Cover

Anmerkung zum Buch

Mit dieser FanFiction möchte ich nur die Geschichte von Bella und Edward weiterschreiben, es ist also die Fortsetzung von „Bis(s) zum Ende der Nacht“. Ich habe ein paar hinzugefügt, aber die Rechte an den Originalcharakteren besitzt immer noch Stephenie Meyer. 

Die Voraussetzung dafür, dass Ihr die Ereignisse in meinem Buch auch versteht, ist natürlich, dass Ihr auch die anderen Bücher (also „Bis(s) zum Morgengrauen“ bis hinzu „Bis(s) zum Ende der Nacht“) gelesen, oder wenigstens die Filme (Twilight bis Breaking Dawn) gesehen habt. Denn es ist ein wenig kompliziert. Aber ich denke, es lohnt sich. Macht doch bitte ein paar Kommentare, wenn Ihr fertig seid.

Danke und viel Spaß beim Lesen. :)

Einleitung

Jetzt stell' Dir vor, im weiten Kosmos
da treffen sich zwei kleine Stern',
sie hatten sich schon lange nicht
getroffen und auch nicht gesehen,
doch hatten sie sich furchtbar gern.

Doch ihre Bahnen kreuzten,
(spielte nur Zufall die Regie?)
an einem schönen Sommertag
begann ein Traum zu leben,
dass sie sich fanden, glaubt man nie.

Da musste selbst der Himmel jauchzen,
was unter'm Sternenzelt geschah
an jenem schönen Sommertag.
Das kommt im Leben niemals wieder,
doch jetzt sind die zwei Stern' sich nah'.

– Anna Haneken

Prolog

„Sie kommen. Sie müssen es irgendwie erfahren haben.“

Alice' geflüsterte, angsterfüllte Worte schienen wie durch Watte meine Ohren zu erreichen.
Das Déjà-vu wurde noch von der gegenwärtigen Situation verstärkt und doch konnte ich es einfach nicht glauben. Mein Baby! Sie wollten mir das nehmen, ohne das Jacob und ich nicht mehr leben konnten. Ich nahm sie fester in die Arme, hoffte, meine Kraft würde ausreichen, um sie für immer dort zu halten. Sie schlief tief und fest, ahnte nichts. Ich legte meine Hand ganz leicht auf ihre heiße Wange.

Ich spürte, wie auch Jacob seine Arme fester um mich schlang und wusste, dass er das Gleiche dachte wie ich.

Anders

„Luna, du faules Stück, steh endlich auf!“.

Und durch diesen liebevollen Morgengruß wachte ich auf und tat, wie mir geheißen. Es brach wieder einer dieser „spannenden“ Tage an.

Wie immer würde es sein: ich würde durch die üblichen Rufe aufwachen; mir in aller Hast meine Sachen zusammensuchen; ins Bad stürzen; mich, möglichst ohne viel Wasser zu verspritzen, in einer Wanne so schnell wie´s ging duschen; mir die Zähne putzen, nur um dann keuchend in die Küche zu stürzen und mir zig weitere Beschimpfungen anzuhören, weil ich die vorherige Ruhe mit meinem Trampeln und meiner bloßen Anwesenheit gestört und mir reichlich Zeit gelassen hatte. Und anschließend würde ich, während ich noch mein Frühstücksbrot aß, in die Schule eilen; schnell Block und Buch auspacken; dem langweiligen und ach so gescheitem Gerede von Banknachbarin und Lehrer nur halb zuhören; dann wieder nach der Schule nach Hause gehen und dort die üblichen Hausarbeiten meiner ,,Familie“ inklusive Hausaufgaben erledigen. Und zum Abschluss des Ganzen würde ich wieder – nicht ohne mir ein paar weitere ,,Lobe“ abzuholen, weil die Fenster nicht den gewünschten Glanz hatten oder weil in einer Ecke des riesigen Wohnzimmers noch ein Staubkörnchen lag – ins Bett gehen, nur um am nächsten Tag das alles nochmal zu machen – und am Tag danach – und an den ganzen darauf folgenden Tagen auch.

Ja, mir stand einer dieser Tage bevor. Großartig.
Aber – und ich kam mir dabei vor, wie in einem dieser seltsamen Filme – heute war etwas anders. Und ich merkte es sofort, denn dieses übliche nervenaufreibende Leben führte ich schon seit meinem fünften Lebensjahr, und bald hatte ich meinen sechzehnten Geburtstag.
Oh ja, da war etwas, das nicht so sein durfte.

Zwar war alles, bis hin zur dritten Stunde – Geschichte – wie immer, aber in diesem Klassenzimmer, als ich wieder einmal meine einzige Banknachbarin am Tag auszublenden versuchte – sie erzählte frohlockend, dass sie schon jetzt (zwei Jahre zu früh) ein Stipendium an irgendeiner Universität zugesichert bekommen hat und mutmaßte, dass ich wohl nie dieses Glück hätte–, da spürte ich irgendwie, dass mich jemand beobachtete, nur mich.

Ich schauderte und dachte, ich wäre verrückt geworden, denn es war an sich nichts Neues, dass mich die meisten missgünstig beobachteten. Ich hasste das. Diese ganzen aufdringlichen, oberflächlichen … konnten mir alle gestohlen bleiben. Wenn sie es wenigstens etwas sanfter anstellen würden, nicht derart unverhohlen und grob! Aber diese Blicke hatten nichts mit diesem Gefühl zu tun. Denn sie waren weder aufdringlich, noch missgünstig, aber trotzdem irgendwie interessiert. Das war wahrscheinlich nur so eine dumme Einbildung. Kein Grund zur Panik.

Es kam ein Gefühl in mir auf, dass sich wohl irgendetwas änderte und ich fühlte mich schon wieder wie in einem schlechten Film. 

Dieses merkwürdige Gefühl verfolgte mich noch die ganze Stunde. Ich sah mich immer wieder um und manchmal traf ich auf neugierige, aber auch aufdringliche oder erwartungsvolle Blicke, weil manche dieser Jungs wahrscheinlich dachten, ich hätte nun doch endlich meine Meinung geändert, da ich ihnen direkt in die Augen sah, was sehr selten oder eigentlich gar nicht vorkam.
Aber diese Blicke hatten nichts mit diesem dummen Gefühl zu tun.

Als es dann endlich klingelte, stand ich hastig auf, packte meine Sachen und rannte beinahe aus dem Zimmer und in die Cafeteria. Ich wollte diesem paranoiden Gefühl entkommen.Ich war so in meine Flucht und meinen Verfolgungswahn vertieft, dass ich gar nicht schaute, wo ich langlief – also dauerte es nicht lange, bis … 

WUMM!!!

... knallte ich mit jemandem zusammen. Ich war noch immer wie hypnotisiert, also murmelte ich ein unverständliches ,,Tschulligung ...“, und ging einfach weiter – bis dieser Jemand rief: ,,Hey, warte doch mal!“, und ich blieb abrupt stehen, denn es war ein Junge, mit dem ich zusammengestoßen war und der mich jetzt mit ziemlicher Neugier, aber auch einem Hauch von Reue in der Stimme zurückrief. Auch das war kein seltenes Ereignis – das mich Leute ansprachen, doch die Stimme hörte sich so anders an – irgendwie warm, aber auch so, als wäre er heiser.

Völlig verdattert drehte ich mich um und war dabei wohl nicht die Einzige.
Als ich dem Jungen ins Gesicht schaute, merkte ich, dass ich ihn noch nie gesehen hatte und das musste schon etwas heißen, denn obwohl ich mit kaum jemandem redete, prägte ich mir alle Gesichter ein – eine dumme Angewohnheit von mir; ich kannte also jeden vom Sehen – mindestens.

Doch das Gesicht dieses Jungen war mir nicht bekannt., wahrscheinlich war er neu. Aber das war nicht der einzige Grund, dass ich wie das erste Auto dastand und ihn anstarrte – nein, denn als ich seine Stimme hörte und spätestens, als ich in seine verblüffend schönen und zugleich Angst einflößenden, schwarzen Augen schaute, kehrte dieses Gefühl von vorhin, beobachtet zu werden, zurück und ich wusste instinktiv, dass das kein Zufall war – oder ich ahnte es eher.

Als er meinen unsicheren Blick erwiderte, wechselte seiner urplötzlich – so plötzlich, dass ich es kaum sah – von neugierig zu samtweich, dass es schon flüssig wirkte. Unglaublich. Aber wahrscheinlich war das nur Einbildung – oder das Neonlicht. Ich zögerte, aber dann lief ich ihm entgegen.

Ich sah mir sein Gesicht genau an und merkte, dass er ziemlich gut aussah. Seine tiefliegenden Augen passten perfekt zu seinem schmalen Gesicht. Um die vollen Lippen spielte ein Lächeln. Er hatte gleichmäßige und weiche, aber erwachsene Gesichtszüge und einen ausgeprägten Kiefer. Eine kurze dunkelbraune Strähne fiel ihm über die Stirn, doch sie erreichte noch nicht einmal seine Augenbraue, so kurz war sie; die restlichen Haare hingen schlaff und zottelig nach unten. An den Spitzen schienen sie dunkler zu werden, fast schwarz. Aber wahrscheinlich spielte das Licht meinen Augen auch hier wieder einen Streich. Seine Haut war rein und ebenmäßig und eigenartig rostbraun, was einen extremen Kontrast zu seinen strahlend weißen Zähnen – mit denen er mich angrinste – darstellte.

Doch das seltsamste an ihm war … meine Güte, er war riesig. Es sah aus, als ob er gut und gerne an die zwei Meter stieß – wenn er nicht sogar noch größer war. Und seine Arme …! Als hätte er sie aufgepumpt, zu viel Anabolika geschluckt … oder was auch immer nötig war, um solche Arme zu bekommen. Sein olivgrünes T-Shirt spannte sich über seinen Oberkörper und offenbarte die Linien seiner Brust – alles Muskeln!
Er war so schön, dass ich genau wusste, was oder wer das nächste Thema in der Umkleide der Mädchen werden würde.

Doch sein Herzschlag war ungewohnt schnell. Sechs Schläge pro Sekunde waren eindeutig nicht normal. Normal waren zwei oder drei. Häufig sogar nur einer. Lisa Mason, zum Beispiel, aus meinem Mathe-Kurs lief gerade an uns vorbei; sie hatte einen Herzschlag von eineinhalb in der Sekunde, der sich jetzt verdoppelte, als ihr Blick die Gestalt des Neuen erfasste. Ich hörte auch sonst kein Herz in der näheren Umgebung, das mehr als drei Schläge zustande brachte. Mein Eigenes schlug zwar auch immer etwas schneller als das der meisten (vier bis viereinhalb), bisher hatte mich allerdings noch niemand darauf angesprochen.

Auf einmal blieb ich vor ihm stehen und kam mir ziemlich dumm vor. Ich sagte noch einmal leise: „Tut mir leid, dass ich dich fast umgehauen hab.“ Doch er antwortete ganz gelassen und freundlich: „Schon okay, ich habe ja selbst auch nicht aufgepasst. Du hast übrigens dein Buch verloren. Ach ja, wo bleiben meine Manieren?! Ich bin Noah; erst seit heute hier.“ Er gab mir das Buch und ich berührte ganz kurz seine Hand. Sie war ziemlich warm. Unnatürlich warm. Fast schon heiß. Und er sprach mit mir in einem Ton, als wären wir alte Freunde.

„Ich bin Luna. Ähh, soll ich dir hier alles zeigen? Danke übrigens – für das Buch!“, fügte ich noch hinzu – ich hatte doch fast vergessen, wie man höflich ist. Toller Auftritt! Das war ich von mir eigentlich gar nicht gewohnt. Normalerweise kam es nicht oft vor, dass ich mit jemandem redete. Aber wenn es doch einmal vorkam, dann wusste ich immer was ich sagen sollte. Ich war nicht so verwirrt und sprachlos. Aber heute – da war ich ein ganz anderer Mensch. Wie seltsam.

Jetzt lächelte er wieder und das machte sein Gesicht so unbeschreiblich schön, dass ich ganz vergaß zu atmen. Mir wurde plötzlich schwindelig.

Er meinte, dass wir uns in der Cafeteria sicher besser unterhalten könnten und riss mich damit wieder aus meinem Staunen. Ich wunderte mich, dass er so erpicht darauf war, sich mit mir zu unterhalten. Als ich darüber nachdachte, merkte ich, dass ich mich über mich selbst wunderte, denn ich empfand ihn, und die Tatsache, dass er mit mir „allein“ sein wollte, als schmeichelhaft.

Als wir uns in der Cafeteria an einen Tisch abseits der anderen setzten, starrten uns trotzdem alle an.

Ich wollte gerade fragen, ob wir uns nicht, bevor wir uns unterhielten, erst einmal etwas zu Essen holen sollten, da stand er schon wieder auf und sagte: „Hör mal, ich hab einen Bärenhunger, weil ich heute noch keinen Happen gegessen hab, und gehe mir mal schnell etwas holen. Soll ich dir was mitbringen?“

„Ich kann mir auch selber was holen.“

„Nein, ich bring's dir mit. Was willst du?“

„Wenn du darauf bestehst... du kannst mir ein Brötchen holen. Und ich will nicht ewig warten … hopp, hopp!“ Ich hoffte, er nahm das nicht ernst.

Aber er grinste und sagte mit einem Neigen seines Kopfes: „Wie Sie wünschen, Eure Hoheit.“
Wir lachten beide und er ging zur Essensausgabe.
Es war unbegreiflich. Unmöglich. Wir gingen so merkwürdig vertraut miteinander um. Wie lange kannten wir uns? Zwei Minuten? War das nicht alles ein wenig zu sehr überstürzt? Dieses Benehmen, als wären wir die dicksten Freunde und hätten uns seit einer Ewigkeit nicht gesehen? Ich überlegte, warum sich das nur der kleinste Teil meines Gehirns fragte, warum es mich ganz und gar nicht störte, dass er mir gerade von der Essensschlange aus zuzwinkerte und ich zum ersten Mal als Reaktion auf so etwas unwillkürlich kicherte. 

Er hatte anscheinend nicht gelogen, als er gesagt hatte, er habe Hunger, denn er schaufelte sich massenweise Spaghetti mit Tomatensoße auf den Teller. Dann ging er ein paar Meter weiter und legte einen Teller mit einem Brötchen auf sein Tablett.Ich schaute mich kurz in der Cafeteria um und merkte sofort, dass das ein Fehler war, denn die Mädchen, brodelnd voller Hass und Neid, starrten mich an und die Jungen taten ihnen damit bei Noah gleich, doch er schien offenbar gar nichts zu merken oder es störte ihn nicht. Ich schaute wieder zu ihm und mein Blick wurde von ihm erwidert.

Er setzte sich wieder an den Tisch und schob mir meinen Teller zu. Sein Gesichtsausdruck gab nichts preis.

„Was ist los?“, fragte er mich ein wenig besorgt. Mein Gesichtsausdruck musste mehr preisgegeben haben, als mir lieb war.

„Hm? Gar nichts. Danke für das Brötchen!“ Ich versuchte, möglichst überzeugend zu lächeln.

„Mögen sie dich nicht?“ Kleine Fältchen erschienen auf seiner Stirn und seine Brauen schoben sich zusammen. Er merkte zu viel. Das war schon erst einmal ein kleines Problem.

„Ich … Nein. Wahrscheinlich nicht.“ Ich kam mir sadistisch vor, als ich bei diesem Gedanken ein bitteres Lächeln unterdrückte.

„Aber warum?“ 

„Na ja, ich weiß auch nicht so genau. Ist aber auch egal. Du bist also neu hier?“ Was für eine dumme Frage. Das hatte er mir doch vorhin erzählt! Aber wenigstens hatte ich ihm vom Thema abgelenkt.

„Ja, seit heute. Aber warum können sie dich denn nicht leiden?“ Na ja, ich dachte, ich hätte ihn vom Thema abgelenkt.

„Du bist doch sicher beliebt. So wie du aussiehst! Und so wie die Jungs dich anstarren, hörst du das bestimmt nicht zum ersten Mal.“

Jetzt verzog sich sein Mund wieder zu diesem umwerfend schönen Lächeln, und ich vergaß, was ich ihm eigentlich antworten wollte. Ich starrte ihn nur an und er starrte zurück. Er war so anders als die anderen. Dabei wusste ich noch nicht einmal, was genau so anders an ihm war.

Reiß dich zusammen!, sagte ich mir. Du bist hier nicht allein!

Ich konzentrierte mich, um eine passende Antwort zusammenzuschustern.
„Wahrscheinlich … mögen sie mich … deswegen nicht …“, stotterte ich ihm entgegen und hoffte, dass es zu seiner Frage passte.

„Hmmm … Und gefällt dir die Schule eigentlich? Du hörst dich irgendwie nicht so an.“
Mist! Er merkte viel zu viel. Oder aber ich konnte einfach nicht lügen, oder so tun als ob …Lieber die Wahrheit sagen.

