Auf das Klingeln hin war ich an die Tür gegangen und hatte sie geöffnet. Ein Mann und eine Frau standen vor mir. Er war ungefähr ein Meter achtzig groß, kräftig, hatte dünnes Haar und ein eindringliches Lächeln auf dem Gesicht. „Ich bin Lothar“, sagte er, streckte die rechte Hand aus, die ich ergriff und etwas fassungslos schüttelte. Er zeigte auf die Person neben sich, die mich strahlend anlächelte. Sie war mittelgroß, hatte braunes, schulterlanges Haar. „Das ist Gaby. Karin kennt sie ja.“
Das stimmte. Meine Partnerin kam von hinten aus der Wohnung an die Tür und mit einem Aufschrei warf sie sich der mir Fremden in die Arme.
Da kapierte ich. Gaby und Lothar. Die aus dem Osten.
Karin löste sich aus den Armen der Frau, gab deren Mann die Hand und bat beide herein.
„Seitdem Donnerstag die Grenze offen ist, haben wir überlegt, ob wir herkommen sollen. Da heute Samstag und demnach Wochenende ist, fuhren wir einfach los. Ja und jetzt sind wir hier. Da staunt ihr, was?“ Lothar nahm einen Schluck von seinem Bier.
Ja, ich staunte. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Gaby war die Cousine meiner Frau, Lothar Gabys Ehemann. Ich kannte beide nicht. Meine Frau hatte ihre Verwandte im Alter von sechzehn Jahren das letzte Mal bei einem Besuch in der DDR gesehen. Danach hatten sie sich noch geschrieben, doch als Gaby ihren Lothar heiratete brach der Briefkontakt ab. Gabys Mann war Offizier bei der NVA, ihr waren dadurch Kontakte in den Westen verboten. Sie hatte aber gestern – tatsächlich es war erst gestern gewesen – bei uns angerufen und lange mit meiner Frau telefoniert. Die Grenze war offen, es schienen also auch andere Vorschriften gefallen bzw. durchlässiger geworden zu sein. Gaby hatte nämlich mit Karin über einen eventuellen Besuch bei uns gesprochen, dass sie aber gleich einen Tag später hier aufschlagen würden, davon war beim Telefongespräch nichts vorgebracht worden. Jedenfalls war das zu diesem Zeitpunkt auch dem Ehepaar nicht klar gewesen. Sie waren heute einfach im Überschwang der Gefühle losgefahren. Sie hatten die Bilder im Fernsehen gesehen, in denen lange Trecks von Trabbis über die Grenze fuhren, um sich den Goldenen Westen anzuschauen. Da hatte sie auch nichts mehr gehalten. Wer wollte es ihnen verdenken? Selbst meine Frau und ich waren gestern Nachmittag Richtung DDR-Grenze gefahren, um die Bürger der DDR zu grüßen. Es war ein Riesenereignis die ausgelassene Freude der Brüder und Schwestern aus dem Osten über ihre gewonnene Freiheit zu erleben. Auf den Straßen war ein nicht endenwollendes Hupen und Winken gewesen. Freude pur!
Wenn ich heute daran denke, läuft mir immer noch ein Kribbeln den Rücken herunter.
Irgendwo fand meine Frau eine Flasche Sekt und wir prosteten uns zu. Gaby und sie tauschten Erinnerungen aus, Lothar und ich tasteten uns vorsichtig ab. Er war immerhin Offizier bei der NVA, somit für mich als ehemaligen Bundeswehrangehörigen also einer der „Feinde“ aus dem Osten. Für Lothar war es ähnlich, auch für ihn war ich der „Klassenfeind“.
Es stellte sich jedoch für uns beide heraus das der „Feind“ ganz passabel und nett war. Die Rede kam natürlich auch auf unser Leben in den unterschiedlichen deutschen Staaten. War mit Sicherheit für alle Beteiligten interessant. Ich jedenfalls fand es sehr spannend, den Berichten zuzuhören.
Nachmittags fuhren wir in meine Heimatstadt Marburg. Die neu gewonnenen Verwandten wollten ja auch ein bisschen was anderes sehen, als die vier Wände unseres Zuhauses.
Ich kann mich nur erinnern, dass beide mit großen Augen im ersten Kaufhaus um sich blickten. Sie wussten kaum, was sie sagen sollten, so beeindruckt waren sie von der Fülle des Angebots und wie es darbeboten wurde. Mein Hinweis, dass das ja nur die eine Seite einer Medaille war, konnten sie nicht aufnehmen. Was ich aber verstand.
