Es regnet. Ich bin durchnässt und durchgefroren, als ich vor dem Anwesen stehe, welches im Dunkel der Nacht inmitten eines kleinen Waldgebietes schon recht ausladend wirkt. Es ist weniger das Aussehen, was dieses Gebäude abschreckend wirken lässt, sondern das Drumherum. Das große Tor zur Einfahrt, dem man die Zeichen der Zeit langsam ansieht, die Hopfenranken, die sich unaufhaltsam zwischen die Gitter des Tores zwängen und förmlich zu sagen scheinen, dass Besuch nicht willkommen ist. Das Anwesen ist auf den ersten Blick in einem noch recht guten Zustand und doch kann man bei genauerem Hinsehen erkennen, dass die richtige Pflege schon vor geraumer Zeit aufgegeben wurde. An einigen Stellen blättert der blassgelbe Putz von den Wänden. Die imposanten Holzbalken der Dachgiebel, die in alten Tagen Besuchern vermittelte, dass hier jemand Bedeutendes wohnte, haben an ihrem Glanz verloren und ragen, gegerbt von den Witterungseinflüssen, achtlos wie der bröckelnde Putz an der Fassade. Der breite, sich vom Tor bis hin zum Eingangsbereich des Hauses in geschwungenen Formen laufende Kiesweg, ist durchdrungen von Unkraut, Laub und Moos. Fast kahle Bäume umringen das mittlerweile verwilderte Grundstück und lassen es fast unbewohnt wirken. Ich denke mir still, dass ich mitten im tiefsten Herbst auch keine große Gartenpflege mehr betreiben würde und lasse meinen Blick weiter wandern. Im hinteren Teil des Hauses brennt Licht und hüllt die Frontfenster in einem sanften Schein.
Er ist also zu Hause. Wird wahrscheinlich gemütlich vor seinem Fernseher sitzen, nicht ahnend, dass er beobachtet wird. Ich lasse mir Zeit, während ich das Grundstück vorerst nur mit den Augen erkunde und nach dem corpus delicti Ausschau halte. In einem kleinen Verschlag, leicht abseits des Herrenhauses, werde ich fündig.
Er steht in seinem Nachtlager, sorgsam eingeparkt und unscheinbar versteckt vor neugierigen Blicken. Der sanfte Lichtstrahl aus den hinteren Fenstern des Hauses erhellt das Heck des Vans gerade noch so, dass ich durch den Regen dessen silbergraue Farbe erahnen kann. Ich will mir den Wagen aus der Nähe ansehen. Ich muss es. Muss mir sicher sein, auch wenn sich in mir mittlerweile kein Funken Zweifel mehr regt. Ich schaue mich um. Umrunde das Anwesen auf der Suche nach einer möglichst unauffälligen Möglichkeit auf das Grundstück zu gelangen, bleibe letztendlich wieder an den beiden Torflügeln stehen und ein Lächeln zeichnet sich auf meinem Gesicht ab.
Besser kann es ja gar nicht laufen. Das Schwein, das ich bald besuche, lebt abgeschieden und allein - und im Umkreis von vielen Kilometern wohnt nicht eine Menschenseele. Das wird mir viel Zeit verschaffen, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Ich habe fest damit gerechnet, dass ich um einiges besonnener und wachsamer vorgehen müsste, wenn ich „meinen neuen Freund“ besuche. Doch so kann ich es ganz entspannt angehen lassen - ganz nach dem Motto „Am auffälligsten, ist am unauffälligsten“. Doch heute muss ich noch Vorsicht walten lassen.
Meine Versuche, über die hohe Grundstücksmauer auf das Anwesen zu gelangen, scheitern am Regen, der die Mauer, mit seinem recht dichten Moosbewuchs und dem darin eingeschlossenen Staub und Dreck der vergangenen Jahre, einfach zu glitschig macht um wirklich Halt finden zu können. Dann werde ich wohl oder übel über das Eingangstor klettern müssen. Ich zögere kurz, balle meine Hände um eine der Streben, die das Tor in seiner Form hält und ziehe mich hinauf, was leichter gesagt als getan ist, da mein ganzer Körper von den Strapazen der letzten Stunden schmerzt. Vor allem meine Hände bereiten mir Probleme, da sie durch die Wunden und dem Wetter fast steif und unbeweglich geworden sind.
Beim Hinablassen auf der anderen Seite stelle ich fest, dass sich die Torflügel leicht auseinander bewegt haben. Als ich festen Boden unter den Füßen habe, prüfe ich vorsichtig, wie weit die marode Tormechanik ein Öffnen der Flügel zulässt. Das zaghafte Quietschen des Metalls wird vom Regen übertönt und ich kann gefahrlos feststellen, dass der Spalt groß genug für meine Person ist. Gut zu wissen. Das Schicksal ist auf meiner Seite.
Um nicht versehentlich eine Lichtanlage auszulösen schleiche ich, mich nah an der Grundstücksmauer haltend, über das Anwesen bis hin zu dem kleinen Verschlag, in dem ich nur wenige Momente zuvor den silbernen Van ausgemacht habe.