„Wenn ich ehrlich bin, dann hasse ich diese Schule. Sie ist wie ein Käfig!“ 
Es hätte wohl einen kleinen Ausbruch gegeben, doch dann fiel mir wieder etwas ein … Noah war doch neu hier!

„Tut mir leid. Du hast dir die Einführung in die neue Schule sicher anders vorgestellt.“
Aber er lächelte und sagte: „Das brauch dir doch nicht leid tun. Ich hab´s mir hier auch nicht besser vorgestellt. Aber wenn dir die Schule nicht gefällt, warum wechselst du dann nicht auf eine andere Schule? Du solltest mit auf meine Schule wechseln!“

„Ich kann nicht wechseln, weil meine Pfle- … weil eine Eltern das nicht zulassen würden.“
Hoffentlich hatte er das mit den Pflegeeltern nicht so wahrgenommen. Ich merkte, dass ich zu stark dazu neigte, ihm jedes Detail der Wahrheit zu erläutern, wenn seine schwarzen, weichen Augen mich fixierten.
Wieder versuchte ich, ihn abzulenken – ich hatte das mit in seinem letzten Satz nicht überhört, und es kam mir seltsam vor.

„Aber du sagtest, ich solle mit auf deine Schule wechseln? Bleibst du denn nicht?“ Ich kam nicht umhin, Traurigkeit in meiner Stimme verbergen zu müssen und konnte mir auch gar nicht erklären, warum da überhaupt welche war.

Er bemerkte natürlich den Unterton in meiner Stimme und war zum Glück, aber wahrscheinlich auch nur kurzzeitig, abgelenkt. Er beugte sich vor und lächelte, wahrscheinlich um mich zu trösten. Sehr suspekt.

„Nein, ich bleibe nur bis zum Schuljahresende. Meine … Familie hat hier etwas … zu erledigen.“

Als er das sagte, wurden seine Augen schmal und seine Mundwinkel zeigten nach unten. Er sah aus, als würde er mir liebend gern verraten, was dieses „etwas“ war, aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Er biss sich auf die volle Lippe und erzählte nach einer kurzen Pause weiter, um mich – oder auch sich selbst – abzulenken. „Danach gehe ich wieder zurück nach La Push. Kennst du den Ort? Aber … warte … Wolltest du vorhin Pflegeeltern sagen? Heißt das, du wohnst nicht bei deinen richtigen Eltern?“ Er runzelte fragend die Stirn. Also hatte er es doch mitbekommen.

Grr. „Nein. Ich wohne nicht bei meinen richtigen Eltern.“

„Warum nicht?“

„Nicht so wichtig“ Ich schaute auf mein Brötchen und fragte mich, warum er das wissen wollte. Höflichkeit?
Er beugte sich noch ein bisschen weiter zu mir vor und lächelte … flehend?!
Ich sah im in die Augen. Das war ein Fehler.

„Erzählst du es mir? Bitte? Ich möchte dich kennenlernen. Du faszinierst mich!“

Seine Augen waren entwaffnend.

Interessierte ihn wirklich meine langweilige Geschichte? Jemandem, wie Noah? Aber seine Augen zeugten tatsächlich von echtem Interesse. Mit einer Hand griff er sich ins dunkle Haar und verwüstete es noch mehr. Ich verspürte unwillkürlich den Drang, es ebenfalls zu berühren, doch ich riss mich zusammen und versuchte ihm zu antworten.
Ich vertraute ihm. 

Seufzend gab ich mich geschlagen. Er hatte ja darum gebeten. 

„Sie sind gestorben als ich zwei Jahre oder so alt war. Dann war ich drei Jahre im Heim und irgendwann hat mich dann eine Familie, die sich eine Tochter wünschte, aber nur zwei Jungen hatte und zu alt für ein weiteres eigenes Kind war, adoptiert. Seitdem lebe ich schon bei ihnen. Sie können mich nicht leiden, weil ich schon damals nicht ihren 'Vorstellungen' entsprach. Sie dachten, ich würde eine Art Prinzessin, die nicht genug von Kleidern und Röcken haben kann. Ich sähe ja angeblich so aus.“

„Du siehst wirklich so aus. Nicht verwöhnt! Aber … ich finde, du siehst … wirklich hübsch aus.“, sagte er betont gleichgültig, doch in seinen Augen funkelte etwas. War das tatsächlich leichte Bewunderung?! Mein Hirn musste mir in Noahs Gegenwart einen Streich spielen, oder ich war selber einfach viel zu oberflächlich und … was auch immer, ich traute den Schlüssen meines Verstandes nicht.

Verlegen starrte ich auf mein unberührtes Brötchen, nahm es und biss ab. Die andere Hand umschloss meinen Nacken, der sich viel zu überhitzt anfühlte. Ich wunderte mich schon gar nicht erst, warum mich Noahs Bemerkung von eben so freute. Ich war einfach oberflächlich.

Bedanke dich!, schoss es mir durch den Kopf. Das war ein Kompliment, Dummkopf!

Stimmt. Trotzdem. 

„Danke.“ Ich lächelte ihn unsicher an, er grinste verschmitzt zurück. Und seine Augen strahlten ... Wärme aus.

„Jetzt bist du aber dran! Erzähl mir was über dich! Ich glaube kaum, dass meine öde Lebensgeschichte mit auch nur einem Tag von dir mithalten kann.“ Ich versuchte, seinen verführerischen Gesichtsausdruck nachzuahmen und hoffte, dass ich nicht allzu erbärmlich versagte.

Sofort regte sich etwas in seinen Augen. Eine Art … Verlangen? Doch sogleich wurde es von Wachsamkeit abgelöst und er versteifte sich etwas. Er machte kurz den Mund auf und schlug im gleichen Atemzug die Zähne fest zusammen. Dann versuchte er wieder zu lächeln. Es wirkte gezwungen, doch er gab sich sichtlich Mühe.

„Später, versprochen! Ich glaube, die Pause ist fast vorbei.“ Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass das nicht der einzige Grund war, aber er fuhr fort: „Wir sollten in den Unterricht gehen, bevor wir noch nachsitzen müssen. Was hast du als nächstes?“

„Ich hab Sport, und du?“ Bitte, bitte, lass ihn in meinem Kurs sein!

„Ich auch!“ Ein so umwerfend schönes und strahlendes und vor allem wieder richtiges Lächeln belebte sein Gesicht; es ließ mich ihn nur noch wie versteinert anstarren. Machte er das absichtlich?

Ich versuchte mir wieder in Erinnerung zu rufen, dass ich nicht allein mit Noah hier war und schaute mich um. Wir waren doch beinahe allein. Es saßen nur noch ein paar Nachzügler an den letzten Überresten auf ihren Tellern.

Als mir einfiel, was mir bevorstand – und Noah auch, was es dann doch nicht so schlimm machte –, musste ich ein Seufzen unterdrücken.

Eine dieser Folterstunden. In den anderen Fächern wurde ich ja wenigstens in Ruhe gelassen, aber in Sport konnte man nicht einfach nur auf seinem Stuhl sitzen, stur nach vorne blicken und alle anderen geflissentlich ignorieren.

„Was ist los?“, fragte Noah, der meinen Stimmungsumschwung leider schon wieder bemerkt hatte.

„Sport! Mein Lieblingsfach!“, sagte ich, meine Stimme triefte vor Sarkasmus.

„Warum?“

„Ich glaube, das wirst du gleich sehen. Wir fangen heute Reckturnen an.“

„Okay. Ich werde die Augen offen halten. Wir sollten uns jetzt aber auf den Weg machen, sonst kommen wir noch zu spät.“ Er kicherte und sah ein wenig so aus, als ob ihm das eigentlich gar nichts ausmachen würde.

Doch ich stimmte ihm zu und wir standen auf.

 

Das war ziemlich unerwartet - Noah Ateara

„Verdammt! Au!“ Ich jaulte verzweifelt auf und fluchte wie verrückt, als ich einen schmerzhaften Stich und kurz darauf etwas Warmes und Klebriges an meinem Bein spürte.

Dummes Messer! Warum um Herrgottes Willen lief heute denn wirklich alles schief?

Erst war mein Wecker falsch eingestellt und scheuchte mich eine ganze Stunde zu früh aus den Federn – nach geschlagenen zweiundvierzig Wache-Stunden, die ich für Levi schieben musste und dem darauf folgenden dreieinhalb-stündigen Schlaf; dann hatte ich meine Lieblingsklamotten, die ich normalerweise trug, nicht anziehen können, weil es ja auffallen würde, wenn ich bloß in Shorts in die Schule käme, vor allem im Spätherbst, was wiederum, einen langen, heißen Tag bedeutete; außerdem war heute mein erster Tag an dieser schrecklich überflüssigen Schule; dann das mit dem Messer jetzt – obwohl das wahrscheinlich nicht so schlimm war – und das Wichtigste: Warum, zum Teufel, zog es mich in die Schule, als würde mich dort die Überraschung meines Lebens erwarten? Warum beeilte ich mich so, konnte es mir doch nicht schnell genug gehen, in dieser Schule anzutanzen und das Vorzeigekaninchen zu spielen? Eigentlich hatte ich noch nie einen Hang zum Masochismus.

Nach kurzem Hin- und Herüberlegen beschloss ich, dass es vielleicht doch kein Fehler war, meinen Instinkten zu folgen – wenn ich konnte, tat ich in der mir deutlich lieberen Gestalt ja auch nichts anderes – und das bedeutete, dass ich wie ein Irrer mein Bein von dem Blut säuberte, das ohne sichtlichen Grund dort zu kleben schien; die tiefe Fleischwunde, die sie vor einer halben Minute war, sah jetzt nur noch aus wie eine fast verheilte Narbe, menschliche Augen hätten diese leichte Rötung und den kleinen Strich gar nicht mehr als solche erkannt.

Ich ließ das Frühstück aus, schnappte mir meinen braunen Rucksack für die Schule und als ich das Haus verließ, lag noch alles inklusive des blutverschmierten Messers auf der Anrichte neben der silbergrauen Spüle in der Küche – Mom und Quil konnten das wegmachen, wenn ich schon als Einziger in die Schule gehen musste. 

Eigentlich wollte ich gar nicht mit dem Bus fahren, spätestens in fünf Minuten wäre ich in der Schule gewesen, wenn ich dort hätte hinrennen dürfen, aber Levi, der alte Spielverderber hatte darauf bestanden – nein, er hatte mich gezwungen, mit dem Bus zu fahren, was ganze zwanzig Minuten länger dauerte. „Zu auffällig“, hatte er gesagt. „Wir bleiben nicht lange, aber wir wollen den Menschen hier keine Gelegenheit dazu geben, Verdacht zu schöpfen!“ Und dann hatte er uns per Leitwolfbefehl dazu gezwungen, Menschlein zu spielen und nichts Auffälliges zu tun.

Also saß ich neben einem zu lauten kleinen Achtklässler im Bus und trommelte ungeduldig mit meinem Fuß in einem viel zu schnellem Rhythmus auf dem Boden herum. Nicht nur, weil es immer dringlicher für mich wurde, in die Schule zu kommen, ohne dass ich wusste, warum.Der einzige Trost war wohl, dass heute Freitag war und ich nur diesen einen Tag vor dem Wochenende durchstehen musste.

Doch dieser Trost wurde von einem genervten Stöhnen meinerseits unterdrückt, als ich das angegraute Schulgebäude entdeckte, nachdem ich an der richtigen Haltestelle ausgestiegen war.
Von außen ähnelte es mit seiner dunkelgrauen, ausgeblichenen Farbe, den eng und gleichmäßig aneinandergereihten Fenstern, der eckigen Kastenform und dem mangelndem Grün in der Umgebung, eher einem Gefängnis. Doch ein paar Sachen fehlten – wo waren die meterhohen Stacheldrahtzäune und die Gitter vor den Fenstern? Einzig die schultypische große Uhr über dem Haupteingang und das Schild daneben, wo der Name der Schule – Olympia Highschool – und sonst welche unwichtigen Informationen standen, ließen erkennen, dass das hier keine Anstalt war.

Was für ein Traum von Schule. Levi war mir eindeutig etwas schuldig.
Was musste ich auch der Jüngste im Rudel sein und in die Schule gehen! Wo wir doch eh alle wie über zwanzig aussahen! Wen kümmerte es (meine Mutter ausgenommen), ob ich einen Schulabschluss hatte, oder nicht? Ich wollte nie studieren und an ein großartiges College brauchte ich gar nicht erst zu denken. Schule war mir also eigentlich ziemlich egal.

Aber es nützte ja doch nichts. Seufzend stieß ich die Tür des Haupteingangs auf und trat ein.

Hallo Hölle, da hast du mich, dachte ich bitter. 

Der Eingang wimmelte von Schülern. Mehr als die Hälfte starrte mich an. Hatte ich etwas anderes erwartet?
Eilig suchte ich das Sekretariat und ließ mir einen Zettel geben, den ich von jedem Lehrer, bei dem ich heute und Montag – da ich heute nur die letzten beiden Stunden durchleben musste - vergnügten Unterricht hatte, unterschreiben lassen sollte.

Ich musste mich ein bisschen entspannen, ich war schon wieder ziemlich hitzig und es machte mich noch umso wütender, dass ich nicht wusste, warum ich immer ungeduldiger wurde. Aber wenn ich hier die Kontrolle über mich verlor und ausrasten würde, dann hätte ich ein Problem. Ein verdammt großes Problem.
Ich atmete zweimal tief ein und aus und schaute noch einmal auf meinen Stundenplan.
Mathe … Der Tag wurde ja immer besser.

Als ich in das richtige Zimmer getreten war, stierten mich schon wieder alle an, als hätten sie noch nie zuvor einen Menschen gesehen. Na ja, ehrlich gesagt, war ich auch kein richtiger, aber das wusste hier ja niemand.
Selbst der Lehrer glotzte mich erwartungsvoll an. Wahrscheinlich wollte er, dass ich mich der Klasse vorstellte, oder so, aber irgendetwas in meinem Gesicht hielt ihn davon ab, mich dazu aufzufordern. Ich ging zu ihm hin und legte ihm den Zettel auf den Tisch. „Noah Ateara?“ fragte er mich mit leichter Ehrfurcht in der Stimme. Vielleicht auch Besorgnis. Wahrscheinlich, weil ich so groß war; deswegen hatten sie meine Brüder und mich schon öfters schief angeguckt.
Als Antwort nickte ich lediglich einmal kurz.

„Und Sie bleiben nur bis April?“

„Juli“, brummte ich kurz angebunden und unfreundlich. Wenn er mich schon zum Reden brachte und ich hier meine Zeit verschwenden musste, dann brauchte ich auch nicht unbedingt höflich sein.
Der Lehrer zog die Augenbrauen arrogant hoch, beließ es allerdings dabei und unterschrieb endlich den verdammten Zettel.

Dann gab er ihn mir zurück und zeigte auf den einzig leeren Sitzplatz neben einem viel zu stark geschminkten Mädchen mit ziemlich hochmütigem, spitzem Gesicht. Es war möglich, dass ich auch nur voreingenommen war.

Dennoch stöhnte ich innerlich auf, ging langsam mit schlurfenden Schritten auf den Tisch zu und stellte meinen Rucksack daneben auf den Boden aus ockerfarbener, bunt-gesprenkelter Auslegeware um meinen Schreibblock und einen Stift auszupacken.
Das Mädchen schaute mich die ganze Zeit an und beobachtete jede meiner Bewegungen.

Ruhig bleiben!, ermahnte ich mich selbst, obwohl sie das offensichtlich viel nötiger zu haben schien, wenn ihr etwas – was auch immer – an ihrem Gesicht lag. Ich wäre nicht der Erste, dem die Hand ausrutschte.

Es schien sie wahrscheinlich irgendetwas dazu überredet zu haben, mich anzusprechen, was meinen angespannten und aufgewühlten Nerven nicht gerade half.

„Hi. Ich bin Anne.“, sagte sie mit eindringlicher und übermütiger Stimme, die meine Bedenken, ich hätte Vorurteile, sofort wieder verschwinden ließ. 

Ich drehte meinen Kopf leicht nach rechts, ohne sie anzusehen und nickte einmal kurz in ihre Richtung.

„Und du?“ Sie war sichtlich … pikiert, dass ich ihr nicht von selbst die Ehre erwies. 

„Noah.“

„Ah ja. Toller Name.“ - War das Ironie? Egal. Sie fuhr fort. „Wenn du willst, kann ich dich den anderen vorstellen. Ich bin mir sicher, dass wenn du dich an mich hältst, sie dich liebend gern … aufnehmen würden.“ Man brauchte ihr nicht ins Gesicht schauen, um zu erkennen, dass sie glaubte, mir damit einen unglaublichen und großzügigen Gefallen zu tun. Ihre schneidend selbstzufriedene Stimme offenbarte alles. 

„Da würde ich ja lieber diesen dämlichen Lehrer fragen.“, knurrte ich leise und war mir nicht sicher, ob sie es überhaupt gehört hatte.

Doch als sie einmal kurz schnaufte, vielleicht, weil sie ihre erste Abfuhr seit langem erhalten hatte, war ich froh, mich nicht um eine erneute Antwort bemühen zu müssen.

