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Vergeltung  

                                          

Das Alibi 

                                           

Hass  

                                                                                    

Die Aussage  

                                    

Tod auf dem Weihnachtsmarkt  

        

Dumm gelaufen

 

Über den Autor

Vergeltung

 Marianne Brunner saß in der Küche ihrer Wohnung und schaute sich gedankenverloren um. Ihr gegenüber stand der Küchenschrank, den sie vor kurzer Zeit gekauft hatte und dem ein starker Kiefernduft entströmte. Links daneben die Spüle, mit den aufgeklebten Kunststoffblumen. Rechts von ihr das Fenster, dessen Holzrahmen leicht verzogen war und deshalb so schlecht schloss.

Sie hatte eine Tasse Kaffee vor sich und rauchte eine Zigarette. Der Aschenbecher vor ihr auf dem Tisch quoll fast über. Auch eine Sache, die sie sich abgewöhnen sollte. Sie rauchte nun schon seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr. Sie hatte vor kurzer Zeit ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert.

Für fünfzig sah sie noch gut aus, das wusste sie. Sie hatte braunes Haar, das an einigen Stellen ins Graue ging und das sie schulterlang trug. Sie war schlank, hatte gleichmäßige Gesichtszüge, ihre grünen Augen gefielen ihr selbst am besten. Doch was nutzte das? Sie hatte ihren Geburtstag allein gefeiert. Was heißt gefeiert? Sie hatte sich ein paar Blumen gegönnt und eine Flasche Wein gekauft. Nachdem sie ein Glas Wein getrunken hatte, hatte sie den Rest der Flasche in den Ausguss ihrer Spüle gekippt. So sah das nämlich aus! Keine Lust zu feiern, keine Lust, diesen Tag durch irgendetwas hervorzuheben. Nach diesem Gedanken war der Blumenstrauß im Abfalleimer gelandet.

Es machte für sie keinen Sinn, diesen Tag besonders zu begehen. Wen scherte es, dass sie Geburtstag hatte? Sie hatte keine Angehörigen, keine Freunde. Vor einiger Zeit hatte sie erwogen, sich einen Hund anzuschaffen. Doch was sollte das für einen Sinn haben? Ihrer Überzeugung nach war ein Hund nur ein billiger Ersatz für fehlende soziale Kontakte. Außerdem hätte sie auch keine Zeit, mit dem Hund ins Freie zu gehen. So ein Tier brauchte Auslauf, brauchte Bewegung. Sie aber musste sich um ihren kleinen Laden kümmern, den sie allein betrieb.

„Mariannes Allerlei“ hatte sie ihren Laden getauft. Es war ein kleines Geschäft, aber es ernährte ihre Besitzerin. Sie verkaufte in erster Linie Tabakwaren, ein Sortiment an Spirituosen, Süßigkeiten, Zeitschriften, diverse Tageszeitungen und Heftromane. Auch die neuesten Taschenbücher konnte man bei ihr erstehen. Erstaunlicherweise hielt sich dieser Laden unter ihrer Führung schon seit fünfundzwanzig Jahren.

Sie hatte nach dem Beenden der Hauptschule in einem ansässigen Betrieb, der Kabel für Elektrogeräte herstellte, angefangen zu arbeiten. Ihr Schulzeugnis machte nicht viel her, außerdem fehlten ihr die Motivation und das Interesse, irgendeinen Beruf zu erlernen. Nicht etwa, dass sie wie einige ihrer Mitschülerinnen dachte, eines Tages zu heiraten und eine Ausbildung deshalb unnötig sei. Heiraten wäre soundso das Letzte, was sie sich für sich vorstellen konnte.

Sie wurde in dem Betrieb an einer Maschine angelernt, die Metallkabel mit Asbest umwickelte. Ihre Arbeit bestand darin, regelmäßig den Durchmesser des Kabels zu kontrollieren. Eine eintönige, langweilige Arbeit.

Doch passte sie zu ihrem sonstigen Leben. Nach der Arbeit kaufte sie die Lebensmittel ein, die sie für die Zubereitung ihres verspäteten Mittagessens benötigte. Sie kochte sich jeden Abend eine warme Mahlzeit. Aber nicht, weil sie es für nötig hielt, jeden Tag etwas Warmes zu sich zu nehmen, sondern weil sie dann beschäftigt war. So konnte sie ihre leere Zeit füllen. Sie kaufte immer in der Lebensmittelabteilung des Kaufhauses in der Universitätsstraße ein, das auf ihrem Nachhauseweg lag. Nachdem sie das schmutzige Geschirr gespült hatte, schaute sie noch etwas fern. Später las sie noch einige Seiten in ihrem jeweils aktuellen Roman, danach schlief sie ausgiebig und der nächste Tag begann nach dem gleichen Schema.

Das war ihr Alltag. Leben fand für sie in ihren Kriminalromanen statt, die sie schon seit frühester Jugend las. Angefangen hatte sie mit „Jerry Cotton“, doch bald waren ihr diese Heftromane zu banal, zu nichts sagend. Sie ging dann zu den Klassikern über, las Raymond Chandler, Agatha Christie und Dashiell Hammett.