Da ist er. Der Wagen sieht aus wie neu. Nicht ein Kratzer ist zu sehen. Unglaublich gepflegt - oder eher zu gepflegt. Bei dem Wetter erwarte ich etwas Schmutz am Wagen, dreckige Radlager und Laubteile an der Windschutzscheibe. Doch nichts dergleichen. Der Van steht da. Unberührt, als wäre er lange nicht gefahren worden und doch täglich geputzt. Ich streiche mit meiner blutverkrusteten Hand über die Karosserie. Kälte und ein Schaudern überkommen mich, als ich mit ihr über den rechten Kotflügel wandere. Die Spaltmaße stimmen nicht und es wurden Beulen ausgebessert. Keine perfekte Arbeit, aber gut genug um zu verschleiern, zu welch grausamer Tat dieses Objekt missbraucht wurde.
Ich spüre ein stärker werdendes Zittern in meiner Hand, welches sich langsam auf meinen Körper ausbreitet. Mein Herz rast und pocht als wolle es aus meiner Brust springen. Ich schließe meine Augen, halte die Luft an und versuche einen klaren Gedanken zu fassen. Ich löse mich von dem Auto und lege meine Hände ineinander. Die Rechte ballt sich zu einer Faust, solange bis sich die Nägel in meinen Handballen bohren und mich der leichte Schmerz langsam zurückbringt. Ich werde ruhiger. Das Atmen fällt mir leichter und ich öffne die Augen. Genug für heute!
Ich gehe zurück und verlasse das Grundstück auf dem leichten Weg. Ein letztes Mal blicke ich zum Haus zurück. Ich werde ihn besuchen aber nicht jetzt. Für heute habe ich genug Informationen gesammelt. Meine Hände sind verkrampft und ich zittere am ganzen Körper. Nur diesmal ist es allein dem nasskalten Wetter geschuldet. Ich hätte mir einen angenehmeren Tag aussuchen sollen, doch wollte ich nicht mehr warten - konnte es nicht mehr.
Die Suche nach ihm hat so lange gedauert, dass sich merklich das Gefühl einschleicht, mein altes Leben zu vergessen und dass meine Vergangenheit in einem grauen Nebel verschwindet. Die Zeit, in der ich jeden Strohhalm genutzt habe meine Vergangenheit so farbig und lebendig wie möglich zu halten, ist vorbei.
Der Familienvater ist tot und der Racheengel ist erwacht.
Es ist Ostern. Als ich wach werde nehme ich den zaghaften Geruch von Kaffee wahr. Die ersten Sonnenstrahlen fallen durch das Dachfenster, als sich langsam die Tür ins Schlafzimmer öffnet und meine Tochter Michelle und meine Frau Victoria gemeinsam hereintreten. Victoria bringt mir Frühstück ans Bett. Als sie sich hinunterbeugt, fällt eine Strähne ihres wunderschönen rotblonden Haares in ihr Gesicht. Ich streiche die Strähne beiseite, lasse langsam meine Hand in ihren Nacken gleiten, schaue in ihre wunderschönen, grünblauen Augen und küsse sie sanft auf ihren lieblichen, blassroten Mund.
Währenddessen hat sich Michelle vorsichtig in unser Bett geschlichen und neben mir in die Decke gekuschelt. Begleitet von einem »Bäh!« und »Eklig!«, schmiegt sie sich an meine Schulter und klaut mir gekonnt mein Croissant vom Tablett. Für ihre sieben Jahre hat sie es faustdick hinter den Ohren. Ich lache sie an und fahre mit meiner Hand über ihre braunen Haare, die sie eindeutig von mir geerbt hat. Zusammen mit den Augen ihrer Mutter verleihen sie ihr ein wunderschönes Aussehen. Für fast jeden Vater ist die eigene Tochter die schönste auf Erden und doch kann ich auch außenstehend sagen, dass sie uns unglaublich gut gelungen ist.
Ich genieße meinen Kaffee und die Ruhe, bevor es in den Tag geht. Meine beiden Frauen scheinen schon fleißig gewesen zu sein, da Michelle mich regelmäßig auffordert, doch endlich mal aus dem Bett zu kommen. Nach ein paar Schlucken Kaffee und noch etwas übermüdet gebe ich ihrem Drängen nach, ziehe mir schnell etwas über und lasse mich, ihre kleine Hand in meiner, durch unser Haus führen.
Schön geschmückt haben die beiden es. Überall sind kleine Osterglockengedecke und kleine Osterhasen verzieren Tische und Fenstersimse. Drei große Ostergedecke mit Schokoladeneiern und -hasen stehen auf unseren Wohnzimmertisch. Alles ist perfekt und doch regt sich in mir das Gefühl, dass dieser Zustand nicht von Dauer sein wird - als ob jemand etwas gegen dieses Glück zu haben scheint.
Es ist fast Mittag und trotz der Feiertage muss ich noch einmal ins Büro um einige Daten zu sichern und die Papiere für mein Projekt zu überprüfen, dessen Abgabetermin unmittelbar bevorsteht. Ich bedaure, dass ich den Tag mit meiner Familie nicht wirklich genießen kann. Wie gern wäre ich dabei, wenn Victoria voll Vorfreude Ostereier und Schokohase versteckt
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 02.05.2014
ISBN: 978-3-7368-0712-9
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