„Wo kommst du denn her?“ Wurde sie denn nie müde?

Ich merkte erst, dass ich meine Hände zu Fäusten geballt hatte, als ich mich wieder leicht in ihre Richtung drehte. Dieses Mädchen zerrte an meinen Nerven. Es war sehr unklug von ihr, sich weiterhin mit mir zu unterhalten.

„Aus den USA.“ Hoffentlich war diese, durch meine zusammengebissenen Zähne geknurrte Antwort wirkungsvoller. Dann sah ich ihr in die Augen und merkte, dass auch sie, wie der Lehrer vorhin, die Augenbrauen herablassend und arrogant hochgezogen hatte. Aber sofort nachdem sie meinen Blick erwiderte, zuckte sie beinahe unmerklich zurück und ihre Pupillen verengten sich ein klein wenig. Sie drehte sich zur Tafel, schüttelte leicht den Kopf, wahrscheinlich um irgendwelche Gedanken zu verscheuchen und ignorierte mich ab diesem Moment an. 
Gut! Das hatte viel zu lang gedauert.

Die Stunde zog sich hin und war zäh, wie alter Kaugummi. Nicht nur, weil ich mit jeder Sekunde in jeder noch so winzigen Faser meines Körpers ungeduldiger wurde. Dabei wusste ich doch gar nicht, was mich denn so Tolles erwartete!

Als es dann endlich klingelte, fing ich an, fürchterlich zu zittern und ein mir nur allzu vertrautes Feuer lief mir den Rücken runter. Nein! Nicht hier! Reiß dich zusammen! Du wirst es nicht versauen!

Genau, ich musste mich beisammen nehmen! Wenigstens bis ich draußen war, beschloss ich jetzt. Ich würde an irgendeine Stelle gehen, wo mich niemand sehen könnte, mich dort verwandeln und darüber erst einmal nachdenken. Vielleicht rannte ja Levi oder irgendjemand anderes aus dem Rudel.

Ich beeilte mich, schleunigst aus dem Zimmer zu kommen. Es schien, als würden mich meine Beine von allein hinaustragen, als ob sie genau wussten, wo ich hinwollte. Beinahe schwebend lief ich den Gang entlang. Mir wurde immer heißer. Alles an mir zitterte.

WUMM!!!

Ich war doch tatsächlich in meinem Drang, nach draußen zu kommen, mit jemandem zusammengestoßen. Mit einem dumpfen Geräusch fiel etwas zu Boden.
Der Jemand, in den ich hineingelaufen war, drehte sich schnell wieder um, so als wäre auch er oder sie so besessen davon, nach draußen zu kommen. Ich hörte noch ein gemurmeltes „Tschulligung ...“ und merkte, dass dieser jemand ein Mädchen war.

Ihre Haare wehten mir mit einer kurzen Verzögerung ihren Geruch ins Gesicht und betäubte mich für den Bruchteil einer Sekunde. Er war so … anziehend. Eine Mischung aus einer überwucherten Blumenwiese und einem dichten, immergrünen Wald; ich wusste wie letzterer roch, es war also nicht zu verkennen. Und doch war dies bei weitem keine Beschreibung. Viel zu untertrieben für diesen unglaublichen Geruch. Aber woher kam das Vertraute in dieser Mischung?

Ich war kurz abgelenkt worden, doch eine achtel Sekunde später erinnerte ich mich wieder.
Ich wollte weitergehen, aber etwas hielt mich davon ab. Ich wusste nicht genau, was; ich hatte das Gefühl, etwas vergessen zu haben.

Als ich auf den Boden schaute, sah ich, was es war. Genau! Ihr Buch war bei unserem Aufprall auf den Boden gefallen. Ich überlegte kurz, ob ich mich noch genug zusammenreißen konnte, um ihr das Buch wiederzugeben, bevor ich nach draußen verschwand. Ich atmete tief durch – seit sie sich umgedreht hatte, war schon fast eine ganze Sekunde vergangen, sie, oder jemand anderes, müsste also nichts von meinen Überlegungen mitbekommen haben – mir wurde unerträglich heiß, die Anziehungskraft verstärkte sich mit jedem Herzschlag und zog mich weiter nach draußen. Doch ihr Geruch, der mir noch immer ein wenig das Hirn vernebelte, ließ es mich aushalten. Noch kurz. 

„Hey, warte doch mal!“, rief ich und ich bemerkte überrascht, dass sich eine Spur Reue in meiner Stimme befand, aber sicher hatte sie das nicht bemerkt.

Sie blieb abrupt stehen. Langsam drehte sie sich zu mir herum und ich zitterte immer stärker.

Schokoladenbraune Augen. Eine Farbe, die mir sehr vertraut war, weil ich sie schon so oft in den Gedanken meiner Brüder gesehen hatte. Schüchterne, mandelförmige und doch rehartige, vollmilchschokoladen-farbene Augen, die von langen schwarzen Wimpern umrahmt waren und in denen ich jetzt versank. Unter perfekt geschwungenen Augenbrauen. Über einer wunderschönen Nase. Den vollkommenen, dunkelroten Mund leicht geöffnet – vor Verwunderung vermutlich. In einem bildschönen Gesicht mit einer makellosen, alabasterfarbenen Haut. Umrahmt von bronzenen, leuchtenden Locken, die ihr bis zur Hüfte fielen und bei jeder Bewegung auf und ab hüpften.

Doch all das bemerkte ich kaum, denn als ich in ihre juwelengleichen Augen sah, war jede Anspannung gefallen, ich hörte auf zu denken, ja, selbst zu atmen. Von mir war nicht nur die Anspannung gefallen, sondern alles an mir. Mein Leben, meine Erinnerungen, meine Familie und mein Rudel. Mein Ich. Der Herr über meinen Körper war nicht mehr ich. Die Erdanziehungskraft sorgte nicht mehr dafür, dass ich einfach nur ins Nichts flog.

Sie war es.

Dieses Mädchen, das etwa vier Meter von mir entfernt stand – viel zu weit von mir entfernt stand – sorgte dafür, dass ich dort blieb, wo ich war.

Sie herrschte über mich. Sie war der Herr über mich. Sie war die Einzige, die mir noch wehtun könnte, die mich zum Lachen oder Weinen bringen könnte, die mich wegschicken oder zurückholen oder mich zum Bleiben überreden könnte.

Doch ich fühlte mich nicht unwohl, weil mich jemand anderes zum Sklaven machte, so wie wenn Levi uns zu etwas zwang, nein, ich wollte gehorchen.

Ich würde ihr immer und überallhin folgen – bis sie mich nicht mehr wollte …

Schnell

„Ich glaube, ich weiß jetzt, was du vorhin gemeint hast. Das ist doch schon das dritte Mal, oder?“

„Ja, deswegen hasse ich dieses Fach. Eigentlich mag ich Sport, aber nicht, wenn ich den anderem jede kleinste Bewegung vormachen muss.“

„Allerdings denke ich, dass es die Jungs nicht so sehr stört. So wie die dich alle anstarren, könnte man meinen, sie hätten noch nie ein Mädchen gesehen.“, meinte Noah und grinste mich dabei spitzbübisch an.

„Ähm, zeigen Sie doch noch einmal der Klasse, wie Sie das gemacht haben, Miss Havering.“, unterbrach uns Coach Doree. Er zeigte schon wieder auf den Stufenbarren.

„Vier.“, murmelte Noah mir leise zu und ich kicherte leise. Äußerst skurril.
Also lief ich zum vierten Mal in Richtung Lehrer und tauchte meine Hände in die kleine Schüssel mit Magnesia, die neben dem Gerät stand.

Ich schloss meine Finger um die Holzstange und schwang das rechte Bein einmal kurz vor und zurück. Dann vollendete ich einen zweiten Hüft-Aufschwung. Anscheinend war er diesmal besser, denn plötzlich fingen sie doch tatsächlich alle an zu klatschen.
In Zukunft würde ich mich einfach weigern! Ich war doch kein Zirkuspferd!

Als ich zu Noah zurückging, lächelte er mich kameradschaftlich an, so als wären wir schon seit dem Kindergarten beste Freunde.

„Das war echt super! Ich hab noch nie so einen anmutigen Hüft-Aufschwung gesehen, noch nicht einmal bei den Olympischen Spielen. Und das meine ich ernst!“
Und tatsächlich freute ich mich wieder über dieses Kompliment. Mir wurde warm und mein Herz pochte wie ein Presslufthammer.

„Nur weil du vielleicht noch nie die Olympischen Spiele gesehen hast.“ Mein verzagtes Grinsen machte meinen Versuch, es ins Lächerliche zu ziehen um die Unsicherheit zu verbergen, vollkommen zunichte. 


Als Sport dann endlich vorbei war – wir hatten wie immer eine viertel Stunde eher aus als die anderen, eine Großzügigkeit, als die Coach Doree es immer gern bezeichnete – und ich mich umgezogen hatte, war die Schule endlich vorbei und wir hatten Wochenende.

Ich trat aus dem Umkleideraum der Mädchen und unwillkürlich suchte ich nach Noah. Als ich mich gerade umdrehen und auf ihn warten wollte, hörte ich, wie jemand meinen Namen rief. Genervt ging ich weiter, denn es hörte sich an, wie Madison, die mich da rief – meine geliebte ehemalige Banknachbarin.

„LUNA!“, rief sie noch einmal. Diesmal blieb ich stehen.

Ich hörte, wie ihre Schritte näher kamen und dann etwa einen anderthalben Meter von mir entfernt stehen blieb. „Drehst du dich vielleicht mal um, wenn ich mit dir rede?“

Ich ballte leicht meine Hände zu Fäusten und drehte mich ganz langsam um.

„Was?“, knurrte ich gereizt mit zusammengebissenen Zähnen und war überrascht, dass ich zu ihr herunter schauen musste. Sie war einen Kopf kleiner als ich und schaute mich mit giftigen kleinen, grünen Augen an. Wie passend.

„Ich weiß ja nicht wie du das immer hinbekommst und was die alle an dir finden, aber lass die Finger von dem Neuen!“

Meine Teenagerinstinkte gingen mit mir durch.
„Sonst …?“, stöhnte ich leicht genervt, nur um sie noch mehr zu reizen. Das war eigentlich gar nicht meine Art. Lag das an Noah? Weil ich so wütend darüber war, dass sie ihn sich schnappen wollte? Aber was ginge mich das denn dann überhaupt an?

Mit leichter Genugtuung erkannte ich jetzt leichte Unsicherheit in ihrem spitzen Gesicht aufflackern.
Ohne weiter auf eine Antwort zu warten, drehte ich mich um und ging in Richtung Ausgang. Ich hörte noch einmal kurz, wie sie beleidigt schnaubte und sich dann ebenfalls umwandte.

Mit schnellen, wütenden Schritten lief ich schnurstracks auf die große Tür vom Ausgang zu.Natürlich! Das sah mir mal wieder ähnlich! Dass ich mich über so etwas ärgerte! Völlig in Gedanken versunken, achtete ich einmal wieder nicht auf meine Umwelt und lief prompt in jemanden hinein.

Die Situation erinnerte mich an Noah und mir fiel wieder ein, dass ich eigentlich auf ihn warten wollte – oder von ihm aus sollte. Ich rappelte mich auf, entschuldigte mich kurz und wollte wieder in Richtung Sporthalle gehen.

„Hey, lauf doch nicht schon wieder weg!“, sagte eine heißere, seltsamerweise vertraute und auch ein wenig amüsierte Stimme. War ich doch tatsächlich schon wieder mit Noah zusammengestoßen! Dieser lachte hinter mir und ich drehte mich verdutzt um. Jetzt musste auch ich lachen und beide kicherten wir wie Dreijährige über unsere eigene Dummheit. Und das mitten in einem Korridor der Schule.

„Wird das jetzt dein Hobby? Mich umzurennen?“, fragte Noah, doch in seiner Stimme war keine Spur von Verärgerung oder etwas dergleichen, eher Belustigung und noch etwas anderes, etwas, das ich nicht einzuordnen vermochte.
Erleichtert (obwohl ich nicht wusste, worüber) seufzte ich und grinste ein wenig.

„Klar. Was denkst denn du? Hast du was dagegen?“, fragte ich schelmisch.

Statt einer Antwort, grinste er nur breit und frech. Damit sah er aus, wie ein junger Engel, der Blödsinn veranstaltete. Wunderschön und unverschämt. Verzweifelt überlegte ich, wie man blinzelt.

Ich konnte mich nicht mehr bewegen, gefesselt von seinem … samtenen Blick starrte ich Noah an.
Deshalb fuhr ich auch fürchterlich zusammen, als die Schulglocke mit ihrem durchdringenden, nervigen Schrillerton, klingelte, das Schulhaus aufweckte und das Wochenende einlud.

Meine Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück und ich wurde wieder Herr über meinen Körper.
Da stand ich also, anscheinend verliebt in denjenigen, den ich gerade einmal seit einem halben Tag kannte und der mir gegenüberstand, starrte ihn an und war dabei beinahe noch bewegungsunfähig … Wie erbärmlich!

„Und?“, fragte er, als die ersten Schüler an uns vorbei rannten und die Menge ankündigten. Wir machten uns daran ihnen gleichzutun und schlenderten langsam in Richtung Bushaltestelle. Er hatte mir in Sport erzählt, wo er und seine Familie für das dreiviertel Jahr untergebracht waren. 

Er beendete seine Frage: „Was machst du am Wochenende so?“

Das war doch tatsächlich eine ernstgemeinte, interessierte Frage, nicht so eine, die man nur stellte um den Gefragten gleich nach seinem ersten Wort zu unterbrechen um seine eigene Geschichte in allen Einzelheiten dem Gegenüber zu erläutern, ob es ihn denn interessierte, oder nicht.

Doch über die Antwort brauchte ich nicht zu überlegen. Dem Wochenende und freien Tagen allgemein sah ich immer mit gemischten Gefühlen entgegen:

Zum Einen, musste ich da nicht mehr in diesen langweiligen Unterricht gehen wo mich nur Blicke der Missgunst erwarteten. 

Doch zum Anderen, durfte ich dann noch mehr Hausarbeiten, als sowieso schon zu erledigen waren, verrichten und es gab nie genug Hausaufgaben, um mich davor zu drücken. Mit mir befreundet sein wollte eh niemand.

Ich wollte nicht so erbärmlich klingen und „nichts“ antworten, doch ein schneller Blick in seine Augen zwang mich beinahe dazu.

„Nichts. Und du?“

Er schien etwas überrascht, ob der schlichten Antwort, doch er sagte nichts dazu und antwortete ebenfalls: „Ich? Auch nichts. Na ja, ich fahre am Samstag – also morgen – nach Seattle … Willst du – ich meine, hast du Lust … mitzukommen?“ Er betonte jedes einzelne Wort und sprach ganz langsam, als hätte er Angst, ich würde jeden Moment nein sagen.

„Öhm … Klar, gerne!“, sagte ich überrascht und überglücklich zugleich. Dazu spürte ich auch einen winzigen Hauch von Genugtuung, denn Noah hatte mich gefragt, nicht eines der anderen Mädchen! Wie eingebildet von mir, dachte ich mit Schrecken und Abscheu.

„Ich meine, werden deine Pflegeeltern dir das erlauben?“, gab er besorgt zu bedenken. Ich schnaubte. Natürlich nicht , aber das würde mich nicht aufhalten. Das hatte es noch nie getan, wenn ich einmal in meinen geliebten Wald flüchten wollte, obwohl sie das nicht erlaubten.

„Ich werde ihnen gar nichts erzählen. Ich bin schließlich keine Gefangene.“

Erst zögerte Noah, doch dann strahlte sein Gesicht mit solcher Intensität, dass ich ihn mal wieder nur anglotzen konnte.

„Cool. Dann wäre das also abgemacht?“

Ich nickte. „Wann soll ich zu dir kommen?“

Das Strahlen auf Noahs Gesicht wurde wieder zu einem frechen Grinsen. „Nichts da! Ich hole dich ab! Sagen wir, am Mittag so gegen eins?“

Die Augen verdrehend stimmte ich zu.

Nachdem wir alles abgemacht, Handynummern und Adressen ausgetauscht und den restlichen Kram geklärt hatten, sagte ich leise:

„Ich muss jetzt gehen, sonst sperren sie mich morgen ein.“

Hätte ich nicht gewusst, dass wir uns morgen wiedersehen würden, wäre ich wahrscheinlich nie nach Hause gegangen um mich ewig mit Noah zu unterhalten, denn wenn ich mit ihm redete, fühlte es sich an, als wäre er eine verwandte Seele. Wie kitschig. Es wurde mit jeder Sekunde vertrackter. Erst ein halber Tag!, erinnerte ich mich wieder.

Einen Moment lag in Noahs Gesicht etwas Wildes, als hätte er genau den gleichen Gedanken.Doch dann lächelte er nur etwas traurig, wobei das ein wenig gezwungen wirkte. Oder ich bildete es mir ein.

