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1. Kapitel

1979

 

Ich saß im Bahnhofsrestaurant meiner Heimatstadt. Vor mir stand ein erstes Bier. Gefrühstückt hatte ich schon. Zwei Brötchen, Butter, Marmelade, Wurst, Ei. Und Kaffee. Na ja, was die hier so Kaffee nannten. Ich hatte mir die schwarze Brühe in den Hals gekippt, ohne mich übergeben zu müssen. Eine echte Leistung. Mir war nämlich so was von schlecht, ich kann es gar nicht sagen. Ich hatte mir, sozusagen zur besseren Tarnung, eine Tageszeitung gekauft. Heinz Erhardt, der Komiker und Filmschauspieler, war gestorben, und die Alliierten waren heute vor fünfunddreißig Jahren in der Normandie gelandet. Ich konnte mich an einen Kriegsfilm erinnern, der das zum Thema hatte: Der längste Tag. Dass dieser Tag heute für mich mein längster Tag werden sollte, wusste ich da noch nicht.

Das Frühstück war nur ein Alibi. Eigentlich wollte ich trinken. Alkoholisches natürlich. Um besser drauf zu sein. Deswegen jetzt auch das Bier vor mir. Bier schmeckte mir zwar nicht, es war mir zu bitter. Außerdem störte mich der Schaum. Er blieb meist an der Nasenspitze kleben. Aber Bier war das, was alle Leute tranken, wenn sie was Alkoholisches wollten. Wenigstens die Leute, die ich kannte.

Im Lauf der letzten Jahre hatte ich mich an den Genuss von Alkohol gewöhnt. Ich hatte angenommen, das Trinken von Alkohol würde mir eine „herb-männliche“ Ausstrahlung verleihen. Als ich noch kleiner war, hatte meine Großmutter väterlicherseits zu meinem Vater gesagt, ich sei kein richtiger Junge, da ich nur lesen würde, statt mit anderen Jungs Fußball zu spielen. Die Aussage hatte sich schmerzhaft bei mir festgesetzt und kam immer wieder hoch.

 

Ich war heute nicht zur Arbeit gegangen. Der Job als Verkäufer in dem kleinen Lebensmittelladen, der den nostalgisch-freundlichen Begriff „Tante-Emma-Laden“ nicht verdiente, hing mir schon lange zum Hals raus. Die Regale waren nach einem undurchschaubaren System eingeräumt, überall standen ungeöffnete Kartons herum. Das hinterließ bei mir den Eindruck totaler Lieblosigkeit. Ich kam diesem Chaos nicht bei, obwohl das mit zu meinen Aufgaben zählte.

Der Chef, ein kleiner aufgeregter Springball, nervte den ganzen Tag über. Seine Frau, die noch spießiger als er war, überwachte mich misstrauisch mit ihren blassen, wässrigen Augen. Als ob es für mich in dem Schuppen was zu holen gäbe.

Ich fühlte mich saumies. Irgendwie hoffnungslos. Das Gefühl kannte ich. Zur Genüge. Ich wusste, was ich dagegen tun konnte: saufen! Deswegen saß ich hier. Ich wollte mir diese Hoffnungslosigkeit einfach vom Leib saufen. Aber etwas war anders heute. Ich hatte da so eine dumme Ahnung, dass diese Niedergeschlagenheit nicht verschwinden würde.

 

Gestern Abend hatte ich einen Zug durch Burgheims Kneipen gemacht. Zum Schluss war ich im „Kille Kille“ gelandet. Mit irgendwelchen Typen hatte ich einen Joint geraucht und noch was an Pillen eingeschmissen. Was das für’n Zeugs war? Keine Ahnung. Aber das war mir ja schon lange egal. Hauptsache, in meiner Birne knallte es. Es schien gestern mächtig geknallt zu haben, denn ich konnte mich an nichts mehr erinnern. An gar nichts! Vielleicht war es besser so.

Ich war sehr früh wach geworden, meine Zunge war angeschwollen wie ein Kuheuter kurz vor dem Melken, und ich hatte einen faden Geschmack im Mund. Und Durst hatte ich. Da war alles klar. Versackt! Was sonst? Eigentlich wollte ich die Augen nicht aufmachen, doch was blieb mir übrig, wenn ich meinen Brand löschen wollte? Ich hievte mich auf die Bettkante und musste aufpassen, dass ich mir nicht auf die Füße kotzte. Mein Hirn schwang im Schädel hin und her wie eine Schiffsschaukel auf dem Jahrmarkt.

Nachdem sich Hirn und Magen etwas beruhigt hatten, schaffte ich es bis zum Schreibtisch, auf dem das Mineralwasser stand. In tiefen Zügen leerte ich die Flasche. Dann versuchte ich, Klarheit zu bekommen. Bekam ich aber nicht.

Ich machte mir darüber weiter keine Gedanken, sondern überlegte, was eigentlich anstand. Es war Dienstag. Sicher? Jedenfalls war Werktag, hieß: Ich musste zur Arbeit. Ging in meinem Zustand überhaupt nicht.

Wenn ich aber die Wohnung nicht verlassen würde, gäbe es Ärger mit Vater und Mutter.

Ich war zwar dreiundzwanzig Jahre alt, doch war ich vor einem Monat wieder bei meinen Eltern eingezogen, weil ich die Miete für die Zweizimmerwohnung, die ich bewohnt hatte, nicht mehr bezahlen konnte. Ich verdiente in dem Lebensmittelladen eben nicht genug, um Wohnung und Alkoholkonsum zu finanzieren.