Ihre Krimis holte sie sich in dem kleinen Lädchen in der Weidenhäuserstraße, das in der Nähe ihrer Wohnung lag. Dieser Laden gehörte einer netten, älteren Frau. Das war die einzige Person, mit der sie außerhalb ihrer Arbeit sprach. Ansonsten war sie zu scheu, ja, zu ängstlich, um mit anderen Kontakt aufzunehmen.

Als die Besitzerin des Ladens vor fünfundzwanzig Jahren ihren Laden aufgab, übernahm sie das Geschäft. Haus und Laden gehörten der Betreiberin. Sie bot es zum Verkauf an. Marianne, die ihr Leben lang kaum einen Pfennig, außer für ihre Krimis, ausgegeben hatte, war damit und natürlich mit einem Kredit ihrer Bank in der Lage, Haus und Geschäft zu erstehen.

Erstaunlicherweise gelang es Marianne gut, den Kontakt zu Stammkunden zu halten, diese Menschen bereiteten ihr zusätzlich Freude. Das war etwas ganz anderes als die Arbeit in der Fabrik. Marianne blühte auf. Sie war in der Lage, selbstständig ein Geschäft zu führen!

Sie veränderte nichts am Sortiment des Geschäftes. Alles lief so weiter wie bisher. Entscheidend war für sie, dass sie ein neues positives Lebensgefühl gefunden hatte. Sie sah das erste Mal hoffnungsfroh in die Zukunft, gewann mehr Selbstvertrauen. Sie überlegte sogar, ob sie in Urlaub fahren sollte. Ein Gedanke, der ihr in den Jahren vorher noch nie in den Sinn gekommen war. Und sie führte ihn auch aus. Die ersten Urlaube an der Nordsee, später dann auch im Ausland.

Sie entwickelte sich zu einer selbstbewussten Frau.

Was vorher diversen Gesprächstherapien nicht gelungen war, gelang nun einfach durch den Erwerb dieses Ladens. Sie war selbst sehr erstaunt darüber.

Sie hatte lange gebraucht, bis sie den Schritt zur ersten Gesprächstherapie gemacht hatte. Sie hatte eine sehr schwere depressive Phase durchlaufen. Ihr Hausarzt hatte ihr daher eine Therapie empfohlen. Sie hatte den Rat angenommen. Sie kannte diese depressiven Phasen, sie gehörten zu ihrem Leben dazu. Seit frühester Jugend schon ging es auf und ab mit ihren Gefühlen. Richtige Freude kannte sie überhaupt nicht.

Jedenfalls hatte keine der Gesprächstherapien ihr tatsächlich helfen können. Das Einzige, was ihr kurzfristig in ihren depressiven Phasen half, war ihre Hingabe an ihre Kriminalromane und Tagträume, selbst Heldin einer Kriminalgeschichte zu sein – wobei sie hierbei jedoch die Rolle der Rächerin innehatte, die es mit der Legalität ihrer Taten nicht so genau nahm. In ihren Tagträumen bestrafte sie Täter, denen es gelungen war, durch die Maschen des Gesetzes zu schlüpfen. Mal waren das Wirtschaftsverbrecher, Umweltsünder, aber auch Drogendealer und einfach nur brutale Kleinkriminelle. In letzter Zeit waren es immer Vergewaltiger, deren Verbrechen sie bestrafte. An diesen speziellen Träumen fand sie immer mehr Gefallen.

 

Es war ein regnerischer Tag, als sie sich endlich auf den Weg machte. Marianne Brunner hatte die Angelegenheit, wie sie es nannte, nun schon lange genug aufgeschoben.

Die Haustür knarrte noch immer fürchterlich, als sie versuchte, sie leise zu schließen. Der Hauswart hatte ihre Beschwerde über die knarrende Tür bisher erfolgreich ignoriert. Der korpulente Mann mit seinem lächerlich wirkenden Schnauzbart hatte sie nur gelangweilt angesehen, als sie ihre Beschwerde anbrachte. Er würde sich bei Gelegenheit darum kümmern, hatte er gesagt. Doch passiert war noch nichts. Nun gut, auch er würde irgendwann sein Fett dafür abbekommen. Dafür würde sie schon sorgen.

Sie fragte sich oft, ob es anderen alleinstehenden Frauen genauso erging wie ihr. Dass auch sie nicht respektiert, nicht für voll genommen wurden. Ob auch ihnen keine Achtung und Wertschätzung entgegenbracht wurde. Vielleicht war das aber nur ein persönliches Problem und hatte nichts mit ihrer Rolle als allein lebende fünfzigjährige Frau zu tun.

 

Vorne an der Ecke blieb sie an der Bushaltestelle stehen. Der Regen prasselte auf ihren Regenschirm, in den sich schnell bildenden Pfützen platzten große Wasserblasen. Hoffentlich würde der Bus heute mal pünktlich kommen. Zwei Jungen mit Schultaschen auf den Rücken sprangen in den Wasserlachen herum. Sie ging etwas zur Seite, um nicht von dem aufspritzenden Pfützenwasser getroffen zu werden. Sie unterließ es, die Heranwachsenden darauf hinzuweisen, dass sie mit ihrem Verhalten andere Passanten belästigen könnten. Sie würde damit sowieso keinen Erfolg haben. Außerdem wollte sie in keiner Weise Aufmerksamkeit erregen.