„Na gut … Ich muss auch gehen, sonst muss ich schon wieder Überstunden – ach nichts …“, sagte er schnell und sah dabei so aus, als würde er sich über sich selbst ärgern. Ich verstand es nicht, aber ich fragte auch nicht nach, am Ende würde ich ihn noch nerven und dann dann wär's das mit morgen.

„Na dann ...“, sagte er ausweichend. Seine Miene wurde ein wenig reumütig und im selben Augenblick hörten wir den Bus um die Ecke biegen.

„Sag mal … hast etwas gegen ein wenig Gesellschaft auf dem Nachhauseweg?“ Noahs Stimme klang noch eine Spur rauer.

Nachdem ich meine Jacke ausgezogen und sie an den Hacken gehängt hatte, blickte ich aus dem Fenster und beobachtete Noah, wie er sich langsam entfernte. Auch er schaute noch ein paar Mal zurück. Er hatte darauf bestanden, mich bis nach Hause zu begleiten. „Damit ich weiß, in welchem Haus du wohnst, und ich morgen nicht ewig suchen muss.“, hatte er mir als Erklärung gesagt, doch es lag wieder einmal dieses Undefinierbare in seiner Stimme.

Als er dann schließlich um die letzte Ecke bog und ich ihn nicht mehr sehen konnte, machte ich mich an die übliche Arbeit – das Haus in Schuss bringen. Das war doch tatsächlich ein wenig beruhigend für mich – endlich wieder etwas Vertrautes. Doch ich zwang mich, nicht über den heutigen, verschrobenen Tag nachzudenken.

Als auch das letzte Staubkörnchen von der schwarzen Glasvitrine im Wohnzimmer verschwunden war, ging ich schnell in mein Zimmer und schloss sorgfältig ab, bevor jemand auf die Idee kommen würde, mal eben so, ohne anzuklopfen, in mein Zimmer zu spazieren.

Es ließ sich wohl nicht länger aufschieben. Ich schlurfte zu meinem Schrank, durchwühlte den spärlichen Inhalt um wenigstens etwas Vernünftiges zu finden … ich hätte mir denken können, dass das schon zum Scheitern verurteilt war, bevor es überhaupt eine Chance hatte. Das Einzige, was zu einem Ausflug in die Stadt passte, war mir drei Nummern zu klein.

Und was nun?

„Grrrm …“, machte ich aufgebracht.

Ich sackte vor meinen Schrank in den Schneidersitz zusammen, stützte den Kopf auf meine Hände und verbarg mein Gesicht.

So saß ich ungefähr eine viertel Stunde lang und überlegte hin und her. 

Die Vorteile und die doch ziemlich erbärmliche Rechtfertigung besiegten dann letztendlich das Contra. Ich stand auf, lief zum Fenster und schaute hinaus. Das Auto war verschwunden – sie waren zum wöchentlichen Freitagseinkauf losgezogen und würden am Abend erst etwa sieben Uhr wiederkommen. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, müssten mir noch einige Stunden bis dahin zur Verfügung stehen.

Ich ging aus meinem Zimmer und steuerte direkt auf die Küche zu. Dann nahm ich mir einen Stuhl, schob ihn zum riesigen Kühlschrank und stellte mich darauf um an die kleine Pappschachtel zu gelangen, in der sich immer etwas Geld für den Notfall befand – und wenn meine Krise kein Notfall war, dann wusste ich auch nicht weiter …

Eigentlich hätte ich gar nichts von der Schachtel wissen dürfen, aber Joshua – mein „Bruder“ – hatte sich einmal versehentlich in meiner Anwesenheit verplappert. Ich nahm mir einen Zwanziger heraus und hoffte, es würde reichen – es musste reichen!

Nachdem ich mir meine Jacke wieder angezogen hatte, schloss ich die Tür ab und lief über die Straße zur Bushaltestelle. Da würde ich zum ersten Mal schwarzfahren – gleich zwei illegale Sachen an einem Tag –, aber ich hatte ja nur zwei Haltestellen zu fahren; hoffentlich erwischten sie mich nicht! Die Zeit, die mir verblieb, war knapp. Und ich hatte tatsächlich Glück! Es kam kein Kontrolleur bevor ich ausstieg. Dann rannte ich beinahe zu einem Laden, von dem ich wusste, dass er billig war. Langsam kam ich mir kindisch vor.

Als ich wieder zu Hause war und das Restgeld in die Schachtel gelegt hatte, ging ich in mein Zimmer, schloss ab und packte meine neuen Sachen aus – ich hatte glücklicherweise etwas gefunden, das unter zwanzig Dollar gekostet hatte. Es war eine kurzärmlige, dunkelblaue Bluse mit V-Ausschnitt.

Ich schnitt die Etiketten und Schilder ab und hing sie zusammen mit meiner Lieblingshose – eine dunkle Jeans – über die Lehne meines Schreibtischstuhls.

Die Uhr sagte, dass es knapp fünf Uhr sei.

Ich legte mich auf mein Bett und nahm ein Buch, das ich mittlerweile schon zum sechsten Mal gelesen hatte, zur Hand um mich in die Psyche verrückter Menschen zu versetzten und damit abzulenken.

Erst nach dem Abendessen, als ich – mit frisch gewaschenen Haaren – wieder in meinem Bett lag und den Tag doch recht widerwillig Revue passieren ließ, wurde mir klar, dass die Verabredung mit Noah morgen ein Date war, das linderte meine Aufregung nicht gerade – im Gegenteil, ich wurde noch hibbeliger.

Unruhig wälzte ich mich in meinem Bett hin und her, auf der Suche nach beruhigendem Schlaf. Doch je mehr ich mich anstrengte, einzuschlafen, desto wacher wurde ich. Na toll.

Ich stand auf, zog mir meinen Bademantel über und ging in die Küche. Der Kühlschrank war einmal wieder pralle voll, wie immer nach dem Freitagseinkauf.  Auch das, was ich suchte – Milch – war in Hülle und Fülle da. Als ich die Flasche gerade herausholen wollte, hörte ich Schritte, die näher kamen, bis sie schließlich die Küche erreichten. Ich drehte mich um und erkannte die unverkennbare Gestalt von Davis – mein anderer, ziemlich korpulenter „Bruder“ – der gerade den Lichtschalter, den ich gar nicht angemacht hatte, betätigte und mich erkannte.

„Was machst du denn hier? Hau ab!“ Er und sein idiotischer Bruder waren so ziemlich die einzigen Jungen, die mich nicht wie kurz vor dem Verhungern anstarrten und eigentlich müsste ich sie dafür lieben, aber irgendwie gelang mir das nicht so recht …

„Das Haus gehört nicht dir.“, murrte ich unverständlich.

„Was nuschelst du da?“, fragte er und es sollte wohl bedrohlich wirken. In diesem Ton machte er die jüngeren Schüler an – Davis und seine „Clique“ waren in ihrer Schule ziemlich gefürchtet. Doch ich hatte keine Angst vor ihnen, für mich waren sie allesamt beinahe schon mitleiderregende … Kinder, die gelernt hatten, sich an denen zu vergreifen, die sich nicht wehren konnten und dementsprechend behandelte ich sie alle auch, wenn sie zu Besuch kamen. Einer von ihnen – Patrick – war an mir interessiert, das hatten mir die anderen und er selbst sogar auch gesagt, aber ich sah nicht ein, dass ich seinem … Werben, wie man so schön sagte, nachgeben sollte. Er war nicht anders als die anderen.

Ich ignorierte Davis und schüttete drei Löffel Kakao in die Milch und stellte die Tasse in die Mikrowelle. Dann drehte ich mich zu ihm um, stütze mich an der Arbeitsplatte ab und verschränkte die Arme vor der Brust. Er stand immer noch da, das Gesicht wie eine wütende Tomate. An seinem Hals – oder was davon noch übrig war, bei den ganzen Röllchen – pulsierte eine Ader. Ich gluckste bitter. Wie immer, wenn ich das bei ihm sah und hörte wie sich sein Herzschlag vor Jähzorn und Bockigkeit verstärkte. Das wiederum machte ihn noch wütender, aber dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck: Die Augenbrauen zogen sich beinahe zu einer Linie zusammen und er schob dümmlich die Lippen vor – so sah Davis aus, wenn er nachdachte.

Plötzlich drehte er sich einfach um und ging aus dem Zimmer.

Ich hoffte inständig, dass er nicht seine Mutter holte, weil sie morgen dann wahrscheinlich wirklich die Tür verschließen würde.

Das erinnerte mich wieder an meinen heldenhaften kleinen Diebstahl, wenn man das denn überhaupt so sehen konnte, laut Papieren gehörte ich ja zur Familie und wenn ich schon kein Taschengeld bekam, war es doch nur billig, wenn ich mir in einem wirklich dringenden Notfall, wie der heutige Nachmittag, etwas aus der Notfallschachtel nahm. Das versuchte ich mir zumindest einzureden.

Doch ich hätte das Wechselgeld noch nicht weglegen sollen, das fiel mir gerade ein, denn wenn ich morgen mit leeren Taschen mit Noah auf einen Einkaufsbummel in der Stadt gehen würde, käme ich mir etwas dumm vor, ob des Umstandes, dass ich wie ein Dackel hinter ihm herlaufen würde, ohne einen Penny auszugeben, während er sich seine Sachen besorgte. Außerdem würde er sich dann vielleicht sogar auch noch genötigt fühlen, mir etwas Geld zu leihen und das konnte ich auf keinen Fall zu lassen. Lieber ließ ich mich von Catherine – meiner Pflegemutter – beim Diebstahl erwischen, als mich vor Noah zu blamieren. 

Jäh wurde ich aus meinem unangemessenen Gedankengang gerissen, als ich Stimmen und Schritte hörte, die wieder gefährlich näher kamen. Davis hatte mich also doch bei seiner Mutter verpetzt! Das bewiesen die doppelten Herzschläge und Schritte.

Mein Entschluss stand auf einmal fest und wenn ich es jetzt nicht machte, wann dann? Jetzt oder nie!
Ich stellte mich schnell auf einen in aller Schnelle herangezogenen Stuhl, griff in die kleine Pappschachtel und nahm mir, ohne hinzuschauen, einen Schein heraus und steckte diesen in die Tasche meines Bademantels. Dann beeilte ich mich, den Stuhl wieder möglichst geräuschlos zurückzustellen.

Gerade als Catherine und Davis mit vor Wut verzerrten Gesichtern – man hätte meinen können, ich hätte jemanden umgebracht, als dass ich mir nur eine Tasse Kakao gemacht hatte – in die Küche traten, bimmelte die Mikrowelle dreimal – mein Kakao war fertig. Wie passend.

Unschuldig nahm ich die Tasse raus und umgriff sie mit beiden Händen.Ich schaute Catherine ins Gesicht und so wütend wie sie aussah, hätte ich eigentlich einen Schreianfall erwartet, doch stattdessen zischte sie mich nur mit funkensprühenden Augen an: „Verschwinde – in – dein – Zimmer! Sofort!“.

Jetzt hätte ich unverschämterweise von meinem „Talent“ Gebrauch machen können, anderen meinen Willen aufzuzwingen, so wie es mir schon ein paar mal bei anderen gelungen war, doch heute ließ ich mir ihre Aufforderung nicht zweimal sagen und ging ein wenig schlurfend in mein Zimmer. 

„Gute Nacht.“, murmelte ich, doch das wurde eiskalt ignoriert. 

In meinem sicheren Käfig – auch als Zimmer bekannt – angekommen, schaute ich erst einmal auf die Uhr. Ein Uhr siebenunddreißig. Wenn ich morgen – oder besser gesagt, heute – nicht wie halb gestorben vor Müdigkeit aussehen wollte, sollte ich mich beeilen, wieder in mein Bett zu verschwinden. Ich nahm den Geldschein – es war ein Fünfziger, wie ich leicht hysterisch feststellte – und legte ihn in mein kleines schwarzes, abgegriffenes Portemonnaie.

Nachdem der Kakao ausgetrunken war, fühlte ich mich schon um einiges besser, aber immer noch nicht müde genug um zu schlafen. Also entschied ich mich, noch ein wenig Musik zu hören. Das einzige, bei dem ich darauf vertrauen konnte, dass es mich beruhigte, war das Lied Claire de lune, es weckte bei mir seltsame Erinnerungen an steinharte, mal unglaublich heiße, mal unglaublich kalte Arme, aber das würde ich nie offen verraten … nicht, dass es irgendjemanden interessiert hätte.

Ich steckte mir die Kopfhörer in die Ohren und legte mich ins Bett. Die Musik erfüllte ihren Zweck, ich wurde schläfrig. Mein letztes Gefühl war doch tatsächlich Vorfreude.

Der nächste Morgen war keineswegs besser. Er war auch nicht schlechter.

Ich weiß nicht, wie er war. Ich weiß nur, dass ich vollkommen isoliert, reserviert und teilnahmslos war.
Wie ein Roboter mit Tunnelblick stand ich – pünktlich um neun Uhr – auf, schlurfte in die Küche, deckte den Tisch, frühstückte, duschte und zog mich schließlich an.

An die Übergänge konnte ich mich gar nicht erinnern. Eben war ich noch in der Küche und aß mechanisch mein Brot und plötzlich stand ich frisch angezogen vor meinem Spiegel, wo ich mich völlig distanziert anstarrte, ohne etwas zu sehen. Das konnte ja noch etwas werden!

Auf einmal klingelte das Telefon zwei Zimmer nebenan in der kleineren Küche. Als nach einer halben Minute niemand den Hörer abnahm, seufzte ich und übernahm es selbst. 

„Luna Havering hier“

„Luna“ Catherines Stimme drang mir ins Ohr. „Wir sind bei der Geburtstagsfeier von Onkel Samuel. Wenn wir am Abend wiederkommen, bist du in deinem Zimmer und das Haus so, wie wir es verlassen haben. Und du hast Hausarrest, weil du gestern Nacht noch wach warst.“

„Davis war doch auch wach!“, murrte ich, doch die Verbindung war schon unterbrochen.

Es konnte mir zwar nur recht sein, wenn sie den Tag über nicht da waren, aber die Art wie Catherine ihre eigenen Kinder so unverhohlen bevorzugte, erinnerte mich an Harry Potter. Ich musste schmunzeln. Es hatte tatsächlich gewisse Ähnlichkeiten, doch bei mir würde ganz sicher kein übergroßer, tollpatschiger Halbriese hereinstürzen und mir verklickern wollen, ich könne mit dem Zauberstab umherwedeln und dabei Federn fliegen lassen. Gott sei Dank, denn trotz allem war ich ja recht zufrieden mit dem, was mir gegeben wurde, und es gab Menschen, die es weitaus schlimmer hatten.

Die Zeit, in der ich das Haus jetzt für mich allein hatte, kam mir ausnahmsweise einmal wie ein Fluch vor. Unter Garantie hätte meine Familie etwas gefunden um mich auf Trab zu halten, doch jetzt war mir nichts, womit ich mich halbwegs effektiv ablenken konnte. Wenigstens war ich nicht mehr so stark von Nervosität befallen wie vor dem Klingeln des Telefons, ich konnte mich wieder zusammenreißen.

Ich beschloss, ein wenig Hausaufgaben zu machen. Doch der Blick in mein Notizbuch, wo diese von mir immer verewigt wurden, enttäuschte mich. Keine Hausaufgaben. 

Was sollte ich denn nun die nächsten drei verbleibenden Stunden machen? Ich könnte Noah anrufen um ihn darum zu bitten, unseren Ausflug schon auf jetzt zu verschieben, doch ich wollte ihn nicht nerven und ich wollte auch nicht so tief sinken. Was würde er dann nur von mir denken? Ich konnte auch wieder lesen. Aber jedes meiner Bücher war schon mindestens vier Mal durchgelesen. 

Aber sollte ich wirklich jetzt in eine Buchhandlung gehen? Es wäre zwar in jedem Falle besser, als wenn Noah mich begleitete, denn umgeben von Büchern könnte es passieren, dass die Zeit für mich dort sehr viel schneller verging, als für jeden anderen Menschen, sodass ich dort problemlos mehrere Stunden verbringen könnte. Das wollte ich Noah nicht antun. Aus dem gleichen Grund konnte ich es natürlich auch nicht verantworten, jetzt zu gehen und womöglich die Zeit zu verlieren.

Ideenlos schlurfte ich in mein Zimmer, setzte mich auf das Fensterbrett und schaute etwas sehnsüchtig hinaus in meinen Wald, der etwa 600 Meter vor unserem Haus abrupt begann. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass unser Haus eigentlich gar nicht hierher gehörte, sondern der Wald.

Ich kam mir leicht melancholisch vor, da es auch noch regnete. Ganz leicht nur. Man konnte spüren, dass der Regen sich sehr bald verziehen würde, dass sich vielleicht sogar die Sonne noch ein wenig Himmel ergattern konnte; das roch ich an der noch relativ frischen Klarheit in der Luft, die durch das offene Fenster zog. Würde es weiter regnen, hätte sie mehr Schwüle und Saures im Geruch. Außerdem waren immer noch zu viele Tiere im Wald unterwegs, sie konnten das Ende des Regens bereits wittern.

