verhandlungen teilnehmen ließ.

Ein mir untergebener kleiner Beamter, ein quaestor, der noch am Anfang seiner politischen Karriere stand, der in vielen Jahren – vielleicht – einmal an der Stelle sein würde, an der ich jetzt schon war, nutzte seine auctoritas, um mich an Verhandlungen teilnehmen zu lassen, die ich eigentlich selbst führen müsste.

Ich war zu erschöpft, um dieser erneuten Demütigung irgendetwas entgegensetzen zu können. Und es war mir inzwischen auch egal. Denn der Handel war perfekt.

Und er sah besser aus, als ich ihn mir in meinen optimistischsten Träumen vorgestellt hatte.

Keine Kapitulation, sondern ein Friedensvertrag. Wir Römer würden unsere Waffen zurückerhalten, und uns würde freier Abzug garantiert. Im Gegenzug musste Rom versprechen, dass Numantia seine Eigenständigkeit behielt, und natürlich würde auf ein Friedensgeld verzichtet werden.

Rhetogenes, der Anführer der numantinischen Seite, verzog keine Miene, als Tiberius Gracchus ihm erklärte, dass nun, nachdem die Bedingungen des Friedensvertrages feststanden, bestimmte Formalien eingehalten werden müssten, damit der Vertrag auch in Rom anerkannt würde. Zu diesen Formalien gehörte, dass der Vertrag beglaubigt werden müsse, und zwar vom ranghöchsten Beamten vor Ort sowie, da es sich um einen Vertrag des Völkerrechts handele, auch vom Senat. Der ranghöchste Beamte in Hispania sei derzeit der Consul Caius Hostilius Mancinus, jedoch in Ermangelung von Senatsvertretern würde man den Numantinern anbieten, den Vertrag stattdessen durch Schwur der sechzehn Stabsoffiziere des Consuls zu besiegeln.

Als Tiberius Gracchus geendet hatte, wandte sich Rhetogenes mir zu, sah mich einen Augenblick lang durchdringend an und sagte dann etwas, was aber – so war mein Eindruck – nicht an mich direkt, sondern an die allgemeine Zuhörerschaft gerichtet war.

„Der ehrenwerte Rhetogenes sagt, dass es so geschehen soll, wie von Tiberius Gracchus vorgeschlagen, denn er glaubt, dass er sich, was die römischen Prozeduren angeht, auf dessen Wort verlassen kann. In Anbetracht der Rolle, die der jetzige Consul Caius Hostilius Mancinus bei ihrem letzten Aufeinandertreffen in der Senatsanhörung zum Vertrag des Quintus Pompeius gespielt hat, möchte er, Rhetogenes, doch eindringlich darum bitten, dass die Erinnerung an diesen Vertrag nicht auf wundersame Weise aus den Köpfen der Verantwortlichen verschwindet.“

Ich konnte förmlich spüren, wie die anwesenden Römer erstarrten. Wie sicher konnte sich Rhetogenes eigentlich sein, dass er durch diesen Affront, diese offene Misstrauensbekundung gegenüber dem höchsten Vertreter Roms, nicht die Ergebnisse der Verhandlungen der vergangenen sechs Tage gefährdete? Was, wenn ich, der Consul, aufgrund dieser Beleidigung den Schwur verweigerte?

Doch die Sorge, die aus ihren Augen sprach war unbegründet. Was machte einem bereits geschlagenen Mann eine weitere Demütigung aus? Vor allem dann, wenn das Leben von zwanzigtausend Männern davon abhing, wie viele Herabsetzungen er bereit war zu ertragen? Und wenn das Überleben dieser Männer vielleicht das einzige war, was er bei seiner Rückkehr nach Rom für sich selbst in die Waagschale würde werfen können? Denn eines stand außer Frage: dass ich mich in Rom vor dem Senat würde verantworten müssen. Das einzig Tröstliche war: Ich würde nicht allein vor dem Untersuchungsausschuss stehen. Und allein schon die Anwesenheit des Gracchus würde die Herren zweimal überlegen lassen, welche Strafe – wenn es denn überhaupt eine geben würde – sie uns zugedachten.

Ich merkte, dass ich – in meinen Gedanken versunken – den Blick gesenkt hatte. Ich versuchte gar nicht erst mir vorzustellen, welches Bild ich in den Augen meiner Leute und (was noch viel schlimmer war) der Numantiner abgeben musste: Ein römischer Consul wird vom militärischen Führer der hispanischen Barbaren zurechtgewiesen und senkt schuldbewusst den Kopf. Einfach wundervoll!

Ich hob den Blick und sah Rhetogenes direkt an. „Wann und wo soll die Beglaubigung des Friedensvertrages stattfinden?“

Rhetogenes’ Mund verzog sich zu einem hochmütigen Grinsen. Er sprach ein paar kurze Sätze, dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück.

„Ihr werdet euch morgen um die Mittagszeit vor dem Haupttor von Numantia einfinden, um den Eid auf den Vertrag zu leisten. Danach werdet ihr unverzüglich den Abmarsch in die Winterquartiere vorbereiten; eine Rückkehr in das Lager, in dem ihr euch bis zum Beginn der Verhandlungen aufgehalten habt, ist euch verboten. Es mag euch für die Winterlager noch etwas früh erscheinen, aber es gibt hier nach Abschluss unseres Vertrages ohnehin nichts mehr zu tun für euch. Darüber hinaus sollte in den nächsten Tagen eine gemeinsame Gesandtschaft nach Rom aufbrechen, die dem Senat den geschlossenen und beglaubigten Friedensvertrag vorlegt, damit Rom künftig seine Politik im Bezug auf uns danach ausrichtet.“

Nachdem der Übersetzer geendet hatte, stand Rhetogenes auf, sah sich noch einmal um und verließ ohne weitere Worte das Zelt, und mit ihm alle anderen Angehörigen der numantinischen Verhandlungsführer. Wir Römer blieben unbeachtet in der Stille des Zeltes zurück.

Es herrschte betretenes Schweigen. Meinem Führungsstab gehörten durchweg intelligente Männer an; ich musste niemandem erklären, was hier die letzten Tage passiert war. Was jedoch weiter mit uns geschehen würde, musste nun das Volk von Rom entscheiden.

Genau genommen war die Katastrophe für Rom gar nicht so groß. Es hatte eine militärische Niederlage gegeben, nicht die erste in Hispania citerior. Doch dank des Ansehens, das der Vater des Tiberius Gracchus bei den Numantinern genoss und auf dem er aufbauen konnte, seiner – und das musste sogar ich neidlos zugeben – ausgezeichneten Verhandlungsfähigkeiten sowie der Tatsache, dass auch die Numantiner inzwischen einigermaßen kriegsmüde waren, war nicht nur das Leben der Legionäre, sondern auch die militärische Präsenz Roms in Hispania citerior als solches gerettet worden. Und war der Preis – ein Nichtangriffspakt mit den Numantinern und der Verzicht auf Tributzahlungen – nicht eher gering dafür?

Viel schwerer dagegen wog die Tatsache, dass ich als der Vertreter Roms hier gedemütigt worden war. Das Bild Roms hatte durch mich einen Makel bekommen. Doch wenn ich – völlig zurecht – verantwortlich gemacht werden würde für die Feigheit meiner von ihren Centurionen regierten Legionen, musste mir dann nicht gerechterweise auch der Erfolg bei den Verhandlungen mit den Numantinern zugerechnet werden, die ich ja auch nicht selbst, sondern ein Untergebener von mir geführt hatte?

Nun, ich würde der unweigerlich folgenden Anhörung im Senat gelassen entgegensehen können, Tiberius Gracchus an meiner Seite wissend, der durch mich immerhin die Möglichkeit hatte, sich ein hohes außenpolitisches Ansehen zu erarbeiten.

Und die Großen Roms vergaßen nicht.

Oh, ihr Götter, wie dumm konnte ein einzelner Mann sein!

 

Die vier Männer liefen immer weiter. Drei von ihnen blickten sich immer wieder um, während der vierte im scharfen Schritt vorweg marschierte und die anderen fortwährend mahnte, sich doch etwas zu beeilen. Sie murrten zunächst noch schweigend bis es einer von ihnen nicht mehr aushielt, und – ohne jedoch stehen zu bleiben – rief: „Bei den Göttern Roms, Tiberius Gracchus, lass uns umkehren! Dieser Wahnsinn kann uns alle das Leben kosten!“

Scheinbar ungerührt stapfte Gracchus weiter. Doch sein grimmiges, entschlossenes Äußeres täuschte. Natürlich hatte der Mann Recht, natürlich konnten sie jederzeit auf Numantiner treffen, die sie ohne größere Umschweife töten konnten, da sie unleugbar die Bedingungen des ausgehandelten Vertrages verletzten. Und natürlich konnte sie ihre unerlaubte, heimliche Entfernung von den römischen Legionen, die seit heute morgen auf dem Marsch nach Tarraco waren, in ernsthafte Schwierigkeiten bringen, wenn im Winterlager die römischen Befehlsstrukturen erst einmal wiederhergestellt waren.

Aber diese drei Männer, seine Freunde (wenn man sie denn so nennen konnte; genau genommen waren es lediglich die einzigen, mit denen er außer mit dem Consul mehr als nur soviel redete, um etwas zu essen zu erhalten), hatten keine Ahnung, dass ihr wahnwitziges Vorhaben – wenn es denn Erfolg haben sollte – vielleicht die einzige Möglichkeit bot, noch viel, viel größeres Unheil von Rom abzuwenden.

Er hatte keine Wahl.

Numantia lag nun unmittelbar vor ihnen. Jetzt war es Tiberius Gracchus, dessen Schritte sich unbewusst verlangsamten. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass seine vorbereiteten Worte der Erklärung vollständig aus seinem Kopf verschwunden waren. Für einen winzigen Augenblick überlegte er, ob es nicht doch besser war, umzukehren und sein Schicksal voll und ganz in die Hände der Götter zu legen.

Ein gemurmeltes „Oh nein!“ zeigte ihm jedoch, dass es für derartige Überlegungen zu spät war. Die numantinischen Torwachen hatten sie bemerkt und kamen nun direkt auf sie zu.

Panik befiel ihn.

Die Wachen waren fast heran, als einer von ihnen Tiberius Gracchus zu erkennen schien. Er wechselte ein paar Worte mit seinen Kameraden, kehrte um und rannte zurück in die Stadt.

 

„Nun, alter Freund“, Theogenes lehnte sich zurück und wischte sich den fettigen Mund mit dem Handrücken ab. „Tut es dir nicht leid, dass du das Gesicht des Consuls nicht sehen konntest, als ihm sein Bote die Nachricht überbracht hat, dass du nur mit seinem rangniedrigsten Beamten reden würdest?“

Rhetogenes grinste. „Manchmal muss man sich mit dem bescheiden, was man hat. Ihm die Nachricht selbst zu überbringen, hätte bedeutet, ihm zuviel Ehre zukommen zu lassen. Und ich hatte ja meinen Triumph. Immerhin habe ich ihm – großzügig wie ich bin – gestattet, ab dem dritten Tag zuzuhören.“

„Vater, denkst du, dass der Krieg jetzt vorbei ist?“ fragte Arenos, Rhetogenes’ ältester Sohn, mit beinahe ängstlichem Gesicht, wofür er einen Ellenbogenstoß von seiner Mutter kassierte. „Na was denn!“ protestierte er. „Ich werde doch mal fragen dürfen, ob es überhaupt noch Feinde für mich gibt, wenn ich nächstes Jahr zum Krieger geweiht werde!“

Theogenes und Rhetogenes lachten laut los. „Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst“, sagte Theogenes, als er wieder Luft bekam. „Selbst, wenn wir ihren Consul als Gefangenen behalten hätten, so würde es mich doch sehr wundern, wenn Rom jetzt so einfach Ruhe gibt.“

Rhetogenes schwieg. Dann sah er die besorgten Augen seiner Frau. Er legte seine Hand auf ihre. „Sei es, wie es sei“, sagte er. „Und wenn ich dafür wieder nach Rom reisen muss ...“ Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn. Er sah Theogenes an, doch der hob nur die Schultern. Rhetogenes stand auf um zu öffnen. Draußen stand einer seiner Waffenträger.

„Herr, du solltest kommen. Wir haben Besuch bekommen.“

 

Unschlüssig standen Tiberius Gracchus und seine Begleiter vor den numantinischen Kriegern, die jedoch keinen ausnehmend unfreundlichen Eindruck machten. Es war nur offensichtlich, dass man hier warten würde, bis die Nachricht von der Ankunft der Römer Numantia erreicht hatte. Vorsichtig deutete Tiberius Gracchus eine Verbeugung an, die von den numantinischen Wachen ebenfalls zurückhaltend erwidert wurde.

Nur kurze Zeit später verließ eine kleine Gruppe von Männern Numantia und kam schnell näher. Zu seiner Erleichterung erkannte Tiberius Gracchus zwei der hochrangigen Stadtherren, die zusammen mit Rhetogenes die Verhandlungen geführt hatten, sowie den Übersetzer.

„Tiberius Gracchus, welch eine Freude, den Nachfahren des großen Feldherrn Tiberius Sempronius Gracchus so schnell wieder zu sehen!“ begannen die Numantiner ohne Umschweife, wobei Gracchus den Eindruck hatte, dass die Freude durchaus echt war. „Dürfen wir erfahren, was dich zu uns führt, nachdem die Verhandlungen über den Friedensvertrag dank deines Wirkens auf römischer Seite doch zu so einem erfreulichen Ergebnis gekommen sind?“

Tiberius Gracchus wand sich. „Nun, es handelt sich genau genommen um eine Bagatelle, so dass es mir sehr unangenehm ist, die numantinische Führung darum zu bitten …“

„Keine Sache ist so unbedeutend, als dass man nicht darüber reden sollte, schon gar nicht, wenn du die Mühe auf dich genommen hast, nach eurem Abmarsch noch einmal hierher zurückzukehren. Im Gegenteil, wir möchten unsererseits die Gelegenheit nutzen, um ebenfalls eine Bitte zu äußern. Aber lass uns erst über dein Anliegen sprechen.“

Ein komisches Gefühl beschlich Gracchus. Die Numantiner wollten ihn um etwas bitten?

„Die numantinischen Krieger haben – und ich möchte betonen: völlig rechtens – alle Gegenstände als Kriegsbeute an sich genommen, die die Legionen im Kampf und in ihren Lagern zurückgelassen haben. Wie gesagt, dass es Kriegsbeute ist, die den Numantinern zusteht, ist unbestritten. Nun befindet sich aber unter der Kriegsbeute etwas, was für Numantia wertlos ist, mich aber im Falle seines Verlustes in große Schwierigkeiten bringen wird.“ Dass seine Schwierigkeiten noch viel größer wären, wenn diese „Sache“ später unverhoffterweise wieder auftauchen sollte, verschwieg er wohlweislich.

Die Gesichter der numantinischen Stadtherren begannen nach der Übersetzung zu strahlen, was Tiberius Gracchus einigermaßen irritierte.

„Aber Tiberius Gracchus, natürlich haben wir kein Interesse daran, dir irgendwelche Probleme zu bereiten. Lass uns in die Stadt gehen und zusammen essen und miteinander reden, und danach gehen wir auf die Suche nach dem, was du vermisst.“

Gracchus wandte zögernd den Kopf und suchte die Augen seiner Begleiter. Auch sie schienen nicht begeistert von der Idee, die Stadt der Feinde zu betreten.

Doch die Entscheidung wurde ihnen abgenommen. Die numantinischen Stadtherren traten näher, und unter fröhlichem, unverständlichem Geplauder, was auch nicht mehr übersetzt wurde, nahmen sie Tiberius Gracchus an die Hand. Als dieser sich ob der ungewohnten Behandlung ein wenig sträubte winkten sie dem Übersetzer zu, der Gracchus wissen ließ, dass die Stadtherren ihn eindringlich baten, die Numantiner nicht mehr als Feinde zu betrachten und endlich das beleidigende Misstrauen abzulegen. In den Vertrag, den er, Tiberius Gracchus, maßgeblich mitgestaltet hatte, war doch etwas von beiden Seiten eingeflossen. War das denn keine gute Grundlage für eine Freundschaft zwischen Römern und Numantinern? Auch könne er seine Begleiter getrost wieder zurückschicken, im Gegenteil, man würde es als einen weiteren Vertrauensbeweis betrachten, wenn er allein die Gastfreundschaft der Numantiner genießen würde.

Tiberius Gracchus versuchte, die vor seinem inneren Auge auftauchenden Bilder von den Verhandlungstagen, von der Hochmütigkeit der Numantiner, die keine Gelegenheit ausgelassen hatten, die Römer spüren zu lassen, dass sie die Überlegenen waren, wegzuschieben. Es gab jetzt Dinge, die wichtiger waren als Stolz, den sich die Römer im Augenblick nicht leisten konnten.

Widerstandslos ließ er sich wieder an die Hand nehmen und durch das große Tor in die Stadt führen. Erst als sie direkt vor dem Haus des Rhetogenes standen, ließ der Mann die Hand wieder los.

Die folgenden Stunden waren die quälendsten, die Tiberius Gracchus bislang erlebt hatte. Appetitlos stopfte er Unmengen an Essen in sich hinein, hielt sich jedoch beim Wein zurück, versuchte, bei der Unterhaltung interessiert zu erscheinen und lauerte fieberhaft auf eine Gelegenheit, die Rede endlich auf die ersehnten Bücher zu bringen. Doch es war, als würden ihn die Numantiner ihrerseits aufmerksam beobachten und jedes Mal, wenn der Gesprächsverlauf dem Anliegen ihres Gastes irgendwie nahe kam, regelrecht Freude darin zu finden, durch eine eingeworfene Bemerkung das Thema wieder in eine ganz andere Richtung zu lenken. Ja, sie schienen sich sogar gegenseitig darin überbieten zu wollen, Tiberius Gracchus in die Verzweiflung zu stürzen.

Irgendwann erhob er sich und verließ das Zimmer, um sich zu entleeren. Den Häusern der Numantiner mangelte es an einer Kloake – nichts anderes hatte er erwartet; auch in Rom hatten nur die Wohlhabenden eine eigene Latrine im Haus – und da er sich davor scheute, sich allein vom Ort des Zusammenseins zu entfernen, um eine eventuell vorhandene öffentliche Latrine aufzusuchen, schlug er sich in eine direkt an das Haus angrenzende dunkle Gasse. Er nestelte an seiner Kleidung herum, doch gerade als er erleichtert dem Druck in der Blase nachgeben wollte, als sich ein Arm um seine Schultern legte. Er war so erschrocken, dass er sich benässte.

Doch der nächste Schreck sollte noch größer werden.

„Nun, Tiberius Gracchus, wann wirst du uns denn erzählen, was das für eine Sache ist, wegen der du zurückgekehrt bist?“ sagte neben ihm die kehlige, dunkle Stimme seines Gastgebers.

Gracchus erstarrte. Römisch! Der numantinische Kriegsherr hatte auf Römisch zu ihm gesprochen! Schlagartig wurde ihm übel. Seine Gedanken rasten. Der Mann hatte fast allein die Verhandlungen mit ihm als Vertreter Roms geführt! Was von dem, was die Römer außerhalb des Protokolls gesprochen hatten, hatte er verstanden, ohne dass es übersetzt wurde? Fieberhaft ging er im Geist die Gespräche noch einmal durch. Was war eigentlich gesprochen worden? Und was davon konnten die Numantiner gegen Rom verwenden? Oder gar gegen ihn?

Mit brüchiger Stimme versicherte er Rhetogenes, dass er sofort wieder ins Haus kommen und dort sein Anliegen vortragen werde. Der Numantiner klopfte ihm noch einmal aufmunternd auf die Schultern und ließ Tiberius Gracchus allein in der Dunkelheit zurück.

Ihm war kalt, obwohl es eigentlich eine warme Sommernacht war. Mit fahrigen Händen ordnete er seine Kleidung, wischte erfolglos an dem nassen Fleck auf seiner Tunika herum und ging schließlich mit weichen Knien zurück ins Haus.

Er nahm wieder Platz. Redete er sich selbst etwas ein, oder beobachteten sie ihn jetzt alle aus den Augenwinkeln?

Er musste diesem Schauspiel ein Ende machen.

