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Kapitel 1

„Feline, das Kleid steht dir wirklich gut“

Meine Mutter schmachtete schon den ganzen Abend. Als sie mir die Haare glättete, musste ich mich zusammenreißen um nicht genervt zu stöhnen, ich hätte viel lieber meine Locken behalten.

Jetzt standen wir beide vor dem großen runden Spiegel in ihrem Schlafzimmer.

Ich musste zugeben, das schlichte dunkelgrüne Kleid an sich sah nicht schlecht aus, und es passte auch recht gut zu meinen rotbraunen Haaren, doch das Problem war, dass ich einfach viel zu schmächtig war, um in irgendeinem Kleidungsstück eine relativ gute Figur machen.

„Du hast so hübsche Augen, mein Schatz. Ich wünschte, ich hätte so ein tolles Grün. Und, ach dieses Kleid...“

„Jetzt übertreib nicht, Mom. Das Kleid ist ganz hübsch, aber...“

„Kein Aber“, unterbrach sie mich. „James!“

„Ja?“, rief aus der Küche der Verlobte meiner Mutter. Mein Vater war vor 9 Jahren bei einem Flugzeugabsturz – er hatte als Pilot gearbeitet – ums Leben gekommen. James als Polizist war in Ordnung.

„Schau dir nur dieses Kleid an! Wie weit bist du mit dem Abendessen? Und du musst den Wagen noch aus der Garage holen... Ach du liebes bisschen“, zerstreut und gehetzt schaute sie auf die Uhr über dem Doppelbett, „die Zeit rennt davon, Feline, du kommst noch zu spät! Jetzt trödle hier nicht so herum!“

Es war offensichtlich, wer von uns beiden aufgeregter war.

Meine Mutter schubste mich ziellos hin und her, machte Fotos, und schaute auf die Uhr. Ständig.

Dabei wäre es mir egal gewesen, wenn ich zu spät zu diesem blöden Ball käme. Ich wollte da nicht hin. Aber zwei Freundinnen, Alex und Michelle hatten darauf bestanden und als meine Mutter davon auch noch Wind bekam, hatte ich absolut nichts mehr zu sagen.

„Und bring mir ein Bild von dir und einem hübschen, vernünftigen jungen Mann mit!“, scherzte sie, als ich vor dem dunkelblauen Ford Mustang – dem Schmuckstück von James – stand und gerade einsteigen wollte.

„Als ob du nicht schon genügend Fotos heute von mir gemacht hast.“ Den zweiten Teil ihrer „Bitte“ ignorierte ich einfach mal.

„Du wirst 17, du musst dich endlich mal verlieben!“

„Ich hab wichtigere Dinge zu..“

„Wie auch immer, heute hast du mal Spaß, versprochen?“ Ihre Lieblingsbeschäftigung war, mich zu unterbrechen.

„Ja ja.“, antwortete ich des Friedens Willen.

Meine Mutter umarmte mich noch einmal bevor ich ins Auto stieg und küsste James auf die Wange.

Die Autotüren knallten zu, der Motor heulte auf und der Wagen fuhr los.

 

„Darf ich dir einen Drink holen?“, fragte mich einer der Abgänger mit Schlips und ziemlich viel Gel in den Haaren.

„Nein danke.“, antwortete ich höflich aber entschlossen. Ich wollte mich hier nicht auch noch betrinken.

„Ach Feli, jetzt hab mal Spaß. Der Kerl sah doch gut aus, und er ist einer der Abgänger!“ Michelle und Alex saßen mit mir an der Bar und schmollten.

„Du klingst wie meine Mutter, Alex“, grinste ich sie an.

Michelle gluckste und verzog gleich darauf jedoch wieder das Gesicht.

„Du siehst so gut aus, dir rennen die Typen hinterher. Mich und Alex hat noch keiner gefragt und du weist sie alle ab.“

„Dich haben schon zwei gefragt, Elly.“, erinnerte sie Alex.

„Ja, aber der eine sah seltsam aus und der andere war zwei Jahre jünger.“

Ich schnaubte amüsiert. Michelle war anspruchsvoll.