Meine Eltern hatten mich aufgenommen unter der Bedingung, dass ich keinen Alkohol mehr trinken würde. Wie es momentan aussah, konnte ich diese Abmachung nicht erfüllen. Eine Sachlage, die alle Beteiligten bisher nicht erkannt hatten.

Gut – ich musste es heute also so aussehen lassen, als würde ich zur Arbeit gehen und mich dann in verschiedenen Kneipen herumtreiben. Da durchzuckte mich ein tiefer Schrecken. Hatte ich überhaupt noch Geld?!

Ich schnappte mir die Hose vom Schreibtischstuhl, durchwühlte die Taschen. Nichts! Dann die Taschen der Jeansjacke. Auch nichts! Mann, wo war das Portemonnaie?

Langsam dämmerte es mir. Ich hatte es versteckt! Ich glaube aus Angst, mein Vater würde mir das Geld abnehmen, wenn er feststellen würde, dass ich wieder gesoffen hätte. Das hatte er schon mal gemacht. Dass ich in meiner Stammkneipe durchaus als kreditwürdig angesehen wurde, überstieg die Vorstellungskraft meines Vaters.

Irgendwann fand ich die Geldbörse unterm Kopfkissen. Ich öffnete sie … alles klar: noch genug Geld zum Trinken vorhanden. Ich war erleichtert.

 

Im Bad vollzog ich nur eine Katzenwäsche und schlich mich von meinem Zimmer, das am Ende des Flurs lag, bis zur Wohnungstür. Ich wollte jedweder Konfrontation aus dem Weg gehen. Ich musste am Wohnzimmer, in dem ich Vater seine Morgengymnastik machen hörte, und am Schlafzimmer vorbei. Die Küche lag gegenüber des Schlafzimmers. Dort brannte kein Licht. Mutter schlief also noch. Ich nahm den Schlüsselbund, der am Türschloss hing, fest in die linke Hand und drehte den Schlüssel herum. Es ging fast lautlos. Ich öffnete die Tür und verschwand im Hausflur.

Danach ging es schnurstracks ins Bahnhofsrestaurant. Wo hätte ich um diese Uhrzeit auch sonst hingehen können?

Irgendwas ließ mir heute aber keine Ruhe. Meine Gedanken kreisten und fanden keinen Frieden. Als kleines Kind hatte man meinetwegen das Kinderkarussell anhalten müssen, weil ich sonst vor lauter Angst runtergesprungen wäre. Hier war kein Runterspringen möglich. Das Kreiseln war in meinem Kopf, und es waren meine Gedanken.

Was sah ich da vor meinem inneren Auge in großen Lettern stehen? ALKOHOLIKER. Alkoholiker? Wer? Ich?

Tja, wer saß sonst noch hier am Tisch und trank in aller Herrgottsfrühe Bier und wollte schon den ersten Schnaps bestellen?

Der Alkoholiker. Es war doch wirklich klar. Ich lebte bei meinen Eltern, weil ich die Miete versoffen hatte, und war heute nicht zur Arbeit gegangen. Ich saß hier in der Bahnhofskneipe, die echt das Letzte vom Letzten war, und war dabei, mich zu betrinken. Ich war Alkoholiker. Stimmte. Und? War nicht schlimm. War okay. Ich ging aufs Klo, aber nicht um zu pissen, sondern um zu heulen. Echt. Ich hab geheult. Ich heulte den ganzen verdammten Alkohol, den ich die letzten Monate gesoffen hatte, aus mir raus. Und danach war ich erleichtert. Ich war echt erleichtert. Vorbei die verschissenen Tage, an denen ich mich gefragt hatte, ob ich denn nun Alkoholiker wäre oder nicht. Diese Dreckszweifel nicht mehr haben zu müssen, war wirklich super.

Das war nämlich absolut schlimm gewesen. Wenn ich gesoffen hatte, war mir klar gewesen, dass ich suchtkrank war und mit dem Saufen aufhören musste. War ich einige Tage „alkoholfrei“, war ich fest davon überzeugt, kein Trinker zu sein. Ich hatte vielleicht einen an der Klatsche, aber Alkoholiker? Nein.

Bisher hatte ich mir das nicht zugestehen können. Ich hatte zwar vor drei Jahren schon mal eine Entwöhnungsbehandlung gemacht, wurde aber in der Erfolgsstatistik nicht geführt. Die Therapeuten hatten es nicht geschafft, mich davon zu überzeugen, dass ich süchtig war. Die Therapie hatte ich auf Druck des Arbeitsamtes gemacht. Ich wollte eine Umschulung, und die sollte es für mich nur ohne Spirituosen geben.

Ich bin wirklich zur Entziehung gefahren, weil ich dachte, die würden mich nach vier Wochen wieder nach Hause schicken, da die erkennen würden, dass ich kein Alkoholiker wäre. Weit gefehlt. Nach vier Wochen hatte ich erkannt, dass mit meinem Trinken was nicht stimmte. Das hatte mich aber noch lange nicht davon überzeugt, suchtkrank zu sein.

Aber diese Situation in der Bahnhofskneipe machte mir endlich klar, dass ich krank war. Und ich hatte auch keinen Bock mehr, diesen ganzen Mist, der mir sowieso nicht schmeckte, weiter in mich hineinzuschütten.

