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Kinderbesuch

Als ich Anfang der Achtzigerjahre meine spätere Ehefrau kennenlernte, betreute sie seit einiger Zeit die Kinder eines alleinerziehenden Vaters. Die Mutter war ihr bekannt, denn Karin hatte die Betreuung übernommen, als das Ehepaar noch zusammenlebte. Wie sie mir berichtete, war die Mutter als unzuverlässig zu bezeichnen. Zeitweiser Drogen- und Alkoholkonsum machten sie unberechenbar. Irgendwann verschwand sie einfach aus dem Leben ihres Mannes und ihrer Kinder. Wie Karin meinte, war dies das Beste für das Geschwisterpaar und auch für den Ehemann. Beide litten jedoch sehr unter der Trennung von der Mutter. Mario, damals sieben Jahre alt hatte schon vor dem Weggang seiner Mutter auffallende Verhaltensmerkmale an den Tag gelegt. Er war hyperaktiv und malte stundenlang Tabellen, wie er es nannte, deren Sinn nur er verstand. Dieses Verhalten verstärkte sich nun. Auch die therapeutische Behandlung, in der er sich befand, konnte daran nichts ändern.

Die kleine Paula, sie war erst fünf, konnte sich nicht vernünftig artikulieren, es war abzusehen, dass sie früher oder später einer logopädischen Behandlung bedurfte.

Karin erzählte mir das gleich zu Beginn unserer Beziehung. Sie hatte die Kinder sehr ins Herz geschlossen, ihr Schicksal beschäftigte sie sehr und sie musste mir unbedingt davon berichten. Mich machte ihr Bericht sehr betroffen, die beiden taten mir leid. Später erfuhr ich noch dass Paulas Mutter, kurz nach der Geburt ihrer Tochter, versucht hatte ihr Kind mit einem Kissen zu ersticken. Mir fehlten die Worte.

Ich hatte natürlich nichts dagegen, als Karin eines Tages fragte, ob sie das Geschwisterpaar nicht mal am Wochenende zu uns einladen könne. Karin und ich waren nämlich mittlerweile zusammengezogen und lebten in einem Einfamilienhaus mit Garten auf dem Land.

Den beiden gefiel es sehr gut bei uns. Mit Mario spielte ich Fußball im Garten, Karin spielte Memory mit Paula. Ein nachmittäglicher Besuch auf einem Spielplatz in der Nähe beendete das „Samstagangebot“. Der Besuch mit Kaffee und Kuchen bei den Eltern meiner Freundin war der Höhepunkt am Sonntag.

Ich verstand mich, wie Karin, gut mit den Kindern, weitere Besuche bei uns schlossen sich an.

 

Irgendwann fragte Andreas, der Vater, mal an, ob wir die beiden denn auch mal für längere Zeit zu uns nach Hause nehmen würden. Er hatte vor, mal zwei Wochen ohne sie Urlaub zu machen. Er brauchte dringend eine Auszeit. War für ihn nicht einfach, die Doppelbelastung Arbeit und Erziehung der Sprösslinge auf die Reihe zu bekommen. Ist für Frauen, nebenbei bemerkt, genau so schwer.

Er hatte schon mit seinen Kindern darüber gesprochen. Sie freuten sich auf die Zeit bei uns. Da konnte man ja schlecht Nein sagen. Lag aber auch nicht in unserer Absicht.

Im Juni war es dann so weit. Andreas lud die Kinder bei uns ab. Jeder hatte seinen Koffer und sein Lieblingskuscheltier dabei. Der Abschied von ihrem Vater fiel Mario und Paula schwer, doch Andreas machte kurzen Prozeß, kam nicht mit ins Haus und war nullkommanichts verschwunden. War wohl genau richtig so.

Es folgte eine recht angenehme und auch anstrengende Zeit mit den beiden. Ein Wochenende ist was anderes als zwei Wochen „Urlaub“. Da muss mehr geplant werden, die Kinder hatten die Erwartung, dass wir mit ihnen einiges unternehmen würden. Hatten wir auch vor. Ich hatte mir für diese Zeit Urlaub genommen. Ich machte in jener Zeit ein Praktikum in der Suchtberatungsstelle in Marburg, das ich für meine geplante Ausbildung zum Diakon benötigte. Die Leiterin der Einrichtung, ihres Zeichens Psychologin, hatte mich schon darauf aufmerksam gemacht, dass diese Zeit ohne den Vater für die Geschwister sehr schwer sein würde. Auch dann, wenn ich nichts davon mitbekam.