Auf einmal wechselte die Musik wieder auf etwas Schnelleres.

„Na endlich, dieses schmalzige, langsame Jaulen ging mir aber auch auf die Nerven.“, maulte Alex.

Elly setzte zu einer Beschwerde zu ihrem Musikgeschmack an, als sich uns wieder ein Typ näherte. Diesmal kam er allerdings auf Alex zu, seine Augen hatten einen ziemlich nervösen Ausdruck. Er hatte schulterlange Rasterlocken und einen etwas dunkleren Hauttyp, wenn er auch nicht so dunkel war wie Alex'.

Ich schaute zu ihr und zwinkerte ihr zu und sie versuchte ein Grinsen zu unterdrücken und schnaubte.

„W- Willst du tanzen?“, fragte der Kerl bemüht selbstbewusst, allerdings in einem Abstand von mehr als zwei Fuß zu uns, als würden wir jederzeit zuschnappen können.

Hinter meinem Rücken spürte ich, wie Elly ihren Arm nach Alex ausstreckte und ihr ermutigend – oder auch drängend – leicht auf den Arm schlug.

„Hm.. Warum nicht.“ Alex bemühte sich um einen desinteressierten Ton, doch man spürte ihre Freude und auch Nervosität.

Sie stand auf und rückte ihr knallig rotes Cocktailkleid zurecht, bevor sie die ausgestreckte Hand des Typen annahm.

Elly seufzte. Auch sie zupfte nun nervös an ihrem rosa Prinzessinnenkleid herum.

„Warum fragst du nicht selber jemanden, der dir gefällt?“, schlug ich vor, als ich ihre bedrückte Miene sah.

„Pff, ein Mädchen sollte auf einem Ball nicht selber fragen müssen. Das haben die Männer zu tun.“

„Und wenn sie sich nicht trauen, dich zu fragen? Ich bin mir sicher, hier sind mindestens sechs Stück, die sich einfach nicht trauen.“

„Bin ich so angsteinflößend?“, fragte sie mich grinsend, aber auch mit einer winzigen Spur Besorgnis in den Augen.

„Nur ein bisschen. Nein, aber vielleicht denken sie einfach, du bist eine Nummer zu hoch für sie.“
Ellys Selbstbewusstsein musste immer ein wenig mit Sorgfalt bedacht werden, außerdem gefielen ihr Komplimente. Man konnte sich bei Elly super durch ein paar nette Worte einschleimen, wenn man sie um etwas bitten wollte. Falls sie es nicht schon freiwillig tat.

Sie verdrehte bemüht gleichgültig die Augen, aber nach einer halben Minute stand sie auf, schaute mich vielsagend an und ich wusste, was abging.

„Oh nein, ich tanze nicht. Das weißt du, Michelle Rosie Samples.“

„Hör auf mich zu ärgern, oder ich schleif' dich auf die Tanzfläche.“ Sie streckte die Hand nach meinem Arm aus, um mich hochzuziehen, aber ich wich ihr aus.

„Geh du lieber allein, die Jungs beschweren sich doch auch immer, wenn Mädchen zu zweit auf die Toilette gehen. Sie werden sich viel eher trauen, wenn du allein bist!“

„Aber ich will nicht, dass wir beide erbärmlich wirken, während du hier allein an der Bar sitzt und ich allein auf der Tanzfläche stehe.“
„Auf einer Tanzfläche tanzt man ja auch.“, neckte ich sie.

Elly streckte mir die Zunge raus und meinte: „Na gut, dann sitzt du hier halt rum. Deine Schuld.“, drehte sich um und der Rock ihres kunstvoll, meiner Meinung nach etwas übertrieben bearbeiteten Ballkleides wölbte sich durch die ruckartige Bewegung.

Ich kicherte in mich hinein.

 

Der Abend neigte sich dem Ende zu, als Alex aufgeregt und erschöpft auf mich zu gestolpert kam. Außer Puste, aber grinsend fragte sie mich nach der Uhrzeit.