Erst mal bezahlen! Ich warf einen Blick in den Geldbeutel. Erschreckend, was ich dort sah. Das Geld reichte allemal für einen Vollsuff, so einen mit allen Schikanen. Wenn ich das Geld morgen noch in der Tasche hätte, würde ich nicht widerstehen können und müsste es vertrinken. Ich weiß, hörte sich total verblödet an, aber ich war süchtig. SÜCHTIG!

Hieß also für mich, ich musste noch mal in den sauren Apfel beißen beziehungsweise den Apfelkorn trinken und heute auf Sauftour gehen.

Ich bezahlte die Rechnung und wanderte von Kneipe zu Kneipe durch die Innenstadt zu meinem Stammlokal. Das machte um ein Uhr mittags auf, ich war pünktlich zur Stelle.

Dort traf ich wohlbekannte Mittrinker, die mir gerne halfen, mein letztes Geld zu verflüssigen. Gegen sieben Uhr abends war es so weit. Das Geld war alle und ich war nicht in der Lage, auch nur noch einen Tropfen herunterzubringen.

Den ganzen Tag hatte ich gebechert, hatte aber nicht das Gefühl, betrunken zu sein. Es war eher so, dass ich dachte, ich hätte noch nie einen so klaren Kopf gehabt. Was definitiv nicht so gewesen sein kann.

 

Ich wankte die Treppe hoch und stützte mich an der Wand ab. Vor der Wohnungstür fummelte ich unter viel Mühe meinen Schlüssel aus der Hosentasche. Bevor ich ihn jedoch ins Schlüsselloch stecken konnte, öffnete sich die Tür, und Mutter stand vor mir. Sie zog mich in den Flur hinein.

„Wie wir uns gedacht haben. Besoffen. Wieder mal. Was tust du nur? Was sollen wir denn nur mit dir machen?“ Hilflos hob sie die Hände. „Dein Chef hat heute Morgen angerufen und gefragt, wo du bleiben würdest. Da war mir alles klar. Was denkst du denn, wie das weitergehen soll?“

„Kleinen Moment.“ Mein Mageninhalt wollte raus. Ich musste würgen. Ich stürzte ins Bad und übergab mich ins Klo. Mehrmals. Dann war mir besser. Ich ging ins Wohnzimmer, in dem mein Vater saß, mich ansah und nur mit dem Kopf schüttelte. Mutter kam hinterher.

„Ich muss mit euch reden. Und zwar ernsthaft. Und was ich euch zu sagen habe, müsst ihr mir glauben. Auch wenn ich euch schon oft mit meinen Versprechungen enttäuscht habe.“

Mein Vater verschränkte die Arme vor der Brust. „Willst du uns wieder erzählen, dass du mit dem Trinken aufhören willst?“

Ich schaute ihm gerade in die Augen. „Ja, will ich. Diesmal klappt es. Ich habe heute kapiert, was mit mir los ist. Dass ich Alkoholiker bin. Und das nicht nur vom Kopf her, sondern auch hier drinnen.“ Ich klopfte mir mit der rechten Faust auf die Brust. „Glaubt mir bitte.“ Ich schwieg.

Mutter nahm mich an beiden Schultern und sah mir ins Gesicht. „Ich will dir gern glauben, wenn du nur wüsstest, wie sehr.“ Sie fing an zu weinen.

Was hatte ich hier nur wieder angerichtet? „Bitte wein doch nicht. Ich höre wirklich auf. Ich habe heute das letzte Mal getrunken. Ich brauche aber euer Vertrauen und eure Hilfe. Ich will morgen zur Suchtberatung gehen und eine Therapie beantragen. Und da brauche ich deine Hilfe, Mama.“

Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. „Meine Hilfe? Wie denn?“

„Du musst mich begleiten. Ich brauche Unterstützung. Wenn ich morgen nüchtern allein dahin gehen soll, mache ich das nicht. Dann habe ich viel zu viel Angst, um überhaupt auf die Straße zu gehen, geschweige denn zur Suchtberatung.“

Sie nahm meine Hände in die ihren. „Gut mein Junge, ich werde mit dir gehen. Ich lasse dich nicht im Stich.“

Ich war erleichtert.

Meine Eltern schienen mir zu glauben, obwohl ich sie mit dem Versprechen, nichts mehr zu trinken, oft enttäuscht hatte. Ich muss aber auch sagen, dass ich mir selbst glaubte … und das war verdammt noch mal das Allerwichtigste!

 

Frau Saalfeld, die Chefin der Suchtberatungsstelle, machte große Augen, als sie mich sah. Sie bot mir und meiner Mutter einen Platz vor ihrem Schreibtisch an. Wir setzten uns. Mir war schon den ganzen Tag schwummrig vor Augen. Ich zitterte. Ich war froh, dass meine Mutter dabei war. Ich wusste, wenn bei mir nichts mehr ging, konnte sie was tun. Irgendwas eben.

