Karoline schob den Putzwagen in den Aufzug. Feierabend. Halb eins. Um diese Uhrzeit war wie jeden Tag Schluss für sie. Sie arbeitete jetzt schon ein halbes Jahr im psychiatrischen Krankenhaus. Es war die beste Arbeit, die sie je gehabt hatte. Sie war als Reinigungskraft, wie es so schön hieß, eingestellt, doch war das hier etwas ganz anderes als bei ihren vorherigen Putzstellen.
Sie war zuständig für alle Räume der Station, also auch für die Patientenzimmer. Die Patienten waren so um die siebzig und älter und, bedingt durch ihre speziellen Erkrankungen recht lange in der Klinik. Zumindest sah Karoline das so. Sie arbeitete in einer gerontopsychiatrischen Abteilung, ein Begriff, den sie nicht gekannt hatte und den sie sich am Anfang ihrer Tätigkeit nicht merken konnte. Thorsten, einer der Pfleger, hatte sie aufgeklärt. Es hieß nichts anderes, als dass sie sich in einer Abteilung befand, in der alte Menschen behandelt wurden, die eine psychische Erkrankung hatten. ›Ihre‹ Station nahm in erster Linie depressive Menschen auf. Karoline hatte anfangs Angst vor ihnen gehabt, mittlerweile erlebte sie sie als ganz normal. Die Patienten waren sicher schlechter drauf als Gesunde, aber depressiv? Das hatte Karoline sich schlimmer vorgestellt. Für sie waren alle so gut wie normal. Und so ging sie auch mit ihnen um. Vielleicht kam sie deshalb mit ihnen so gut klar. Sie kam genauso gut klar mit ihnen wie Thorsten. Er war der beliebteste Pfleger auf der Station. Karoline hatte er gleich gefallen, weil er sie sofort als seinesgleichen betrachtet hatte. Denn das war leider nicht unbedingt selbstverständlich. Da war immerhin Michael, der sie von oben herab behandelte. Als sei er etwas Besseres. Ähnlich wie der Stationsarzt Trümner, für den sie Luft war. Doch das waren die Einzigen, die sich so aufführten. Die anderen Angestellten waren alle nett zu ihr, sie fühlte sich als Mitglied des therapeutischen Teams.
Einige der Patienten schütteten Karoline ihr Herz aus. Und sie hörte zu. Mehr tat sie nicht. Sie hörte nur zu. Niemals wäre sie auf den Gedanken gekommen, den Leuten einen Ratschlag zu geben. Sie waren alle älter als sie, bestimmt lebenserfahrener. Natürlich wollte Karoline auch nichts falsch machen. In den ersten Wochen ihrer Arbeit war sie sehr unsicher gewesen, wie sie sich verhalten sollte. Mittlerweile war sie da unbefangen, gab sich so, wie sie war, und kam so auch am besten klar.
Die Krankenschwestern beneidete sie um ihren Job. Warum war sie eigentlich nie auf den Gedanken gekommen, so etwas zu machen? Ja, sie hatte sich nie Gedanken um ihre berufliche Zukunft gemacht. Wenn sie jemand darauf ansprach, sagte sie immer nur lachend, ihre Eltern hätten ihr nicht gesagt, wie wichtig eine Berufswahl doch sei. Leider war das auch die Wahrheit. Sie hatte sich von ihren Eltern nicht ernst genommen gefühlt. Und nicht geliebt.
Ach, nicht schon wieder diese trüben Gedanken. Sie überfielen sie oft genug. Jetzt war Feierabend, sie sollte sich lieber darüber klar werden, was sie einkaufen musste.
Im Keller verstaute sie ihren Putzwagen und zog sich um. Als sie am Fahrradständer ankam, realisierte sie frustriert den platten Vorderreifen. Nicht schon wieder! Immerhin das dritte Mal in drei Wochen. Der Schlauch ließ einfach Luft. Es wurde echt Zeit, dass sie sich einen neuen besorgte, sonst würde sie in den nächsten Tagen nicht mehr fahren können. Nicht dass sie wieder anfing zu schludern, so, wie sie es früher immer gemacht hatte. Was hieß früher? Sie versuchte seit circa einem dreiviertel Jahr, sich zu ändern. Sie wollte sich nicht mehr so treiben lassen, nicht mehr in den Tag hineinleben. Sie brauchte Ziele, eine Zukunft.
Vor einem Jahr hatte sie eine Gesprächstherapie angefangen. Sie war morgens erst spät aus dem Bett gekommen, bei der Hausarbeit hatte sie nur das Allernötigste geschafft, ihrer Arbeit konnte sie gar nicht mehr nachgehen. Doktor Stamm hatte sie krankgeschrieben. Nachdem feststand, dass keine körperliche Erkrankung die Ursache für Karolines Antriebslosigkeit war, hatte ihr der Arzt zu einer Therapie geraten.
Sie war dann zu dem Psychologen gegangen, der am Friedhof praktizierte. Einfach deshalb, weil sie dort leicht zu Fuß hinkonnte. Glücklicherweise hatte die Chemie gestimmt. Herr Haselfeld war um die fünfzig Jahre alt, hatte dunkelblonde Haare und trug einen Kinnbart. Er war schlank und sprühte vor Energie. Das Gegenteil von Karoline. Doch er hatte es geschafft, seine Klientin aus ihrer Lethargie zu holen. Er hatte ihr gesagt, dass er anfangs mit ihr verhaltenstherapeutisch arbeiten wolle. Also nicht auf irgendwelche Ursachen schauen, sondern sie sollte erst mal nur ihre Verhaltensweisen ändern. Später würde er mit ihr mehr analytisch arbeiten, also Ursachenforschung betreiben. Für Karoline war zwar alles, was ihr Psychologe sagte, ein Buch mit sieben Siegeln, doch sie verließ sich einfach auf ihn und tat, was er ihr riet.
Dazu gehörte auch, dass sie sich einer Selbsthilfegruppe von Depressionskranken anschloss. Hier hatte sie Elvira kennengelernt. Sie war zwei Jahre jünger als Karoline, schlank und immer guter Dinge. Karoline hatte sich sehr gewundert, als sie sie das erste Mal sah. Eine junge Frau mit solch einer positiven Ausstrahlung hatte sie selten kennengelernt. Nach der ersten Gruppensitzung hatte sie Elvira angesprochen:
»Darf ich dich was fragen?«
Elvira lächelte sie an.
»Natürlich. Leg nur los.«
»Wie kommst du in diese Gruppe? Du kannst doch unmöglich depressiv sein.«
»Bin ich auch nicht. Momentan wenigstens nicht. Ich hatte eine schwere depressive Episode. Sie hielt ungefähr acht Wochen an. Mit einem stationären Aufenthalt in der Klinik und der entsprechenden Medikation kam ich aus dieser depressiven Phase heraus. Wenn ich nicht krank bin, bin ich ein recht fröhlicher Mensch.«
Karoline schaute sie erstaunt an.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Rainer Güllich
Cover: L. Pinchuk, Stock-Fotografie-ID: 867105606
Lektorat: Karin Moebius
Korrektorat: Barbara Seifert
Tag der Veröffentlichung: 17.04.2023
ISBN: 978-3-7554-3900-4
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