Gedankenverloren schlang ich die Arme um die Beine und legte meine Wange auf die Knie. Irgendwann musste ich dann wohl noch einmal in einen Dämmerzustand gefallen sein, denn plötzlich klingelte mein Wecker und ich erinnerte mich daran, dass ich diesen auf zehn vor eins gestellt hatte, im Falle genau dessen – dass ich die Zeit vergaß. 

Leicht panisch lief ich noch einmal kurz ins kleinere Badezimmer nebenan. Ein Blick im Spiegel zeigte mir, dass meine Augen etwas geschwollen waren, offensichtlich, weil ich gerade beinahe geschlafen hatte. In der Hoffnung, es würde helfen, spritzte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht und das tat sogar noch gut. 

In meinem Zimmer betrachtete ich mich noch einmal im größeren Spiegel, um meine Klamotten zu richten. 
Auf einmal war ich wieder hellwach. Bald würde ich bei ihm sein und seine Stimme hören und sein Lächeln sehen und seine Augen …

Auf die Sekunde genau klingelte es an der Tür. Ich schaute zur Sicherheit noch einmal aus dem Fenster, wo man einen relativ guten Blick auf die Haustür hatte.

Als erstes sah ich nur ein rotes, ziemlich mitgenommenes Auto (ich glaubte zu wissen, dass es einer dieser alten Klassiker war, aber das war auch schon alles, was ich vermuten konnte, ich war keiner dieser Autofreaks).
Und davor stand er. Noah. Ich öffnete mit zitternden Händen das Fenster und lehnte mich leicht nach draußen.

Als ich in seine wunderschönen schwarzen Augen sah, fiel alle Anspannung von mir ab. Mit Noah war der Rest der Welt egal. Als ich das bemerkte, staunte ich nicht schlecht, dass ich innerhalb eines Tages regelrecht abhängig von jemandem geworden war, den ich kaum kannte. Es ging alles viel schneller als in diesen Filmen und Fernsehserien und Büchern. Aber irgendwie war mir das recht. Tief atmete ich ein und lächelte ihn an.

Er grinste freudestrahlend zurück und rief: „Guten Mittag, schöne Frau. Darf ich Sie entführen?“

Schöne Frau hatte er gesagt. Mein Herz machte einen Aussetzer, aber ich versuchte, mich zusammenzureißen. Als Antwort grinste ich nur, meiner Stimme wollte ich noch ein wenig Zeit geben, sich zu wappnen. Sorgfältig, aber darauf bedacht mich zu beeilen schloss ich das störrische Fenster – das Einzige im Haus, was Adam, mein „Vater“, nicht für nötig gehalten hatte, restaurieren zu lassen –, lief beinahe stolpernd die Treppe hinunter zur Haustür und riss sie – etwas zu energisch – auf.

Da war er. Lässig an seinem Auto lehnend, strahlte er mich breit an.

Vorsichtig – ich wollte nicht stolpern – ging ich auf ihn zu und als ich beinahe vor ihm stand, breitete er die Arme aus und schloss mich sanft darin ein. Ich erwiderte die Umarmung, wenn auch etwas verwirrt – der zweite Tag und schon umarmten wir uns!

Mir fiel auf, dass er ziemlich warm, fast schon heiß war – viel zu heiß. Als hätte er Fieber. 

Kurz darauf ließ er mich wieder frei und ich löste mich etwas widerwillig von ihm. Ich schaute ihn ganz genau an, suchte nach Krankheitsanzeichen, fand aber keine.

Ihm entging mein forschender Blick nicht – was entging ihm überhaupt?! „Was ist los?“, fragte er mit gerunzelter Stirn.

„Geht's dir nicht gut? Du fühlst dich an, als hättest du Fieber. Du spielst nicht zufällig den Helden, oder?“

Erst öffnete er den Mund zur Antwort, doch dann schien er zu zögern und urplötzlich trat ein tiefer Schmerz in Noahs Gesicht, sein Herzschlag beschleunigte auf acht unregelmäßige Schläge. Den Bruchteil einer Sekunde später bemerkte er wahrscheinlich, dass ihm seine Gesichtszüge entglitten waren und bemühte sich um ein spöttisches Grinsen. Nur seine Augen waren noch ein wenig zu ernst. Das alles hatte nur etwa eine anderthalbe Sekunde gedauert aber trotzdem hatte seine Antwort, die er ins Lächerliche ziehen wollte, den Effekt verloren.

„Das bildest du dir bestimmt nur ein. Was hast du heute Morgen denn gefrühstückt?“

Na gut. Er wollte es mir nicht sagen. Also würde ich auch nicht weiter bohren. Am Ende würde ich ihn noch nerven.

Stattdessen lächelte ich ihn an und spielte mit. „Vielleicht hat mir mein Bruder ja tatsächlich irgendwas ins Frühstück gemischt. Oder aber Milch sorgt für ein besonders ausgeprägtes Einbildungsvermögen. Ich werd' mich mal bei der Verkäuferin beschweren.“

Ein wenig unbeschwerter grinste er mich jetzt wieder an.

„Hast du geschlafen? Wir können auch ein andermal nach Seattle fahren.“ Bildete ich mir das Widerstreben in sowohl seiner Stimme als auch in seinen Augen nur ein?

Etwas verspätet – noch ein wenig beschäftigt mit dem wir, das er gerade eben angesprochen hatte – sickerte die Bedeutung seiner Worte in mein Bewusstsein und erschrocken fragte ich mich, ob mir meine eben noch geschwollenen Augen wirklich so sehr anzusehen waren.

Schnell fügte er hinzu: „Ich frage nur, weil es vorhin am Fenster so ausgesehen hatte. Du saßt auf dem Fensterbrett und deine Augen waren geschlossen und … Wenn du müde bist …“

Ich unterbrach ihn. „Ich habe nicht geschlafen, nur … entspannt.“ Eigentlich war das ja auch so. Aber ich wunderte mich, dass er schon so früh da gewesen war; ich fragte mich, warum er nicht schon eher geklingelt hatte, aber vielleicht war das auch ganz gut so gewesen. 

„Na gut, wenn du meinst. Entspannt.“ Jetzt war sein Grinsen wieder richtig. Auch wenn da der Schalk mehr als deutlich funkelte.

Ich schnaubte. „Fahren wir jetzt endlich mal los? Ich will heute noch ankommen!“, maulte ich gespielt quängelig. 

„Klar. Übrigens siehst du schön aus.“, meinte er und seine Stimme klang teilnahmslos, doch in seinen Augen glitzerte etwas anderes, was ich wieder einmal nicht einordnen konnte.

„Öhm, danke. Du siehst auch nicht schlecht aus.“, untertrieb ich verlegen nuschelnd.

Da fiel mir ein, dass ich noch gar nicht darauf geachtet hatte, was er heute trug. Ich beobachtete ihn unauffällig. Er hatte ein rot-schwarz-kariertes Hemd und eine kurze blaue Jeans an, obwohl es schon ziemlich kühl war.

Er schnaubte und sagte: „Lass gut sein, Luna. Ich dachte, du wolltest heute noch in Seattle ankommen. Dann los jetzt.“

Daraufhin ging er um sein Auto herum und hielt mir die Beifahrertür auf.

Ich seufzte und stieg ein. „Danke.“

Als er auf seinem Platz saß und den Motor anschaltete, fiel mir etwas ein.

„Wie alt bist du eigentlich? Nicht, dass wir in Peinlichkeiten geraten, nur weil du keinen Führerschein hast.“

„Ich bin sechzehn und hab einen Führerschein, keine Angst, Mutter. Außerdem darf man dort, wo ich herkomme, schon mit fünfzehn fahren. Wie alt bist du denn?“

„Ich bin fünfzehn, aber ich werde nächsten Monat sechzehn.“

„Du wirkst nicht wie fünfzehn – naja, sechzehn. Du wirkst irgendwie älter. Also nicht vom Aussehen, du weißt schon, wie ich das meine.“ Während er nach vorne schaute und in Richtung Highway abbog, runzelte er die Stirn.

Ich wusste nicht, was ich darauf anderes antworten sollte, als „Hmmm“. Mir kam es nicht so vor. 

Er schien das zu merken und ließ das Thema fallen. Stattdessen sagte er etwas verlegen: „Weißt du, ich bin schon ganz schön überrascht. Ich dachte eigentlich, dass ihr Mädchen immer irgendwas vorhabt. Mit den Freundinnen, oder … oder dem Freund.“ Ich sah, wie seine rostbraune Haut etwas dunkler wurde, als er das sagte.

„Na ja, was das angeht, muss ich passen. Ich hab keine Freunde, geschweige denn, einen richtigen festen Freund. Jetzt hältst du mich sicher für erbärmlich.“

Noah antwortete auf die letzte Bemerkung mit einem beinahe tadelnden Blick; gleich darauf wich dieser Ausdruck der Überraschung. „Aber in der Schule laufen sie dir doch alle hinterher, da kann es außerhalb doch nicht sehr viel anders sein. Was ist denn mit deinen Freunden außerschulisch? Du willst mir doch nicht ernsthaft verkaufen, dass da nichts ist.“

„Doch, ich hatte mal eine Freundin – eine beste Freundin. Jamie, eigentlich Jamilia.“Ich konnte die leise Trauer in meiner Stimme beim Aussprechen dieses Namens nicht ganz verbergen und natürlich merkte er das. Mit seiner großen, warmen Hand rieb er mir tröstend den Arm.

„Habt ihr euch gestritten?“, fragte er leise.

„Nein. Aber das ist auch nicht so wichtig. Es ist eine total langweilige Geschichte.“ Ich versuchte ein Lächeln aufzusetzen. Ziemlich erbärmlich. Er durchschaute mich sofort.

„Ich möchte sie aber hören. Außerdem bin ich mir sicher, dass nichts, was dich angeht langweilig ist. Außer du möchtest es mir nicht …“

Ich unterbrach ihn. Diesen Eindruck sollte er nun auch wieder nicht bekommen.

„Nein, nein, so ist es nicht. Ich möchte dir nur nicht die Laune verderben und nerven.“

„Luna … Glaub mir nur. Du kannst mich gar nicht nerven. Habt ihr euch gestritten?“, hakte er noch einmal nach.

Na schön. Ich hoffte nur, er würde mich noch zu einer Bushaltestelle fahren, wenn er mich hinauswarf. Dann müsste ich wenigstens nicht allzu lang laufen.

„Nein. Ihr Vater ist sehr reich, er ist Bohrarbeiter oder so. Seine Firma läuft ziemlich gut. Jamie musste bei jedem Auftrag, den ihr Vater in einer anderen Stadt bekam, mitkommen, weil ihre Mutter kurz vor ihrem vierten Geburtstag verstorben war. Leider sind diese Aufträge immer mit einem etwas längerem Aufenthalt am jeweiligen Ort verbunden, also mussten sie sich dort immer nur für bis zu drei Jahren niederlassen. Jamie fand das schrecklich stressig. 

So kamen sie dann nach Olympia. Zweieinhalb Jahre haben sie hier gewohnt und wir waren wirklich die besten Freunde. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander und gestritten haben wir uns auch noch nie, weil es einfach nichts zum Streiten gab. Doch dann bekam ihr Vater einen Auftrag in Kanada, ich glaube, Yellowknife. Jamie wollte nicht wegziehen, aber es gab keine Alternative. Ihr Vater ist in diesen Dingen kompromisslos. Ich meine, warum sollte er auch einen Auftrag ablehnen, der ihm vielleicht mehrere tausend Dollar einbrachte?

Eine Weile hielten wir noch Kontakt, doch dann ging sie eine Beziehung mit jemandem ein, der sie richtig glücklich machte, und ich freute mich auch für sie, doch unser eh schon dürftiger Kontakt geriet dadurch noch mehr ins Wanken. Wir riefen uns dann vielleicht noch einmal im Monat an und irgendwann gar nicht mehr. Ich nehme es ihr nicht übel, ich verstehe es, dass sie, wenn sie schon endlich mal einen Freund hat, der es ernst mit ihr meint und der sie glücklich macht, jede Sekunde mit ihm auskosten will und sich nicht mit einem spärlichem Kontakt abmüht, der sowieso nur gerade mal noch für eine Brieffreundschaft reicht – wenn überhaupt.“

Gegen Ende flüsterte ich nur noch, weil ich wusste, dass meine Stimme mich im Stich lassen würde. Und trotzdem war ich seltsam erleichtert, wahrscheinlich weil ich endlich mal mit jemandem darüber geredet hatte.
Eine einzelne Träne lief an meiner Wange runter, doch bevor sie in meinen Schoß tropfen konnte, strich Noah sie mit der Hand, die meinen Arm gestreichelt hatte, weg.

„Hey, nicht weinen!“, versuchte er mich zu beruhigen, doch seine Stimme war voller Sorge.Ich schnaubte und versuchte zu lächeln. „Tut mir leid. Ich bin ein Jammerlappen, oder? Du solltest mich hier rausschmeißen und allein nach Seattle fahren. Da hast du deine Ruhe.“

„Bestimmt nicht, Luna.“

Ich seufzte. „Wenn du meinst.“

Darauf schnaubte er sarkastisch, sagte aber nichts.

Eine Weile herrschte Stille, nur das Knurren des altersschwachen Motors durchbrach die Ruhe, als jeder seinen Gedanken nachhing.

Ich hatte recht behalten, der Regen war verschwunden und der Himmel wurde ein wenig heller. Die Wolken bildeten allerdings immer noch ein dichtes Dach, brachen noch nicht auf. Während ein wunderschöner dichter Wald an uns vorbeirauschte und ich den Geruch des Waldbodens vermischt mit dem eines Rothirsches riechen konnte, dachte ich darüber nach, wie ich vor zwei Tagen noch dazu gestanden hätte, in das Auto eines beinahe noch fremden Jungen, den ich gerade mal einen Tag kannte, einzusteigen; und überhaupt in das Auto eines Jungen, die meisten mieden mich ja dennoch und es entwickelten sich keine richtigen Freundschaften. Allerdings hatte ich auch das Gefühl, dass Noah nicht in die Kategorie „Freunde“ passte …

Auch darüber erschrak ich ein wenig. In diesen Filmen dauerte es Wochen, wenn nicht gar Jahre, bis die „Fast-Pärchen“ so weit waren, wie Noah und ich jetzt. Und das aus gutem Grund. Wenn man es überstürzte – gleich nach dem ersten Date zusammen einen auf Liebespaar machen –, dann konnte das ziemliche Konsequenzen haben. Streit, den Ruf einer … Heiratsschwindlerin, wenn man etwas weiterdachte, und so weiter … eine verpfuschte Zukunft, wenn man dem erstbestem Amateurrocker, den man findet, hinterherrennt, nur um dann viel zu früh schwanger zu werden und dann auch noch von ihm verlassen zu werden … Ja, es hatte seine Konsequenzen, wenn man alles überstürzte. Doch hatte ich denn überhaupt das Recht, darüber nachzudenken … in dem Sinne, dass es denn wirklich angebracht war? War ich tatsächlich so naiv zu glauben, Noah wolle irgendwas Derartiges mit mir am Laufen haben? Vielleicht war ich auch einfach viel zu arrogant um einzusehen, dass Noah mit mir nur befreundet sein wollte – wenn überhaupt, wenn ich ihn nicht mit meinem Benehmen und Gejammere schon längst in die Flucht geschlagen hatte und er schlicht und einfach zu höflich und anständig war um mich auf der Stelle hinauszuwerfen. So, wie ich ihn bis jetzt erlebt hatte, war viel zu stark anzunehmen, dass er mancher Leute Gefühle nicht so gern verletzte.

Dennoch, wenn ich daran dachte, wie vertraut wir gestern nach nur so kurzer Zeit umgegangen waren und wie wohl ich mich in seiner Nähe fühlte, dass es schon an leichte Abhängigkeit erinnerte, dann ging es im Verhältnis zu anderen Freundschaften und deren Entwicklung eindeutig zu schnell, der beste Beweis war ja wohl, dass ich hier in seinem Auto saß und wir nach Seattle fuhren.

Doch es fühlte sich nicht so an, als wäre es zu früh. Wenn ich bei Noah war, fühlte ich mich … ja, ich fühlte mich bei ihm einfach nur geborgen. Noah fühlte sich für mich an wie ein Freund, den ich schon seit geraumer Zeit kannte.Verstohlen beobachtete ich ihn aus dem Augenwinkel. Er hatte die Stirn gerunzelt und schaute starr geradeaus.

Die Neugierde gewann schließlich die Oberhand, also drehte ich meinen Kopf leicht zu ihm, sodass ich ihn noch genauer beobachten konnte. Es war mir schon ein paar Male gelungen, die Mienen der Menschen so zu deuten, dass ich beinahe erraten konnte, was sie dachten. Allzu leicht war es, die meisten zu durchschauen und sie anschließend – natürlich nur in Notfällen – zu beeinflussen. Ich war nicht stolz darauf, doch manchmal war es praktisch. Wie zum Beispiel bei Catherine.