„Mein Handy sagt kurz nach viertel vor Mitternacht.“

„Ach du Schreck, dann holt mich mein Dad ja gleich ab“, rief sie etwas zu laut. Sie war offenbar leicht angetrunken. „Wann wirst du abgeholt?“

„So wie du. Und Michelle?“
„Die meinte vorhin, dass ihre Mom sie erst um ein Uhr abholen kann, weil sie da eh Keira füttern muss.“

„Die Arme..“
„Ach, Elly hat ihren Spaß. Hast du sie vorhin mit diesem Kerl abgehen gesehen? Sah der nicht heiß aus?“

Ich nickte als Antwort, ohne es eigentlich so zu meinen. Mein Typ war er nicht gewesen.

Elly war anzusehen, dass sie so schnell nicht gehen wollte und eigentlich hatte ich mit „die Arme“ die Mutter gemeint, die sich allein um das 3 Monate alte Baby kümmern musste.

„Und du hast gar nicht getanzt?“

„Nö“ Ich grinste.

„Ich versteh dich nicht, Schatz. Na ja, wie auch immer, ich geh Liam schnell Bescheid sagen und dann können wir ja zusammen draußen warten.“
„Liam?“

Nun grinste Alex. „Der Typ, der mich vorhin gefragt hat.“ Sie drehte sich schnell um.

Ich trank meine Cola aus und zog mir die schwarze Jacke über, dann kam Alex schon wieder auf mich zugelaufen.

„Ich hab Elly noch liebe Grüße von dir ausgerichtet, die Gute hat mich fast gar nicht gehört.“ Sie lachte kurz auf. Ich tat ihr gleich.

Als wir draußen vor der Schule standen – es war noch ziemlich kalt für April – und warteten, erzählte mir Alex von Liam, wie er zu Anfang sehr schüchtern kaum etwas sagte, wie er nach und nach immer mehr aus sich herauskam und wie die beiden sich zum Schluss sogar noch geküsst hatten.

„Feli, ich sag dir, dieser Typ kann küssen! Ich hab ihm meine Nummer gegeben und er fragte mich sogar noch, ob er mich nächsten Dienstag zum Essen einladen darf!“
„Und was hast du da gesagt?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort schon kannte.

„Ich hab ja gesagt, was denn sonst? Ich bin so aufgeregt!“

„Das wird sicher super!“

„Das hoffe ich auch!“

In dem Moment hielt der weiße Mercedes von Alex' Dad direkt vor uns an und die Beifahrertür öffnete sich. Im Auto lief ein Stück von Chopin.

Mr. Jordan grinste uns vom Fahrersitz aus an und fragte: „Guten Abend, die Damen. Wie war der Ball?“

„Oh Daddy, es war so klasse!“ Alex' Worte überschlugen sich fast als sie einstieg, zerstreut noch einmal ausstieg und mich umarmte, um sich von mir zu verabschieden. „Ich hoffe, wir haben dir nichts allzu Schlimmes zugemutet, es war ja auch deine Entscheidung keinen Spaß zu haben. Na ja, gute Nacht und schönes Wochenende, Feli. Wir telefonieren noch einmal, oder?“
„Ach, es war ganz in Ordnung. Dir auch ein schönes Wochenende. Und klar, können wir machen!“

Alex ließ mich los und stieg wieder ein.

„Sollen wir dich mitnehmen, Feline?“, fragte mich Mr. Jordan.

„Danke, aber James müsste jeden Moment kommen!“

„Na dann ist ja gut. Richte ihm und deiner Mom viele Grüße aus!“
„Danke, das mach ich.“

Er lächelte noch einmal, Alex schlug die Tür zu und winkte mir zu, als das Auto an mir vorbei und wegfuhr.

Ich schaute noch hinterher, bis es um die Ecke bog und ich es nicht mehr sehen konnte.

 

Ich fröstelte und schlang mir die Arme um die Brust. Eine halbe Stunde war vergangen, seit Alex abgeholt worden war und noch immer keine Spur von James.