Jetzt.

Doch wieder kamen ihm die Numantiner zuvor.

„Tiberius Gracchus“, ergriff Rhetogenes, diesmal wieder mit Hilfe des Übersetzers, das Wort, „nachdem wir nun gemeinsam gegessen und getrunken haben, verrate uns doch, welche geheimen Dinge du vor deinen Landsleuten verbergen möchtest.“ Grinsend sahen sich die Numantiner an.

‚Sie wissen es!’ durchfuhr es ihn. „Es gibt nichts zu verbergen …“, unternahm er einen schwachen Versuch, sein Gesicht zu wahren.

„Wenn es nichts zu verbergen gibt, dann verstehen wir nicht, warum du dein Anliegen nicht während der Verhandlungen über den Friedensvertrag vorgetragen hast, sondern heute allein zu uns gekommen bist.“ Die Blicke der Numantiner hatten jetzt etwas Lauerndes an sich.

Gracchus spürte, wie seine Ohren heiß wurden. Die Frage – oder besser: die Feststellung – seiner Gegenüber bewusst ignorierend nahm er seine Rede wieder auf.

„Ich bekleide innerhalb des Führungsstabes der römischen consularischen Legionen das Amt des quaestors, das bedeutet, dass ich für die Finanzen des Heeres verantwortlich bin. Das sieht so aus, dass ich genaue Aufzeichnungen über alle Einnahmen und Ausgaben anfertigen und später in Rom den Weg des Geldes belegen muss. Nun wollte es das Schicksal, dass diese Aufzeichnungen durch den überstürzten Aufbruch der Legionen in der Nacht unserer Fl… unseres Rückzuges in unserem Standlager vor Numantia zurückgeblieben sind und sich somit vermutlich bei der Kriegsbeute befinden. Wie gesagt, für euch haben sie keinen Wert, es handelt sich dabei lediglich um ein paar zusammengeschnürte holzgerahmte Wachstafeln. Wenn ich jedoch bei meiner Rückkehr nach Rom keinen vollständigen Nachweis über den Verbleib der Kriegskasse führen kann, würde mir das sehr große Schwierigkeiten bereiten. Die Feinde unserer Familie könnten behaupten, ich hätte mich selbst bereichert, und ich wäre nicht in der Lage, den Gegenbeweis anzutreten.“

Und er betete zu den Göttern, dass die Numantiner nicht auf die Idee kamen sich – oder gar ihn! – zu fragen, warum der Verbleib von Geld nachgewiesen werden musste, das in einem Kampf in die Hände des Feindes gefallen und somit nach geltendem Recht Kriegsbeute war.

Die Numantiner tauschten ein paar schnelle Sätze aus, die nicht übersetzt wurden. Dann wandten sie sich wieder Tiberius Gracchus zu.

Wieder mit Übersetzer.

„Wir Numantiner verstehen nicht viel vom Aufbau und den Funktionen innerhalb eines römischen Heeres. Wir verstehen auch nicht, welches Potenzial für politische Intrigen einige Tafeln mit Buchstaben und Zahlen in sich bergen. Wir sind uns aber einig, dass wir keinerlei Interesse daran haben, dass unser Freund – und als solchen betrachten wir dich, Tiberius Gracchus – in Rom in eine schwierige Situation gerät. Nicht zuletzt auch, weil man ja nie wissen kann, wann man in Rom einmal einen Freund braucht.“

Gracchus schluckte. Sollte sein Plan wirklich aufgehen? Noch während er darüber nachdachte erhoben sich seine Gastgeber und bedeuteten ihm, ihnen zu folgen.

Sie zogen durch das spärlich beleuchtete, nächtliche Numantia, bis sie zu einem großen Lagerhaus kamen. Seine numantinischen Begleiter öffneten die Tür, drückten ihm eine Fackel in die Hand und forderten ihn mit einer einladenden Geste auf, einzutreten.

Gracchus Stimmung sank angesichts der riesigen Haufen von Schwertern, Schilden, Trinkgefäßen, Helmen und sonstigen Gerätschaften. Hier etwas zu finden, was von den Numantinern offenbar tatsächlich als unbedeutend betrachtet worden war, erschien aussichtslos.

Er täuschte sich.

Einer der Numantiner trat neben ihn, ergriff seine Hand und führte ihn in eine dunkle Ecke. Und noch während sie gingen erkannte Tiberius Gracchus, dass er sich geirrt hatte, und dass die Anhäufung der Kriegsbeute in diesem Lagerhaus durchaus einer gewissen Ordnung folgte, denn plötzlich standen sie vor einem Stapel, der zweifelsfrei aus den persönlichen Habseligkeiten der Angehörigen des Führungsstabes bestand.

Erregt ließ er sich auf die Knie nieder und begann zu wühlen. Es dauerte auch nicht lange, da hielt er die schon verloren geglaubten Wachstafeln in der Hand.

Mit Tränen der unendlichen Erleichterung in den Augen erhob er sich wieder und wandte sich den Numantinern zu, um sich zu bedanken. Doch die wehrten ab und schoben ihn wieder zu dem Haufen hin. „Was auch immer du noch an persönlichen Dingen hier findest, bitte fühl dich frei sie mitzunehmen.“

Tiberius Gracchus lehnte dankend ab, er habe alles, weswegen er zurückgekommen sei, woraufhin die Numantiner ihn fragten, ob er sie beleidigen wollte. Immer noch völlig verwirrt ging er in die Hocke, suchte mit fliegenden Händen in dem Haufen herum und ergriff schließlich ein kleines Kästchen, in dem er auf dem Feldzug seinen Weihrauchvorrat aufbewahrte. Auf die fragenden Blicke der Numantiner hin erklärte er, dass dieser Weihrauch für ihn sehr wichtig sei, weil er ihn für seine Opferungsrituale brauche.

Die Wachstafeln fest an den Körper gepresst ließ er sich willenlos in die Mitte nehmen, und die kleine Gruppe machte sich auf den Weg zurück zu dem Haus, in dem das Essen stattgefunden hatte. Und Tiberius Gracchus merkte, wie sein Schritt allmählich fester wurde und sein Körper sich straffte.

Als er wenig später Numantia durch das große Tor verließ, hatte er in sich das unglaubliche Gefühl, unbesiegbar zu sein.

 

Avaros, Rhetogenes und Theogenes sahen Tiberius Gracchus hinterher, wie er vor dem Stadttor von seinen Begleitern in Empfang genommen wurde und die Gruppe im Dunkel verschwand, bis die Fackeln nur noch zuckende Irrlichter waren.

„Schade um ihn“, sagte Rhetogenes schließlich.

Erstaunt sah ihn Avaros an. „Wie meinst du das?“

„Rom wird ihn umbringen“, sagte Rhetogenes. „Nein“, fuhr er hastig fort, „sie werden ihn nicht dafür hinrichten, weil das römische Heer sich uns ergeben hat. Das liegt einzig und allein in der Verantwortung des Consuls. Dass wir ihn ignoriert haben, ändert daran nichts. Nein, ich denke, dass er für Rom einfach zu anständig ist. Wer von den Römern, die wir kennen, hätte in seiner Situation, wo er sich die Taschen mit Gold hätte vollstopfen können, den Weihrauch gewählt, um auf dem Weg zurück nach Rom seinen Göttern huldigen zu können?“

„Vielleicht hätten wir ihm anbieten sollen, in Zukunft hier zu leben“, meinte Theogenes. „Zum einen scheint er ein deutlich größerer Ehrenmann zu sein, als sein Oberbefehlshaber, und zum Anderen ist er nach Aussagen einiger unserer Krieger auch ein ganz passabler Kämpfer.“

„Ein Römer als Krieger der Numantiner!“ protestierte Avaros. „So weit kommt es noch!“

„Keine Sorge.“ Beim Umdrehen legte Rhetogenes Avaros seinen Arm um die Schultern. „So lange ich oberster Kriegsherr der Region bin, wird das nicht passieren. Und jetzt lasst uns reingehen. Ich muss noch packen.“

„Packen?!“ Abrupt blieben Avaros und Theogenes stehen.

Mit gespieltem Erstaunen sagte Rhetogenes, von einem zum anderen blickend: „Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass ich darauf vertraue, dass unser teurer Consul mit dem Vertrag nach Rom marschiert und die Senatoren diesen brav abnicken?“

 

„Du kleiner Bastard! Glaubst du im Ernst, dass wir dich in Ruhe lassen? Los, raus mit der Sprache! Wo ist das Geld?“ Ohne auf eine Antwort zu warten trat der Centurion dem auf dem Boden liegenden Antonius in den Leib. Der wurde von der Wucht des Trittes herumgeschleudert und blieb stöhnend zusammengekrümmt liegen.

Lucius warf sich hin und her, doch der Griff der beiden anderen Centurionen, die ihn gepackt hielten, war unnachgiebig. Hilflos musste er mit ansehen, wie der Mann, der Antonius niedergeschlagen und getreten hatte, dessen Kopf jetzt an den Haaren hochzerrte und ihm mit voller Wucht seine Faust in das bereits blutüberströmte Gesicht rammte.

Noch am Tag des Abmarsches waren sie zum ersten Mal gekommen, während der ersten Marschpause, nachdem der Stadtberg von Numantia aus ihrem Blick verschwunden gewesen war. Sie hatten Antonius beiseite genommen, und so hatte Lucius nicht verstanden, worum es gegangen war. Es war nur offensichtlich gewesen, dass die Centurionen Antonius bedrohten.

Doch alles Drängen hinterher hatte nichts genutzt, Antonius hatte sich beharrlich in Schweigen gehüllt.

Heute nun waren die Centurionen wiedergekommen. Und es war nicht bei der Drohung geblieben.

„Rede, du Mistkerl! Mach endlich den Mund auf! Oder sollen wir dir die Zähne einzeln herausschlagen?“ Antonius wälzte sich ächzend zur Seite, weg von den tretenden Füßen.

Ein Bläsersignal ließ die Angreifer innehalten. Fluchend trat der Centurion noch einmal zu, und die beiden Männer, die Lucius festhielten, schleuderten ihn zu Boden. Beim Gehen wandten sie sich noch einmal um. „Glaub ja nicht, dass du es schon überstanden hast!“ sagte der eine. „Wir kommen wieder!“

Die Centurionen waren noch keine zehn Schritte entfernt, da kniete Lucius schon über seinem Freund. Er hob seinen Kopf an und bettete ihn auf seinen Schoß. Aus einer Wunde über der linken Augenbraue, aus der Nase und den Mundwinkeln floss Blut. Das rechte Auge war schon dabei zuzuschwellen. So schlimm das Ganze jedoch auch aussah, die Wunden im Gesicht waren nur Äußerlichkeiten. Lucius hoffte, dass die Tritte in den Unterleib keine inneren Verletzungen verursacht hatten.

Antonius öffnete mühsam die Augen. Als er das besorgte Gesicht seines Freundes über sich erkannte, verzog sich sein zerschlagener Mund zu einem schwachen Lächeln.

Lucius erwiderte das Lächeln nicht.

„So“, sagte er bestimmt. „Und jetzt erzählst du mir, was hier los ist.“

Stöhnend versuchte Antonius, seinen schmerzenden Körper hoch zu drücken, doch Lucius hielt ihn fest. „Jetzt!“ sagte er, und sah ihm dabei tief in die Augen.

Antonius hielt dem Blick einen Moment lang stand, dann senkte er die Augen. „Es geht um Geld“, sagte er. „Um ihr Geld.“

Er wartete wohl auf eine Reaktion von Lucius, doch die kam nicht. Also fuhr er fort: „Als wir nach der Einschließung durch die Numantiner die Erlaubnis bekamen, uns in das alte Lager des Nobilior zurückzuziehen und klar wurde, dass wir quasi Kriegsgefangene waren, ist Quintus Porcius – der Centurion, der sich vorhin mit besonderer Aufmerksamkeit um mich gekümmert hat – zu mir gekommen und hat mich gebeten, etwas für ihn aufzubewahren. Er meinte, da absehbar war, dass die Numantiner jeden ausplündern würden, bei dem sie irgendwelche Werte vermuteten, müssten sie ihr Geld eben dort verstecken, wo es niemand erwartete: bei einfachen Legionären. Es solle auch mein Schaden nicht sein. Und so habe ich sein Geld genommen, und versprochen, gut darauf aufzupassen.“

Lucius nickte. „Aber es ist anders gekommen. Die Numantiner haben ohne Ausnahme jeden durchsucht. Und jetzt steckt das Geld in der Kriegskasse der Feinde.“

Antonius schüttelte leicht den Kopf. „Nicht ganz.“

Lucius starrte ihn entsetzt an. „Sag mir jetzt nicht, du hast das Geld doch irgendwie aus dem Lager geschmuggelt und willst es für dich behalten! Und dafür lässt du dich halbtot schlagen? Für ein paar denarii?“

Antonius sah ihm in die Augen. „Glaubst du das wirklich von mir?“

Ehe Lucius antworten konnte, fuhr er fort: „Mir war klar, dass ich das Geld verlieren würde, wenn ich es bei mir behielte. Also habe ich es im Lager vergraben. Ich konnte ja nicht ahnen, dass wir nicht mehr dorthin zurückkehren würden.“

„Aber dann ist das Geld doch noch nicht ganz verloren! Sag ihnen einfach, wo es vergraben ist, und dann soll er es sich im nächsten Frühjahr holen!“

„Du verstehst das nicht! Zum einen will er sein Geld bevor wir ins Winterlager nach Tarraco kommen, weil er es angeblich nur dort ausgeben kann, und zum anderen glaubt er mir nicht, dass ich das Geld wirklich nur versteckt habe und nun nicht mehr herankomme.“

„Aber er kann doch nicht wegen ein paar lumpiger denarii einen Legionär zum Krüppel schlagen!“

Antonius stemmte sich hoch. „Quintus Porcius hat sogar versprochen mich totzuschlagen, wenn er sein Geld nicht spätestens in Tarraco erhält. Und er will es sogar öffentlich machen. Er wird mir irgendein Vergehen unterstellen, wofür ich dann ausgepeitscht werden soll.“ Er holte tief Luft. „Er hat mir für jeden denarius einen Schlag versprochen.“

Lucius schluckte. „Wieviel?“

„Einhundertzwanzig.“

Einhundertzwanzig denarii! Der Sold eines Legionärs für ein ganzes Jahr!

Ihm wurde übel.

 

[Archäologen fanden in den 60er Jahren bei Ausgrabungen in dem alten Lager des Nobilior tatsächlich einen Münzschatz von 120 denarii – Anmerkung d. Autors]

 

 

Anfang August des Jahres 617 nach der Gründung der Stadt Rom

Rom

 

Der Hustenanfall des Lucius Furius Philo verebbte langsam. Seine Hände krampften sich um den Holzrahmen der Wachstafel, die vor ihm auf dem Tisch lag. Den Weinbecher hatte er gerade noch rechtzeitig absetzen können, bevor er sich verschluckt hatte.

„Das ist nicht wahr, oder?“ krächzte er.

„Wenn es denn so wäre!“ knurrte Scipio ohne hochzusehen.

„Aber das ist eine Katastrophe!“

„Zumindest das ist eine feststehende, unverrückbare Tatsache. Doch wir können die Vergangenheit nicht mehr ändern, so sehr ich mir das wünschen würde.“

Furius Philo hatte die Gewalt über seine Stimme wieder gefunden. „Du hast Recht. Das einzige, was wir jetzt tun können ist zu versuchen, den angerichteten Schaden zu begrenzen.“

Scipio hob müde den Kopf. „Und wie stellst du dir das vor? Du hast den Bericht gelesen! Sollen wir jetzt nach Numantia gehen und den Krieg wieder aufnehmen? Das ist völlig unmöglich! Ich meine, es ist schon schlimm genug, dass wir den Formalien genügen und nach der Abberufung des Hostilius Mancinus pro forma unser ‚Schweinchen’ nach Hispania entsenden müssen. Zumindest konnte ich noch erreichen, dass er vom Senat die strikte Anweisung erhalten hat, den Krieg unter allen Umständen ruhen zu lassen, bis wir hier entschieden haben, wie – und ob! – es in Hispania citerior weitergeht. Wir laufen derzeit Gefahr, von einem Meer der Schande überspült zu werden! Wie willst du ein Meer mit einem Schwert aufhalten?“

„Nun …“, sagte Lucius Furius Philo lang gezogen. „Es gibt da schon eine Möglichkeit. Allerdings …“

Scipio zog die Augenbrauen zusammen. „Was?“

Furius Philo straffte den Rücken und setzte sich aufrecht hin. „Wie viele Opfer bist du bereit für Rom zu bringen?“

Scipio atmete hörbar ein. „Ich nehme nicht an, dass du von Geld redest?“

Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Die Opfer, von denen ich rede, haben zwar etwas mit Werten zu tun, es sind aber nicht solche Werte, die man mit Geld kaufen oder aufwiegen könnte.“ Wieder machte er eine Pause.

„Nun rede schon!“ drängte Scipio ungeduldig. Furius Philo mochte ein guter Mann sein, aber sein Hang zum Theatralischen war bisweilen sehr anstrengend.

„Die Werte, von denen ich rede, sind die familia und die amiticia. Und ich frage dich noch einmal: Wie weit bist du bereit zu gehen?“

Scipio schluckte. Familia et amiticia. Familie und Freundschaft. Die Grundpfeiler, auf denen die römische Gesellschaft aufgebaut war. Wie konnte man diese Werte opfern – verraten – ohne dabei Rom zu verraten? Oder anders gefragt: Wie konnte es sein, dass die Rettung Roms vom Verrat seiner eigenen Wertvorstellungen abhing?

„Du weißt, dass ich alles zu tun bereit bin, was Rom hilft, zu sich selbst zurückzufinden“, sagte er langsam. „Und nun komm zur Sache.“

Lucius Furius Philo stand auf und begann, langsam im Arbeitszimmer auf und ab zu laufen. „Du hast Recht. Wir können den Friedensvertrag zwischen Rom und Numantia nicht ohne weiteres ignorieren. Wir können nicht einfach wieder nach Hispania gehen und den Krieg gegen diese Stadt wieder aufnehmen, ohne unser Gesicht zu verlieren. Andererseits ist dieser Vertrag für Rom natürlich auch völlig inakzeptabel. Wir müssen also einen Weg finden, den Vertrag zu unterlaufen, ohne Roms Ansehen dabei zu schädigen.“

„Und wenn du mir jetzt noch verrätst, wie wir das anstellen sollen, machst du mich zum glücklichsten Mann des römischen Reiches!“ sagte Scipio gereizt.

„Wer hat den Vertrag abgeschlossen?“

Scipio stöhnte. Nicht wieder diese Fragespielchen! „Der militärische Führer des Stammesverbandes der Arevaci für die Hispanier und der Consul Caius Hostilius Mancinus für Rom“, leierte er genervt herunter.

„Für Rom? Wirklich? Und wer hat ihn beglaubigt?“

„Der Ältestenrat der Numantiner und der Führungsstab des consularischen Heeres. Nein, warte“, fiel er Furius Philo ins Wort. „Ich weiß, was du sagen willst. Für die Gültigkeit eines solchen Vertrages hätte zumindest eine Kommission des Senats vor Ort sein müssen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass zu denen, die den Vertrag beglaubigt haben, auch der Tiberius Gracchus gehört hat. Mehr noch, wenn ich dem Bericht glauben darf, dann hat eigentlich der Gracchus die Verhandlungen geführt, und ich muss dir nicht sagen, dass seine auctoritas in Hispania – oder besser die seines Vaters – die einer Senatskommission voll und ganz aufwiegt.“

„Also ist der Vertrag außer von den Numantinern nur von Caius Hostilius Mancinus und Tiberius Gracchus geschlossen worden.“

Scipio nickte. Er wusste immer noch nicht, worauf der andere hinaus wollte.

„Warum es nicht dabei belassen?

Jetzt begriff Scipio.

Und er begriff, was Lucius Furius Philo mit dem ‚Opfer’ gemeint hatte.

„Und was wäre, wenn wir so tun, als würde es den Vertrag nicht geben?“ fragte er mit matter Stimme. „Bei Quintus Pompeius hat es damals doch auch geklappt …“ Dass die Frage unsinnig war wusste er in dem Augenblick, als er sie ausgesprochen hatte.