Jetzt brannte ich einfach nur darauf, herauszufinden, was in Noah vorging. Warum war seine Stirn so angestrengt in Falten gelegt? Und warum schob er auf einmal fast schon trotzig die Unterlippe ein wenig vor? Schmollte er etwa? 

Unwillkürlich versank ich in seinen schwarzen Augen, die er immer noch stur auf die Straße geheftet hatte und hörte nur eine Art Flüstern. Kein richtiges Flüstern. Es besaß einen Ton, doch es war … mehr ein Murmeln. Aber dennoch deutlich. Trotzdem konnte ich es nicht verstehen, als würde eine seltsame Blockade es schützen. Als wäre es nicht die gleiche Welle. Auf einmal schrie mir – nicht direkt mir, es kam mir nur so vor, weil es so plötzlich und laut war – eine, seine Stimme entgegen: „Es ist mir egal, was er sagt. Wenn das in einer Woche nicht geregelt ist, erfährt sie von ihnen und von mir!“ 

Obwohl ich wusste, dass er nicht mich mit diesen zornigen, trotzigen und trotzdem verzweifelten Worten angeschrien hatte, zuckte ich vor Noah zurück und zwang mich, aus seinen Augen aufzutauchen. Das bemerkte er. Er schaute mich erschrocken an. Doch davor, unmittelbar nach seinem innerlichen Schrei, nachdem ich wieder … aufgetaut war, hatte er genau den Ausdruck im Gesicht gehabt, den er gehabt hätte, wenn er es laut geschrien hätte – die Brauen noch stärker zusammengezogen, die Augen im dunklen Schatten und der Mund zu einer dünnen, zornigen Linie verformt. 

„Was ist? Was hast du?“, fragte er, immer noch erschrocken und besorgt.

Ich riss mich zusammen. Er würde mich am Ende noch für verrückt halten. Doch der Schrei seiner … Gedanken ließ mich nicht los. Dennoch zwang ich mich zu einem Lächeln.

„Ich … dachte ich hätte ein Reh auf der Straße gesehen, und ich wollte dich gerade waren ...“ Es war eine erbärmliche Lüge und er wusste das, doch aus einem Grund, über den ich irgendwie doch froh war, hakte er diesmal nicht nach. 

„Oh … Das hätte ich schon gesehen, mach dir keine Sorgen!“ Er spielte mit.

Auf keinen Fall wollte ich, dass er wieder solchen, für ihn ganz offensichtlich schmerzhaften Gedanken nachging – und mich selbst wollte ich natürlich, egoistisch wie ich war, auch ablenken, denn ich kam mir niederträchtig und hinterhältig vor, in seine Gedanken eingedrungen zu sein und in seine Privatsphäre –, also fragte ich: „Jetzt bist du aber mal dran! Die ganze Zeit kamst du gar nicht zu Wort, weil ich dich zugequasselt habe. Ich hab dir was über mich erzählt und jetzt bin ich noch umso neugieriger auf deine Geschichte!“ Ich hoffte, dass ich nicht hysterisch klang und man das einen Freund fragen konnte. Noah war doch ein Freund, oder? Und er konnte ja wohl kaum mich in jenem Gedanken gemeint haben. 

Doch um mein Ziel zu erreichen – ihn abzulenken – war das definitiv die falsche Frage, auch wenn er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. 

Der wachsame Ausdruck in seinen Augen verschwand einfach nicht. Dennoch schaffte er beinahe das Grinsen, welches mich immer ein wenig sehr aus der Fassung brachte. 

Erinnerungen

„Was willst du denn wissen? Mein Leben ist nicht sonderlich spannend.“ Im zweiten Teil schwang wieder leichte Bitterkeit in seiner Stimme mit. Ich sollte sie wahrscheinlich nicht hören.

„Irgendetwas. Wie ist es in La Push? Hast du Geschwister? Und vermisst du nicht deine Freunde in der Zeit, wo du jetzt hier in dieser Schule verdammt bist?“ Mir fiel es schwer, mich zu zügeln, sodass es nicht peinlich wurde. So vieles wollte ich über ihn wissen.

Doch zum Glück lächelte er und heftete seinen Blick auf die Straße, besänftigter und – ich bildete mir gerne ein, dass ich ihn dazu gebracht hatte – zufriedener.

„Hmmm … Du stellst Fragen ...“ Er kicherte leise. „Nun ja, in La Push ist es … für mich war – ist es ein kleines Paradies. Der Wald ist das beste. Und dann der Strand mit den bunten Flammen, wenn man das Treibholz anzündet. Und die Klippen, von denen man so super springen kann, tausend mal besser als im Freibad!“ Seine Augen leuchteten, während er über seine Heimat sprach. Ich schwärmte innerlich mit ihm. Ja, das klang nach einem kleinen Paradies.

„Und ja, ich habe Geschwister … einen Bruder ...“ Es klang wieder etwas gezwungen. „Er heißt Quil und ist … zwei Jahre älter als ich.“ Er verzog das Gesicht. Ich fragte mich gar nicht erst warum, ich wollte nicht wieder, dass die Neugier siegte.

Zu deiner letzten Frage,“ - er klang wieder etwas amüsierter, allerdings war da wieder leichte Bitterkeit zu vernehmen - „ich vermisse sie nicht, nein. Und ich glaube, durch dich wird die Verdammnis in der Schule gar nicht so schlimm.“ Er zwinkerte mir zu. 

Ich schnappte heimlich nach Luft. Er sagte, ich würde ihm die Schule erträglicher machen! Ich wusste, dass mein Gesicht vor Freude und vor allem aus Verlegenheit jetzt ausnahmsweise die Farbe einer Tomate angenommen hatte. Das kam selten vor, doch wenn, dann so richtig – entwürdigend und peinlich verräterisch. 

„Ich muss sagen, diese Farbe gefällt mir wirklich außerordentlich gut.“, murmelte er und strich mir mit seinem glühenden Handrücken über die rote Wange. Er seufzte und seine Augen wurden wieder weich, das Schwarz beinahe flüssig. 

Prompt spürte ich, wie mein Gesicht noch dunkler wurde. 

„Guck lieber auf die Straße …“, nuschelte ich undeutlich, um die Verlegenheit zu überspielen, was natürlich überhaupt nicht klappte.

Er lachte, seine Augen immer noch samtweich, hörte allerdings auf mich und wandte seinen Blick wieder der Straße zu. So langsam kamen wieder deutlich mehr Anzeichen von Zivilisation in Sicht und man konnte in der Ferne schon die ersten Wolkenkratzer erkennen; mehr Autos kamen uns entgegen oder überholten uns, da der Wagen nicht mehr als 95 hergab. 

Der Himmel hatte jetzt eine dunkelblaue Farbe angenommen, aber er war zu hell und man konnte noch immer sehen, dass die Wolkenschicht nicht allzu dick war.

Noah hielt mir die Autotür auf und wartete bis ich mir meine Jacke geschnappt hatte und ausgestiegen war. Dann knallte er sie wieder zu. Er hatte auf einem vom Zentrum weiter entfernten Abstellplatz geparkt um sich die Plackerei der Suche und der Menschenmassen zu ersparen. Trotzdem waren hier schon viel zu viel Menschen. 

„Ich hoffe du nimmst es mir nicht übel, wenn wir lieber in den etwas ruhigeren Vierteln bleiben, da sind nicht so viele Menschen.“ 

Ich schüttelte den Kopf. Das war mir auch viel lieber. Weniger Gedrängel und Hektik.

„Also, wo willst du zuerst hin?“, fragte er höflich lächelnd.

„Ähm, also, ich richte mich da nach dir, mir ist das egal, du wolltest doch sicher irgendwohin.“

„Weißt du, ich muss dir was gestehen. Ich hab das gestern nur erfunden, als ich sagte, ich hätte geplant, nach Seattle zu fahren. Aber ehrlich gesagt, wollte ich das auch, um mal von zu Hause wegzukommen. Ich halte es dort einfach nicht mehr aus. Levi erwartet einfach viel zu viel von mi... – ich meine, zu Hause erwarten alle ziemlich viel von mir.“ Er runzelte die Stirn und es sah wieder so aus, als würde er sich über sich selbst ärgern, als hätte er schon wieder zu viel gesagt.

„Ach so.“, sagte ich nur. „Na ja, mal sehen, wo wir vorbeikommen.“

Er nickte nur.

Wir liefen eine Weile schweigend nebeneinander, bis die ersten Läden in Sicht kamen. Und noch mehr Menschen.

„Oh, könnten wir kurz hier reingehen?“, fragte ich und deutete auf einen Drogeriemarkt – ich könnte mal wieder eine neue Zahnbürste gebrauchen; meine Alte war zwar noch in Ordnung, aber ich hatte es mir schon lange vorgenommen, war jedoch nie dazu gekommen.

Als Noah nicht antwortete, schaute ich ihn an, doch er starrte nur auf meinen Arm, als würden dort Geister herumlungern.

Ich blickte erschrocken auf die Stelle. Die wenigen, gedämpften Sonnenstrahlen, die es nun doch durch die Wolkendecke geschafft hatten, erreichten die Stelle auf der Haut meines Armes, auf den Noah jetzt so aufgebracht guckte, und erzeugten das übliche leichte, unscheinbare Glitzern auf meiner Haut. Ich wusste nicht, was es war, und warum nur ich in der Sonne leicht schimmerte, doch kurz nachdem ich es entdeckt hatte, war mir bewusst geworden, dass es mir egal war und mich nicht weiter interessierte. Noah jedoch schien das Glitzern mehr zu sagen.

Ich ließ mir nichts anmerken, und fragte noch einmal etwas nachdrücklicher: „Macht es dir etwas aus, wenn ich hier mal kurz reinschaue?“ Er schreckte hoch und starrte verwirrt in mein Gesicht. Die Augen waren aufgerissen und sein Mund stand leicht offen. Ich musste etwas schmunzeln – es sah so süß aus.

„Hm?“, fragte er.

„Können wir hier kurz mal rein?“, fragte ich mich noch einmal.

„Öhm, klar. Kein Thema.“

Während wir in die Drogerie gingen, ich mir meine Zahnbürste aussuchte und sie bezahlte, und wir anschließend wieder rausgingen, spürte ich Noahs Blick auf mir ruhen. Ich war froh, als der Himmel sich wieder zuzog, dunkler wurde und ich spürte, dass die Sonnenstrahlen nun endlich wirklich keine Chance mehr hatten, mich zum Glitzern zu bringen. Vielleicht vergaß Noah es dann und wurde wieder der Alte.

Als wir schon etwa zwei Stunden unterwegs waren – Noah hatte sich wieder beruhigt und ein neues Thema angefangen (die Schule – ich war nicht sehr begeistert, aber froh, dass er wieder mit mir redete) und der Himmel immer dunkler wurde, nicht nur, weil es später wurde – kamen uns vier Frauen, mit unglaublich vielen Einkaufstüten bepackt, entgegen. Ich hörte Noah nur am Rande leise, doch verärgert, seufzen – ich glaubte sogar, ihn leise knurren zu hören, war mir aber nicht ganz sicher, da es zu leise war –, doch der Großteil meiner Aufmerksamkeit galt ihnen.

Sie waren überirdisch schön. Doch das fand ich noch weit untertrieben. Schlicht und einfach perfekt passte besser. Sie sahen etwa wie siebzehn, achtzehn, vielleicht auch neunzehn oder zwanzig aus. Es war schwer zu beurteilen. Sie waren kreidebleich, noch etwas blasser als ich, doch unter den Augen waren leichte Schatten, als hätten sie lange nicht mehr geschlafen, aber das änderte keineswegs etwas an ihrer Schönheit. Sie waren sich so ähnlich wie Geschwister, aber gleichzeitig so verschieden – jedenfalls ihre Gesichter. Sie hatten … goldene Augen, soweit ich das aus der Entfernung beurteilen konnte – wie flüssiger Topas. Sie hatten Figuren und Gesichter, für die alle Models der Welt ihre Seele geben würden und ihre Bewegungen waren von einer unbeschreiblichen und umwerfenden Eleganz.

Eine von ihnen hatte lange, glänzende, blonde Haare und sie war eine dieser klassischen Schönheiten, die man nur auf uralten Gemälden von Künstlern sah, oder auf mehrmals bearbeiteten Werbeplakaten von Make-up-Produkten. Sie wirkte auf mich etwas überheblich, doch wahrscheinlich war ich einfach nur voreingenommen. Ihre unglaubliche Ausstrahlung war Gift für das Selbstbewusstsein eines jeden Mädchens.

Eine andere hatte kurze, tiefschwarze Haare, die in alle Richtungen abstanden. Sie ähnelte eher einer wunderschönen Elfe. Sie war die Kleinste von allen.

Die beiden anderen sahen sich noch etwas ähnlicher, als wären sie tatsächlich verwandt. Die Größere hatte braune Locken und ein seltsam gutmütiges Gesicht – wie eine Mutter.

Doch die Letzte der Vier interessierte - fesselte mich am meisten, und ich wusste keineswegs, weshalb. Auch ihre Haare waren gelockt und es befand sich etwas von denen der Braunhaarigen in ihnen. Sie waren bronzefarben – wie meine, vielleicht ein wenig heller– und gingen ihr bis zur Taille. Ihre Wangen waren als einzige rosig.

Den Herzschlag der vier Frauen konnte ich jedoch nicht hören und das brachte mich zum Stutzen. Vielleicht waren sie noch zu weit entfernt. 

Ich hatte mich vorhin geirrt. Nicht jede von ihnen hatte goldene Augen. Es war diejenige, die ich jetzt anstarrte, die zurück starrte und die von allen die Einzige war, die braune Augen hatte. Schokoladenbraune Augen … Augen, wie meine. Sie sah am … normalsten, am menschlichsten von allen aus, doch auf keinen Fall, in irgendeiner Weise, weniger schön. Eher im Gegenteil. Doch es war schwer, zu beurteilen, wer von allen die Schönste war.

Das allerseltsamste an den vier Frauen – Mädchen, wie auch immer – war, sie kamen mir unglaublich bekannt vor. Seltsam vertraut. Als kannte ich sie, hätte sie jedoch seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Doch das war eigentlich unmöglich, da ich mir sicher war, dass es noch dieselben Gesichter waren, von wann oder wo auch immer, und wenn ich diese vier Menschen lange nicht mehr gesehen hätte, mussten sie sich normalerweise verändert haben, weil ich mit Gewissheit sagen konnte, dass ich sie seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte … wenn ich sie überhaupt je gesehen hatte.

Was mich mit am meisten verwirrte, war, dass ich derjenigen, dessen Haare sowie Augen ich hatte, einen Namen zuordnen konnte. Und es war seltsam, dass dieser Name die einzige, schleierhafte Erinnerung an meine richtige, frühere Familie war.

Renesmee.

Ich wusste, dass ich diesen Namen nie, nie vergessen würde; und ich war mir ziemlich sicher, dass sie so hieß. Doch an was ich mich nicht erinnern konnte, war, welche Rolle diese Person in meiner Familie gespielt hatte. Meine Mutter, oder meine Schwester, oder vielleicht auch meine Cousine oder Tante.

Auch für die anderen hatte ich Namen parat, die mit der Erinnerung des einen erwachten, doch ich wusste überhaupt nicht, ob sie stimmten. Es waren alte Namen, Namen wie Rosalind, Isabella oder Alicia. Namen von älteren Menschen. Doch ich war mir, wie gesagt, auf keinen Fall sicher.

Als sie uns auch sahen, verschwamm der Blick der Kleinsten etwas, die der anderen blieb an mir hängen, ihr vorheriges, glockenhelles Lachen erstarrte. Als hätten sie ähnliche Gedanken wie ich.

Diejenige, deren ich mir sicher war, dass sie Renesmee hieß, ließ ihre Hand blitzschnell – fast so schnell, dass ich es nicht gesehen hätte – nach dem Handgelenk der Braunhaarigen greifen. Diese schien kaum merklich, ganz leicht, zu nicken.

Dann blieben sie vor uns stehen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie so nahe gekommen waren. Und tatsächlich, nachdem sie jetzt weniger entfernt von uns waren, hörte ich einen Herzschlag. Allerdings wirklich nur einen. Er war schnell – wie bei Noah, wenn nicht gar noch schneller; acht oder neun Schläge in der Sekunde. Beinahe das Doppelte von meiner konstanten Anzahl Herzschläge. Seltsam. Jetzt bildete ich mir auch noch Sachen ein. 

Was ich mir allerdings nicht einbildete, war dieser unbeschreibliche, unglaublich betörende Duft. Er war mit keinem anderen zu vergleichen und kein Parfum könnte ihm jemals das Wasser reichen. Ich kannte ihn. Warum, und wo hatte ich ihn schon einmal gerochen?

„Noah. Schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?“, fragte die Braune höflich und lächelte Noah ebenso höflich an.

„Gut.“, brummte dieser ziemlich unfreundlich zurück. Das ärgerte mich etwas, aber ich konnte nicht recht sagen, weshalb.