Hatte er es vergessen? Waren sie beide eingeschlafen? Das konnte ich mir bei der Aufregung meiner Mutter nicht vorstellen. Tatsächlich hatte ich überlegt, mir eine Geschichte von einem Typen auszudenken, um ihre Neugierde zu befriedigen. Doch ich konnte es mir nicht erklären, warum dann niemand ans Telefon ging. Zu Anfang dachte ich noch, dass vielleicht beide gerade auf dem Weg zu mir waren, obwohl eigentlich nur James mich abholen sollte.

Aber nach 20 Minuten wurde ich misstrauisch.

Ein eisiger Windstoß ließ mich fast das Gleichgewicht verlieren. Ich konnte auch einfach wieder reingehen und dort warten, aber von da aus konnte ich das Auto nicht sehen, wenn es hielt und ich wollte James auch nicht zumuten, drinnen nach mir suchen zu müssen, wo er Menschenmassen doch so hasste.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte ich Michelle kichernd in meine Richtung laufen. Ich drehte mich nach ihr um und sah an ihrer Seite einen Abgänger, der einen Kopf größer war als sie und ihr sanft über die Haare strich. Alex hätte gestöhnt, weil ihr das zu kitschig wäre.

„Feli!“, kreischte Elly mir entgegen und warf einen Arm hoch um mir zuzuwinken.

Ich grinste, da Alex offenbar nicht die einzige Angetrunkene gewesen war.

„Was machst du denn noch hier, Alex hat gesagt, du wirst zur gleichen Zeit wie sie abgeholt.“, fragte sie verwirrt, als beide sich zu mir gesellten.

Der Typ lächelte höflich. Ich nickte zurück.

„Eigentlich war das ja auch so vereinbart. James lässt sich nicht blicken.“
„Hast du schon an- angerufen?“ Sie hatte Schluckauf.

„Ja, aber es geht niemand ran.“

„Komisch...“

„Hm.“

Der Typ neben Elly räusperte sich. „Ich muss los, sonst bekomme ich Ärger.“
„Du bist do- doch schon fast 19.“, schmollte Elly.

„Aber ich will's mir nicht verscherzen mit meiner Mom, sonst bekomme ich Hausarrest und dann können wir uns morgen gar nicht sehen.“ Er grinste sie an.

Sie grinste zurück und streckte sich ihm entgegen um ihn zu küssen.

„Na gut, Davy-Dave.“

Er küsste sie noch einmal und winkte ihr im Gehen noch einmal zu.

Elly kicherte.

„Davy-Dave?“ Ich grinste.

„Waaaas, ist doch sü- süß.“ Sie schaute ihm noch immer lächelnd hinterher.

Einen Moment später fuhr auch der Wagen von Michelle's Mom vor.

Ich wurde wieder gefragt, ob ich mitgenommen werden wollte und diesmal nahm ich dankend an. Ich hatte keine Lust mehr, in der Kälte zu warten und war auch ziemlich sauer auf James und Mom. Sollten sie doch umsonst hierher fahren.

 

Nachdem ich mich bei Mrs. Samples bedankt und von Michelle verabschiedet hatte und als dem Wagen gestiegen war, wurde ich rot vor Wut, als ich das Licht in unserem Wohnzimmer sah. Sie waren beide noch wach. Ich sah sogar den Fernseher laufen.

Etwas übertrieben energisch lief ich auf unser Haus zu und klingelte viel zu lang.

Niemand reagierte.

Ich klingelte noch einmal, klopfte und hämmerte an die Tür, doch erst nach fünf Minuten öffnete die Tür sich um einen zoll-breiten Spalt.

„Was soll denn das, es war 0 Uhr abgemacht!“

Keine Antwort.

Ich stieß die Tür auf. James lief gerade schlurfend wieder ins Wohnzimmer.

„James!“, schrie ich noch wütender.

Ich lief ihm hinterher.

James sackte gerade auf den Boden.

Neben ihm lag ein verkehrt aussehend verdrehter Körper.

Mein Herz hörte auf zu schlagen.

Ich verlor jegliches Gefühl in meinem eigenen Körper.