Wir kehrten noch in einem Restaurant ein, Gaby und Lothar blieben über Nacht und fuhren am nächsten Tag nach Hause. Und sie hatten uns eingeladen, sie in Dessau zu besuchen. Was wir einen Monat später auch taten.
Nun lag es an uns, zu staunen. Das erste Mal in der DDR gingen mir schon nach dem Grenzübertritt im Bezirk Suhl die Augen auf. Ich hatte das Gefühl aus einem Farbfilm in einen Schwarz-Weiß-Film zu geraten. Hier war ja alles grau in grau. Die Häuser, die ich sah, hatten eine schmutzig graue Fassade. Der Rauch, der aus den Schornsteinen stieg, sah ebenso aus. Dunkel meinte ich mich an meine Kindheit erinnern zu können, in der es bei uns im Ort ähnlich aussah.
Die Fahrt über die Autobahn nach Dessau war ein Holpern und Stolpern, wie ich es noch nie erlebt hatte. Ich war froh, als wir die Stadt erreichten. Gaby und Lothar lebten hier in einer kleinen Wohnung in einem Plattenbau. Als Kind hatte ich mit meinen Eltern auch eine gleichartige Mietwohnung bewohnt. Für mich also nichts Neues, ich fand den Wohnraum absolut in Ordnung. Lothar teilte mir aber mit, dass nicht alle Wohnungen so wären, er sei als Angehöriger der NVA privilegiert und hätte deshalb eine so gute Wohnung erhalten. Nachmittags fuhren wir in die Umgegend von Dessau. Als wir in einer Gaststätte einkehren wollten, ging Lothar vor, um sich zu erkundigen, ob noch Plätze frei wären und wir etwas verzehren könnten. Wurde uns gewährt. Auf meine Frage, was das denn jetzt gewesen sei, meinte Lothar das sei so üblich. Der Wirt hätte eventuell keine Vorräte mehr haben können und uns somit nicht bedient. So gesehen war das logisch.
Ich bestellte das mir unbekannte Würzfleisch und musste feststellen, dass es mit dem mir bekannten Ragout fin identisch war. Das Essen war lecker und ich ließ es mir munden.
Am nächsten Tag lernten wir Lothars Eltern kennen, die in der Nähe von Dessau wohnten. Hier ging es etwas ländlicher zu und sie zeigten uns stolz ihren kleinen Garten. Der sei eine wahre Goldgrube, weil er einen unabhängiger von der Versorgung mit den Waren vom Konsum mache. Auf meine diesbezügliche Frage bekam ich die Auskunft, dass es manchmal mit bestimmten Warengruppen schwierig sei und sie zeitweise nicht zu bekommen wären. Lothar berichtete mir, dass es zu letztem Silvester kein Bier im Konsum gegeben hätte, dafür aber Unmengen an Toilettenpapier. Für Karin und mich eine unvorstellbare Sache, da wir im Überfluss aufgewachsen waren.
Wir besuchten noch den in der Nähe Dessaus gelegenen Wörlitzer Park, der mir sehr gut gefiel, war er doch wunderschön angelegt. Was mich jedoch ziemlich schockte, war die Tatsache, dass man die dort sehenswerten Gebäude nicht besichtigen konnte, da die Einsturzgefahr zu groß war.
Das war unser erster Besuch in der DDR. Es sollten noch andere folgen.
Wieder zu Hause angekommen hatten meine Frau und ich natürlich reichlich Gesprächsstoff, waren wir doch aus einer anderen Welt in unsere zurückgekehrt. Wir besuchten Gaby und Lothar noch oft, auch sie waren wieder bei uns zu Besuch. Es kam dann ja die „Wiedervereinigung“, die unsere beiden Freunde auch herbeigesehnt hatten. Doch so einfach, wie sie sich das vorgestellt hatten, ging die Vereinigung nicht vonstatten. Lothar verlor mit der Auflösung der NVA seinen Posten und wurde nicht wie erhofft in die Bundeswehr übernommen. Seine Hoffnung auf ein neues Leben in einem geeinten Deutschland begann also mit Arbeitslosigkeit. Gaby hatte mehr Glück. Sie war als Zivilangestellte bei der NVA tätig gewesen und wurde von der Bundeswehrverwaltung übernommen. So hatte immerhin ein Familienmitglied Arbeit.
Aber irgendwann ging es auch mit Lothar wieder aufwärts. Er fand wieder Arbeit. Das letzte Mal, als ich von ihnen hörte, ging es ihnen sehr gut. Sagten sie.
Nicht jeder ehemalige DDR-Bürger wird das von sich behaupten können.
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Gaby und Lothar