„Das ist schön. Wer ist denn deine Begleitung?“ Obwohl ich mir sicher war, dass diese Frage an Noah gerichtet sein sollte, schaute die Braune mich an. Ihr höfliches, umwerfendes Lächeln entglitt ihr etwas, wurde seltsam nachdenklich.

„Sie heißt Luna. Was macht ihr eigentlich hier?“ Ich mochte es nicht, dass er so unfreundlich zu ihnen war. Aber warum?

Meinen Namen hatte er mit einem grimmigen Nachdruck ausgesprochen. Als wollte er den Vieren etwas beweisen, oder auch mitteilen. Oder ich spann mir auch das nur zusammen.Bei meinem Namen, bemerkte ich mit dem Augenwinkel, dass der Griff der mir am Vertrautesten um das Handgelenk der Mütterlichen noch stärker und verkrampfter wurde.Ich starrte sie an. Sie starrte zurück. Sie hatte die Lippen zusammengepresst, als müsse sie sich wegen irgendetwas beherrschen.

Auch die anderen reagierten seltsam. Sie atmeten alle leise zischend ein und blickten mich entgeistert an. Einzig die Reaktion der Blonden war nicht so extrem. Sie wirkte sogar etwas gleichgültig. Aber nur ein wenig.

„Das Gleiche, was ihr hier tut, Hund. Was sonst? Obwohl ich dir diese Frage auch stellen könnte. Hast du nicht etwas zu tun?“, fragte sie bedeutungsvoll. Ihre Stimme war wie ein Windspiel. Klingend und wunderschön, doch tatsächlich etwas eingebildet, wie ich vorher schon vermutet hatte, und es war mir auch schleierhaft, weshalb sie Noah einen Hund genannt hatte. Dieser biss hörbar die Zähne zusammen und schaute die Blonde hasserfüllt an.

„Rose. Es ist gut!“ Zum ersten Mal sagte die Bronzehaarige etwas und ihre Stimme war von einem weichen und doch mahnenden, hohen Sopran und weckte weitere Erinnerungen in mir, die ich allerdings nicht zu deuten vermochte. Ein kleiner Teil meines Gehirns registrierte, dass ich also wahrscheinlich auch noch Recht hatte mit den Namen, jedenfalls bei der Blonden.

„Wir sollten jetzt nach Hause. Carlisle wartet sicher schon.“, bemerkte die Schwarzhaarige. Sie sprach ebenfalls mahnend und erinnernd.

Auch der Name Carlisle sagte mir etwas (obwohl er sicherlich selten war), doch ich wusste nicht, was.

„Da bin mal ganz eurer Meinung.“, knurrte Noah beinahe.

„Gewiss.“, entgegnete die Blonde namens Rose, als hätte sie ihn gar nicht gehört.

Die anderen stimmten der Schwarzhaarigen ebenfalls murmelnd zu, während der Blick der Bronzehaarigen, welcher noch immer auf meinem Gesicht ruhte, leicht wehmütig wurde.Ich merkte, dass ich gar nicht wollte, dass sie gingen, doch ich brachte kein Wort heraus. Nicht, dass ich etwas gesagt hätte.

„Auf Wiedersehen, Noah. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder. Auf Wiedersehen, Luna …“, verabschiedete sich die Braune von uns und es hörte sich so an, als wolle sie mir noch etwas sagen, wusste aber nicht recht, was.

„Mach's gut, Luna.“, flüsterte Renesmee. Es war kaum zu hören. Ich öffnete den Mund um etwas zu sagen, befahl meiner Stimme, Worte zu formen, doch es kam nur ein Hauchen.

Die vier Frauen wandten sich um, liefen trotz der vielen, und mit Sicherheit schweren Einkaufstüten, zügig mit dieser unbeschreiblichen Eleganz in Richtung Norden Seattles und waren nach wenigen Sekunden aus meinem Blickfeld verschwunden.

Noah schnaubte wütend und sagte: „Komm. Wir gehen weiter.“ Seine Hände zitterten ein wenig. Doch er ballte sie zu Fäusten.

Den Rest unseres Ausfluges konnte ich eigentlich vergessen, da ich nur noch körperlich anwesend war. Noah schien es zu merken, doch er sagte nichts. Oder vielleicht merkte ich es einfach auch nicht. Doch als der Tag sich langsam dem Ende neigte, wurde ich etwas … ich konnte es nicht beschreiben … wacher? Nein, das nicht, aber so etwas in der Art. Ich lief etwas bewusster neben Noah her. Wurde wieder etwas aufmerksamer. Meine Gedanken kreisten jedoch noch immer um sie.

Noah schien es zu spüren, also ließ er sich schnell etwas einfallen, damit ich nicht sofort wieder in die Starre – so konnte man es wohl auch nennen – verfiel. Doch nie hätte ich gedacht, dass er sich das einfallen ließ.

„So. Jetzt lade ich dich mal zum Essen ein. Du musst doch auch ziemlich hungrig sein, oder?“

„Wie meinst du das, „zum Essen einladen“?“, fragte ich schnell, sofort wieder hellwach. Was für eine dumme Frage!

„So, wie ich es gesagt habe“, entgegnete Noah und grinste.

„Du musst doch nicht …“, wollte ich sagen, doch er unterbrach mich mitten im Satz.

„Nein, du hast Recht. Ich muss nicht, aber ich möchte gern. Tust du mir den Gefallen und begleitest mich?“ Und dabei schaute er mich mit großen Augen an und neigte seinen Kopf leicht zur Seite.

Wie könnte ich diesem Gesicht etwas abschlagen?

„Öhm, klar, wenn du willst.“ Meine Stimme war unmöglich. Hatte ich da etwa gerade gesäuselt?
Als er jedoch strahlte und den Blick wieder abwandte um das nächste Restaurant zu suchen, murmelte ich: „Das ist aber vollkommen unnötig“

Noah grinste etwas breiter, sagte aber nichts mehr.

Nach einer Weile kamen wir an den Rand der Stadt, es war hier sehr ruhig – soweit es in Seattle denn ruhig sein konnte – und die Umgebung erinnerte eher ein wenig an Italien als an Nordwestamerika; an einer abgerundeten Ecke eines winzigen Häuserblocks, der im Kontrast zu den im Hintergrund aufragenden grauen, mit zahllosen Lichtern – jetzt, da es dunkel war – beleuchteten Wolkenkratzern beinahe eingeschüchtert wirkte, lauerte in geschwungener Schrift, die unter einer gelben Laterne angestrahlt wurde, der Name Mora-Jill's. Es war ein kleines Lokal mit einer winzigen, hölzernen Tür, die vermutlich als Eingang gedacht war. Die Fassade war orangerot gestrichen und war leicht mit Efeu bewachsen. Aus den Fenstern strömte warmes orangenes Licht.

Noah nickte mit dem Kopf in Richtung dieses Stübchens. „Ist mit Abstand das Beste hier in der Gegend. Es ist noch ziemlich neu, deshalb bezweifle ich, dass du es schon auf Karten oder sonst wo finden wirst. Aber ich kenne den Besitzer und … ich war hier schon einmal zu der Hochzeitsfeier meines Bruders. Also nehme ich es mir einmal heraus, dich … jetzt darein zu entführen.“

Ich schüttelte nur den Kopf und murmelte etwas von „… vollkommen unnötig …“ vor mich hin.

Natürlich freute ich mich, dass er mich zum Essen eingeladen hatte und – ehrlich gesagt – je länger ich zum Essen brauchte, desto mehr Zeit konnte ich mit Noah verbringen, aber ich konnte es nun einmal gar nicht leiden, wenn jemand anderes für mich Geld ausgab – nicht dass es oft vorkam. Ich wusste, dass das manchmal ziemlich bescheuert war, aber na ja … Ich hatte dabei einfach immer ein schlechtes Gewissen.

Noah wartete schon am Eingang und hielt mir die Tür auf, wartete darauf, dass ich ihm nachkam. Übertrieben eingeschnappt stolzierte ich mit hoch erhobenem Kopf durch die Tür, um mir wenigstens ein kleines Fünkchen Würde zu bewahren. Doch leider verließ der Versuch gänzlich an Wirkung, als Noah leise, aber vernehmlich kicherte.

Ein dicker, schwerer Geruch von Mandarine, Früchtetee, Weihrauch und Schweinefleisch stieg mir in die Nase. Es war keine besonders angenehme Mischung, doch sie machte mich leicht schläfrig und lullte mich ein. Ich schüttelte den Kopf um meine Gedanken wieder freizubekommen … und bereute es gleich darauf. Vier Frauen. Eine, mir wie aus dem Gesicht geschnitten. Ein Name.

Ich seufzte. Ich konnte es nicht vergessen. Um mich abzulenken, schaute ich mich in dem kleinen Lokal um.

Es war nicht sonderlich voll hier, nur ein paar Tische waren entweder mit Pärchen oder Kollegen in einem Geschäftsessen besetzt. Auf jedem der Tische standen zwei Teelichter mir Orangenduft.  Am Tresen stand ein kräftiger Mann mittlerem Alters mit einem karierten Geschirrtuch in der Hand, womit er ein Cognacglas abtrocknete. Als wir eintraten, schaute er auf, nickte uns zu und lächelte mich an. Ich nickte zurück. Sicher hätte er einen der Kellner holen können, doch stattdessen stellte er das Glas weg, warf sich das Tuch über die Schulter, kam auf uns zu und sagte: „Herzlich willkommen! Wie kann ich euch behilflich sein? Mein Name ist übrigens George.“

Bevor ich antworten konnte, maulte Noah: „Nichts. Wir finden schon einen Tisch, danke.“Georges Lächeln erstarb und er funkelte Noah verärgert an. „Wie Sie wünschen.“ Und damit wandte er sich ab, lief wieder zum Tresen und schrubbte das Glas so energisch weiter, dass es an Gewalt grenzte.

Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute ich Noah an. „Musste das sein? Der wollte doch nur behilflich sein …“

Er schnaubte. „Behilflich! Klar, so wie der dich angeguckt hat … Ja, der wollte nur helfen!“

„Und das hat dich zu kümmern, weil …?“

Noah wurde rot. „Der ist viel zu alt für dich.“, grummelte er unverständlich in sich hinein.Anstatt etwas zu erwidern und meine Freiheit zu verteidigen, gluckste ich und hielt nach einem Tisch Ausschau.

„Wie wäre es mit dem hier?“ Ich deutete auf einen kleinen runden Tisch mit zwei Stühlen neben einem der Fenster. Noah nickte nur und zog – ganz der Gentleman – einen Stuhl zurück, damit ich mich setzen konnte. Ich lächelte und sagte leise: „Danke.“

Als auch er saß, musterte er mich mit gerunzelter Stirn. Ich überlegte, warum.

Kurz darauf kam ein sichtlich übereifriger Kellner. Er erinnerte an italienische Herkunft und wirkte wie Mitte zwanzig. Ein schmieriges Lächeln lag auf seinen Lippen.

„Was kann ich Euch-e bringen?“ Auch seine Stimme hatte einen deutlich italienischen Akzent.
„Wir haben noch nicht einmal eine Karte!“ Noah war schon wieder etwas zu unfreundlich, doch diesmal störte mich es überhaupt nicht. Zum Einen hatten wir tatsächlich noch keine Karte und zum Anderen stieß mich irgendetwas in seinem Gesicht unheimlich ab.

„Ah. Einen Moment-e!“ Er wandte sich ab, ging zum Tresen und kam mit zwei Menükarten zurück. Er machte keinerlei Anstalten, wieder in die Küche zu gehen und so schaute ich schnell in die Karte und bestellte das Billigste, was auf der ersten Seite zu finden war.

Auch Noah – so sah es jedenfalls aus – bestellte nur flüchtig das Erstbeste, was er fand.

„Getränke?“, wollte der Kellner wissen. Noah schaute mich fragend an.

„Ähm, ich nehme eine Apfelschorle.“

„Das Gleiche“, sagte Noah.

Mit einem letzten übertriebenem Grinsen nahm er die Menükarten und ging endlich in die Küche. Nach einer kurzen Schweigeminute, in der ich überlegte, wie ich es anstellen sollte, dachte ich, dass es wahrscheinlich das beste war, einfach gerade heraus zu fragen.

„Öhm, wer waren eigentlich die vier Frauen von heute Nachmittag? Es sah so aus, als ob du sie kanntest.“ Es hatte nicht nur so ausgesehen. Natürlich kannte er sie. Doch ich wollte es … sachte angehen. Den Blick hielt ich gesenkt, aus Angst, mein Gesicht würde zu viel preisgeben.

„Ist dir nicht entgangen, oder?“ Und bevor ich etwas erwidern konnte, erzählte er: „Die Vier sind Freunde der Familie.“ Noahs Gesicht verdüsterte sich. „Sie kennen alle aus meiner Familie und, ehrlich gesagt, zählen meine Eltern und so, sie auch dazu. Ich kann sie nicht sonderlich leiden. Hast du bestimmt auch gemerkt. Also, die Kleinste heißt Alice, die Blonde Rosalie, die Braune Bella und die andere …“

„ … Renesmee.“ Es war mir herausgerutscht, bevor ich es zurückhalten konnte.

Noah sah mich verblüfft und argwöhnisch an. „Genau. Woher weißt du das?“

Ich schüttelte leicht den Kopf. „Geraten“

Er runzelte die Stirn. „Dieser Name ist nicht sehr geläufig.“

„Ach, ich weiß doch auch nicht.“ Das stimmte sogar.

Ein kleiner Teil meines Gehirns registrierte, dass ich mit den übrigen Namen gar nicht so falsch gelegen hatte, doch eigentlich überlegte ich, wie ich mich den prüfenden Blicken Noahs entziehen konnte. Ich sah, wie seine Nasenflügel bebten, wie seine Augenbrauen zu einer Linie wurden, wie die vollen Lippen sich zu einem weißen Strich verzogen. Er überlegte. Grimmig.Ich berührte instinktiv mit meinen Fingerspitzen leicht seine Stirn um sie wieder zu glätten. Unter meiner Berührung schien er sich etwas zu entspannen, er schloss die Augen. Meine Finger wanderten über die Schläfen zu seiner Wange, während ich die Wärme und die Beschaffenheit seiner Haut bewunderte. Ich merkte auch, dass es darunter steinhart war. Er legte seine Hand auf meine und öffnete ganz langsam die Augen und dann war ich darin gefangen.

In meinem Bauch begann es ungewohnt zu kribbeln und meine Beine zitterten. Meine Lunge musste sich anstrengen, um den nötigen Sauerstoff zu erhalten. Mir war es egal.

Das flüssige Schwarz seiner Augen; die Wärme seiner Wange; seinen unbeschreiblichen Geruch; seinen unverwechselbaren, viel zu schnellen Herzschlag – das war alles, was meine betäubten Sinne im Moment wahrnahmen. Mir war es egal.

Ich weiß nicht, wie lange wir so dasaßen, es hätten nur Sekunden, aber auch Tage sein können. Mir war es egal.

Jedenfalls wurden wir plötzlich von dem schmierigen Kellner aufgeschreckt, der auf einem Tablett Essen und Getränke an unseren Tisch brachte. Er schaute uns mit einem vielsagendem Blick an, doch Noah merkte es zum Glück nicht, wahrscheinlich wäre er schon wieder zu unfreundlich geworden. Sein Blick ruhte noch immer auf mir.

Nachdem wir uns bedankt hatten, kehrte der Kellner wieder in die Küche zurück.Ich kann mich weiß Gott nicht mehr an das Essen erinnern, geschweige denn, was ich da aß, weil meine Gedanken nur noch um zwei Dinge kreisten.

Zum einen waren da immer noch die vier wunderschönen Frauen, die so verbissen in meinen Gedanken wühlten und an meinen Kindheitserinnerungen kratzten. Doch sobald ich mich bemühte, die Erinnerungen, die Renesmee in meinem Hirn weckte, genauer zu erkennen, verschwand alles und wurde zu einer regelrechten Suppe.

Und zum anderen war da Noah. Ich war noch immer verwirrt, weil alles so verdammt schnell ging. Ich wusste, dass es normalerweise Tage, wenn nicht gar Wochen dauern würde, bis man so weit war, wie Noah und ich. Aber es fühlte sich einfach nicht falsch an. Ganz im Gegenteil.

Die ganze Zeit herrschte Stille. Keiner sagte etwas, während wir aßen.

„Über was denkst du gerade nach?“, fragte Noah plötzlich.

„Über die Zeit.“

„Hmm … Ja, die Zeit kann grausam sein.“ Stirnrunzeln.

„Was meinst du damit?“

Er schaute mich traurig an, seufzte. „Ist eine lange Geschichte.“

„Willst du … ähm … darüber … reden?“ Ich zögerte, als ich das fragte, ich wollte ja nicht zu aufdringlich sein, aber es war offensichtlich, dass das Thema Zeit eine bei ihm eine Wunde war.