„Also, Herr Güllich, ich hätte nicht gedacht, dass ich Sie jemals wiedersehe. Seit Sie nicht mehr in der Gesprächsgruppe aufgetaucht sind, hatte ich Sie abgeschrieben. Der kommt nicht mehr, dachte ich. Aber Sie hier zu sehen, freut mich. Obwohl es Ihnen wohl ziemlich dreckig geht, wie es aussieht.“

Ja, die Gesprächsgruppe. Hatte ich ganz vergessen. Die hatte ich lange besucht. Schön und gut. Erstens hatte ich in der Gruppe nicht einmal den Mund aufgemacht, weil ich dachte, es würde nur Mist rauskommen, und zweitens war ich nach jeder Gesprächsrunde in meine Stammkneipe gegangen. Das hält auch ein echter Alkoholiker nicht lange aus! Deswegen war ich nicht mehr zur Gruppe gegangen. War eine Dauerbelastung für die Leber.

 

„Ja, mir geht es nicht gut. Ich habe die letzten beiden Tage nur gesoffen. Ich will nicht mehr. Es geht wirklich nicht mehr. Ich will eine Therapie machen. Unbedingt.“

Die Saalfeld schaute meine Mutter an. Die nickte.

„Ich glaube meinem Sohn. Er hat mich und meinen Mann schon oft enttäuscht. Doch als er gestern Abend nach Hause kam und uns sagte, dass er jetzt überzeugt sei, Alkoholiker zu sein und eine Therapie machen wolle, habe ich ihm sofort geglaubt. Es ist einfach so.“

Sie schwieg, nahm ihre Handtasche und zog sie an die Brust.

Frau Saalfeld winkte ab.

„Keine Angst, Frau Güllich. Wir werden Ihrem Sohn einen Therapieplatz vermitteln. Er hat ja bei uns schon Hilfe gesucht. Ich habe ihn in der Gesprächsgruppe und in den Einzelgesprächen kennengelernt. Dass er hierherkommt und Sie mitgebracht hat, ist für mich ein deutliches Zeichen, dass er wirklich aufhören möchte. Er kann auch gleich den Rehabilitationsantrag unterzeichnen.“

Den Antrag hatte ich schnell unterschrieben. Schwieriger gestaltete sich nun die nähere Planung.

 

„Als Erstes müssen Sie eine zweiwöchige Entgiftungsbehandlung in der hiesigen Psychiatrie machen. Das ist die Voraussetzung für eine Aufnahme in einer Fachklinik.“

Ich hörte wohl nicht richtig. „Psychiatrie? Zwei Wochen? Das war doch früher nicht so. Wieso das denn?“

Die Saalfeld griff sich an die Nase. „Die Fachkliniken wollen das jetzt so. Die können einfach schneller mit der Therapie anfangen, wenn alle Leute entgiftet sind. Wenn zwei, drei Leute in der Gruppe noch in der Entgiftungsphase sind, stört das die gesamte Gruppe. Außerdem hat man die Erfahrung gemacht, dass es in der Entgiftung zu schweren Entzugserscheinungen kommt, die nur in einer psychiatrischen Klinik medikamentös behandelt werden können. Also wird jetzt vorher entgiftet, egal wie stark die körperliche Abhängigkeit ist. In der Praxis wird es trotzdem immer wieder vorkommen, dass während der Therapie entgiftet wird. Durch die langen Wartezeiten werden viele Entgiftete wieder rückfällig und kommen zur Klinikaufnahme doch wieder betrunken an. Die werden dann aufgenommen und man schaut, ob es mit dem Probanden funktioniert. Unsere Vorgabe in der Therapievorbereitung heißt aber zwei Wochen Entgiftung.“

„Frau Saalfeld, ich kann nicht in die Psychiatrie gehen. Sie wissen doch, dass ich während meiner Bundeswehrdienstzeit schon mal zwei Wochen in der Psychiatrie war. Dieses Eingesperrtsein mit den Verrückten hat mir eine Heidenangst gemacht. Das möchte ich nie wieder erleben. Gibt es denn keine andere Möglichkeit? Die Psychiatrie wird mich eher wieder zum Saufen bringen, als dass sie mir hilft, trocken zu bleiben.“

„Gut, Herr Güllich. Sie sind nicht der Erste, der diese Bedenken äußert. Ich nehme das ernst. Ich denke, Sie können die Entgiftung auch zu Hause durchführen. Ich muss das mit ihrem Hausarzt absprechen. Wer ist denn Ihr Hausarzt?“

 

Ich war sehr erleichtert, dass die Psychologin den Einwand ernst nahm und nicht dachte, ich wolle einen Rückzieher machen. Ich war heilfroh, dass sie mich nicht zwang, die Entgiftung in der Klapse zu machen.

Die Saalfeld rief meinen Hausarzt an und traf mit ihm und mir die Vereinbarung, dass ich die Entgiftung zu Hause machen könnte. Der Hausarzt könnte mich mit den entsprechenden Medikamenten versehen, um den körperlichen Entzug zu überstehen. Ich würde ihn jeden Tag aufsuchen und ein kurzes Gespräch mit ihm führen. Dass das die reine Überwachung sein sollte, war klar, doch ich war einverstanden. Das war allemal besser als das Irrenhaus.

Zusätzlich wollte die Saalfeld zwei Gespräche pro Woche mit mir in der Suchtberatung durchführen. Somit hatte ich genug Kontrolle und genug therapeutische Zuwendung. Ich muss sagen, es erstaunte mich sehr, was für ein Aufriss meinetwegen gemacht wurde, aber es tat mir gut.