Der Bus kam die Universitätsstraße entlang, verlangsamte kurz vor der Bushaltestelle am Rudolphsplatz sein Tempo, hielt und der Fahrer öffnete die Türen. Marianne sah auf. Es war glücklicherweise ein Fahrer, den sie nicht kannte. Die Chance, dass er sich gegebenenfalls nicht an sie erinnern würde, war groß. Wenn doch ... egal, es ging nichts im Leben ohne Risiko.

Der Bus war nicht übermäßig besetzt. Sie setzte sich in eine der hinteren Reihen, so hatte sie alles im Blick, hatte alles unter Kontrolle. Die beiden Schuljungen sprangen unruhig im Bus herum, zogen so alle Aufmerksamkeit auf sich. Das war ihr nur recht. Je weniger sie auffiel, desto besser.

Sie schaute aus dem Fenster. Der Regen ließ nach, die dunklen Wolken wurden heller, sie würden bald verschwunden sein. Der Bus fuhr die nächste Haltestelle an. Einige Leute stiegen aus, andere dazu. Sie würde noch ein paar Haltestellen weiterfahren und dann aussteigen, eine Haltestelle vor ihrem Ziel. Dann noch wenige Minuten zu Fuß und sie wäre da, wo sie hinwollte. Vorher würde sie aber noch schnell in das Kaufhaus in der Bahnhofsstraße gehen und in der Haushaltsabteilung einen Föhn kaufen. Vor einer Woche hatte sie sich ihn schon ausgesucht. Sie war nicht sicher, aber vielleicht würde ihr dieser Kauf zu so etwas Ähnlichem wie einem Alibi verhelfen.

Da war ihre Haltestelle auch schon. Der Bus hielt, sie stieg aus, ließ aber erst noch die beiden Schuljungen an sich vorüber.  Jetzt nur keine Verwicklungen!

Auf ihrer Straßenseite lag das Kaufhaus. Es waren schon viele Leute unterwegs, sie ließ sich mit dem Strom Richtung Warenhaus treiben.

Die Haushaltsabteilung im Erdgeschoss war schnell erreicht, den Föhn hatte sie schnell zur Hand. An der Kasse gab es dann eine Verzögerung. Eine Kundin hatte etwas umzutauschen, die Kassiererin war umständlich und langsam. Marianne spürte, wie ihre Nervosität anstieg. Nachdem sie ihren Einkauf bezahlt hatte, verstaute sie den Kassenbon sorgfältig in ihrem Portmonee. Sie verließ das Kaufhaus unverzüglich und machte sich auf ihren Weg in die Robert-Koch-Straße.

Sie erreichte ihr Ziel fünf Minuten später. Sie sah auf die Uhr, es war nun 9.32 Uhr. Sie war sehr schnell gegangen und außer Atem. Sie öffnete die Haustür, die unverschlossen war, verhielt kurze Zeit im Hausflur, um wieder zu Atem zu kommen. Im Flur roch es nach Bohnerwachs, der Geruch erinnerte sie an das Haus ihrer Großmutter. Dort hatte es immer so gerochen. Ein Geruch, den sie mit Geborgenheit verband.

Auf dem Weg zu seiner Wohnung, die ein Stockwerk höher lag, begegnete ihr glücklicherweise niemand. Darauf hatte sie einfach hoffen müssen. Würde sie jemand hier sehen, müsste sie ihr Vorhaben sofort abbrechen. Die Treppenstufen knackten unter ihren Schritten. Das Treppengeländer aus Holz, an dem ihre linke Hand entlang glitt, gab ihrem Inneren Halt. Vor der Wohnungstür zögerte sie kurz, drückte dann jedoch entschlossen den Klingelknopf.

Die Musik, die sie vorher leise durch die Tür hatte spielen hören, verstummte. Schritte wurden laut, die Tür wurde geöffnet und Harald Zimmer stand vor ihr.

 

 

Wie hatte sie ihn damals nur kennen gelernt? Er tauchte eines Morgens in ihrem Laden auf, kaufte eine Morgenzeitung und ein Päckchen Zigaretten. Von da an blieb er Stammkunde. Das war nun schon fünf Jahre her. Er war ein junger Mann von damals fünfundzwanzig Jahren, war zuvorkommend und nett. Er war von schlanker Gestalt, trug Jeans und eine schwarze halblange Lederjacke. Ohne diese Jacke hatte sie ihn auch später nie gesehen. Er hatte ein schmales Gesicht, auffallend eingekerbte Mundwinkel, dunkle Augen, schmale Lippen, eine große Nase. Auffallende Gesichtszüge. Infolge

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Rainer Güllich
Cover: ysbrandcosjin, Stock-Fotografie-ID: 1440961614
Korrektorat: studiotextart
Tag der Veröffentlichung: 05.08.2023
ISBN: 978-3-7554-4875-4

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Karin

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