Noahs Gesichtsausdruck zeigte, dass er nichts lieber wollte, als es mir zu erzählen; er öffnete den Mund, stockte aber und schloss ihn wieder. Dann trat erneut ein unendlicher Schmerz auf sein Gesicht. „Du ahnst gar nicht, wie gern ich es dir erzählen will, aber ich … kann es … nicht. Es tut mir so leid!“

„Hey, schon okay. Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht … kannst.“

Er nickte dankbar und dennoch entschuldigend.

Nach einem weiteren kurzen Schweigemoment überlegte ich, wie ich das Thema wechseln konnte. Dann fing ich an zu kichern. „Ich frage mich, was sie mit mir machen werden, wenn ich wieder nach Hause komme. Meine Flucht wird ja nicht unbemerkt gewesen sein.“

„Glaubst du, dass sie sich Sorgen machen? Glaubst du, du bekommst Ärger?“

Ich ignorierte die zweite Frage, weil er sich wahrscheinlich dann Schuldgefühle machen würde. „Catherine? Nein, Catherine macht sich keine Sorgen um mich und Adam auch nicht; um Davis vielleicht, und um Joshua – meine beiden Brüder. Aber um mich? Nicht in diesem Leben. Sie werden sich wahrscheinlich nur Sorgen machen, dass ich irgendwie auf mich aufmerksam machen will. Das könnte den Nachbarn negativ auffallen. Die reinste Hölle für Cathy – Argwohn der Nachbarn.“ Ich kicherte wieder. Ja, das würde ihr ähnlich sehen.

„Tja, da gibt’s eine ganz einfache Lösung für dieses Problem: Ich entführe dich weiterhin und nehme dich als Geisel!“ Er grinste mich frech an.

Sicherlich war das für ihn nur ein Spaß, aber … mein Gott, was würde ich nicht alles dafür machen, das es keiner wäre. Ich musste mich anstrengen, um mir nichts anmerken zu lassen.

„Fürchterlich reizvoll. Aber ich glaube, dann musst du den ganzen Ärger einstecken. Und das kann ich doch keinesfalls zulassen!“

„Ach, ähm … weißt du, das wäre nicht das erste Mal, dass ich für irgendeinen Mist büßen muss. So artig, wie du denkst, bin ich nicht!“ Seine Haut wurde etwas dunkler und er senkte verlegen den Blick.
Ich tat gespielt überrascht und atmete geräuschvoll ein. „Tatsächlich? Du bist also kein Musterschüler? Was hast du denn so alles angestellt, du Schwerverbrecher?“

„Das willst du lieber gar nicht wissen.“

„Mhh … Ich glaube, das will ich sehr wohl wissen. Ich muss doch wissen, ob ich mich demnächst für Fahndungsplakate, auf denen ich als deine Komplizin gesucht werde, hübsch machen muss. Jetzt erzähl schon!“
„Okay. Da war einmal … Ich hab einmal … das Auto meines Lehrers lahmgelegt. In der Grundschule.“

Ich lachte und er stimmte ein. „In der Grundschule? Oh weja … Wie hast du das hinbekommen?“ Ich musste zugeben, ich war ein wenig beeindruckt, falls das stimmen sollte. Übertrieben bescheiden zuckte er grinsend mit den Schultern. „In meiner Familie gibt’s wohl zu viele Autofanatiker.

„Achso. Und was ist dann passiert?“„Ich bin von der Schule geflogen. Du kannst dir bestimmt vorstellen, wie meine Mutter an die Decke gegangen ist. In der vierten Klasse geflogen! Ich hatte ein halbes Jahr lang Hausarrest. Aber wenigstens meine Brüder waren stolz auf mich. Das hatte echt noch keiner von ihnen gewagt!“

Wir lachten beide, wie kleine Kinder.

„Und du? Hast du auch irgendwann mal was angestellt?“, fragte Noah, als wir uns wieder halbwegs beruhigt hatten.

„Na ja … ich könnte jetzt ja sagen, um im Vergleich zu dir nicht allzu langweilig dazustehen, aber ich bin wohl einfach nicht taff genug.“ Ich hatte auch nie einen Grund gesehen, etwas anzustellen, es hätte mir nur Ärger eingebracht.

„Ich bin entsetzt! Mit so jemandem möchte ich nichts zu tun haben. Bitte gib die Luft zurück, die du mir gestohlen hast.“ Der nackte Schalk saß in seinem Blick.

Ich hätte ihn dazu auffordern können, sie sich doch selbst zurückzuholen, aber das schien mir doch ein wenig zu … zu … übertrieben. Stattdessen schob ich mir schnell einen Löffel Irgendwas von meinem Teller in den Mund. Noah gluckste, wahrscheinlich hatte er schon erraten, dass ich mich zurückhielt.

„Ganz so atemberaubend, wie du denkst, bist du auch wieder nicht.“, log ich dennoch munter.

Daraufhin schenkte er mir einen missbilligenden Blick für meinen schlechten Witz. „Jetzt bin ich aber beleidigt. Iss lieber auf, falls ich dich wirklich noch entführen sollte! Das würde dir außerdem eh nicht schaden, wie viel wiegst du? Drei Kilo?“, zog er mich auf.

„Kann ja nicht jeder so ein übertrieben riesiger Muskelprotz wie du sein. Außerdem fragt man so etwas eine Frau nicht!“ Ich streckte ihm – kindisch, wie ich war – die Zunge raus.

„Wenn du mich schon übertrieben findest, solltest du mal meine Freunde aus La Push kennenlernen. Ich will zwar nicht, dass du Angst bekommst, aber ich muss zugeben, dass es einen gewissen Reiz hätte, dein Gesicht bei deren Anblick zu sehen.“

„Vor dir habe ich doch auch keine Angst; du bist nur jemand, der gerne angibt.“

„Aua! Das tat ganz schön weh! Du traust mir also zu, dass ich angebe, ja?“ Er grinste, vielleicht um mir zu zeigen, dass es ihn nicht wirklich verletzt hatte.

„Pff, ich habe doch gesehen, wie du gestern in Sport deine Muskeln spielen lassen hast. Denkst du, die Mädchen fanden den Lehrer so lustig, dass sie so ununterbrochen kichern mussten?“

Er runzelte die Stirn und sah tatsächlich ein wenig überrascht aus. „Die haben gekichert?“

„Und wie! Die waren ganz schön beeindruckt.“

Jetzt grinste er wieder. „Warst du auch beeindruckt?“ Seine Augen blitzten.

„Ein wenig …“, gab ich zu und wurde schon wieder rot. Das kam doch normalerweise nur selten bei mir vor, verdammt noch mal!

Ganz kurz flog sein Blick irgendwohin, und sein Gesicht verdunkelte sich. Doch noch bevor ich einmal blinzeln konnte lachte er. Ich war mir nicht sicher, ob das überhaupt wirklich passiert war.

„Aber mir vorwerfen, anzugeben!“

„Was meinst du?“ Nun war es an mir, überrascht die Stirn zu runzeln.

„Luna.“ Warum lief mir immer ein wohliger Schauer über den Rücken, wenn er meinen Namen sagte? „Du bringst den Jungen da ganz aus der Fassung!“ Er nickte leicht in Richtung eines der beiden Fenster, von denen aus der sich allmählich verdunkelnde Himmel jetzt hereinschaute.

Davor saß an einem größeren Tisch ein Junge etwa meines Alters mit seiner Familie, wie ich vermutete. Neben ihm unterhielt sich eine etwas rundliche, ältere Frau mit wilden weißblonden Haaren mit ihrem Gegenüber, dessen Gesicht ich nicht erkennen konnte, da er mit dem Rücken zu mir saß, aber es war offensichtlich ein Mann. Ich reimte mir zusammen, dass die beiden wohl die Eltern des Jungen waren. Dieser schaute – als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete – schnell wieder weg. Plötzlich schien er sich sehr für das Gespräch der Älteren zu interessieren. Er schüttelte ein wenig verwirrt den Kopf und seine aschblonden Haare flogen durcheinander.

Noah hatte mich die ganze Zeit nicht aus den forschenden Augen gelassen und zog eine Augenbraue hoch, als ich ihn wieder ansah. Ich musste wohl immer noch ziemlich verwirrt dreinschauen.

„Ich bin wohl offenbar nicht der Einzige, der diese Farbe an dir mag.“ Verlegen betrachtete ich meinen Teller, der – warum auch immer – schon halbleer war.

„Wahrscheinlich hat er nur deine Arme gesehen und bekam es mit der Angst zu tun.“, versuchte ich vergebens meine Würde zu wahren.

„Und bestimmt deswegen hat er auch dich angestarrt.“ Er lachte wieder.

„Hmpf“, machte ich, sagte allerdings nichts mehr darauf. Es war sinnlos, mit ihm zu diskutieren. Er war ein hoffnungsloser Dickkopf, das hatte ich bereits bemerkt.

Um das Essen nicht zu verschwenden, machte ich mich daran, aufzuessen. Noahs Teller war - wie auch immer er das geschafft hatte - bereits leer. Auf einmal klingelte sein Handy. Es ließ mich kurz zusammenfahren, das Geräusch passte nicht. Wozu auch immer. 

„Entschuldige kurz“, murmelte Noah mir zu, zog genervt das Handy aus seiner Hosentasche, schaute auf das Display und nahm noch genervter und auch ein klein wenig wütend, wie ich fand, ab. 

„Ja?“ Pause. Sein Gesicht wurde richtig wütend und auch bockig. Ich konnte die Stimme am anderen Ende der Leitung hören, allerdings nicht, was gesagt wurde und das ging mich ja auch gar nichts an.

„Du kannst Levi sagen, dass ich meine Schichten doppelt und dreifach gemacht habe.“ Auf einmal flog sein Blick zu mir, als hätte er für einen kurzen Moment vergessen, dass ich ihm gegenüber saß und befürchtete nun wahrscheinlich, dass er zu viel gesagt habe. Ich verstand wiederum überhaupt nichts.

„Achja?“ Sofort wurde er wieder wütend, als die andere Stimme weiterredete. „Ich bin ihm überhaupt nichts schuldig! - Pah! Da ist er nicht der Einzige, wenn es unbedingt sein muss, kann ich auch mal seiner Mutter ein paar Geschichten erzählen, ich weiß nicht, ob Emily so begeistert sein wird. - Ja, tut mir leid, Levi ist hier derjenige, der ein völlig falsches Selbstbild hat. Jake hat von Anfang an gesagt, dass er nur vorübergehend der ...“ Wieder brach er abrupt ab, mit dem besorgten Blick auf meinem Gesicht.

„Ja, das habe ich.“, sagte er mit plötzlich sanfter Stimme. Ein leichtes, stolzes Lächeln erschien auf seinen dunkelroten Lippen. Als die andere Stimme fortfuhr, wechselte sein Gesichtsausdruck zu einsichtig und ein wenig traurig.

„Wenn es unbedingt sein muss. - In spätestens zwei Stunden, okay? - Ja. Tschüss.“ Mit diesen Worten legte er auf. Wieder lächelte er mich an, aber sein Blick war wachsam, als wolle er sich zurückhalten.

- Titel folgt -

„Möchtest du noch etwas? Hast du noch Hunger?“, fragte mich Noah höflich.

Ich schüttelte den Kopf, schaute auf meinen Teller und bemerkte, dass ich ganz unbewusst aufgegessen haben musste. Noah seufzte.

„Hm, ich dürfte wohl nicht so enttäuscht sein, dass ich es nicht weiter aufschieben kann. Das gerade war mein Bruder, ich muss nach Hause, da ist die Hölle los. Ich muss wohl mal wieder als einziger Vernünftiger alles richten.“ Er lächelte, offenbar um mir zu zeigen, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauchte, aber ich spürte, dass es bei ihm unter der Oberfläche brodelte. 

Ich schaute ihn nur an und wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Doch bevor ich darüber zu Ende grübeln konnte, warf er schon ungeduldig den linken Arm in die Luft, um einen Kellner auf sich aufmerksam zu machen. Mich fragte er jedoch noch einmal freundlich: „Und ich kann dich wirklich nicht noch zu einer Kleinigkeit überreden?“ 

Wieder schüttelte ich den Kopf und lächelte unschuldig. „Ich glaube, ich werde nie wieder in meinem Leben etwas essen, so satt, wie ich bin. Und außerdem hab ich das hier schon viel zu lange durchgehen lassen.“ Mit einer ausladenden Handbewegung umfasste ich diesen ganzen Abend und seine Idee, mich einzuladen und mit einem Lächeln wollte ich ausdrücken, dass ich ihm dennoch dankbar war und dass der Tag wirklich schön - welch eine Untertreibung - gewesen und es auch jetzt noch war. Ich hoffte nur, er verstand es auch so, er sollte ja nicht denken, dass ich eine undankbare Zicke sei. 

Er verstand es, zumindest wirkte sein Grinsen so. „Du solltest dich lieber daran gewöhnen, dass ich dich einlade. Es sei denn, du willst nicht mit mir ...“ Sein Grinsen entglitt ihm etwas, obwohl er es sichtlich standhaft aufrecht erhalten wollte. 

Sofort unterbrach ich ihn. „Ich mag es einfach nicht, wenn jemand meinetwegen irgendwelche Unannehmlichkeiten bekommt. Und sei es auch nur, dass er Geld für mich ausgibt.“ Bei dem Wörtchen "nur" malte ich mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft.

Diesmal schüttelte er den Kopf und machte den Mund auf, doch bevor er etwas sagen konnte, wurde er durch ein Räuspern des Kellners unterbrochen, der soeben als Reaktion auf Noahs noch immer erhobene Hand, an unserem Tisch erschienen war. 

„Wir würden gerne zahlen.“, sagte Noah stattdessen und seine Stimme war bemüht freundlich. 

Der Kellner hatte sich das offenbar schon gedacht und so die Rechnung bereits ausgestellt. Er legte sie Noah vor. Dieser schaute kurz darauf und reichte ihm einen Schein, den ich lieber nicht so genau betrachtete, da ich sonst mit einem ganz und gar übertriebenen Anfall hätte rechnen können, und meinte „Stimmt so“, wie man das in Filmen immer sah. 

 

„Ich bin doch schon unterwegs, verdammt noch mal. Sag Levi, er soll sich seine Kraft für seine Aufgabe sparen, anstatt sie in eine sinnlose und überhaupt nicht gerechtfertigte Schimpftirade zu verschwenden.“ Quil - Noahs Bruder - hatte wieder angerufen und diesmal hätte ich seine Worte wohl verstanden, wenn der Motor des Wagens nicht so laut geknurrt hätte, so wie Noah angebrüllt wurde. Aber weniger angebrüllt, wohl eher sehr energisch und angespannt auf etwas hingewiesen, doch ich verstand es trotzdem nicht und das war auch gut so.

Ich schaute meinerseits ein wenig angespannt auf die Tachonadel, die sich auf einmal gefährlich der 200 näherte. Noah sah diesen Blick, seine Augen wurden sanft und sofort hielt er rechts an. Er wollte wohl, dass ich mir keine Sorgen machte, ob des Umstandes, dass er während des Fahrens telefonierte. Das rechnete ich ihm hoch an.

„Keine Ahnung, von mir aus. - Halt ihn hin, oder so. Ich leg jetzt auf. Tschüss.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, drückte er auf den roten Knopf und die Stimme verstummte. Dann seufzte er.

„Sowas Ungeduldiges.“, schimpfte er vor sich hin, während er den Motor startete, welcher mit einem unglaublich lauten Brüllen aufheulte, und wieder auf den Highway auffuhr. 

 Um ihn ein wenig abzulenken - wobei ich hoffte, dass das nicht nach hinten losging -, versuchte ich zu grinsen und es ein wenig ins Lächerliche zu ziehen. „So, du benutzt mich also als Ausrede um deiner Familie nicht behilflich sein zu müssen? Was soll ich denn nun davon wieder halten?“

Er spielte - dankbar, wie es mir schien - mit. „Ehrlich gesagt, finde ich, ich hätte mir auch eine schlechtere und weitaus weniger ... angenehme Ausrede als dich einfallen lassen können, wenn du es so nennen willst. Aber wenn ich dir sage, dass das eigentlich gar nicht so beabsichtigt war, glaubst du mir ja eh nicht, Hase.“ Er schenkte mir ein warmes Lächeln.

Das und der Spitzname (oder auch Kosename, wenn man es genau nahm) verpassten mir einen heißen Schauer über den Rücken, meine Beine und mein Bauch begannen ungewohnt zu kribbeln und mein Atem beschleunigte sich, ebenso mein Herzschlag. Wie seltsam. Ich hatte es immer ein wenig lächerlich gefunden, wie manche Paare sich gegenseitig begurrten und anschmachteten und die kindischen Spitznamen, die sie sich gaben - mir kam es so vor, dass sie sich mit der Zeit schon krankhaft immer wieder neue ausdachten und immer wieder wurden sie schrecklicher und kindischer - empfand ich als das schlimmste. Was war nur auf einmal mit mir los? 

Meine Antwort kam ein wenig zu spät. „Wahrscheinlich hast du Recht“

 

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Tag der Veröffentlichung: 11.06.2011

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