Lucius Furius Philo sah ihm direkt in die Augen. „Ich halte es für unwahrscheinlich, dass wir die Existenz des Vertrages werden leugnen können, wobei es natürlich zumindest versucht werden sollte, keine Frage. Doch bedenke die Wirkung nach außen hin! Der junge Gracchus ist krankhaft ehrgeizig und wird es sich nicht nehmen lassen, mit seinen Taten in Numantia, vor allem mit der ‚Rettung’ der Legionen zu prahlen. Und Rom soll so tun, als würde es einen Vertrag, den ein Angehöriger einer der mächtigsten und bekanntesten Familien nicht nur beglaubigt, sondern maßgeblich gestaltet hat, nicht geben? Sämtliche Völker, mit denen Rom tatsächlich derartige Verträge hat, würden diese in Frage stellen! Die Konsequenzen wären nicht auszudenken! Rom hat kein Geld und vor allem keine Freiwilligen mehr, mit denen es neue Legionen erschaffen kann! Wir brauchen den Frieden an unseren Grenzen, gerade jetzt, wo im Süden, in Sicilia, die Sklaven rebellisch werden!“

Scipio winkte müde ab. Er wusste, dass Lucius Furius Philo Recht hatte, mit jedem einzelnen Wort.

Es würde danach kein Zurück mehr geben. Dieser Plan – selbst wenn er erfolgreich war – würde Rom spalten.

Er schloss die Augen.

 

Drei Tage später in Rom

 

Rom empfing mich mit eisigem Schweigen. Doch was hatte ich erwartet? Dass ich derjenige sein würde, der den ersten Bericht von den Geschehnissen in Hispania erstatten würde? Lächerlich! Nachrichten, insbesondere schlechte Nachrichten, reisten unglaublich schnell innerhalb des römischen Reiches.

Wie schnell, das hatte ich noch in Hispania selbst erleben dürfen.

Ich hatte mir zunächst nichts dabei gedacht, als sich nur zwei Tage nach unserer Ankunft in Tarraco ein Kurier ankündigte und mir ein Schreiben aus Rom überreicht hatte.

Ich hatte erwartet, verspätete Handlungsanweisungen für das militärische Vorgehen gegen Numantia zu erhalten.

Ich hatte mich geirrt.

Wieder und wieder waren meine Augen über die Wachstafel geflogen. Nein, ein Zweifel war ausgeschlossen.

In meinen Händen hatte ich meine Rückberufung und die meines gesamten Führungsstabes aus Hispania gehalten. Der nüchterne Text hatte als Begründung lediglich einen kurzen Verweis auf die ‚Ereignisse im Zusammenhang mit dem Rückzug aus dem Standlager vor Numantia’ enthalten. Ich war weiterhin darüber informiert worden, dass mein Amtskollege, Consul Marcus Aemilius Lepidus, zu dem Zeitpunkt, da ich den Brief erhalten hatte, sich bereits auf dem Wege nach Hispania citerior befand. Er würde den Krieg gegen Numantia wegen eines vorgeblichen Friedensvertrages bis zu dessen Ratifizierung durch den Senat ruhen lassen und stattdessen die Befriedung von Hispania ulterior vorantreiben.

Trotz des Schocks – oder vielleicht auch gerade deswegen – hatte mein Gehirn unbewusst begonnen zu rechnen. Ich wusste, dass ein guter Kurier für die Strecke Rom – Tarraco fünfzehn Tage brauchte, eine gewisse Verzögerung auf dem Weg und in Rom eingerechnet. Also musste die Nachricht von unserer Niederlage direkt nach unserer Ankunft in dem ehemaligen Lager des Nobilior abgeschickt worden sein.

War ich etwa tatsächlich so naiv gewesen zu glauben, dass ich als Consul keine Neider, keine Feinde habe würde? Keinen, der nur darauf warten würde, dass ich in eine schwierige Situation geriet, um für sich selbst einen Vorteil daraus zu gewinnen? Hatte ich mein eigenes Gefühl des Neids aus den Jahren, in denen Rom mich ignoriert hatte, vergessen?

Aber es war müßig darüber nachzudenken, wer derjenige gewesen sein könnte, der die Informationen über meine Führungsschwäche vor Numantia nach Rom weitergegeben hatte. Für jeden, der ein Gegner oder Neider der Hostilii Mancini war, wäre es ein Leichtes gewesen, in den unteren oder mittleren Rängen jemanden durch Geld oder Versprechen dazu zu bringen, die Ohren offen zu halten. An Eigeninitiative eines einzelnen Unzufriedenen glaubte ich nicht, denn nicht jeder hatte die Möglichkeit, aus einem Standlager der consularischen Legionen, die sich vierzig bis fünfzig Tagesmärsche von Rom entfernt befanden, einen Kurier in das Zentrum der wahren Macht zu entsenden, der mit exakten Instruktionen auch tatsächlich an der Stelle anlangte, für die die Informationen bestimmt waren. Genau genommen war das sogar unmöglich, was im Umkehrschluss bedeutete: Es hatten bereits feste Informationskanäle existiert, als ich in Hispania citerior angekommen war.

Vielleicht hätte ich die mir auf unserer Reise nach Hispania durch die Augurer offenbarten ungünstigen Zeichen ernster nehmen sollen.

Und nun war ich wieder in Rom. Ich hatte vorher keine Vorstellungen davon gehabt, wie einsam man in der größten Stadt der bekannten Welt sein konnte, einer Stadt, die fast eine Million Menschen beherbergte, wenn man nicht als Sieger zurückkehrte.

Ich sollte schnell herausfinden, wie einsam ich tatsächlich war. Als ich nach der langen Reise an meinem Haus anlangte entdeckte ich, dass es leer war. Meine Frau hatte unsere beiden Kinder genommen und war zu ihren Eltern gezogen. Dieser Verrat auf der Ebene der Familie rundete das Bild ab.

Insofern war ich auch nicht sonderlich überrascht, als man mir mitteilte, dass es eine zunächst eine Anhörung zu den Vorgängen geben würde, die sich unter meinem Kommando in Hispania citerior ereignet hatten. Was mich wirklich überraschte war eine Information, die man mir – der ich immer noch Consul war – eher beiläufig zukommen ließ: Rhetogenes und eine Gruppe numantinischer Parlamentäre war in Rom. Wahrscheinlich sahen sie durch meine überstürzte Rückberufung den Friedensvertrag ernsthaft gefährdet.

An dieser Stelle machte ich den wahrscheinlich größten Denkfehler meines Lebens: Ich nahm den von Tiberius Gracchus erdachten und durch mich offiziell abgeschlossenen Friedensvertrag als gegeben hin und bereitete mich seelisch lediglich auf eine Art Disziplinarverfahren auf höchster Ebene vor, das mein unzureichendes Durchgreifen bei den Legionen und meine mangelnden Erfolge im Kampf gegen Numantia zum Gegenstand haben würde. Im schlimmsten Fall drohte mir in diesem Fall eine Geldstrafe, was ich verschmerzen konnte, da ich ohnehin vorgehabt hatte, die öffentliche Meinung bezüglich meiner Person durch die Finanzierung irgendeines Senatsprojektes zu besänftigen. Wenn ich ihnen schon nicht Numantia geben konnte, dann sollten sie wenigstens einen neuen Tempel oder eine Brücke über den Tiber bekommen.

So hatte ich gedacht.

Heute kann ich kaum glauben, wie dumm ich damals gewesen war.

Wie hatte ich ernsthaft annehmen können, dass Rom denjenigen vergab, die seinem Ansehen geschadet hatten?

Als ich am Tag meiner Anhörung in Rom anlangte, erhielt ich auf meine Frage nach Rhetogenes und den numantinischen Parlamentären die erste Information, die mich ernsthaft beunruhigte: Man hatte die Gesandten aus Hispania nicht, wie es sich für Angehörige eines befreundeten Volkes gehörte, in einer der für diese Zwecke vorgesehenen Stadtvillen untergebracht, sondern ihnen wie schon vor fast zwei Jahren eine Unterkunft außerhalb der Stadtmauern zugewiesen. Als jemand, der nicht nur mit dem römischen diplomatischen Protokoll bestens vertraut war, sondern vor noch gar nicht so langer Zeit maßgeblich daran beteiligt gewesen war, dieselben Gesandten bewusst auf diese Weise zu beleidigen, hätte mir spätestens an dieser Stelle klar sein müssen, was mich in der Curie erwarten würde. Doch selbst zu diesem Zeitpunkt weigerte sich mein Geist noch, die Realität anzuerkennen.

Die Realitätsverweigerung hörte an der Stelle auf, als ich die Curie betrat. Jedwedes Gerede erstarb. Mein Schritt stockte für einen Augenblick, dann ging ich zu dem Platz, der dem Inhaber des höchsten Amtes Roms vorbehalten war.

Ich setzte mich und sah mich um, mein Kinn hoch erhoben. Nur einen Moment später ließ die Überraschung meinen Kiefer herabsinken.

Sämtliche Mitglieder meines consularischen Führungsstabes waren anwesend.

Dann betraten zwei Männer den Saal und ich spürte wie ich bleich wurde. Der eigentliche Schock für mich jedoch war nicht ihre Anwesenheit als solche. Beide waren Senatoren, und somit war es die natürlichste Sache der Welt, sie hier im Versammlungshaus der gewählten Bürgerschaft Roms anzutreffen. Nein, was meine Welt aus Einbildung, Überheblichkeit, selbstgefälliger Behäbigkeit und Selbstbetrug von einem Moment auf den nächsten einstürzen ließ, war die Tatsache, dass sie die Curie gemeinsam betraten, angeregt in ein Gespräch vertieft, dass ihnen gerade einmal soviel Zeit ließ, mir einen langen, bedeutsamen Blick zuzuwerfen.

Mir wurde übel.

 

Kurz vorher in einem Haus außerhalb Roms

 

Rhetogenes und seine Begleiter standen schweigend im Innenhof des ihnen zugewiesenen Hauses. Im Hintergrund verklangen die Schritte des römischen Sekretärs, der empört davon gewatschelt war, nachdem Rhetogenes ihm mit einer barschen Handbewegung zu verstehen gegeben hatte, dass die numantinischen Gesandten keinen Wert auf eine Führung durch die Villa legten.

Die alte Villa vor den Toren der Stadt Rom sah noch genauso aus wie vor zwei Jahren, außer vielleicht, dass sie noch ein wenig heruntergekommener wirkte. Mit düsterem Gesicht trat Rhetogenes an den kleinen Brunnen heran und sah hinein. Grimmig nickte er zu sich selbst. Natürlich. Warum hätte sich auch jemand die Mühe machen sollen, den zertrümmerten Stein am Beckenboden zu ersetzen! Es war ja eine Unterkunft für Abgesandte der Völker, die als Feinde Roms galten!

Theogenes trat neben ihn. „Da werden doch alte Erinnerungen wach, mein Freund, nicht wahr? Wollen wir mal nachsehen, ob es die alte Garküche in der Nähe der Subura noch gibt, die diese leckeren Schweinerippen hatten?“ Und auf Rhetogenes’ bedeutsamen Blick hin: „Ich meine ja nur ... Wenn die Römer in allem so konsequent sind, dann müsste ja auch das Essen genauso schlecht sein, wie damals. Wenn ich nur an diese ranzigen, zähen Tauben denke ... Die waren wahrscheinlich vor Altersschwäche von irgendeinem Dach gefallen ...“

„Wie wahrscheinlich auch der eine oder andere der hohen Herren, die sie Senatoren nennen. Mal sehen, wie das Theater diesmal abläuft. Wir sollten uns nur nicht provozieren lassen, um den Römern keinen Grund zu geben, uns als etwas anderes zu betrachten – und zu behandeln! – als das, was wir sind: Gesandte eines unabhängigen Volkes, das die Umsetzung eines gültigen Vertrages sicherstellen will.“

„Glaubst du ernsthaft, dass es diesmal anders laufen wird?“ Orosios, der Übersetzer, sah Rhetogenes zweifelnd an.

Das erste Mal seit ihrer Ankunft in Rom verzog sich Rhetogenes Gesicht zu einem breiten Grinsen. „Oh ja, das wird es!“

Orosios zog die Augenbrauen zusammen.

„Glaub mir.“ Rhetogenes zog seinen Wolfspelz zurecht. „Wollen wir?“

 

Zur selben Zeit vor Numantia

 

„Antonius, sei vernünftig, lass mich einen Heilkundigen holen!“ flehte Lucius.

Antonius bäumte sich auf und krallte sich in seinen Arm. „Das darfst du nicht! Er sagt, er bringt mich um, wenn ich das tue!“ keuchte er. „Es ist schon nicht so schlimm …“ Er ließ sich wieder zurücksinken, konnte jedoch einen leisen Aufschrei nicht unterdrücken, als sein Rücken das Lager berührte. Hilflos hockte Lucius neben dem Freund. Er wollte ihm helfen, ihm wenigstens ein Polster in den Rücken legen, doch er traute sich nicht aus Angst, Antonius Schmerzen zufügen.

Und die Schmerzen mussten unerträglich sein. Der Centurion Quintus Porcius hatte wieder einmal bewiesen, dass er seine Drohung durchaus ernst gemeint hatte. Genauso offensichtlich war auch, dass er Antonius nicht einfach umbringen würde, solange er sein Geld noch nicht wiederhatte. Zumindest diesmal. Doch war die Art und Weise, mit der er sich bei Antonius – überflüssigerweise – ins Gedächtnis gerufen hatte, mehr als bestialisch gewesen: Quintus Porcius hatte einen Dolch genommen, ihn zwischen zwei Steine geklemmt und die Klinge bis auf eine Länge von zwei Fingern abgebrochen. Dieses stumpfe und zugleich scharfkantige Ende hatte er Antonius im Gedränge einer kleinen Übung von hinten zwischen die Rippen gejagt, nicht ausreichend tief, um innere Organe zu verletzen, aber tief genug, um eine klaffende Wunde und entsetzliche Schmerzen zu verursachen.

Mit einem Lappen wischte Lucius seinem Freund den kalten Schweiß von der Stirn. Es sah nicht gut aus, denn selbst, wenn kein lebenswichtiges Organ verletzt war, so hatte Antonius doch viel Blut verloren. Mit viel Ruhe konnte er es – vielleicht – schaffen, wieder halbwegs auf die Beine zu kommen. Es war allerdings nur noch eine Frage von wenigen Tagen, bis der neue Consul hier eintreffen würde. Es würde wegen des Friedensvertrages zwar keinen Krieg geben, aber hier an der Küste war es noch lange nicht zu kalt, um den Marsch zurück nach Rom anzutreten. Was sollten sie denn noch hier? Das Land war befriedet, durch Gewalt oder durch Vertrag, es gab keine Kriege mehr zu führen. Doch für Antonius würde es in seinem Zustand keinen Unterschied machen, ob er im Kampf fiel, weil er zu schwach war, sich zu verteidigen, oder ob er auf dem Marsch nach Rom verblutete.

Und zu guter letzt war da immer noch die Möglichkeit, dass Quintus Porcius, wenn er erst einmal überzeugt davon war, dass er sein Geld nie wieder sehen würde, seine Drohung doch noch wahr machte.

Mit tränennassen Augen schaute Lucius auf den Eingang, als würde dort die Lösung warten. Doch draußen vor der Baracke gab es nur Dunkelheit.

 

Etwa zur selben Zeit in Rom

 

Lucius Furius Philo und Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus nahmen ihre Plätze in der Curie ein. Der Saal war brechend voll, ein eher ungewohnter Anblick für dieses Haus, dessen Mitglieder es in den letzten Jahren des – wenn man Hispania einmal ausnahm – relativen Friedens vorgezogen hatten, ihre Zeit verstärkt zur Mehrung ihres eigenen Wohlstandes und der Festigung der eigenen persönlichen Machtstellung zu nutzen, anstatt sich als gewählte Vertreter der römischen Bürger um den Wohlstand und die politische Macht Roms zu kümmern.

„Und?“ fragte Scipio und nickte mit dem Kopf in die Richtung des Caius Hostilius Mancinus. „Was ist das für ein Gefühl zu wissen, dass man im nächsten Jahr selbst auf diesem Platz sitzen wird?“

„Vor allem ist es beruhigend zu wissen, dass man nicht annähernd so erbärmlich wirken wird, wie unser derzeitiger Consul“, antwortete Furius Philo. Seine Wahl zum Consul des Jahres 618 war nicht wirklich eine Überraschung gewesen, genauso wenig die seines Mitconsuls Sextus Atilius Serranus, eines ruhigen, eher unscheinbaren Mannes, dessen einzige Aufgabe es offenkundig war, Lucius Furius Philo noch deutlicher in den Vordergrund treten zu lassen. Lange Gespräche mit den richtigen Leuten waren geführt und Gefallen und Gefälligkeiten versprochen worden, und unglaubliche Summen hatten den Besitzer gewechselt. Und so war es viel mehr die Befriedigung gewesen am eigenen Leib zu erfahren, wie die wahre Macht Roms funktionierte, als die Freude über eine gewonnene Wahl, die ihn erfüllte, als die Ergebnisse verkündet wurden.

Er atmete tief durch. Noch zwei Monate!

Dann erhob er sich. Caius Hostilius Mancinus schaute irritiert. Normalerweise war es ein amtierender Consul, der die Sitzungen des Senats eröffnete, doch der Fall lag hier anders. Hier und heute sollte ein Consul gestürzt werden.

Der Hostilius Mancinus sah auf einmal sehr müde aus. Wusste er, was ihn erwartete? Nein, bestenfalls ahnte er etwas. Er konnte nicht wissen, was hier gleich passieren würde.

„Die heutige Senatsanhörung beschäftigt sich mit den Geschehnissen in Hispania citerior, genauer im Standlager der consularischen Legionen vor Numantia“, begann Lucius Furius Philo. „Wir werden dazu zunächst den Oberbefehlshaber der römischen Truppen, den Consul Caius Hostilius Mancinus anhören. Im Anschluss daran wird uns der Tiberius Gracchus etwas über den angeblichen Vertrag erzählen, der das Ergebnis der Verhandlungen mit den Numantinern gewesen sein soll. So uns heute noch die Zeit bleibt, was ich jedoch nicht vermute, soll man die numantinischen Gesandten holen lassen. Sie haben um Gehör vor dem Senat gebeten, und dieser Wunsch soll ihnen erfüllt werden. Was sie zu sagen haben, wird letzten Endes über den weiteren Verlauf dieser Verh … dieser Anhörung entscheiden.“ Er wandte sich Caius Hostilius Mancinus zu und machte eine einladende Geste mit der rechten Hand.

„Bitte, Consul.“

 

Mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Alles um mich herum war ein einziges Summen und Rauschen. Mein Kopf war angefüllt von zwei Namen: Lucius Furius Philo und Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus.

Lucius Furius Philo und Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus!

Ich war in das Haus des Furius Philo eingeladen worden. Unsere gesamte Verschwörung, alle Zusammenkünfte, alle Gespräche, alles hatte im Haus des Lucius Furius Philo stattgefunden. Er hatte mich in den inneren Kreis der Macht eingeführt. So hatte ich zumindest geglaubt. Doch nun wusste ich, dass ich nie zur wahren Macht gehört hatte. Dass nie geplant gewesen war, dass ich dazugehörte. Ich war nur ein Werkzeug gewesen.

Ein Werkzeug des Publius Cornelius Scipio.

Ich stand auf und stieg die Stufen zur Redefläche herab. Meine Stellung als Consul gestattete es mir zwar, auch von meinem Platz aus zu reden, doch ich hoffte, dass man mir das Zittern in meinen Beinen nicht ansehen würde, wenn ich lief. Ich ging bewusst langsam, dabei bemüht, mir die in meiner Jugend von meinem Rhetoriklehrer eingebläuten Grundsätze für einen guten Redner ins Gedächtnis zu rufen: docere, movere, delectare – sachlich darstellen, den Zuhörer mitreißen, das Erfreuen mit gewählten Worten. Und schließlich das, was mir wohl am schwersten fallen würde: ruhig stehen, wie es sich für einen Politiker gehörte. [Beim Reden herumzulaufen galt als unsittlich und war den Schauspielern im Theater vorbehalten. Aus diesem Grund war die öffentliche Rednertribüne an der Curie, das rostrum, auch so klein, dass man nur darauf stehen konnte.. – Anmerkung d. Autors]

„Ich bin zusammen mit meinem Führungsstab Anfang April diesen Jahres in Carthago Nova angekommen, wo ich das consularische Heer von meinem Vorgänger, dem ehrenwerten Quintus Popillius Laenas, übernahm“, begann ich. Das einfache Heruntererzählen von Fakten, so hatte ich damals in meiner Jugend von meinem griechischen Rhetoriklehrer gelernt, würde mir helfen, ruhiger zu werden.