Nun gut. Ich jedenfalls traute mir zu, mit der Situation gut klarzukommen. Wo ich diese positive Einstellung hernahm, weiß ich allerdings nicht.

Meine eigene Erziehung jetzt im Detail aufzuführen würde hier den Rahmen sprengen und womöglich nur langweilen. Es sei so viel gesagt, dass meine Eltern hauptsächlich mit Liebesentzug gearbeitet hatten. Als Steigerung zweckentfremdete meine Mutter des Öfteren den Kochlöffel und versohlte mir damit den Hintern. Der Liebesentzug schmerzte mehr. Ich hatte mir vorgenommen mit Kindern anders umzugehen und es würde nie dazu kommen, dass ich eines schlagen würde.

Das war die Ausgangssituation. Bis dieser Abend kam.

Wir waren mit Mario und Paula nachmittags am Baggersee gewesen, danach noch in der Eisdiele. Das Abendbrot hatten wir auch  hinter uns und die Kinder waren bereit ins Bett zu gehen. Da läutete das Telefon. Karin ging ran, Andreas war am Apparat, erkundigte sich wie alles lief und wollte natürlich auch seinen Nachwuchs sprechen.

Kein Problem. Er sprach erst mit Paula, die sich danach in eine Ecke setzte und den Daumen in den Mund steckte. Dann war Mario dran. Er sprach sehr laut mit seinem Vater, weinte mal, lachte mal. Während des Gesprächs schlug er mit seinem Stoffhasen fest gegen die Wand. Dann war das Gespräch beendet. Ich wechselte noch ein paar Worte mit Andreas und legte dann auf. Das Rummsen von nebenan hatte ich schon gehört.

Mario war in das Zimmer, dass er mit seiner Schwester bei uns bewohnte, gegangen und hatte begonnen meine Bücher, die dort schön sortiert in Regalen standen aus diesen herauszureißen und auf den Boden zu werfen. Als ich ihn an einem Arm festhielt, um ihn aufzuhalten, fing er aus vollem Hals an zu schreien. Ich ließ ihn los. Er schrie weiter. Im Flur draußen begann Paula zu weinen. Ich fuhr Mario an, er solle aufhören, so zu schreien. Er machte in gleicher Lautstärke weiter.

Da klatschte es. Mario war still, schaute mich mit großen Augen an, warf sich aufs Bett und weinte. Ich hatte ihm eine Ohrfeige verpasst. Ich hatte ihn geschlagen!

Ich ging in die Küche, setzte mich an den Tisch und schaute an die Wand. Ich hatte ein Kind geschlagen! Ich hatte das getan, was ich nie tun wollte.

Paula hatte ihr Weinen eingestellt, Karin war bei ihr und tröstete sie. Aus dem Zimmer nebenan hörte man nur das Schluchzen von Mario. Karin kam mit Paula auf dem Arm in die Küche und sagte nur: „Geh zu ihm.“

Das tat ich. Ich bewegte mich, als hätte ich Blei in den Füßen. Jeder Schritt fiel mir schwer. Dann war ich bei ihm. „Es tut mir leid Mario. Entschuldige bitte. Das wollte ich nicht.“

Er drehte sich zu mir um, wischte mit einer Hand die Tränen aus den Augen und sagte die Worte, die ich nie vergessen werde: „Sag mal Rainer. Geht es dir auch manchmal so schlecht?“

Mit einem Schlag schoss mir das Wasser in die Augen. Ich nahm Mario in die Arme und sagte: „Ja, mir geht es auch manchmal so schlecht.“

Er machte sich aus meinen Armen frei, setzte sich auf das Bett und erzählte von seiner Traurigkeit, seiner Angst und seiner Einsamkeit. Er benutzte natürlich andere Worte. Und ich erzählte von mir.

Nie wieder habe ich ein solches Gespräch mit einem Kind geführt. Und nie wieder habe ich ein Kind geschlagen.

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Tag der Veröffentlichung: 01.12.2013

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