„Die Frage, Herr Güllich, die sich nun stellt, ist die, in welche Therapieeinrichtung Sie gehen möchten? Möchten Sie denn wieder ins Haus Waldhof, wo Sie die letzte Therapie gemacht haben? Der Vorteil ist, dass Sie dort alles kennen, also wissen, auf was Sie sich einlassen. Eventuell sind noch die gleichen Therapeuten dort. Könnte ein Vorteil sein.“

Frau Saalfeld schaute mich ernst an.

Ich hatte gar nicht damit gerechnet, noch mal in den Waldhof zu kommen. Doch konnte ich diese Frage leicht beantworten.

„Ich möchte nicht in den Waldhof. Meine erste Therapie ist ja gescheitert. Die Therapie dort kenne ich. Wäre für mich nichts Neues. Die Gefahr, sie dort einfach nur so abzureißen, ist zu groß. Soweit kenne ich mich.“

„Wollen Sie vielleicht nicht in den Waldhof, weil Sie sich für Ihr Scheitern schämen? Deshalb nicht dorthin zu gehen, wäre falsch.“

Ich lief rot an. Aber was man schnell lernt, ist, Fachleuten gegenüber ehrlich zu sein. „Es ist richtig. Ich schäme mich für mein Scheitern und würde mich auch deshalb nicht gern im Waldhof sehen lassen. Doch der erste Grund ist der wichtigere für meine Entscheidung. Das ist vielleicht ein bisschen undankbar, doch mein Gefühl ist gegen den Waldhof.“

„Gut, Herr Güllich. Dann schlage ich Ihnen das Schloss Falkenhof in Bensheim vor. Das ist im Süden von Hessen. Die sind dort verhaltenstherapeutisch orientiert. Das ist in Ihrem Fall ohnehin nicht schlecht, da der Waldhof ja analytisch gearbeitet hat. So hätten Sie zwei Therapieformen, die sich ergänzen. Damit sollten Sie es schaffen, trocken zu bleiben.“ Sie lächelte.

Ihr Wunsch in Gottes Ohr. Ich war einverstanden.

Der Nachteil war, Schloss Falkenhof hatte lange Wartezeiten. War die Meinung der Saalfeld. Das sah ich anders. Da ich nichts zu verlieren hatte, war ich gern bereit, die Wartezeit in Kauf zu nehmen, außerdem ersparte ich mir momentanen Stress. Wenn ich schon eine Woche später oder so in eine Therapie hätte einfahren können … na ja, ich hätte es nicht gut gefunden. Wäre mir zu schnell gegangen. Mann, gestern war ich noch voll auf Stoff gewesen. Immer Ruhe mit den jungen Pferden.

 

Die nächsten zwei Wochen verbrachte ich nur zu Hause. Ich hatte das so mit meinem Hausarzt abgesprochen. Ich dachte, ich würde mich da geschützt und wohl fühlen. Gut, dass man nie weiß, was alles auf einen zukommt.

Meine Mutter hatte meinen Chef angerufen und ihm gesagt, dass ich nicht mehr zur Arbeit kommen würde. Er hatte ziemlich rumgeblökt, Mutter hatte aber einfach den Hörer aufgelegt. Von der Seite hatte ich jedenfalls Ruhe.

Ich hatte wieder das Kinderzimmer in der Wohnung meiner Eltern bezogen. Das war ziemlich karg eingerichtet. Wenn man reinkam, ging der Blick auf das gegenüberliegende Fenster. Rechts von der Tür war eine Liegecouch, die mir auch als Bett diente. Ihr gegenüber auf einer Kleiderkommode ein kleiner Fernseher. An der einen Schmalseite des Zimmers stand ein Kleiderschrank, an der Wand gegenüber ein Regal mit wenigen Büchern. Ich war zwar ein eifriger Leser, doch für mehr Bücher war kein Platz im Zimmer. Ich holte mir meine Lektüre meist aus der Stadtbücherei. Kein Bild an der Wand. Mit meinem Auszug bei meinen Eltern waren auch viele persönliche Sachen von mir weggeworfen worden. Meine Mutter war da groß drin. Aber was sollten meine Eltern auch mit meinem Kram. Trotzdem trauerte ich meinem Winnetou-Starschnitt aus der Bravo hinterher. Traurig auch, dass meine Kohlezeichnungen, Bleistiftskizzen und die Filzstiftgemälde verschwunden waren. Ich hatte mich mal mit dem Gedanken getragen, Grafiker zu werden, doch irgendwann erkannt, dass mein Talent dazu nicht ausreichte. Die Trompete, die ihren Platz auf dem Kleiderschrank gehabt hatte, hatte nun mein Vater. Er hatte sie mir abgekauft, als klar war, dass ich nicht mehr darauf spielen würde.

Die ganze Wohnung bestand aus vier Zimmern, Küche und Bad. Sozialer Wohnungsbau. Man hing sich da schon gewaltig auf der Pelle. Wirklich Ruhe hatte ich da nicht. Wenn meine Mutter zu Hause war, glotzte sie alle naselang bei mir ins Zimmer. Neugierde hoch zehn. So war das schon immer gewesen. Auch wenn ich früher, was selten genug vorkam, Freunde zu Besuch hatte, schaute sie immer mal rein und fragte, ob wir was bräuchten. Hat nur genervt und war mir peinlich. Jeder meiner Freunde hatte wissend gegrinst. Sie wussten, dass das nichts weiter als die absolute Kontrolle war.