Ich spürte nicht viel davon.

Bevor ich fortfuhr, zögerte ich einen Augenblick. Würde man mir meine Kritik an meinem Amtsvorgänger nicht als Armutszeugnis, wenn nicht sogar als schwache Ausrede auslegen? Andererseits, waren es nicht unumstößliche Fakten, die jeder meiner Stabsoffiziere im Zweifelsfall würde bezeugen können?

„Das Heer war in einem erbärmlichen Zustand“, brachte ich stockend hervor. Im selben Moment ärgerte ich mich über mich selbst. Es hatte geklungen wie eine Entschuldigung. Doch jetzt konnte ich nicht mehr zurück. „Im Heer wurde gesoffen, gehurt, und man gab sich dem Aberglauben und vielerlei Scharlatanerie hin. Ein großer Tross an Bettelpriestern, Krämern und männlichen und weiblichen Huren hatte sich gebildet, das Heer war durch vorangegangene Niederlagen demoralisiert und so empfänglich für alle Versuchungen dieser Art. Doch das war noch nicht einmal das Schlimmste. Es hatte sich eine eigene Befehlsstruktur gebildet, in der die Centurionen, also die Männer, die am engsten mit den Legionären durch gemeinsame Kampferfahrungen verbunden waren, die obersten Herren waren. Das waren Strukturen, die ich in der Kürze der Zeit nicht aufzubrechen vermochte …“

„Verzeih die Unterbrechung, Consul …“ Mein Kopf ruckte herum. Scipio hatte sich von seiner Bank erhoben. Normalerweise war es undenkbar, dass ein Senator einen Consul während seiner Rede unterbrach. Doch das hier war Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus.

Auctoritas.

„Was konkret sind die Maßnahmen gewesen, mit denen du versucht hast, die vorgeschriebenen Befehlsstrukturen im Heer wieder herzustellen?“

Ich sah ihn an. Sah in die Augen des Bezwingers von Carthago. Er musste nichts weiter tun, als eine beiläufig klingende Frage zu stellen, um mich schwach und klein fühlen zu lassen.

„Wie gesagt, mir blieb wenig Zeit. Ich habe unmittelbar nach der Übernahme den Abmarsch nach Tarraco und von dort aus den direkten Weitermarsch in das Hochland nach Numantia angeordnet. Konkrete Maßnahmen … nun …“. Mir wurde warm.

„Lass mich die Frage anders formulieren: Hast du während der ganzen Zeit jemals disziplinarische Maßnahmen gegen Legionäre oder – was zuweilen wesentlich wirkungsvoller ist – gegen die Centurionen eingesetzt, um deine Autorität als Oberfeldherr zu betonen?“

„Nein, denn ich hielt es für geboten …“

Scipio ließ mich nicht ausreden. „Hast du jemals versucht, das Gelichter, das sich beim Heer angesammelt hat und eines der Grundübel in der militärischen Heeresführung darstellt, weil es die Moral zersetzt und die Männer vom eigentlich Zweck ihres Daseins ablenkt, zu vertreiben oder fernzuhalten?“

Natürlich kannte ich die Geschichten, die man sich erzählte, Geschichten, wie Publius Cornelius Scipio vor Carthago in kürzester Zeit die Legionen diszipliniert hatte. Dieselben Legionen, mit denen er Hasdrubal und den ewigen Feind Roms, Carthago selbst, letztendlich in die Knie gezwungen hatte.

Und ich schwieg.

Im Gegensatz zu Scipio.

„War es nicht vielmehr so, dass du diejenigen, die ohnehin schon die Macht über dein Heer hatten, durch Zugeständnisse und Stillhalten milde stimmen wolltest, in der Hoffnung, dass sie dann wenigstens ab und zu einmal einen Befehl von dir befolgen?“

Nicht der Spott Scipios schmerzte mich; den hatte ich erwartet, sondern das Gelächter der anderen Senatoren, und zwar selbst derer, die der Familie Hostilius Mancinus eigentlich wohl gesonnen waren.

Scipio setzte sich wieder. Er brachte mir, dem Consul, nicht einmal soviel Respekt entgegen, meine Antwort abzuwarten.

Selbst wenn ich nicht antworten würde.

Doch meine öffentliche Demontage – denn nichts anders war es, soviel hatte ich inzwischen begriffen – war noch nicht beendet.

Noch lange nicht.

„Consul Caius Hostilius Mancinus“, begann Lucius Furius Philo noch in der Bewegung des Aufstehens. „welchen Zweck verfolgte eigentlich die Idee, den Legionen vorzugaukeln, dass sie angegriffen würden? War es nicht vorhersehbar, dass eine derart schwache Truppe das einzige tun würde, wozu sie von einer schwachen Führung – und hier schließe ich den Quintus Popillius Laenas mit ein – erzogen worden waren: weglaufen?“

Es wurde unruhig in der Curie. Doch der Grund dafür war wieder nicht ich oder die Antwort, die man von mir erwartete oder auch nicht erwartete. Die leicht irritierten Blicke von Furius Philo und Publius Cornelius Scipio gingen an mir vorbei.

Ich drehte mich um und sah, warum sie starrten.

Tiberius Gracchus hatte sich erhoben.

 

Zur selben Zeit vor der Curie

 

Rhetogenes empfand das Gedränge als unerträglich. Mindestens genauso unerträglich wie die Tatsache, dass sie, als offizielle Gesandte, die heute vor dem Senat sprechen würden, nicht etwa in einem separaten Raum oder zumindest im Vorraum der Curie warten sollten, sondern ihnen gesagt worden war, dass sie sich außerhalb der Curie einen Platz suchen sollten, wo sie der Senatsbote schnell ausfindig machen könnte, wenn die Zeit für ihren Auftritt gekommen wäre. Auf Rhetogenes’ ironische Frage hin, ob das denn noch an diesem Tag geschehen würde, hatte der Bote nur mit den Schultern gezuckt. Wenn nicht heute, dann vielleicht morgen. Oder übermorgen. Eine Bewegung im Augenwinkel wahrnehmend war Rhetogenes rasch einen Schritt vorgetreten, gerade rechtzeitig, um Theogenes den Weg zu versperren. „Wir warten dort drüben, auf den Stufen des Tempels.“

Das Gesicht des Senatsboten hatte sich verdüstert. Rhetogenes hatte ihm unverwandt in die Augen geblickt. Er hatte den Ort bewusst gewählt, damit auch der Bote in den Genuss des Gedränges der in der Spätsommersonne schwitzenden und stinkenden Menge kommen würde.

Seitdem standen sie hier, wenigstens im Schatten, dennoch spürten sie, wie ihnen unter ihren Wolfspelzen der Schweiß den Rücken herunter lief.

„Was meinst du, was sie gerade da drin besprechen?“ fragte Theogenes.

Rhetogenes zuckte mit den Schultern. „Entweder demütigen sie gerade ihren eigenen Consul, oder sie beratschlagen darüber, wie sie uns diesmal erklären, dass der Vertrag so nicht gültig ist, oder wie viel Silber wir drauflegen müssen, damit sie den Krieg gegen uns beenden. Aber sie werden eine Überraschung erleben!“ Bei diesen Worten klopfte Rhetogenes auf die Lederrolle, die an einer Kette an seiner rechten Seite hing.

Theogenes grinste. „Du findest doch immer wieder neue Wege, dich bei unseren römischen Freunden beliebt zu machen.“

Rhetogenes setzte ein unschuldiges Gesicht auf. „Ist das nicht Ziel unserer Mission hier in Rom? Ihnen zu zeigen, dass wir es mit unserer Freundschaft ernst meinen?“

Theogenes lachte. „Weißt du, dass du schon fast wie ein Römer denkst?“

‚Wenn du wüsstest, wie wichtig es für Numantia ist, dass ich genau so denke’, dachte Rhetogenes bei sich. Er legte den Kopf in den Nacken und blinzelte in die tiefstehende Sonne.

 

Publius Cornelius Scipio fluchte innerlich. Natürlich war ihm spätestens seit dem Besuch des Lucius Furius Philo klar gewesen, dass sein Schwager nicht ungeschoren davon kommen würde, doch musste der sich auch noch unbedingt in den Vordergrund spielen? Warum konnte er nicht einfach sitzen bleiben und warten, bis er befragt würde? Musste er derart darum betteln, bestraft zu werden?

Auch Lucius Furius Philo zögerte einen Augenblick. Doch dann fing er sich.

„Wir stecken zwar mitten in der Anhörung des Caius Hostilius Mancinus, aber da wir den Eindruck haben, dass wir von dir erschöpfendere Antworten erhalten als von ihm, spricht eigentlich nichts dagegen, dass wir deine Befragung vorziehen. Also, fühl dich frei, uns über die Vorgänge, die hier zur Debatte stehen, aus der Sicht eines Augenzeugen zu berichten.“

Tiberius Gracchus’ Gesicht nahm einen Ausdruck an, der Scipio nicht gefiel. Selbstbewusstsein? Nein. Scipio hatte nie ein ungutes Gefühl in der Gegenwart selbstbewusster Männer gehabt. Im Gegenteil, er hasste nichts mehr als die Schwäche im Glauben an sich selbst. Das war unrömisch. Doch was der junge Gracchus hier ausstrahlte war Hochmut.

Und der war in seiner Situation völlig unangebracht.

Seine Ahnung täuschte ihn nicht.

„Ich bin keineswegs nur ein Augenzeuge“, sagte Tiberius Gracchus. „Der Plan, die Legionen durch einen fingierten Angriff von hispanischen Verbündeten der Numantiner quasi unter dem Druck der gemeinschaftlich gespürten Gefahr zu einem richtigen Heer zu formen – eine übrigens weitaus effektivere Form der Disziplinierung einer verkommenen Truppe, als beispielsweise Spiele …“ Hier senkte Scipio den Kopf, um sich nicht anmerken zu lassen, wie die kalte Wut in ihm aufstieg. „… dieser Plan stammt ursprünglich von mir. Die Chancen, dass er funktionieren würde, standen zu diesem Zeitpunkt meiner Einschätzung nach mehr als günstig.“

‚Er weiß es’, dachte Scipio. ‚Er weiß, dass er für Rom geopfert werden soll. Und er weiß es schon länger. Ich habe ihn unterschätzt. Caius Hostilius Mancinus ist zu dumm, er hat es erst gemerkt, als die Befragung schon begonnen hatte …“

„Und doch ist der Plan gescheitert. Er hat zweihundertdreiundfünfzig Männer das Leben gekostet und letztlich die schmachvolle Niederlage des römischen consularischen Heeres in Hispania citerior bewirkt“, fuhr Furius Philo unbarmherzig fort.

„Eine Niederlage, die durch den Friedensvertrag mit den Numantinern die Ehre Roms wieder hergestellt hat. Dieser Friedensvertrag war übrigens …“

„Äh, ja, der Vertrag“, unterbrach ihn Lucius Furius Philo hastig. „Ich denke, dass dann jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, die Sitzung zu unterbrechen und nach den numantinischen Gesandten zu schicken.“

Tiberius Gracchus öffnete den Mund um zu widersprechen, ließ es dann aber sein, als er Furius Philos durchdringenden Blick auffing.

 

Langsam wurde mir der Irrsinn der ganzen Situation bewusst. Ich war immer noch gewählter Consul der res publica, ich saß in der Curie noch immer auf dem Platz, der dem Inhaber des höchsten Amtes Roms zustand. Und ich wagte es nicht, den Blick zu heben als die Gesandten des Volkes den Versammlungssaal betraten, mit denen ich vor kaum zwei Monaten einen Friedensvertrag geschlossen hatte, um die römischen Legionen vor der vollständigen Vernichtung zu bewahren. Ich hielt meinen Blick gesenkt aus Angst, in die Augen des Mannes zu blicken, der mein Wort und damit das Wort Roms hatte, dass der Krieg zwischen Numantia und Rom beendet war.

Rhetogenes und seine Begleiter trugen wieder ihre Wolfspelze. Im Unterschied zu ihrem ersten Auftritt im Senat vor einem reichlichen Jahr jedoch bedeckten heute ihre typischen halbrunden Helme, die sie sonst nur im Kampf trugen, ihre Köpfe.

Es war offensichtlich, dass sie nach der Behandlung, die sie nach ihrer Ankunft in Rom erfahren hatten, an dem geschlossenen Frieden und der Freundschaft Roms zweifelten.

Ich konnte sie verstehen. Ich zweifelte inzwischen selbst.

Lucius Furius Philo ergriff das Wort. „Wir begrüßen den ehrenwerten Rhetogenes und die Gesandten des numantinischen Volkes im Senat von Rom und bitten ihn, sein Anliegen vorzutragen.“

Die Numantiner hatten diesmal einen eigenen Übersetzer mitgebracht, eine weitere offene Demonstration des Misstrauens. Ich kannte den Mann, der sich mir während der Verhandlungen in Numantia als Orosios vorgestellt hatte. Ich erinnerte mich noch genau, wie mich eines irritiert hatte. Im Rom war ein Übersetzer nichts weiter als ein Bediensteter mit besonderen sprachlichen Fähigkeiten, in der Regel ein Sklave aus einem fremden Volk, der irgendwann einmal die römische Sprache erlernt hatte. Doch dieser Orosios hatte damals während der Gespräche als Gleicher unter Gleichen am Tisch gesessen, so dass oft nicht klar war, ob er gerade übersetzte oder seine eigene Meinung zum besten gab.

„Unser Anliegen ist eigentlich recht schlichter Natur, Senator“, begann Rhetogenes. „Der Höchste eures Volkes hat mit uns einen Vertrag geschlossen. Nun konnten wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass euer Consul wegen seiner militärischen Niederlage gegen Numantia bei seinem Volk in Ungnade gefallen ist, was wir, mit Verlaub, nicht verstehen können, da wir keinerlei Schande darin entdecken, dem Volk der Numantiner unterlegen zu sein.“ Etliche Senatoren zogen hörbar zischend die Luft ein. Rhetogenes fuhr fort: „Wir sind nun hier um uns vom Senat von Rom bestätigen zu lassen, dass der Fall des Consuls Caius Hostilius Mancinus keinerlei Auswirkungen auf den geschlossenen Friedensvertrag hat. Ich will auch offen sagen, dass unsere Behandlung hier in Rom bisher mehr als nur einen Grund zur Beunruhigung bietet, da sie schlechte Erinnerungen an eine ähnliche Situation vor fast zwei Jahren weckt. Sobald wir also die Bestätigung haben, dass der Friedensvertrag zwischen Rom und Numantia gültig ist, werden wir unverzüglich nach Numantia zurückkehren und euch weiter ungestört euren Staatsgeschäften überlassen.“

Rhetogenes hatte mich während der ganzen Zeit seiner Rede nicht angesehen. Nicht, dass er versucht hätte, meinem Blick auszuweichen, nein, er schien mich gar nicht wahrzunehmen.

Aber warum hätte er das auch sollen? Schon vor Numantia war ich ja nur hinzugebeten worden, um die Formalien zu erfüllen. Und Rhetogenes war intelligent genug um zu wissen, dass ich der Letzte in diesem Saal war, der irgendeinen Einfluss auf die Anerkennung oder Nichtanerkennung des Friedensvertrages hatte. Für ihn war ich genau so unwichtig wie die große Schale mit Obst, die auf der niedrigen Säule neben dem Eingang stand. Warum also sollte er mir mehr Aufmerksamkeit widmen als ihr?

Mit unbewegtem Gesicht hatte Lucius Furius Philo zugehört. Selbst bei dem Teil, als Rhetogenes die Überlegenheit der Numantiner über die Römer erwähnt hatte, hatte ich keine Regung erkennen können. Er nickte nur zum Zeichen, dass er das Anliegen verstanden hätte, warf Publius Cornelius Scipio einen kurzen Blick zu und ergriff wieder das Wort. „Da sich der ehrenwerte Rhetogenes sehr gut mit dem römischen Recht und Protokoll auszukennen scheint ist ihm sicher bekannt, dass an die Gültigkeit eines Vertrages zwischen zwei Völkern gewisse Bedingungen geknüpft sind, ja, dass sogar erst einmal festzustellen ist, ob ein ‚Vertrag’ im rechtlichen Sinne überhaupt vorliegt. Mit anderen Worten: Kann der ehrenwerte Rhetogenes Beweise vorlegen, die den Schluss zulassen, dass ein nach römischem Recht gültiger Vertrag überhaupt geschlossen wurde?“

Die Gesichter der meisten Senatoren verzogen sich zu einem überheblichen Grinsen. Etliche lehnten sich selbstgefällig zurück und verschränkten die Arme vor dem Körper. Und ich glaubte, ihre Gedanken hören zu können: Würde der Numantiner es tatsächlich fertig bringen, mich, den Consul und meine Stabsoffiziere als Zeugen aufzurufen? Und gesetzt den Fall er wagte es, dann wäre doch wohl keiner von uns so dumm, zugunsten der Numantiner auszusagen!

Diese Ahnungslosen!

Ich schielte zur Seite und versuchte, einen Blick auf das Gesicht von Tiberius Gracchus zu werfen. Es war blass. Genau wie ich wusste er, was jetzt gleich passieren würde.

Orosios hatte inzwischen die Übersetzung der Antwort des Lucius Furius Philo beendet. Rhetogenes zuckte mit den Schultern, griff mit einer schnellen Bewegung unter seinen Pelz und holte eine Lederrolle hervor, der er ein in roten Stoff eingewickeltes Bündel entnahm. Er ließ sich von dem Raunen, das auf einmal durch die Curie ging, nicht irritieren und löste mit ruhigen Fingern die Verschnürung. Zum Vorschein kamen ungefähr fünf Bögen Pergament. Rhetogenes wickelte sie auf, gab sie Orosios und nickte ihm zu. Der nickte zurück und trat vor.

„In meinen Händen halte ich den zwischen Rom und Numantia geschlossenen Friedensvertrag. Er trägt die Zeichen unserer Obersten sowie die Unterschriften eures Consuls und seines quaestors Tiberius Gracchus. Er wurde beglaubigt in einer öffentlichen Zeremonie durch die gesamte Stammesführung der Numantiner und die Offiziere des Führungsstabes der römischen consularischen Legionen in dem Gebiet, das ihr Hispania citerior zu nennen pflegt.“ Er machte noch einen weiteren Schritt auf Lucius Furius Philo zu. „Wir wissen, dass in Rom gesprochene Worte gelegentlich im Nachhinein eine andere Bedeutung erhalten. Wir wollten sichergehen, dass die vor Numantia gesprochenen Worte ihre Bedeutung behalten.“

Ich konnte Lucius Furius Philo’ Reaktion nicht sehen, denn mein Blick hatte die ganze Zeit über an dem Mann gehangen, von dem mein weiteres Schicksal abhing.

Von dem, wie ich heute gelernt hatte, mein Schicksal die ganze Zeit über abgehangen hatte.

Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus saß vornübergebeugt, das Gesicht in seinen Händen vergraben und schüttelte kaum merklich den Kopf …

 

Der Triumph durchströmte ihn warm. Ja, genau so hatte er es sich vorgestellt. Allein die Gesichter der Senatoren – entsetzt bis dümmlich – waren die lange Reise und die Demütigungen wert gewesen.

Totenstille herrschte in der Curie, gelegentlich unterbrochen durch hektisches Geflüster und vereinzelte ungläubige Ausrufe.

Rhetogenes widerstand dem Drang, seinem inneren Gefühl zu folgen und den hohen Herren Roms ein „Diesmal nicht!“ entgegenzuschleudern. Stattdessen bemühte er sich, gleichgültig dreinzublicken. Nein, er würde sich nicht gehen lassen. Hochmut war für die Römer. Mochten sie versuchen, ihre Unzulänglichkeiten dadurch wettmachen zu wollen.