Vergaß, wo oben war und wo unten.

Es war der Körper meiner Mutter. Die glasigen Augen standen offen, ohne Ausdruck.

 

Ich lag auf dem grauen Teppichboden im Wohnzimmer. Es war unbequem.

Noch bevor ich die Augen aufschlug, brach alles wieder über mir ein, ohne dass ich mich dagegen schützen könnte.

 

Mommy, ist alles in Ordnung?“, frage ich sie besorgt, als sie aus der Notfallstation gehumpelt kommt, gestützt von einem in weiß gekleideten Mann, der so aussieht wie mein Doktor, aber auch wieder nicht.

Es ist alles bestens, mir geht es gut, mein Liebling, mach dir keine Sorgen.“

Ich glaube ihr nicht.

Sie sollten es die nächsten Tage ruhig angehen lassen, und wenn ich ehrlich bin, auch generell die nächste Zeit. Es könnte auch wegen ihrer Anämie durchaus zu einer plötzlichen Herzinsuffizienz kommen. Wenn sie irgendetwas Merkwürdiges spüren, melden sie sich bitte sofort bei uns.“

Mommy beeilt sich, den Doktor loszuwerden.

Ich verstehe nichts von dem, was er da erzählt.

 

Jetzt verstand ich ihn.

 

Ich hörte jemanden schreien, und wollte die Augen öffnen um zu sehen, wer, doch meine Augen waren verklebt und ich konnte sie nur schwer öffnen.

Der Schrei wurde lauter.

Es war meiner.

Ich lag noch immer auf dem Boden. Ich zwang mich, mit dem Schreien aufzuhören, hob die Hände um mir die Augen zu reiben, damit ich aufstehen konnte.

Langsam hievte ich mich hoch und mir wurde schwarz vor Augen, als ich das Gleichgewicht wieder verlor.

Noch einmal versuchte ich, hochzukommen und diesmal gelang es mir, wenn auch nur äußerst langsam.

Ich vermied den Blick zu der Stelle und lief auf das Telefon zu.

An das Telefonat konnte ich mich nicht erinnern, aber ich erhielt Zuspruch von der Notfallstation.

Immer noch die Stelle vermeidend, sagte ich James' Namen.

Er antwortete nicht.

„James“

Nichts.

Widerstrebend schaute ich auf die Stelle.

James lag auf dem Bauch meiner Mom, der Kopf auf dem Fußboden.

Eine Blutlache hatte sich daneben ausgebreitet.

Neben seiner Hand lag eine Pistole.

 

Der Krankenwagen würde jeden Moment kommen, auch wenn es sinnlos war.

Sie würden mich mitnehmen. In ein Heim stecken und mir erzählen, wie verständnisvoll sie wären. Dass ich kämpfen musste. Dass ich ihr Mitleid hätte.

Ich wollte es nicht.

16 war das Alter, in dem man das Gefühl hat, niemanden zu brauchen; allein zurecht zu kommen.

Ich entschied.

 

Mein Rucksack war mit einem Kompass, Decken, Pullovern, einem Zelt und Vorrat an haltbaren Lebensmitteln bis zum Rand gefüllt, als ich, ohne zurückzuschauen, ziellos umherstolperte. Ich lebte hier zwar schon seit einigen Jahren, hatte allerdings einen miserablen Orientierungssinn.

Ich wusste auch nicht, wie spät es war, allerdings wurde der dunkle Himmel im Osten von der offenbar aufgehenden Sonne rötlich erhellt, während man im Westen noch ein paar Sterne leuchten sah.

Immer wieder rannen heiße, lästige Tränen meine Wangen herunter. Lästig, weil meine Sicht durch sie verschwamm. Mein Körper bewegte sich wie von selbst. Manchmal rennend, manchmal schleichend, manchmal sogar kriechend. Ich streifte Gebäudekanten, Laternenpfähle, Autos, Menschen, von denen ab und an empörte oder überraschte Aufrufe ausgingen. Es kümmerte mich nicht.