 

Die ersten Tage im Entzug waren der Horror. Mein Hausarzt hatte mir zwar ein Beruhigungsmittel verschrieben, doch ruhiger wurde ich dadurch nicht. Zusätzlich bekam ich noch ein Medikament gegen epileptische Anfälle. Wie mir der Arzt sagte, kämen sie vor bei Patienten, die eine hohe körperliche und psychische Belastung ertragen müssten, wie sie ein Entzug nun mal mit sich brachte. Ich fühlte mich zwar medikamentös gut abgeschirmt, doch spürte ich von morgens bis abends und von abends bis morgens ein leichtes Zittern in mir, das aus den Gedärmen zu kommen schien. Begleitet wurde dieses Zittern von an- und abschwellenden Angstgefühlen.

Angst war ein Gefühl, das ich kannte. Ich war schon mit Angst zum Schwimmunterricht, zum Steno- und Schreibmaschinenunterricht und zum Turnen gegangen. Ich war mit Angst aufgewachsen. Ein ängstlicher Typ eben …

Genau gesagt hatte ich ständig Angst, mich bloßzustellen, mich zu blamieren. Im Kontakt mit anderen Menschen hatte ich einfach Muffe, dummes Zeug zu reden. Ich fühlte mich eben klein und dumm. Ich habe mich oft gefragt, warum. Ich fand darauf keine Antwort. Es war einfach so.

Ich hatte mir vorgenommen, die Zeit hauptsächlich mit Lesen zu verbringen, doch stellte sich heraus, dass es mir plötzlich schwerfiel, mich zu konzentrieren. Ich las gern Krimis. Aber jetzt kapierte ich überhaupt nicht, was ich las. Die Handlungen waren für mich viel zu kompliziert. Ich verwechselte Täter mit Opfer und Kommissar mit Assistent. Tauchten mehr als drei Namen im Text auf, war das für mich eine Krisensituation. Meine Gedanken schweiften ständig ab. Ich dachte über meine Vergangenheit und meine Zukunft nach. Die Vergangenheit beschämte mich zutiefst, die Zukunft machte mir Angst.

So ging das nicht. Mir fiel ein, dass sich auf dem Speicher noch Jugendbücher von mir befanden. Die zu lesen wäre mit Sicherheit einen Versuch wert. Gedacht, getan. Und siehe da, die Sache funktionierte. Es waren sehr einfache Texte, aber immerhin, ich verstand sie. Zusätzlich waren mit diesen Büchern angenehme Erinnerungen verbunden, nämlich an die Zeit, als ich sie das erste Mal gelesen hatte. Eine Zeit, in der ich von Sucht und anderem Scheiß noch nichts wusste. Einige der Bücher waren von Karl May, dann die Schatzinsel, Robinson Crusoe, Ivanhoe. Die Flusspiraten des Mississippi, Tom Sawyer und die Lederstrumpf-Bände. Ich weiß, alles Jugendbücher, aber ich liebte sie. Mit glühenden Wangen habe ich sie gelesen, ich konnte mich kaum davon losreißen. Mir gefielen die Berichte über die fremden Länder, der Mut der Helden, mit dem sie den Gefahren trotzten.

Stark ausgeprägte Halluzinationen bekam ich glücklicherweise nicht, aber so etwas Ähnliches wie Vorläufer davon: Wenn ich mich zum Lesen auf das Sofa im Wohnzimmer meiner Eltern legte, hörte ich nach einiger Zeit ein Rascheln in den Wänden. Für mich der Beweis, dass sich dahinter Mäuse befanden. Meine Eltern hörten die Tierchen nicht. Ich sprach sie darauf an, sie sagten mir aber, dass ich mich täuschen würde. Glücklicherweise hörten diese falschen Wahrnehmungen bald auf.

Ich wusste aus den Erfahrungen der ersten Therapie, dass Halluzinationen im Entzug vorkommen konnten. Gehörte als Symptom mit zum Delirium tremens, das als lebensbedrohlich anzusehen war. Einige der damaligen Kollegen in der Therapie hatten Ähnliches berichtet. Einer hatte sich von Wölfen verfolgt gefühlt, ein anderer hatte sich fast zu Tode erschreckt, als er plötzlich einen Wasserfall aus dem Fernseher ins Wohnzimmer spülen sah. Die Schilderung, die mich am meisten beeindruckt hatte, war die eines Patienten, dem sich eine Schnur um die Zunge gewickelt hatte, die ihn langsam zu ersticken drohte. Er hatte sich vermeintlich nur retten können, indem er wie ein Wahnsinniger an der Schnur gezogen hatte, um sie aufzuwickeln. Erschreckende Berichte.

Tagsüber las ich und abends hing ich mit meinen Eltern vor der Glotze. Was da lief, war mir egal, Hauptsache, es lenkte mich ab.

Mit den Eltern konnte ich nicht darüber reden, wie es mir ging. Doch war das nichts Neues.

Ich hatte noch nie ein sehr vertrauensvolles Verhältnis zu meinen Eltern gehabt. Wahrscheinlich, weil ich ihnen ihre Erziehungsmethode des Liebesentzuges übel genommen hatte.

Als Beispiel kann ich mich an eine Situation erinnern, in der ich meinen Vater mit „Eierkopp“ tituliert hatte. Ich weiß, war auch kein netter Zug von mir. Er ignorierte mich so lange, bis ich mich bei ihm entschuldigte. Ich glaube, ich habe es damals drei Tage durchgehalten und dann den Kotau gemacht.