Jetzt wurde es lauter in der Curie. Rhetogenes drückte seinen vom langen Stehen schmerzenden Rücken durch und verschränkte die Arme vor der Brust.

Er war am Ziel.

 

Wie durch einen dicken Nebel hindurch hörte Scipio, wie der sonst so beredte Lucius Furius Philo mit stockenden Sätzen das einzige tat, was überhaupt möglich war, um die Situation zu retten: Er vertagte die Anhörung auf der Grundlage, dass die Inhalte des vorgelegten Vertrages den Senatoren zunächst einmal zur Kenntnis gegeben werden müssten. Das wurde von den Numantinern mit einem gleichgültigen Schulterzucken quittiert, die daraufhin die Curie verließen.

Kaum waren sie gegangen, brach ein ohrenbetäubender Tumult aus, der in Scipios Kopf schmerzte.

Ein schriftlicher Vertrag! Unterzeichnet vom Consul! Und von Tiberius Gracchus! Beglaubigt durch alle sechzehn – sechzehn! - Offiziere des Stabes.

Dem Hostilius Mancinus, dem hätte er eine solch beispiellose Dummheit ja noch zugetraut. Doch Gracchus? Sein Schwager? Die eigene Familie?

Mit einem Ruck stand er auf. Er musste diesen Raum verlassen, allein das Wissen über die Gegenwart von Tiberius Gracchus und Caius Hostilius Mancinus bereitete ihm Übelkeit.

Mit schnellem Schritt entfernte er sich von der Curie, merkte jedoch bald, dass ihm jemand folgte. Er drehte sich herum und sah Lucius Furius Philo, der ihm mit wehender Toga hinterher rannte. Für einen Moment kämpfte er mit dem Verlangen, jetzt lieber allein sein zu wollen, blieb dann jedoch stehen.

Furius Philo schloss auf, und für eine Weile gingen die beiden Männer schweigend nebeneinander her. Schließlich war es Lucius Furius Philo, der das Wort als erster ergriff.

„Hast du es gewusst? Hast du gewusst, dass es einen schriftlichen Vertrag gibt?“

Abrupt blieb Scipio stehen. „Ich hoffe, die Frage war rein rhetorisch gemeint!“

„Ich wollte dir nicht zu nahe treten“, versicherte Furius Philo hastig. „Ich dachte nur, dass sich vielleicht ein Hinweis darauf, möglicherweise auch ein versteckter, in den Briefen oder dem umfangreichen Bericht von Tiberius Gracchus gefunden hat …“

„Glaubst du im Ernst“, brüllte Scipio unvermittelt los, „glaubst du im Ernst, ich lasse zu, dass ein Rudel Barbaren das Zentrum der Macht Roms mit einem solchen Vertrag unter dem Arm betritt, wenn ich vorher davon weiß? Glaubt du, dass ich nicht jedes Wort des Berichtes aus Hispania aufmerksam gelesen habe, wo wir doch beide genau wissen, dass die Zukunft Roms von Hispania abhängt?“

Erschrocken sah sich Lucius Furius Philo um. „Bei allen Göttern, Scipio! Nicht so laut!“

Scipio schnaufte, aber er schwieg. Schwer atmend stand Furius Philo einen Augenblick unschlüssig vor ihm. Schließlich hakte er Scipio unter und zog den sich zunächst Sträubenden mit sich. „Komm, lass uns in den Tempel gehen. Wir müssen reden, aber dazu brauchen wir beide einen ruhigen Geist.“

Scipio gab seinen Widerstand auf. Sie schlangen ihre Togen enger um den Körper und stapften mit gesenktem Kopf durch den lauen Sommerabend zum Tempel.

Furius Philo sollte Recht behalten. Nachdem sie etwas Weihrauch geopfert und dabei den würzigen Rauch tief eingeatmet hatten, spürte Scipio, wie seine Gedanken wieder in geordnete Bahnen zurückflossen. Nach der Opferung bat Scipio Lucius Furius Philo, ihn zu seiner Villa zu begleiten, dieser lehnte jedoch mit der Begründung ab, dass er am Abend noch einen wichtigen Termin in Rom habe. Stattdessen schlug er vor, sich in die Weinstube eines der etwas besseren Badehäuser der Stadt zurückzuziehen, nicht notwendigerweise in der Nähe des Forums, da man gut darauf verzichten konnte, in geheimer Besprechung beobachtet und belauscht zu werden. Für einen winzigen Augenblick überlegte Scipio, welcher Art denn wohl ein Termin sein könnte der wichtiger war als eine Unterredung mit ihm, wischte den Gedanken jedoch gleich wieder weg. Man musste vorsichtig sein, sicher, aber wenn man hinter jeder Ecke und jeder Phrase den Verrat witterte, dann würde einem die Angst schon bald die Handlungsfähigkeit rauben.

Nur wenig später saßen sie zusammen. Scipio nippte nur an dem Wein, obwohl dieser für diese Art Restauration sogar erstaunlich gut war. Lucius Furius Philo starrte vor sich hin.

Schließlich brach Scipio das Schweigen. „Ich denke, ich habe erst heute begriffen, wie groß das Opfer wirklich ist, von dem du damals gesprochen hast.“

Furius Philo nickte abwesend. „Aber du konntest ja nicht wissen, dass dein Schwager unter Profilierungssucht leidet und dabei den Sinn für die Wirklichkeit verliert. Keiner von uns konnte das.“

„Mir ist vorhin kurzzeitig der Gedanke gekommen“, knurrte Scipio, „dass mein teurer Verwandter einen Zwillingsbruder haben muss, weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass ein Mann allein so dumm sein kann!“

Furius Philo nahm einen tiefen Schluck. „Sei es, wie es sei. Wir müssen sehen, wie wir aus diesem Dilemma wieder herauskommen.“

Scipio sah ihn aus müden Augen an. „Sparen wir uns das Drumherumgerede. Mir ist schon seit unserem letzten Gespräch klar, dass ich … dass Rom nicht den Hostilius Mancinus verurteilen und Tiberius Gracchus laufen lassen kann, auch nicht – vor allem nicht! – weil er mein Schwager ist. Ich sehe ganz andere Probleme. Es ist natürlich so, dass wir nicht zulassen dürfen, dass der Vertrag als für Rom abgeschlossen jemals Wirksamkeit erlangt. Insofern bleibt uns wirklich nur die von dir damals bereits angedeutete Möglichkeit, es so darzustellen, als wären die Unterschriften von Caius Hostilius Mancinus und Tiberius Gracchus auf dem Vertrag genau das: Unterschriften von zwei Männern. Nicht mehr und nicht weniger. Es geht aber noch weiter. Um einen derart fixierten Vertrag zu kassieren bedarf es einer Senatsabstimmung. Und hier beginnt die eigentliche Schwierigkeit.“ Scipio lehnte sich zurück.

Lucius Furius Philo zog die Augenbrauen zusammen. „Das verstehe ich nicht.“

„Nun, dann will ich es dir erklären. Für uns beide mag klar sein, dass der Vertrag kassiert werden muss. Das bedeutet, dass wir in der Abstimmung auch entsprechend dagegen stimmen werden. Doch tun wir dies leichten Herzens? Wissend um die Konsequenzen für Tiberius Gracchus? Sicher nicht. Doch werden wir es tun? Natürlich, denn wir haben beide eine Stellung in Rom die es uns gestattet, unseren Willen auch offen zu äußern.“

„Ich verstehe, worauf du hinaus willst“, sagte Furius Philo nachdenklich. „Du befürchtest, dass das hohe Ansehen der Familie Gracchus weniger einflussreiche Senatoren und solche, die noch am Anfang ihrer Karriere stehen, dazu verleiten könnte, in der Abstimmung die falsche Entscheidung zu treffen.“

Scipio nickte. „Und das wäre verheerend für Rom.“

„Aber wie willst du das verhindern?“

„Darüber habe ich mir schon seit Tagen den Kopf zerbrochen.“ Scipio lehnte sich nach vorn. „Und mir ist nur eine Lösung eingefallen …“

„Mir fällt auch nur eine ein“, fiel ihm Lucius Furius Philo mit einem kurzen Lachen ins Wort. „Die Abstimmung müsste so ablaufen, dass niemand weiß, wie der andere abstimmt.“ Er blickte in Scipios Gesicht und suchte nach einem Schmunzeln. Doch das Gesicht seines Gegenübers blieb ernst. Stockend und mehr zu sich selbst sprechend spann Furius Philo den Gedanken weiter: „Damit wäre sicher gestellt, dass jeder frei seinen Willen äußern könnte, ohne dass er hinterher mit Nachteilen für seine Karriere oder gar Repressalien gegen sich und seine Familie fürchten müsste.“ Sein Lachen war verflogen. Er schluckte schwer. „Weißt du, was du da sagst, Publius Cornelius Scipio?“

Jetzt grinste Scipio. „Ich habe gar nichts gesagt. Du hast es selbst erkannt. Aber ich danke dir. Es bestätigt mich in meiner Überzeugung, dass die geheime Abstimmung in der Curie völlig neue Wege für ein neues Rom eröffnet.“

„Aber wenn in der Curie nicht mehr offen abgestimmt wird, wäre das nicht das Ende der Macht der auctoritas?“

Scipio schüttelte den Kopf. „Nein, es bedeutet nur, dass die Macht der Person durch die Macht der Ideen abgelöst wird. Eine gute Idee für Rom wird immer eine Mehrheit im Senat finden.“

„Und eine schlechte Idee wird sich nie wieder durchsetzen können, nur weil ihr Erfinder soviel Macht hat, dass sich niemand traut sich ihm entgegenzustellen“, führte Furius Philo den Gedanken weiter.

„Und am Ende wird der die größte auctoritas haben, der Rom das größte Wohl zufügt, weil er die besten Ideen hat, die wiederum eine Mehrheit im Senat finden“, beendete Scipio den Diskurs. „Die Ablösung der offenen durch die geheime Abstimmung in der Curie bedeutet die Zusammenführung von Macht und Kompetenz.“

Lucius Furius Philo stierte abwesend vor sich hin. „Aber wie …?“ begann er.

Scipio schien seine Gedanken erraten zu haben, noch bevor sie seinen Mund verlassen hatten. „Das einzige was wir brauchen ist etwas Zeit. Sorge du dafür, dass sich die Verhandlung um Hostilius Mancinus und die Numantiner noch etwas hinzieht. Vertage, verzögere, was auch immer. Mancinus ist als Consul handlungsunfähig, und sein Amtskollege, unser Schweinchen, ist in Hispania citerior, also bist du quasi jetzt schon Consul. In zwei Monaten bist du es dann offiziell. Zeitgleich mit deiner Amtsübernahme werde ich die Gesetzesvorlage über die geheime Abstimmung einreichen. Die zwei Monate vorher sollten ausreichen, um über Mittelsmänner genug der jungen und schwachen Senatoren davon zu überzeugen, dass die geheime Abstimmung die einzige Möglichkeit ist, den unseligen Vertrag mit den Numantinern von der Tagesordnung zu bekommen, ohne das Ansehen Roms zu schädigen.“

„Und ohne bei den Gracchi in Ungnade zu fallen“, betonte Furius Philo.

„Danach darf nicht mehr allzu viel Zeit vergehen, bis wir die Neuerung in unserer Curie auch einmal real praktizieren, und zwar am Beispiel des numantinischen Vertrages. Zum einen wird es schon schwer genug, die Gesandten im Wolfspelz bis dahin überhaupt ruhig zu halten, zum anderen muss dem Senat gezeigt werden, dass es funktioniert.“

Lucius Furius Philo hatte während ihres Gespräches unbewusst mehrere Becher Wein in sich hineingeschüttet. Jetzt merkte er, wie es warm in seinem Kopf zu summen begann. Er schob den Unterkiefer vor und blies sich über das Gesicht. ‚Oh, ihr Götter Roms!’ dachte er. ‚Ich wusste zwar, dass ein Consulat letztlich über Aufstieg oder Abstieg einer Familie entscheidet, aber ich habe den Verdacht, dass mir dieses durch Scipio geförderte Consulat völlig neue Einsichten dahingehend verschaffen wird, wie hoch ein Aufstieg und wie tief ein Fall wirklich sein kann …’

 

 

Ende März des Jahres 618 nach Gründung der Stadt Rom

Vor Pallantia

 

Lucius’ Welt bestand nur noch aus Angst. Sein Körper war ständig verkrampft, sein Atem ging so flach, dass er manchmal glaubte, kurz vor dem Ersticken zu sein. Er schlief nicht mehr und seine übernächtigten Augen brannten. Manchmal dämmerte er kurz weg, schreckte dann jedoch bei jedem noch so kleinen Geräusch wieder hoch.

Er war krank vor Angst.

Und die Angst dauerte nun schon fast einen halben Monat!

Einen Monat nach ihrer Niederlage vor Numantia war der Caius Hostilius Mancinus nach Rom zurück berufen worden. Er war so schnell aufgebrochen, dass das Heer für kurze Zeit quasi führungslos war; nur wenige Tage später war der neue Oberfeldherr, Consul Marcus Lepidus, in Tarraco angelangt, wo die Legionen darauf warteten, wie es weitergehen sollte. Nach der ersten Unruhe, die solch ein Führungswechsel nun einmal naturgemäß mit sich brachte, sickerte jedoch bald das Gerücht durch, dass der Lepidus mit dem ausdrücklichen Befehl nach Hispania citerior gekommen war, Numantia in Ruhe zu lassen. Doch ehe sich die alte Behäbigkeit wieder einstellen konnte, befahl der Consul, das Lager abzubrechen und trotz der sich dem Ende neigenden Feldzugsaison zum Marsch zu rüsten. Ihr Ziel war das landeinwärts gelegene Hochland.

Der einzige, der sich über diese Entwicklung freute, war Antonius. Sicher würde er auf dem Marsch unsägliche Schmerzen haben, doch die Chancen standen nicht schlecht, dass er sich in einer Nacht würde davonstehlen und das Geld des Quintus Porcius würde holen können.

Er würde leben!

Er würde nie wieder Angst haben müssen!

Er hatte abends am Feuer kaum ein anderes Thema gehabt, war regelrecht aufgelebt. Doch so sehr Lucius es seinem Freund auch gewünscht hatte, so sehr litt er darunter, dass er seine eigenen Ängste nicht unter Kontrolle halten konnte. Vor allem, dass nichts geschah, was seine Ängste kleiner werden ließ. Im Gegenteil.

Marcus Lepidus hielt sich zwar strikt an die Anweisung des Senats, keinen Krieg mit den Numantinern zu führen. Jedoch führte er stattdessen die consularischen Legionen ohne Umwege in das Land der Vaccaei, erklärte sie in einer Rede an das Heer zu Handlangern der numantinischen Rebellen und befahl den Angriff auf die erste größere Ansammlung von Angehörigen dieses Volkes, die den Weg der marschierenden Legionen kreuzte. Dass es lediglich Bauern waren, die die Reste ihrer Ernten einbrachten, störte ihn dabei nicht. Er ließ sie ausnahmslos niedermachen, ‚um ein Zeichen zu setzen’, wie er meinte. Die erste Auseinandersetzung mit einem wirklichen Heer der Vaccaei endete in einem gnädigen Unentschieden. Eine weitere Schlacht gab es nicht. Die kampffähige Bevölkerung der Vaccaei zog sich in ihre befestigte Hauptsiedlung Pallantia zurück. Lepidus gab daraufhin den Befehl, sich ins Winterlager nach Tarraco zurückzuziehen, nur um durch Boten nur zwei Wochen später einen Großteil der Streitkräfte aus dem seit zwei Jahren befriedeten Hispania ulterior holen zu lassen. Sofort nach deren Ankunft befahl Marcus Lepidus die Belagerung der Stadt Pallantia.

Die ersten zehn Tage der Belagerung verliefen bis auf ein paar halbherzige Ausfälle kleinerer Kriegergruppen ereignislos. Doch am elften Tag kamen die Vaccaei mit dem Morgengrauen mit einer derartigen Gewalt über die verschlafenen Legionen, dass sie nur unter größten Schwierigkeiten in die Stadt zurückgetrieben werden konnten. Über fünfhundert Legionäre waren tot gewesen, noch bevor sie gewusst hatten, was da über sie gekommen war. Mehr als doppelt so viele Männer hatten zum Teil schwere Verletzungen davongetragen. Und bei Lucius wuchs die Angst.

Seit dem saß man vor der Stadt, wachsamer zwar, aber auch untätig. Doch worauf wartete man eigentlich? Dass die Stadt, die so reich an Korn war, dass sie andere Stämme mitbelieferte, vor Hunger die schützenden Mauern verließ und um Gnade winselte?

Als am achtzehnten Tag der Belagerungen die Getreiderationen der Legionäre auf weniger als die Hälfte gekürzt wurde erkannten alle, bis hin zum letzten Rekruten, den entsetzlichen Fehler in ihrer Strategie: Durch das Hinzustoßen der mehr als sechstausend Mann aus Hispania ulterior war die Zahl der Esser drastisch gestiegen; gleichzeitig hatte sich jedoch niemand darum gekümmert, Nachschublinien zur Küste, nach Tarraco aufzubauen. Und so machte es sich der Hunger ab dem zwanzigsten Tag der Belagerung an den Feuern der Legionäre bequem, anstatt in das satte Pallantia Einzug zu halten.

Mehr als eintausend verletzte Männer.

Viel zu wenige Vorräte für die kämpfende Truppe.

Leere Felder im Umkreis mehrerer Tagesmärsche.

Keinerlei Hoffnung auf Nachschub innerhalb der nächsten zwanzig Tage.

Noch immer keine sichtbaren Bemühungen des Consuls, die notwendigen Nachschublinien zu errichten.

Immer mehr Streitereien mit den Legionären aus dem jenseitigen Hispania, die sich eigentlich immer nur um das eine Thema rankten: die knappen Nahrungsmittelvorräte, die der eine dem anderen wegaß.

Und seit zwei Tagen wurden die Angriffe der ausfallenden Vaccaei nicht nur häufiger, sondern auch energischer. Keine Scheinangriffe mehr, um die nachsetzenden römischen Legionäre zu foppen, sondern gezielte Vorstöße die nur ein Ziel kannten: so viele Männer wie möglich zu töten.

Lucius wälzte sich unruhig herum. Antonius schnarchte und weckte damit lautstark den Neid seines Freundes, der sich danach sehnte, dass ihn seine schweren Gedanken wenigstens für ein paar Stunden in Ruhe ließen. Und so manchmal schlich sich auch die Erinnerung an die wohltuende Betäubung des Weines in seinen wirren, übermüdeten Geist, und die Sehnsucht nach der Leichtigkeit, die er nach vielen Bechern des berauschenden Getränkes endlich verspürt hatte. Gegen Morgen dämmerte er kurz in das Reich des Schlafes hinüber, aber nur, um beim Wecksignal übermüdet hochzuschrecken und sich wie zerschlagen zu fühlen.

Der Vormittag verlief eintönig, wie so viele andere der letzten drei Wochen auch. Der Mittag kam, und wieder bestand das Essen aus einer dünnen Suppe. Lucius fürchtete sich vor dem Nachmittag, dem untätigen Herumliegen, der Wärme der Herbstsonne, dem ständigen leichten Hungergefühl und den wenigen Möglichkeiten, den Geist davon abzulenken.

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit geschah es.

Als die Wachen Alarm schlugen, glaubte zunächst jeder an einen der inzwischen alltäglich gewordenen kleinen Blitzangriffe der Vaccaei.

Doch das erwies sich schnell als ein schrecklicher Irrtum.

Niemand wusste hinterher zu sagen, wie es passieren konnte, dass fast die gesamte in Pallantia verschanzte vaccaeische Streitmacht mehr oder weniger unbemerkt die Stadt hatte verlassen und bis auf weniger als zweihundert Schritte an den römischen Belagerungsring hatte herankommen können, und zwar genau an der Stelle, an der sich der Teil des Lagers befand, in dem die Verletzten untergebracht waren. Noch während die völlig überraschten Legionäre verwirrt umherstürzten und versuchten, in aller Hast ihre Rüstungen anzulegen oder ihre Waffen zu suchen, preschten berittene Boten an der Belagerungslinie entlang und schrien den Befehl des Oberbefehlshabers der römischen consularischen Legionen heraus: Sofortiger ungeordneter Rückzug der Legionen von Pallantia in östlicher Richtung, beim ersten Tageslicht Halt und Sammeln.