Mein einziges Ziel war, zu vergessen. Das konnte ich nicht. Was ich allerdings konnte, war Verdrängen. Das hatte ich bereits einmal geschafft. Damals wurde ich aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten von einem Therapeuten wieder in die „Realität“ zurückgeholt. Diesmal war da keiner, der das konnte oder überhaupt musste.

Also hatte ich „freie Bahn“.

Ab und zu hörte ich ein Schluchzen. Oft erinnerte ich mich, dass es meines war. Nicht immer.

 

Mein größtes Problem war: Wohin?

Ein Hotel? Ich war noch minderjährig, müsste also mit unerwünschten Fragen rechnen. Zu einer Freundin? Käme auf das Gleiche hinaus. Auf der Straße? Letztendlich auch nur Fragen.

Mein Kopf wurde immer schwerer, je länger ich darüber nachdachte, und er schmerzte, also hörte ich auf, zu denken und überließ es voll und ganz meinen Füßen, mich an irgendeinen „geeigneten“ Ort zu bringen.

Kapitel 2

Ich wusste noch immer nicht, wie spät es war, doch es wurde schwerer, den Weg vor mir zu erkennen. Ein wenig erschrocken – es war ein wirklich sehr mildes Gefühl, denn ich war entschlossen, keine Empfindungen zuzulassen – erkannte ich, in welche Richtung ich lief und bemerkte, dass sich in meinem Kopf ohne ein Zutun meinerseits eine Art Plan gebildet hatte, von dem ich nicht wusste, ob er mir gefiel.

Die Anzahl der Laternen wurden mit jeder gefühlten Meile weniger und der Mond ging auf, allerdings spendete das Viertel des zunehmenden Mondes kaum Licht, sodass ich die Hände ausstreckte, um mich durch die Gegend zu tasten. Die Tatsache, dass es mich auf einmal kümmerte, ob ich gegen etwas oder jemanden stieß, war seltsam, allerdings keiner Grübelei wert.

Bald war das letzte Haus, aus dessen Fenstern warmes Licht geströmt war, in der Ferne verschwunden, und die Bäume wurden zahlreicher. Ich lief geradewegs auf den Wald zu.

Auf einmal ärgerte ich mich über mich selbst, der Wald war eine der schlechtesten Ideen, die ich – mehr oder weniger ich – je hatte. Ich besaß zwar ein Zelt, doch das war mehr für einen Campingausflug in den Garten im Hochsommer geeignet, als dafür, im Wald bei noch fast winterlichen Temperaturen einen halbwegs sicheren Unterschlupf zu bieten.

Außerdem befand sich in meinem Rucksack Nahrung, die wilde und vor allem gefährliche Tiere im Umkreis von Meilen anlocken würde.

Leider war es nun jedoch zu spät, um umzukehren ohne mich zu verlaufen und der Wald bot mir wenigstens die Ruhe und Abgeschiedenheit, nach der ich mich im Moment so sehnte. An den Grund dieses Bedürfnisses, verbot ich mir, zu denken. Zudem machte sich so langsam auch die Müdigkeit und das flaue Gefühl von Hunger bemerkbar, denn ich hatte – wie ich jetzt fade realisierte – einen ganzen Tagesmarsch hinter mir, ohne überhaupt daran gedacht zu haben, etwas zu essen, oder auch nur zu trinken. Ich fühlte mich noch umso ausgetrockneter, weil ich wahrscheinlich diesen ganzen Tag nur geweint hatte, wegen... weswegen? Egal.

Zu meiner Erleichterung kam bald ein etwas breiterer Bach in Sicht, in dem sich die Sichel des Mondes spiegelte.

Der Wald war düster, die Äste der Fichten sahen – wie man das aus Horrorfilmen kannte – aus wie Arme, die sich ausstreckten, die Beute egal, Hauptsache, etwas zwischen den Klauen; der Wind heulte durch sie hindurch und auf einmal wurde mir unglaublich kalt, also beschloss ich, mein provisorisches „Lager“ gleich hier am Fluss aufzuschlagen.

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Tag der Veröffentlichung: 01.05.2014

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