Dazu kam noch, dass meine Mutter alles, was mich und meine fünf Jahre jüngere Schwester betraf, in der Verwandtschaft und bei den Nachbarn breit trat. Ich hütete mich also sehr zu berichten, wie ich mich fühlte.

Dass ich auch angenehme Erinnerungen an die Kindheit besitze, habe ich wohl den Großeltern zu verdanken. Sie haben mich rückhaltlos geliebt. Es kam mir so vor, als würden meine Eltern mich nur lieben, wenn ich ihre Bedingungen erfüllte.

Na gut, war für sie mit meiner Existenz vielleicht nicht ganz einfach, war ich doch unehelich geboren. Das war 1954 kein Zuckerschlecken, denke ich. Aber das war ja nicht meine Schuld.

 

2. Kapitel

 Die Gespräche mit der Saalfeld, der Psychologin und Chefin der Suchtberatung taten mir gut. Die Saalfeld war eine große Frau und hatte etwas Mütterliches. Genau das, was ich brauchte.

Ich fühlte mich so von ihr angenommen, wie sich ein verloren gegangenes Gummibärchen fühlen musste, wenn es zurück in die Tüte gefunden hatte. Ich fühlte mich ernst genommen.

Etwas, was mir noch nicht oft begegnet war. Meine Eltern hatten mich noch nie ernst genommen. Was ich dachte, fühlte, wollte, interessierte nicht. Was interessierte war, was die anderen Leute dachten. Welche anderen Leute? Die dumme Kuh von Priblowski, die eine Etage unter uns wohnte und den totalen Putztick hatte. Die Müller, die Nachbarin gegenüber, von der man wusste, dass sie, wenn sie ihre Sonnenbrille aufhatte, von ihrem Ollen verdroschen worden war. Wen interessierte denn die Meinung dieser Leute? Die hatten doch selbst Dreck am Stecken, waren auch nichts Besseres als ich. Wenn die in der Lage gewesen wären, ihr Leben in Ordnung zu bringen, hätte mich deren Meinung eventuell interessiert, aber so?

Wenn ich heute daran denke, bekomme ich immer noch das kalte Grausen.

Jedenfalls interessierten die Gefühle meiner Schwester und meine nicht. Leider war ich nicht in der Lage, mich dagegen zu wehren. Auch in der Pubertät, bei der ein Aufbegehren gegen die Eltern dazugehört, klappte das bei mir nicht.

Meiner fünf Jahre jüngeren Schwester gelang es besser. Sie lag mit unseren Eltern in ständigem Streit und war wie ein Stachelschwein, das ständig seine Stacheln aufstellte. Das bekam ihr besser, als sich anzupassen. Sie wurde selbstbewusster und unabhängiger von den Meinungen anderer Menschen.

 

Wie sahen jetzt die ersten „trockenen“ Tage aus? Ich schaute irgendeinen Quatsch im Fernsehen mit meinen Eltern, las fleißig in meinen Jugendbüchern, hatte ein Therapiegespräch in der Suchtberatung und machte zwei Arztbesuche die Woche. Nach den ersten beiden Wochen kam noch ein Gruppenbesuch in der Suchtberatungsstelle dazu. Eine Gruppe von „trockenen“ Alkoholikern. Erfahrungsaustausch war angesagt.

An einen von denen kann ich mich noch erinnern. Er war gerade eine Woche zurück aus der Langzeittherapie.

Er war schmächtig, hatte einen Schnäuzer und betrachtete interessiert die Tischplatte. Frau Saalfeld hatte ihn vorige Woche angekündigt. Ein Patient, der aus seiner sechsmonatigen Therapie zurückkam. Den hatte ich mir anders vorgestellt.

Ich hatte mit einem sich kerzengerade haltenden Mann gerechnet, der einen mit offenem Blick anschaute. Stattdessen hatte ich diesen mit krummem Rücken dasitzenden Menschen vor mir.

Alle Leute der Gesprächsgruppe waren vertreten. Auch sie waren wohl neugierig auf den Ankömmling.

Frau Saalfeld stellte uns alle vor. Der Typ konnte den Blick kaum heben. Als sie meinen Namen nannte, konnte ich den Mann nicht anblicken. Ich schaute an die kahle Wand gegenüber. Ich schämte mich für ihn.

„Wie geht es Ihnen? Schön, dass Sie zur Gruppe gekommen sind.“ Ich war erstaunt über die laute Stimme der Psychologin. Sonst sprach sie leiser.

Der Mann sah auf. Seine Augen wischten hin und her. „Na ja … mir geht es nicht so gut. Deswegen bin ich auch gekommen …“

Die Psychologin wartete. Doch da kam nichts mehr.

„Weswegen geht es Ihnen nicht gut? Ist etwas passiert?“ Die Saalfeld, jetzt bedeutend behutsamer.

„Äh … ich fühle mich allein. Ich habe niemand zum Reden. Ich habe ja eine kleine Wohnung. Da sitze ich jetzt den ganzen Tag. Arbeit habe ich noch keine. Mit meinen Bekannten aus der Kneipe habe ich keinen Kontakt mehr. Abends fällt mir dann die Decke auf den Kopf.“

„Ich habe Ihnen doch die Adresse vom Suchthilfeverein gegeben. Die treffen sich regelmäßig. Waren Sie schon dort?“

„Nein. Ich hatte noch keine Zeit dazu. Hatte so viel zu tun.“

Frau Saalfeld hob den Kopf. „Was hatten Sie denn alles zu tun?“

„Na ja, die Wohnung und so.“ Er schwieg.