Jeder ließ fallen, was er gerade in den Händen hielt und was ihn beim Laufen behindern konnte und rannte los. Nur einer der Heilkundigen wagte es, den ihm am nächsten stehenden Melder anzuhalten und zu fragen, was denn mit den Verwundeten und Kranken geschehen sollte. Mit einem Achselzucken antwortete der Reiter: „Der Consul Marcus Lepidus hat sich unmissverständlich ausgedrückt. Jeder, der auf seinen eigenen Beinen laufen kann, soll dies tun, und zwar so schnell er kann!“

Der Heilkundige starrte fassungslos. „Aber wir können diese Unglücklichen doch nicht ohne Schutz vor den Barbaren hier zurücklassen!“

Erneutes Schulterzucken. „Dann bleib hier.“

Der Mann stierte dem Melder hinterher, als dieser ohne weitere Worte davonritt.

Eine große kräftige Faust presste Lucius’ Magen zu einem winzig kleinen, heißen schmerzenden Knäuel zusammen. Die Angst schnitt ihm die Luft ab. Nur ein einziger Gedanke hämmerte in seinem Kopf: Antonius!

Kurz entschlossen warf er sein Bündel, sein Schwert und den kleinen Schild zu Boden und stürzte ins Zelt, in dem Antonius lag und sich von seiner schweren Rückenverletzung erholte. Sein Freund hatte nur zwei Möglichkeiten: vielleicht langsam verbluten, weil sich auf der Flucht die Wunde wieder öffnete, oder ganz sicher sterben, wenn die Pallantiner über sie herfielen. So betrachtet fiel Lucius die Wahl leicht.

Als er die Zeltbahn am Eingang zur Seite geschlagen hatte sah er, dass Antonius sich mit schmerzverzerrtem Gesicht bemühte, aus eigener Kraft aufzustehen. Als er Lucius sah, ließ er sich mit einem Stöhnen zurück sinken, und ein schwaches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Willst du mir schon wieder das Leben retten?“ fragte er mit schwacher Stimme. Lucius antwortete nicht, sondern zerrte seinen Freund hoch. Der Schmerz schnitt Antonius den Atem ab. Mit zusammengebissenen Zähnen hing er an Lucius, wobei er sich erfolglos bemühte, sein eigenes Gewicht zu verringern. Als Antonius kaum zwanzig Schritte vom Zelt entfernt die Beine zusammenknickten, fasste Lucius einen Entschluss. Er schnallte seinen ledernen Brustpanzer ab, warf den Helm weg und hievte sich Antonius über die rechte Schulter. Der schrie auf, als er merkte, wie die frische, noch dünne Haut über seiner Wunde bis zum Zerreißen gespannt wurde. Der Schrei ging in ein stoßweises Wimmern über, und Lucius war dankbar, dass sein eigenes Keuchen den Schmerz des Freundes übertönte.

Gerade als er glaubte, unter der Last zusammenzubrechen, begannen weiter hinten, dort, wo er die Krankenzelte wusste, die Schreie derer, die der Zorn der angreifenden Pallantiner als erstes traf. Und die Todesschreie der zurückgelassenen römischen Legionäre gaben ihm frische Kraft.

Doch die Schreie kamen näher.

Plötzlich tauchte das rote, schwitzende Gesicht von Quintus Porcius neben Lucius auf. „Schön machst du das!“ schnaufte er. „Und pass gut auf, dass er überlebt, ansonsten könnte ich auf die Idee kommen, dass er dir erzählt haben könnte, wo er mein Geld versteckt hat!“

Lucius erschrak derart, dass er stolperte und stürzte. Wieder schrie Antonius, der schwer auf ihm lag. Fluchend stand Quintus Porcius vor ihnen. „Aufstehen, du lahmer Sack!“ röhrte er. Lucius lag schwer atmend unter Antonius, unfähig, auch nur eine Hand zu rühren, von aufstehen ganz zu schweigen. Quintus Porcius begann zu toben. Er zog sein Schwert und richtete die Spitze auf die am Boden Liegenden. Mit überkippender Stimme brüllte er unverständliches Zeug. Lucius lag ganz still. Er spürte die Kälte des Bodens, atmete den Staub ein, schmeckte die rötliche Erde. Das Gebrüll des Centurion ging mit einem Mal in einem ohrenbetäubenden Getöse unter. Überall um sie herum waren Schreie, Gestampfe, Metall schlug auf Metall, auf Holz, und immer wieder auch dumpf klatschend auf Fleisch. Lucius hielt die Augen fest geschlossen. Er spürte plötzlich eine feuchte Wärme am Rücken, deren Herkunft er erahnte. Doch erst als sich der Lärm von ihnen entfernte, drehte er vorsichtig den Kopf. Und öffnete die Augen.

Im selben Moment schloss er sie wieder.

Überall lagen Tote.

Tote römische Legionäre.

Unter Aufbietung aller Kräfte schob er Antonius’ leblosen Körper von sich herunter und setzte sich aufrecht hin. Er sah die Toten um sich herum, streichelte unbewusst Antonius’ Kopf und fühlte nur eine unendliche Müdigkeit in sich aufsteigen.

Sein Blick irrte herum und blieb an einem Mann hängen, der etwa fünf Schritte von ihm entfernt lag. Obwohl das Gesicht durch einen Schwerthieb entsetzlich entstellt war, erkannte er den Centurion Quintus Porcius. Ein verbittertes, irres Lachen entrang sich seiner Kehle und ging in unkontrollierbares Schluchzen über, das seinen Körper hin und her schüttelte.

Plötzlich war da eine Bewegung unter seinen Händen. Ungläubig starrte Lucius auf Antonius’ Gesicht. Die Augen waren geöffnet. „Du … du lebst!“ stammelte er.

Doch bei aller Freude war ihm klar, dass sein Freund noch immer in höchster Lebensgefahr schwebte. Die Rückenwunde hatte sich wieder geöffnet, und mochte dieser Anblick – der stark blutende Antonius, wie er über dem regungslosen Lucius gelegen hatte – ihnen beiden auch das Leben gerettet haben, weil die Pallantiner sie offenbar schon für tot gehalten hatten, so war jetzt doch Eile geboten, denn mit dem Blutstrom floss auch das Leben aus dem geschundenen Körper davon.

Lucius sah sich noch einmal um, doch soweit er in der Dunkelheit bei dem Licht der Fackeln erkennen konnte, hatte sich die Schlacht inzwischen weit von ihnen entfernt.

Links von ihnen war ein kleines Waldstück. Dorthin würde er Antonius bringen und dort zunächst versuchen, mit einem notdürftigen Verband die Blutung zu stillen. Dann würden sie warten, bis die Pallantiner wieder an ihnen vorbei zurück in ihre Stadt gezogen waren.

Vielleicht schafften sie es ja bis Tarraco.

Plötzlich erstarb das Kampfgeschrei von einem Augenblick auf den anderen. Gleichzeitig schien es noch ein wenig dunkler zu werden ...

 

[Diese Episode ist in die Geschichte eingegangen. Die fliehenden Legionäre des Marcus Lepidus Porcina warfen sich auf ihrer Flucht dutzendweise auf den Boden. Nun trat genau in dieser Nacht (31. März/1. April des Jahres 136 v. Chr.) eine Mondfinsternis auf, und die Pallantiner, die wie alle Keltiberer den Mond anbeteten, ließen aus ihrem Glauben heraus von den Römern ab, statt ihre Überlegenheit auszunutzen. Trotzdem verlor Porcina in dieser Nacht 4 000 Legionäre. – Anmerkung d. Autors]

 

Zwei Wochen später in der Curie in Rom

 

Ich konnte den Blick nicht von den beiden Haufen mit den Tontäfelchen lösen. Unbewusst versuchte mein Geist, die einzelnen Täfelchen zu zählen, obwohl ich natürlich genau wusste, dass es unsinnig war. Dort vorn auf dem kleinen, altarähnlichen Tisch lag das Abstimmungsergebnis über die Gültigkeit des Vertrages. Und ich fand, dass der Vergleich mit einem Altar gar nicht so unpassend war: auch hier wurde geopfert.

Nur dass das Opfer diesmal nicht aus einem Schaf, einem Ochsen oder einer Ziege bestand, sondern aus einem ehemaligen Consul.

Doch ich war nicht überrascht. Meine letzte Hoffnung, so wahnwitzig sie mir heute auch erschien, war vor einem Monat zerstört worden, als der Senat über eine Neuerung im Abstimmungsprocedere der Curie entschieden hatte. Natürlich war die Wahl des Zeitpunktes der Einführung der geheimen Abstimmung kein Zufall gewesen. Vielleicht hätte ich diese Prozedur vor knapp einem Jahr sogar noch selbst befürwortet, denn sie hatte durchaus ihre Vorteile. Um das zu begreifen, reichte selbst mein politisches Verständnis aus, auch wenn ich in dieser Beziehung das Vertrauen an mich selbst inzwischen verloren hatte.

Man hatte die numantinischen Gesandten heute Vormittag wieder in die Curie gebeten, damit sie der Abstimmung über ihren Vertrag mit Rom beiwohnen und so selbst miterleben konnten, wie das römische Volk Entscheidungen fällte. Man hatte dabei eines verkannt: die Numantiner wollten ja gar keine Entscheidung, da nach ihrer Rechtsauffassung der Friedensvertrag natürlich gültig und unanfechtbar war. Dafür hatten sie Monate in dieser unwürdigen Behausung außerhalb der Stadt ausgeharrt! Entsprechend düster waren ihre Gesichter gewesen, mit denen sie den großen Verhandlungssaal betreten hatten.

Nun, ich war eigentlich nur froh, dass ich mein eigenes Gesicht nicht sehen konnte.

Lucius Furius Philo, Consul Lucius Furius Philo trat von hinten an den kleinen Tisch heran, warf einen bedeutsamen Blick in die Runde und legte jeweils eine Hand auf die beiden Haufen. Er senkte den Kopf und schloss die Augen, so als wollte er die Botschaft der Tontäfelchen über die Finger in sich aufsaugen. Dann hob er den Kopf und blickte direkt in den Saal, direkt in die Augen des Rhetogenes.

„Ich weiß, wir haben die Geduld unserer numantinischen Gäste sehr beansprucht. Ich weiß, dass die Prozeduren hier in Rom sicher sehr viel länger dauern als sie es in Hispania gewöhnt sind, aber das ist nun einmal der Preis, den man für ein hoch entwickeltes Gemeinwesen zu zahlen bereit sein muss. Doch ich hoffe, dass wir die Gesandten zumindest davon überzeugen konnten, dass wir uns die Entscheidung nicht leicht gemacht haben.“ Er machte eine kleine Pause. Die Gesichter der Numantiner waren ausdruckslos. Und hätte ich früher die Würde dieses Hauses im Zweifelsfalle mit dem Schwert verteidigt, so fand ich die salbungsvolle Rede des Lucius Furius Philo jetzt einfach nur noch lächerlich.

„Wir haben jetzt hier das Abstimmungsergebnis des Senats von Rom vorliegen“, fuhr der neue Consul fort. „Nach Sichtung aller Schriftstücke und Anhörung aller Zeugen haben wir die Angelegenheit dem Senat, den gewählten Vertretern der Bürgerschaft von Rom, zur Abstimmung vorgelegt. Insofern ist das Abstimmungsergebnis nicht der Ausdruck des Willens einiger weniger Männer, sondern des ganzen römischen Volkes.“ Im Saal herrschte Stille. Stille, die eine Spannung aufbaute, die ich nicht verstand. Die auch die Numantiner nicht verstanden.

„Das Volk von Rom hat entschieden, dass der Vertrag, den uns die Numantiner vorgelegt haben, zwar ein gültiger Vertrag ist, allerdings für Rom keine Wirksamkeit hat. Insofern handelt es sich um ein Friedensabkommen zwischen Numantia und dem ehemaligen Consul Caius Hostilius Mancinus und dessen quaestor Tiberius Gracchus. Für Rom hat das bestenfalls den Stellenwert einer zeitweiligen Waffenstillstandsvereinbarung, und die Tatsache, dass wir seit dem Vertragsschluss die Waffen gegen Numantia haben ruhen lassen, sollte mehr als Beweis dafür sein, dass Rom sich an getroffene Absprachen hält.“

Es war eine unglaubliche Farce. Ich schämte mich im Angesicht der numantinischen Gesandten. Und in dieses Schamgefühl mischte sich noch ein weiteres, das langsam begann, die Oberhand zu gewinnen: Mitleid mit mir selbst.

Orosios war mit der Übersetzung für Rhetogenes und die anderen fertig. Sie wechselten ein paar schnelle Worte, dann wandte sich Orosios dem Senat zu und sagte: „Consul, wenn das die ‚Entscheidung’ ist wegen der wir nun inzwischen mehr als fünf Monate hier in Rom weilen, dann muss ich sagen, dass ihr euch die Mühe nicht hättet machen brauchen. Ihr hättet uns einfach nur sagen brauchen, dass die Obersten eures Volkes nicht in der Lage sind, rechtsverbindliche Verträge für Rom abzuschließen. Doch ihr müsst nicht antworten, denn wir legen keinen Wert darauf, euch erneut in Verlegenheit zu bringen. Wir wissen, dass dieses Hinhalten einzig und allein den Zweck hatte Numantia ruhigzustellen, damit eure Legionen ungestört unser Nachbarvolk, die Vaccaei, angreifen konnten. Lasst euch sagen, dass wir, obwohl uns die Vaccaei näher stehen als die Römer, uns an den Friedensvertrag gehalten haben. Auch wenn die Vaccaei, wie ihr ja wisst, unsere Unterstützung letztlich auch nicht gebraucht haben“, fügte er mit unverhohlenem Stolz in der Stimme hinzu.

„Ist euch völlig in Vergessenheit geraten“, fuhr er fort, „dass unser ehrenwerter Rhetogenes seinerzeit bereit gewesen ist, für die Freundschaft Roms sogar sein eigen Fleisch und Blut zu opfern? Ich kann euch kaum sagen, wie erleichtert ich bin, dass es damals zu diesem Opfer nicht gekommen ist, denn er müsste sich heute vorkommen, als würde das Opfer seiner Söhne heute hier mit Füßen getreten!“

Und gegen die aufbrandenden Empörungsrufe der Senatoren trat plötzlich Rhetogenes vor und rief auf Römisch: „Was maßt ihr Römer euch an, euch selbst für eure Gerechtigkeit, Treue und Tapferkeit zu rühmen, wo ihr all das doch viel besser von den Numantinern lernen könntet!“

Orosios wandte sich um und schritt ohne zu zögern durch den brüllenden Tumult auf den Ausgang der Curie zu. Die anderen Numantiner folgten ihm.

Meine Augen hingen an den hispanischen Gesandten, als könnte sie allein mein flehender Blick zum Stehenbleiben bringen.

Ich hatte Angst davor, mit den Senatoren allein gelassen zu werden.

 

Wenig später im Hafen von Ostia

 

Rhetogenes starrte von der Bordwand des alten Handelsschiffes hinunter in das gurgelnde, schmutziggraue Wasser. Die Proteste seiner Mitreisenden der numantinischen Gesandtschaft, an Bord eines schmuddeligen, nicht gerade vertrauenerweckenden Kahns zu gehen, hatte er barsch zur Seite gefegt. Es wäre der schnellste Weg zurück, hatte er gemeint, denn es wäre mehr als naiv anzunehmen, dass die Römer nicht schon längst einen Boten nach Hispania geschickt hätten, um den Befehl zum Angriff auf Numantia zu überbringen. Und seit das Schiff abgelegt hatte, stand er an der Bordwand und starrte ins Wasser.

„Was glaubst du, was sie mit ihnen anstellen?“ Unbemerkt war Theogenes neben seinen Freund getreten.

Unwillig hob Rhetogenes den Kopf. „Mit wem?“

„Na, mit diesem Consul und dem Tiberius Gracchus.“

„Hast du den Eindruck, dass mich das in irgendeiner Weise interessiert?“

„Aber der Gracchus ...“

Heftig wandte sich Rhetogenes dem Freund zu. „Was kann ein einziger anständiger Mann gegen ein verkommenes Rom ausrichten? Selbst tausend Gracchen wären zu wenig!“

„Na ja“, lenkte Theogenes ein. „Wahrscheinlich müssen wir uns darüber wirklich keine Sorgen machen, so, wie ich die Römer kennengelernt habe. Die haben schon Leute für viel weniger hingerichtet.“

„Und so, wie ich die Römer kennengelernt habe, werden Gracchus und dieser Mancinus noch darum betteln, nur hingerichtet zu werden.“ Damit wandte er sich wieder dem Wasser zu als Zeichen, dass das Gespräch für ihn beendet war.

Gracchus und Mancinus!

Hatte Numantia gerade keine anderen Sorgen?

 

Einen Tag später in Rom

 

Er spürte, wie seine Hände kalt und feucht wurden. Natürlich war ihm die ganze Zeit über klar gewesen, dass dieses Gespräch unausweichlich gewesen war, und doch hatte er sich an die unsinnige Hoffnung geklammert, dass dieser Tag vielleicht doch nicht kommen würde.

Doch nun war er da.

Er wusste nicht mehr, wie oft er sich in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder gesagt hatte, dass er selbst ein großer Mann war: Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus, der Besieger Carthagos, seinerzeit jüngster Consul Roms, kein bedeutendes Amt der res publica, das ihm verschlossen geblieben war. Selbst Censor war er bereits gewesen.

Nichtsdestotrotz verspürte er eine Art Angst. Nicht einmal Angst vor dem viel jüngeren Mann, der gerade auf dem Weg zu ihm war, sondern vor dem, was der Name dieser Familie in Rom darstellte. Wie begegnete man einem Mann, dessen Familie in Rom eine Institution, nein, eine Legende darstellte, die zu zerstören man gerade im Begriff war?

Wie sagte man als römischer Bürger ‚nein’ zu einem Gracchus?

Scipio widerstand der Versuchung, sich mit einem großen Becher Wein zu beruhigen. Er würde seinen Schwager nicht mit Weingeruch im Atem empfangen.

Ein Haussklave erschien und meldete die Ankunft des Gastes. Eine heiße Welle breite sich von seinem Magen aus und durchfloss seinen ganzen Körper, gefolgt von einem kalten Schauer. Dann atmete er tief durch. Seltsam, wie ihn ein Gespräch derart aufregen konnte, dessen Verlauf bis ins kleinste Detail vorgezeichnet war.

„Tiberius“, sagte er, während er dem Eintretenden entgegenging. Er wies mit der Hand auf die Liegen. „Nimm Platz. Soll ich uns etwas bringen lassen?“ Er spürte, wie gezwungen selbst diese schlichten Höflichkeitsfloskeln klangen.

Der hagere Mann winkte ab. „Ich bin nicht zum Plaudern hier, Publius Cornelius. Aber ich denke, das weißt du auch. Also lass uns gleich zur Sache kommen.“

Scipio nickte. „Numantia?“ fragte er knapp. Im selben Moment schalt er sich. Die Frage war so überflüssig wie ein Kropf.

Gracchus verzog keine Miene. „Ich verlange, dass du genau überlegst, was du tust. Ich verlange von dir, dass du genau abwägst, ob es das alles wirklich wert ist, meine Familie in den Schmutz zu ziehen …“

„Nein!“ unterbrach ihn Scipio. „Was du in Wahrheit verlangst ist, dass ich mich zwischen Rom und dir entscheide.“ Er holte tief Luft, als er spürte, wie ihm die nächsten, noch unausgesprochenen Worte die Brust zuschnürten. „Und ich sage dir, dass du als wahrer römischer Bürger keine solche Entscheidung von mir fordern dürftest!“

Er sah das Gesicht des jungen Mannes bleich werden. ‚Da ist er, der Bruch’, dachte er. ‚Und was immer die Konsequenzen sein mögen, ich kann jetzt nicht mehr zurück. Wenn Rom mit der Ablehnung des Vertrages nicht als eidbrüchig dastehen soll, dann gibt es kein Zurück.’ Er spürte, wie ihn die innere Rechtfertigung ruhiger werden ließ.

Tiberius Gracchus sah auf einmal unendlich müde aus. Es war, als wäre der Mann von einem Augenblick auf den anderen um viele Jahre gealtert. „Ich hatte bei allem, was ich getan habe, immer nur das Wohlergehen Roms im Sinn“, sagte er. Es klang beinahe trotzig.

Und es ärgerte Scipio.

„Wenn dem so ist, dann hast du eigenartige Vorstellungen davon, was gut ist für Rom!“ entgegnete er erregt. „Oder wie kann es sonst sein, dass du, militärisch unerfahren wie du trotz Carthago nun einmal bist, als Berater eines unfähigen Consuls auftrittst und ihm unsinnige Strategien vorschlägt? Wie kann es sein, dass du mit einem Volk, mit dem Rom im Krieg steht, einen derart inakzeptablen Vertrag nicht nur aushandelst, sondern auch noch schriftlich festhalten, unterschreiben und beglaubigen lässt, auf dass die Schande auch unverrückbar werde? Und ich frage dich, Tiberius Gracchus, wie du es als römischer Bürger verantworten kannst, mit deinen Worten und dem Geld deiner Familie einen Marcus Lepidus zu unterstützen, der als Consul und Oberfeldherr nicht nur einen direkten Befehl des Senats missachtet, sondern auch noch sämtliche Werte Roms verrät, seine Verwundeten schutzlos zurücklässt und kopflos vor dem Feinde flieht, was viertausend – viertausend! – Legionäre das Leben kostet? Und erzähl mir jetzt nicht“, fügte er hinzu, als er sah, dass Gracchus protestieren wollte, „erzähl mir nicht, dass nur du allein momentan all deinen Einfluss nutzt, um das Verfahren gegen das Schweinchen hinauszuzögern! Wenn deine Familie einen derart unwürdigen Bürger – und darüber hinaus meinen politischen Gegner – unterstützt, stellst du dich gegen mich! Und du forderst, dass ich meine Entscheidungen überdenke? Du bist es doch, der die Entscheidung bereits getroffen hat! Gegen mich! Und gegen Rom!“

„Scipio, denk doch auch an Sempronia, meine Schwester – deine Frau! Und war nicht meine Mutter Cornelia die Schwester deines Adoptivgroßvaters? Ist dir die Familie gar nichts wert?“

Scipio sah ihn nur schweigend an.

Mit einem Ruck erhob sich Tiberius Gracchus. „Dann gibt es nichts mehr zu sagen.“ Er wandte sich um. Für einen Augenblick hatte Scipio den Eindruck, als zögerte der Mann, den ersten Schritt in Richtung Ausgang zu machen, so als warte er auf ein einlenkendes Wort von Scipio.

Es kam nicht.

 

Zwei Tage später in der Curie

 

Wir standen auf einmal verloren inmitten der Unruhe, die sich nach den Worten des Lucius Furius Philo in der Curie ausgebreitet hatte. Mir war, als hätte sich ein Teil von mir gelöst und beobachtete nun mehr oder weniger unbeteiligt die sich entfaltende Geschäftigkeit des Hauses.

Es waren ganz normale Tätigkeiten: der Senat hatte nach einem Prozess ein Urteil gefällt, ein Vorschlag für ein Strafmaß lag vor und musste nun vom Senat der Volksversammlung zur Abstimmung präsentiert werden. Und während draußen das Volk zusammengerufen wurde, nahm ich ruhig wieder Platz und ließ den Strom der Aufregungen an mir vorüber und um mich herum fließen.

Meine eigene innere Ruhe war mir unheimlich, und so sehr ich mir auch einredete, mir klarmachte, dass es hier um mich ging, so wenig berührte es mich.

Ich blickte mich um. In einer Ecke standen Tiberius Gracchus und ein mir nicht bekannter älterer Mann, wie es schien in ein heftiges Streitgespräch vertieft; auf der anderen Seite der Curie saßen Publius Cornelius Scipio und die beiden Consuln Lucius Furius Philo und Sextus Atilius Serranus, und hier hatte es den Anschein als versuche Scipio, die beiden Consuln des Jahres 618 durch eine eindringliche Rede zu beruhigen.

Ich wusste nicht, wie viele Stunden vergangen waren, als das Signal endlich kam. Irgendwie war mir seit meiner Rückkehr nach Rom jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen, besonders seit ich nach dem Weggang meiner Frau und unserer Kinder auch den normalen, durch das Familienleben diktierten Tagesrhythmus verloren hatte.

Ich erhob mich und ging zu der Stelle neben dem Ausgang, wo sich bereits die anderen Angehörigen meines ehemaligen Stabes gesammelt hatten. Tiberius Gracchus würdigte mich keines Blickes. Auch er hatte in der Verhandlung nach Lucius Furius Philo noch einmal um das Wort gebeten und sich vehement dagegen gewehrt, dass ihm als Zivilisten dieselbe Strafe zuerkannt werden sollte, wie dem Oberbefehlshaber und den Offizieren der Legionen. Wobei er nicht versäumte sein Unverständnis darüber auszudrücken, warum er für etwas bestraft werden sollte, was seinem Vater seinerzeit hohe Ehrungen eingebracht hatte. Und überhaupt, hatte nicht sein Einsatz vielen Tausend Legionären und Hilfstruppen das Leben gerettet?

Es war der Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus gewesen, der diese Einwürfe mit wenigen Sätzen zur Seite gefegt hatte. Die Taten des Vaters lagen mehr als fünfzig Jahre zurück; damals war es wichtig gewesen, so kurz nach der Vertreibung der Carthager aus Hispania die Ruhe im Land wieder herzustellen. Und zu keiner Zeit, so hatte Scipio betont, zu keiner Zeit wären die Legionen des Tiberius Sempronius Gracchus in Gefahr gewesen.

Und so war es dabei geblieben: Für uns alle würde der Senat dem Volk von Rom dieselbe Strafe vorschlagen.

Die Strafe, die ich erdacht hatte, um unser aller Leben zu retten.

Die Strafe, die der Senat unter dem Einfluss von Scipio akzeptiert haben mochte, die das römische Volk jedoch nicht zuletzt angesichts derer, die mit mir verurteilt werden sollten, nie zulassen würde.

Dieser Gedanke erfüllte mich mit einer gewissen Befriedigung.

Die Luft des römischen Frühlings umfing uns, als wir aus der Curie traten. Der Anblick der unglaublichen Menschenmassen, die sich im Forum versammelt hatten, ließ meinen Atem stocken.

Ohrenbetäubender Lärm brach los, als die Bürger von Rom unserer ansichtig wurden. Und noch war ich nicht in der Lage, einzelne Rufe zu verstehen oder eine generelle Stimmung zu erkennen.

Die Consuln Lucius Furius Philo und Sextus Atrilius Serranus traten vor auf das rostrum und hoben die Arme. Es dauerte mehrere Minuten, bis die gewünschte Ruhe eintrat.

„Bürger von Rom“, begann Lucius Furius Philo. „Man hat euch heute hier zusammengerufen um Recht zu sprechen zum Wohle Roms. Diese Männer“, damit wandte er sich halb um und zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf uns. „Diese Männer haben das Ansehen Roms beschmutzt. Sie haben sich als Führungsstab der consularischen Legionen nicht nur einer Verhaltensweise schuldig gemacht, die beinahe den Untergang der Streitmacht zur Folge gehabt hätte, sondern sie haben mit dem Feind im eigenen Namen einen unwürdigen Vertrag geschlossen und dabei vorgetäuscht, sie würden diesen schändlichen Vertrag im Namen Roms abschließen!“

Er machte eine Pause, gerade lang genug, um die ersten Rufe „Tod den Verrätern!“, „Schlagt sie alle tot!“ und „Nieder mit den Verrätern Roms!“ zuzulassen. Einer meiner jungen Stabsoffiziere stöhnte vor Angst.

In mir töteten die Rufe die letzte verzweifelte Hoffnung, dass uns das Volk eine andere als die von mir erwählte Strafe zuerkennen würde. Ein kleiner Teil der plötzlichen großen Leere, die die verschwundene Hoffnung hinterließ, wurde gefüllt von der tröstenden Vorstellung, dass gute römische Männer neben mir stehen würden, um die gemeinsam Schande zu tilgen.

Was würde danach sein?

Doch mein Geist weigerte sich, jetzt und hier darüber nachzudenken.

„Die Anhörung des ehemaligen Consuls Caius Hostilius Mancinus, seines quaestors Tiberius Gracchus sowie der numantinischen Gesandtschaft hat bereits ergeben, dass der Vertrag nicht als für Rom geschlossen anzusehen ist“, fuhr der Consul fort. „Die anschließend von uns durchgeführte consularische Untersuchung hat die Schuld der Angeklagten zweifelsfrei erwiesen. Der Caius Hostilius Macinus“, versuchte er mit lauterer Stimme gegen die wiederaufkeimende Unruhe anzukämpfen. „Der Caius Hostilius Mancinus hat als ehemaliger Consul das Recht für sich in Anspruch genommen, selbst einen Vorschlag für eine Bestrafung zu unterbreiten. Der Senat hat den Vorschlag angenommen und möchte ihn der Volksversammlung zur Abstimmung vortragen.“

Es wurde still im Forum. Das Volk von Rom war sichtbar begierig darauf zu erfahren, welche Strafe sich diejenigen, die Rom geschändet hatten, selbst zugedacht hatten.

„Caius Hostilus Mancinus hat völlig richtig erkannt“, tönte Lucius Furius Philos Stimme überlaut über den Platz, „dass den Stadtherren von Numantia unmissverständlich gezeigt werden muss, und zwar durch Taten, nicht nur durch Worte, dass Rom sich von den Individuen distanziert, die den Friedensvertrag mit ihnen abgeschlossen haben.“ Ich konnte mich zwar keineswegs an irgendwelche Gedankengänge dieser Art bei mir erinnern, verspürte jedoch fast so etwas wie Dankbarkeit dafür, dass ich durch diese Interpretation in ein etwas besseres Licht gerückt wurde. Selbst in dieser Situation dachte ich also wie ein Politiker Roms! ‚Unsinn!’ schalt ich mich im selben Augenblick. Diese Begründung war die einzige, die sie dem Volk anbieten konnten, die es verstehen würde.

„Und so fragen wir, die Consuln Lucius Furius Philo und Sextus Atilius Serranus das römische Volk: Sollen wir hier dasselbe Recht anwenden, wie derzeit im Krieg gegen die Samniten, als die Legionen des Consuls nackt unter einem Holzjoch hindurch getrieben wurden? Sollen der Caius Hostilius Mancinus, der Tiberius Gracchus und die sechzehn Offizieren des Führungsstabes entkleidet, gefesselt und so vor die Tore der hispanischen Stadt Numantia gestellt werden, auf dass der Feind sie aufnehme und damit die Nichtigkeit des schändlichen Vertrages anerkennt?“

 

Scipio hielt den Blick gesenkt um die Reaktionen der Menge besser auf sich wirken lassen zu können. Er war so kurz davor, all seine Ziele zu erreichen! Die Demütigung des Caius Hostilius Mancinus und des Tiberius Gracchus stand unmittelbar bevor. Danach würde unweigerlich die Verurteilung des Schweinchens folgen, der genau genommen eine noch viel größere Katastrophe über Rom gebracht hatte, als diese unglückseligen Narren, die jetzt zitternd da standen und darauf warteten, dass das Volk sie nackt an die Numantiner auslieferte.

Jetzt hoben sich aus dem allgemeinen Tumult vereinzelte laute Stimmen ab. Doch als Scipio begann, einzelne Worte und Satzfetzen zu verstehen, stockte ihm der Atem.

Waren das Hochrufe?

Sein Kopf ruckte hoch.

Was passierte hier?

Mit ein paar schnellen Schritten schob sich Scipio hinter die beiden Consuln, die noch immer auf dem rostrum standen. Unten standen wild gestikulierende Menschen, und jetzt verstand Scipio auch sehr deutlich, was sie schrien. Und ihm wurde übel.

Die Menschen drängten sich nicht zu Füßen der Obersten der res publica, um den Kopf oder zumindest die Auslieferung des Gracchus und der anderen Verurteilten zu fordern, sondern um die Consuln anzuflehen, von einer Bestrafung des Tiberius Gracchus abzusehen, des Mannes, der so vielen Legionären das Leben gerettet, der einen so großen Beitrag geleistet hatte, dass die Legionen und damit die Präsenz Roms in Hispania citerior nicht untergegangen ist. Und die anderen Offiziere? Die hatten doch auch keine Schuld an dem, was geschehen war! Die haben doch nur Befehle befolgt! Der Consul, dieser Caius Hostilius Mancinus, der war doch das eigentliche Grundübel! Ein dummer Mensch, von falschem Ehrgeiz zerfressen, unfähig, möge man ihn doch bestrafen!

Panik ergriff Scipio. Gleichzeitig verfluchte er seine eigene Naivität. Er hatte den über seinen Tod hinaus wirkenden Ruf des alten Gracchus unterschätzt, nun würde er dafür bezahlen müssen. Natürlich hatten die Gracchi noch genug auctoritas um in der Volksversammlung eine ausreichende Mehrheit für Tiberius Gracchus zusammenzurufen. Und offensichtlich besaßen sie auch genug Schläue, um nicht nur die eigenen Clienten, sondern auch die Verwandten und Freunde von etlichen der Stabsoffizieren und sogar einfacher Legionäre zu mobilisieren.

Ohnmächtig musste Publius Cornelius Scipio mit ansehen, wie seine Pläne für Rom zerbröckelten, wie die Anhänger des Gracchus in einer perfekten Inszenierung genau das machten, was eigentlich Scipio’s Strategie gewesen war: Gracchus benutzte den Hostilius Mancinus als öffentliches Opfer. Und ein ehemaliger Consul war ein Opfer, das in den Augen des Volkes groß genug war, um auf weitere Opfer zu verzichten. Scipio lachte bitter auf. Er hatte den Hostilius Mancinus untergehen sehen wollen, um Rom zu ändern; Gracchus wollte seinen Fall, um den Status Quo zu erhalten. Wenn er damit Erfolg hatte, würde alles so bleiben, wie es war.

Nein.

Nicht alles.

Der Riss durch Rom war da, völlig egal, wie das hier heute ausging. Wäre alles so gelaufen, wie Scipio es geplant hatte, dann hätte der Untergang der Gracchi bewirkt, dass der Bruch nach außen hin völlig unbemerkt geblieben wäre. Man stürzte schnell und tief in Rom, und niemanden interessierte einen Monat nach dem Fall, mit wem sich der Gefallene überworfen hatte.

Doch wenn die Gracchi, so wie es momentan aussah, überlebten, musste man die Frage anders formulieren.

War ein Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus stark genug, einen offenen Konflikt mit der Familie Gracchus zu überstehen?

Oder musste die Frage lauten: War Rom stark genug, um einen offenen Konflikt zwischen Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus und der Familie Gracchus zu überstehen?

Scipio wandte sich um und wollte zurück in die Curie gehen. Dabei wäre er fast mit dem Caius Hostilius Mancinus zusammengestoßen.

Ihre Augen trafen sich.

Und für einen Moment durchzuckte Scipio die Frage, wer von ihnen beiden wohl der größere Verlierer war.

 

 

Der Mai des Jahres 618 nach Gründung der Stadt Rom

Das Lager der römischen Legionen in Hispania citerior

 

Sie marschierten schweigend.

Vor einer Woche waren sie von Tarraco aufgebrochen, und sie gingen einen Weg, den sie in den vergangenen Jahren schon oft gegangen waren.

Und am Ende des Marsches durch das hispanische Hochland erwartete sie dasselbe Ziel, wie in all den Jahren davor.

Numantia.

Doch dieser Marsch unterschied sich von all den vorangegangenen.

Nicht, weil Lucius und Antonius durch die Ankunft der Rekruten, die Rom als Ersatz für die vielen Tausend vor Pallantia gefallenen Legionäre geschickt hatte, im Rang aufgestiegen und nun Centurionen waren. Nein, was diesen Marsch zu etwas Besonderem machte, war das Ereignis, das vor ihnen lag, von Consul Lucius Furius Philo bei seiner Heeresübernahme mit knappen Worten angekündigt: Der vorrangige Zweck ihres Marsches auf Numantia war es nicht, Krieg zu führen, sondern um mit den Numantinern über ihre Haltung gegenüber Rom zu diskutieren. Bestandteil dieser Verhandlungen sei darüber hinaus ein symbolischer politischer Akt. Den Numantinern sollte ein Gefangener übergeben werden. Ein Römer.

Hätten sie es von einem anderen als ihrem eigenen Consul gehört, sie hätten es ganz sicher für eine weingeborene Lagerfeuergeschichte gehalten. Keine Rückführung von Gefangenen, wie sie nach einer Schlacht üblich war. Aber was dann? Eine Geisel? Aber auch das war schwer vorstellbar. Rom forderte Geiseln, hatte jedoch ihres Wissens nach noch nie welche gestellt.

Es war bis zum heutigen Tag ein Rätsel geblieben. Genauso wie die Identität des Gefangenen. Genau genommen wusste noch nicht einmal jemand, wo im Zug er eigentlich war.

Die Gerüchte und Spekulationen nahmen die wildesten Gestalten an. Die Legionäre begannen, Wetten abzuschließen.

Der Marsch verlief eintönig. Zumindest eines hatte Beständigkeit: Auch die Anwesenheit eines Consuls änderte nichts an der Disziplinlosigkeit der Legionäre. Und als hätte es die verheerende Niederlage vor Pallantia nie gegeben, hatte sich beim Heer auch schon wieder ein ansehnlicher Tross von Huren, Priestern und Krämern angesammelt.

Am Mittag des zwölften Tages langte das Heer vor Numantia an und errichtete in einiger Entfernung ein befestigtes Standlager. Die Wachen wurden eingeteilt, und den Rest des Tages verbrachten die Legionäre beim Würfelspiel, bei den Huren oder sonstiger Zerstreuung, die die kleine Zelt- und Wagenstadt des Trosses bot.

Lucius und Antonius hatten bei den ihnen unterstellten Legionären gerade noch die Waffen und die Ausrüstung inspiziert, die Dienste für den nächsten Tag eingeteilt und wieder einmal festgestellt, wie schwer das Leben eines Führers selbst nur einer Centurie in einem verlotterten Heer war. Sie waren dabei, sich an ihrem Feuer für die Nacht vorzubereiten; für einen kurzen Abend zunächst, gefüllt mit einsilbigen Gesprächen. Da passierte es. Ein Militärtribun erschien am Lagerplatz der Centurionen, blieb einen Augenblick unschlüssig zwischen den Feuerstellen stehen und zeigte dann mit dem Finger auf Lucius und Antonius, die zu den wenigen gehörten, die noch ihre Dienstkleidung trugen. „Du und du, mitkommen!“

Sie sahen sich an, erhoben sich langsam und folgten dem Tribun unter den neugierigen Blicken ihrer Kameraden.

Ein eigenartiges Gefühl beschlich Lucius, als er merkte, dass sie direkt zu dem Teil des Lagers gingen, in dem der Führungsstab der consularischen Legionen einschließlich dem Consul selbst untergebracht waren. Was hatte das zu bedeuten? Was konnten Legaten, Tribunen oder vielleicht gar ein Consul von einfachen Centurionen wollen? Um Befehle zu überbringen hätte auch ein Melder ausgereicht.

Vor einem Zelt blieben sie stehen. Lucius fiel auf, dass es völlig schmucklos war, und dass auch ein Wimpel oder eine Standarte fehlte. Der Tribun wandte sich um. „Ihr werdet euch morgen früh nach der Morgenmahlzeit genau hier einfinden. Seht zu, dass eure Waffen und Rüstungen geputzt sind. Auf euch wartet morgen eine besondere Aufgabe.“

„Und was soll das für eine Aufgabe sein?“ fragte Antonius.

Der Tribun, der sich schon wieder abgewandt hatte, fuhr herum und schaute irritiert. Es war offensichtlich, dass er es nicht gewöhnt war, dass seinen Befehlen noch irgendwelche Fragen folgten. „Ihr werdet morgen Vormittag nach der Befragung der Götter den Gefangenen an die Numantiner übergeben.“

 

Ich konnte die Enge des Zeltes nicht mehr ertragen. Nein, es war nicht die Enge, es war, dass mich die Zeltwände blind machten, ich jedoch fast jedes gesprochene Wort draußen verstehen konnte. Doch viel schlimmer waren die Worte und Sätze, die ich nicht verstand, denn sie ließen meine Phantasie wuchern. Mein übernächtigter Geist tat sein Übriges.