„Was heißt die Wohnung und so? Haben sie denn eine neue Wohnung bezogen?“

„Nein, nein. Ich bin noch in der alten.“

Die Therapeutin verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Herr Ochse, nun die Karten auf den Tisch. Was ist los? Reden Sie doch. Sie waren sechs Monate in Therapie. Sie wissen doch, um was es geht.“

Sein Gesicht überzog eine feine Röte. „Na ja, ehrlich gesagt, ich habe mich in meiner Wohnung verkrochen. Ich habe mir plötzlich nichts mehr zugetraut. Jetzt so allein zu Hause. In der Therapie waren immer Leute um mich herum. Man hatte immer jemanden, mit dem man reden konnte. Das hat mich gestärkt und selbstbewusst gemacht. Aber jetzt hier so allein …“

Die Saalfeld atmete tief ein. „Herr Ochse, machen wir’ s kurz. Morgen Abend gehen Sie gleich zum Suchthilfeverein. Die haben ihr wöchentliches Treffen. Mich rufen Sie morgen in meinem Büro an und wir machen einen Gesprächstermin aus. Ich glaube, wir sollten bei Ihnen gleich regelmäßige Termine machen. Wir müssen jetzt die Kurve kriegen. Nehmen Sie es mir nicht übel, ich muss Ihnen ein bisschen Dampf machen. Ich weiß aber auch, dass der Anfang draußen nicht immer so einfach ist.“

Ochse war immerhin in der Lage, der Psychologin ins Auge zu blicken und zu sagen: „Ja, werde ich tun.“

Ich war fassungslos. Da war  ja selbst ich aus meiner ersten Therapie in besserer Verfassung nach Hause gekommen!

Ich fand es gut, dass die Saalfeld da nicht groß rummachte, sondern gleich ansagte, was Sache war. Das machte mir Hoffnung für meine eigene Zukunft. Die Suchtchefin würde mich nicht hängen lassen.

Die Woche drauf kam der Typ nicht mehr zur Gruppe. Wie die Saalfeld berichtete, war er rückfällig geworden. Total versumpft und versackt. Ich habe den später mal wieder gesehen. Sah aus wie der leibhaftige Tod. Der ist, glaube ich, nicht wieder „trocken“ geworden.

Heute denke ich, hätte es damals eine vernünftige Nachsorgeeinrichtung gegeben, so mit Leutchen um ihn rum, mit einer sinnvollen Beschäftigung oder sogar Ausbildung, hätte der das auch geschafft. Gab’s aber nicht.

 

In der Gruppenstunde ging es um alle möglichen Problemthemen. Es gab keine spezielle Vorbereitung auf die Langzeittherapie. Die Gruppe bestand aus zwei Ehepaaren, bei denen jeweils der männliche Part ein Alkoholproblem hatte. Dann war noch ein Typ dabei, der die Auflage vom Gericht hatte, an den Gruppenstunden teilzunehmen. Er hatte zu viele Verkehrsdelikte unter Alkoholeinfluss begangen. Wenn ich mich so recht besinne, war der mir ziemlich unangenehm, weil ich bei ihm nicht wusste, ob er es nun ernst mit dem Nichttrinken meinte oder nicht.

Ich bekam in diesen Gruppenstunden den Mund nicht auf. Ich weiß nicht, ich hatte einfach Angst, den totalen Müll zu reden. Zu Beginn der Gruppenstunde schaffte ich es gerade mal, guten Abend zu sagen, und wenn die Stunde zu Ende war: Auf Wiedersehen … und dann war ich in Nullkommanix um die Ecke verschwunden, weil ich Angst hatte, einer der Anderen könnte mich womöglich anquatschen.

Ich erlebte mich damals als dumm, unansehnlich, ohne psychische Kraft und dünnhäutig wie die letzte Schale auf der Zwiebel.

In den Einzelgesprächen wollte die Saalfeld immer meine Meinung zu der vergangenen Gruppenstunde wissen. Sie bestärkte mich in dem, was ich sagte und meinte, ich könne doch ruhig meinen Standpunkt während der Gruppenstunde vertreten. Es hätte alles Hand und Fuß, was ich zu sagen hätte. Da biss sie bei mir aber auf Granit. Ich hatte viel zu viel Schiss, dass mich jemand aus der Gruppe angreifen könnte, wenn ich irgendeinen Mist erzählte.

Trotzdem lernte ich in dieser Gruppe viel über die Erkrankung Alkoholismus und die daraus entstehenden sozialen Probleme. Mir wurde bewusst, dass meine Sucht schon begonnen hatte, bevor ich überhaupt anfing, Alkohol zu trinken. Kam, wie es schien, mit durch meine Erziehung, die mich zu einem unselbstständigen und abhängigen Menschen gemacht hatte. Meine Eltern hatten versucht, mich an die Gesellschaft anzupassen, was

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Rainer Güllich
Cover: Narong Khueankaew, Stock-Fotografie-ID: 1282675112
Lektorat: Christiane Hartmann
Tag der Veröffentlichung: 01.03.2024
ISBN: 978-3-7554-7848-5

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Birgit

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