Mein Blick streifte das unberührte Tablett mit dem Weißbrot und dem Obst, das man mir zum Frühstück gebracht hatte. Sofort revoltierte mein Magen. Ich brach auf die Knie zusammen und versuchte, den Speichelströmen in meinem Mund Herr zu werden. Dass ich mich übergeben und meine prächtige Offiziersuniform besudeln könnte, die anzuziehen man mir befohlen hatte, war nicht zu befürchten. Mein Magen hatte bereits gestern Mittag aufgehört, Nahrung bei sich zu behalten.

Meine Gedanken wirbelten durcheinander und ließen sich nicht in einen fassbaren Strom bündeln. Ich hatte tausend Bilder gleichzeitig vor meinem inneren Auge. Meine Blase drückte schon wieder schmerzhaft, doch wie die anderen unzähligen Male an diesem Morgen fand ich nicht den Mut, nach draußen zu gehen und mich dort zu entleeren. Stattdessen stellte ich mich wieder in die eine, die dunkelste Ecke des Zeltes und erleichterte mich hier.

Ich hatte meine Kleider noch nicht wieder geordnet, als die Zeltbahn am Eingang zur Seite geschoben wurde. Consul Lucius Furius Philo trat ein und stockte einen Augenblick. Ein leicht angewiderter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Meine Ohren brannten wie die eines Zehnjährigen, den man verbotenerweise in der Speisekammer erwischt hatte.

„Es ist soweit“, sagte er knapp, wobei er meinem Blick auswich. Dieser Mann, der mich vor etwas mehr als einem Jahr in sein Haus eingeladen hatte, der mich seiner Freundschaft und jeder nur erdenklichen Unterstützung versichert hatte, der mir die Türen in die Kreise geöffnet hatte, die mich bislang verschmäht hatten, der mir so oft freundschaftlich den Arm um die Schulter gelegt hatte, dieser Mann wagte es jetzt nicht, mir in die Augen zu sehen.

Und ich verdrängte auch die anderen Bilder, die Bilder von Lucius Furius Philo in der Curie, wie er mich unerbittlich angesehen, mir da direkt in die Augen gesehen und mich des Verrats an Rom beschuldigt hatte, und trat an ihm vorbei ins Freie.

Vor dem Zelt standen zwei junge Centurionen, die ihre Überraschung bei meinem Anblick nur schlecht verbergen konnten. Aber was hatte ich erwartet? Dass ich unerkannt der größten Schande meines Lebens würde entgegengehen können?

Die Einholung der Zeichen war schon beendet, als wir – zu meiner großen Erleichterung – den Rand des Lagers erreichten. Zwei Priester aus den Reihen der fetiales gesellten sich zu uns, und zu fünft schritten wir auf den Stadtberg von Numantia zu. Mein Köper gehörte mir nicht mehr. Er war nur noch ein Werkzeug, das meinen Geist und meine Schande transportierte. Ich spürte einen kalten Luftzug im Gesicht und bemerkte, dass meine Wangen tränennass waren.

Als wir uns dem Stadttor bis auf etwa einhundert Schritte genähert hatten, wurde mir bedeutet, stehen zu bleiben. Ich schloss die Augen in dem Wissen, was jetzt kommen würde.

Als ich die Hand eines der Tribunen spürte, regte sich in mir ein letzter Funke des Widerstands. Ich öffnete die Augen und schüttelte mit einem Ruck die Hand des Mannes ab. Ich öffnete die Fibel, die meinen Umhang am Hals hielt, und ließ den Stoff achtlos zu Boden fallen. Mit Augen, die nichts sahen, die nur vor sich hinstarrten, löste ich die Riemen meines Brustpanzers und legte ihn samt meiner Rangabzeichen auf den Umhang. Mechanisch fassten meine Hände den Helm, hielten ihn einen Augenblick, bevor sie ihn denselben Weg gehen ließen wie die anderen Teile meiner Uniform. Erst jetzt sah ich die Männer an, die mich hierher geführt hatten. Diese schauten verlegen zu Boden. Und ich verstand. Mit einer langsamen Bewegung zog ich mir die Tunika über den Kopf, so dass ich nur noch im Schamtuch dastand.

Jetzt traten die Centurionen auf mich zu, drehten mich um und banden mir die Hände auf dem Rücken zusammen. Dann packten sie mich an den Oberarmen und schoben mich vorwärts auf das Stadttor zu. Die Priester folgten in einiger Entfernung. Dreißig Schritt davor blieben wir stehen, und ich wurde an den bereits in die Erde eingeschlagenen Pfahl gebunden. Die Priester riefen Jupiter an, als Zeuge für die Ungerechtigkeit, die Rom drohte, und wiederholten dieselbe Formel dreimal in Richtung Numantia. Dann machten die Priester und die Centurionen kehrt und ließen mich zurück.

Der Wind war noch kühl, doch er trug in sich bereits Spuren der Wärme des Mittags. Ich ließ meinen Blick über die vor mir aufragenden Stadtmauern von Numantia gleiten. Nichts. Kein Mensch zeigte sich. Obwohl oder gerade weil sie wussten, dass ich hier stand, denn der Consul Lucius Furius Philo hatte es sich gestern Nachmittag gleich nach unserer Ankunft nicht nehmen lassen, den Stadtherren von Numantia durch einen Boten mitteilen zu lassen, dass ich heute hier zur Auslieferung bereitstehen würde.

In meinem Rücken spürte ich selbst über die große Entfernung hinweg die Blicke aus dem Lager. Ich wusste (oder ahnte zumindest), dass sie dort drüben Wetten darüber abgeschlossen hatten; Wetten, ob und wann die Numantiner das Tor öffnen würden; Wetten darüber, wann ich zusammenbrechen oder versuchen würde, wegzulaufen.

Sie würden in jeder Hinsicht enttäuscht werden.

Alle.

Die Zeit verging. Mein Rücken begann zu schmerzen. Ich war es nicht gewohnt, so lange ruhig an einer Stelle zu stehen. Ein leichtes Hungergefühl meldete sich. Der Durst würde erst später kommen, am Nachmittag, wenn mir die Sonne direkt ins Gesicht scheinen würde. Ich blickte an mir herunter. Die Haut meines Oberkörpers war blass, mein Bauch trat unschön hervor, während meine Brust trotz der auf dem Rücken gebundenen Arme eher eingefallen wirkte. Ich schüttelte den Kopf. Es war so lächerlich, dass ich mir jetzt Gedanken darüber machte. Aber irgendwie war ich dankbar dafür, dass mich die Schwäche meines Körpers vom Nachdenken über andere Dinge abhielt.

Ich verspürte schon wieder ein Ziehen in der Blase. Eine kleine Weile kämpfte ich dagegen an, doch dann siegte die Gleichgültigkeit. Ein warmer Strom lief an meinem Bein herunter, während der leichte Wind kühl in mein durchnässtes Schamtuch fuhr. Meine Demütigung war vollkommen. Plötzlich verspürte ich ein kurzes, heftiges Stechen in der Brust, das auch sofort wieder verschwand und einer unglaublich angenehmen inneren Wärme Platz machte.

Ich wurde ruhig.

Ich war am tiefsten Punkt meines Absturzes angekommen.

Ab jetzt war ich unverwundbar.

Doch einen großen Nachteil hatte diese Ruhe, denn nun begann mein Geist von sich aus, klar zu denken. Allerdings verschwendete er keinen Gedanken an eine numantinische Gefangenschaft. Ein Rhetogenes war zu intelligent, um auf diesen simplen Trick hereinzufallen. Aber vielleicht verstanden sie ja auch gar nicht die Logik, die römische Logik, die dahinter stand? Ich versuchte, mich für einen Augenblick in Rhetogenes hineinzuversetzen. Warum sollte ich an seiner Stelle einen gestürzten Consul aufnehmen? Er war kein Druckmittel, es gab kein Lösegeld, er war schon zu Zeiten, als er noch im Amt gewesen war, so unwichtig gewesen, dass ich lieber mit einem seiner untergebenen Beamten verhandelt habe. Also, was sollte es mir bringen, außer dass ich damit die Ablehnung des geschlossenen Friedensvertrages durch den römischen Senat anerkannte?

Nein, eine numantinische Gefangenschaft war sicher das letzte, worüber ich mir Gedanken machen musste.

Am späten Nachmittag erschien meine Familie vor meinem inneren Auge. Und während meine Frau eine undeutliche Schattengestalt blieb, hatte ich bei meinen Kindern das Gefühl, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um sie berühren zu können.

Doch meine Hand war gefesselt.

 

Das Gedränge auf der Stadtmauer war unerträglich. Für einen Augenblick verspürte Rhetogenes den starken Drang, seinen Kriegern zu befehlen, die Mauer von den Gaffern zu räumen. Für das, was dieser Hostilius Mancinus getan hatte, dafür mochte er nach römischem Recht vielleicht sogar seine Hinrichtung verdient haben. Aber das hier? Das hatte niemand verdient! Rhetogenes schüttelte den Kopf. Er hatte gedacht, dass er die Römer kannte. Aber welches Gemeinwesen demütigte seine höchsten Vertreter im Angesicht des Feindes?!

Links und rechts von ihm standen Theogenes und Avaros, beide gleichermaßen sprachlos ob des Schauspiels, das sich dort unten am Fuß ihrer Hügelstadt bot.

„Wenn ich damit nicht das Signal für den sofortigen Angriff auf uns geben würde, würde ich den armen Teufel da unten mit einem gezielten Pfeil von seinen Leiden befreien“, sagte Theogenes. „Du hast wieder einmal recht gehabt. Wahrscheinlich wünscht er sich gerade wirklich, dass sie ihn einfach nur hingerichtet hätten.“

„Weißt du, was das eigentlich Kranke an dieser ganzen Situation ist?“ fragte Rhetogenes. „Selbst wenn wir drei dort runter gehen und den ehemaligen Consul mit der Falcata den Kopf abschlagen würden, würde kein Römer auch nur einen Finger rühren, um das zu verhindern oder wenigstens zu rächen.“

„Du weißt, was das bedeutet?“ ließ sich Avaros mit heiserer Stimme vernehmen.

Rhetogenes sah ihn aus müden Augen an. „Ja“, sagte er leise. „Rom ist ab jetzt nicht mehr berechenbar. Was haben wir von einem Volk zu erwarten, das so mit seinen Führern umgeht?“

 

Die Sonne war in einem prächtigen Farbenspiel aus Rot, Gold, Grau und einem tiefen Blau hinter den Bergen verschwunden. Eine gespannte Ruhe hatte den ganzen Tag über dem Lager gelegen. Selbst die Händler hatten heute auf das lautstarke Anpreisen ihrer Waren verzichtet. Als die Sonne zu sinken begonnen hatte, war klar geworden, dass sich das Stadttor von Numantia nicht mehr öffnen würde.

Es wurde noch einmal nach den Priestern geschickt, um die Zeichen zu deuten.

Der Militärtribun hatte Lucius und Antonius wieder zu sich rufen lassen, diesmal durch einen Melder. Schweigend stapften sie zu dem ihnen angegebenen Ort am östlichen Rande des Lagers.

Der Tribun erwartete sie bereits. „Na endlich!“ knurrte er, als sie vor ihm standen. „Holt ihn wieder ins Lager und bringt ihn zu seinem Zelt.“

Lucius und Antonius blieben unschlüssig stehen.

„War mein Befehl nicht klar genug?“ bellte der Tribun.

„Doch, Tribun“, antwortete Antonius. „Nur … was wird dann?“

„Wie ‚Was wird dann?’?“

Antonius holte Luft. „Nun, was passiert jetzt mit dem ehemaligen Consul?“

Der Tribun zuckte mit den Schultern. „Was soll passieren? Er hat seine Strafe erhalten, also wird er nach Rom zurückkehren. Und dort mag er sehen, wo er bleibt.“

„Sollen wir Wachen vor seinem Zelt postieren?“ fragte Lucius.

„Wozu? Er ist kein Gefangener mehr. Er ist gar nichts mehr. Wovor sollte er nach heute noch fliehen? Oder wer würde sich mit ihm abgeben wollen? Und jetzt seht zu, dass ihr ihn herholt, ehe es dunkel wird!“ Damit wandte er sich ab und ging.

Ihre Schritte wurden unwillkürlich langsamer, als sie sich der Gestalt näherten, die unbewegt das Gesicht dem Stadttor von Numantia zugewandt hielt. Er schien sich nicht einmal einen Fußbreit von der Stelle wegbewegt zu haben, an der sie ihn heute früh zurückgelassen hatten.

Lucius und Antonius zögerten einen Augenblick, dann traten sie näher. Caius Hostilius Mancinus schien sie nicht zu bemerken. Die beiden sahen sich an.

Antonius hustete gezwungen.

Noch immer keine Reaktion.

Sie nickten sich zu und machten einen Schritt vorwärts.

Plötzlich drehte sich Caius Hostilius Mancinus unvermittelt um.

Lucius und Antonius erstarrten in der Bewegung. Sie blickten in die leeren Augen eines gebrochenen Mannes. Lucius krampfte sich der Magen zusammen, als er die schwarzen Ringe unter den Augen sah, den getrockneten Rotz auf der Oberlippe, das besudelte Schamtuch, die schmutzigen Füße.

Ihr ehemaliger Oberfeldherr bot einen schlimmeren Anblick als ein Bettler in den Straßen Roms.

Antonius trat hinter Caius Hostilius Mancinus, zog sein Schwert und schnitt die Fesseln durch. Lucius bückte sich, hob die am Boden liegenden Kleidungsstücke auf und legte dem ehemaligen Consul seinen Umhang um die Schultern. Dann nahmen sie ihn in ihre Mitte und traten den Rückweg an. Sie achteten darauf ihn nicht zu berühren, behielten ihn aber im Blick, um ihn auffangen zu können, sollten seine Beine den Dienst versagen.

Unbeachtet erreichten sie das Lager, und auch auf dem Weg zum Zelt des Hostilius Mancinus wurde ihre kleine Gruppe ignoriert, als wäre sie unsichtbar. Vor dem Zelteingang blieben sie stehen. Nein, nur Lucius und Antonius blieben stehen. Caius Hostilius Mancinus lief einfach langsam weiter, schob die Zeltbahn etwas zur Seite und verschwand.

Die beiden Freunde blieben noch einen Moment lang unschlüssig vor dem Zelt stehen und lauschten angestrengt.

Doch es blieb still.

 

Ich hatte geglaubt, dass meine Demütigung mit dem Sinken der Sonne beendet war. Wie so vieles im letzten Jahr, erwies sich auch das als ein Irrtum. Meine öffentliche Demütigung mochte beendet sein, doch die stille, unbewusste Demütigung durch Rom hatte gerade erst begonnen.

Kein Consul war erschienen, um mich von den Toren Numantias abzuholen, auch kein Tribun oder Legat. Zwei einfache Centurionen war ich Rom wert gewesen! Doch was hatte ich erwartet? Dass Lucius Furius Philo höchstselbst kommen und mir einen Umhang umlegen würde, weil ich durch meine persönliche Schande die Ehre Roms wiederhergestellt hatte?

Woher nahm mein geschundener Geist eigentlich noch die Kraft zynisch zu sein?

Der Marsch zurück hatte dem Wandeln eines Schattens in tiefdunkler Nacht geglichen. Niemand hatte uns empfangen, niemand schien uns auch nur wahrgenommen zu haben. Ich war Bestandteil des Dienstplanes zweier Centurionen geworden. Wachen einteilen, Waffenreinigen, einen ehemaligen Consul vor den Toren einer feindlichen Stadt abholen, Abendessen.

Ich stand verloren im Zelt. Meine Sachen, in denen ich zu meiner Entehrung gegangen war, lagen jetzt sicher draußen vor dem Zelteingang. Irgendjemand hatte mir eine frische Tunika und meine persönlichen Sachen, ja, sogar meinen Dolch in mein Zelt bringen lassen. In einer Ecke stand ein Krug mit Wasser, ein wenig Brot und etwas Obst. Ich zündete zunächst meine kleine Öllampe an, nahm dann ein paar tiefe Züge aus dem Krug, den Rest benutzte ich, um mich etwas zu reinigen. Zwischendurch schlang ich ein paar Bissen Brot herunter. Als ich mich zumindest äußerlich etwas gereinigt fühlte, ließ ich mich auf dem Boden nieder und aß den Rest des Brotes und die Früchte.

Ich verspürte Hunger, also lebte ich.

Aber ich existierte nicht mehr.

Ich begann zu zittern, als mich diese Erkenntnis mit all der ihr innewohnenden Kraft traf.

Plötzlich stand mir wieder das Bild von meinen Kindern vor den Augen. Ich versuchte, mir mein Haus vorzustellen, mein Zuhause.

Es gelang mir nicht.

Doch das Bild von Marcus und der kleinen Fannia blieb.

Es wäre mir nach römischem Recht auch als gestürzter Consul ein Leichtes, meiner Frau meine Kinder wegzunehmen. Doch wollte ich das? Konnte ich das verantworten? Was tat ich ihnen damit an? Waren sie nicht viel besser dran dort wo sie jetzt waren? Ohne mich? Wäre es nicht sogar besser für sie, wenn ich tot wäre? Noch war mein Sohn zu jung um zu begreifen was in den letzten Monaten passiert war. Wenn ich jetzt verschwand, würde er mich vielleicht vergessen. Mit etwas Glück wurde er vielleicht von einer anderen, glücklicheren Familie adoptiert.

Und vielleicht würde ja zu dem Zeitpunkt, wenn er ein eigenes Leben beginnen würde, auch Rom vergessen haben, wessen Sohn er war.

Was trieb mein Verstand da für ein Spiel mit mir? Ich war nicht tot! Ich war nicht im Kampf gefallen, Rom hatte mich nicht hingerichtet, und es gab niemanden, der mir nach dem Leben trachtete. Ich war zu unwichtig, als dass jemand Befriedigung darin finden könnte, mich umzubringen. Die infamia hatte mich eingeholt. Nach meiner Rückkehr nach Rom würde ich ein Niemand sein, angewiesen auf die Milde der wirklich Mächtigen, zu denen ich nie gehört hatte, dieselben, die mich gestürzt hatten. Nur Dank ihrer Gnade dürfte ich weiterexistieren, denen, die mich zerstört hatten, für diese gewährte Milde, mit der sie sich würden schmücken können, zu ewigem Dank verpflichtet. Ein Wurm, der dahin zu kriechen hatte, wo ein Scipio oder Furius Philo es wünschten.

Sollte ich selbst …?

Wie von selbst fand mein Dolch seinen Weg in meine Hand. Der Zeigefinger prüfte die Spitze, der Daumen die Klinge. Eine Handlänge Stahl an der richtigen Stelle, und …

In meinem Hinterkopf war da plötzlich ein anderer Gedanke, und er war so ungeheuerlich, dass er wuchs und wuchs, bis kein anderer Gedanke mehr in meinem Kopf Raum hatte.

Das Blut rauschte in meinen Ohren, und ich fühlte ein heftiges Schwindelgefühl. Ich versuchte, an etwas anderes zu denken, doch der Gedanke war zu stark. Er fegte alles andere zur Seite.

Ich merkte, wie sich mein Geist von meinem Körper trennte. Ich war willenlos, meine Gliedmaßen wurden nur durch diesen Gedanken gelenkt.

Ohne dass ich es wollte oder beeinflussen konnte stand ich auf. Ich stand und lauschte, doch draußen war alles ruhig. Meine rechte Hand umkrampfte den Griff des Dolches. Einen Augenblick lang lehnte sich mein Körper noch gegen den Gedanken auf.

Ich schloss die Augen.

Und öffnete sie wieder.

Meine rechte Hand hob den Dolch. Mühelos durchstieß die Waffe die Zeltbahn und schlitzte sie von oben bis unten auf.

Diesmal zögerte ich nicht.

Ich stieg durch den Schlitz in die Dunkelheit, in die immer noch warme Luft der Nacht.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.11.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /