Wind pfiff mir um die Ohren, ich hörte Reifen quietschen. Ich fühlte kaltes Metall unter meinen Händen. Wo war ich bloß hingeraten? Ich öffnete die Augen. Ich befand mich auf dem Dach eines in schneller Fahrt befindlichen grauen VW-Busses. Ich versuchte mich ins Dach einzukrallen, um nicht vom starken Fahrtwind vom Dach geweht zu werden. Der Wagen befand sich auf einer Anhöhe und ich konnte im gegenüberliegenden Tal erkennen, was mich erwartete. Eine Landstraße, die weit in den Horizont hineinreichte und die sich in unzähligen Schlangenkurven dahin zog. In einer dieser Krümmungen würde mich mein Schicksal ereilen. Das war jetzt schon klar. Ich würde durch die Fliehkraft in einer der Kurven vom Bus geschleudert werden und mit meinem Schädel auf dem Asphalt aufschlagen.
Und so war es auch. Auf der Talsohle angekommen wurde ich in der ersten Kehre vom Dach geschleudert und schlug mit voller Wucht mit dem Kopf auf dem Boden auf. Ein schreckliches Knirschen ließ mich wach werden.
Schweißgebadet und mit wild schlagendem Herzen wachte ich auf. Das war ja ein schrecklicher Traum gewesen.
Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn, knipste die Bettleuchte an, stand auf, ging zum Waschbecken und trank in tiefen Zügen einige Schlucke Wasser. Ich schaute zu meinem Bettnachbarn. Er lag zur Wand gekehrt, die gleichmäßigen Atemzüge die ich hörte, machten deutlich, dass er tief schlief.
Ich legte mich wieder in mein Bett, zog die Decke über den Kopf und versuchte wieder einzuschlafen. Doch ließen sich meine Gedanken nicht beruhigen. Ich kannte diesen Traum. Vor etlichen Jahren hatte ich ihn schon des Öfteren genau in dieser Abfolge geträumt. Das war zu Beginn meiner Pubertät gewesen, in einer Zeit, in der ich mir der Problematik des Lebens sehr bewusst geworden war. Mit dem Ende der Pubertät verschwand das grausame Szenario aus meinen Träumen.
So betrachtet war es kein Wunder, dass der Traum nun wieder geträumt werden „durfte“. Stand ich doch wieder vor einem Problem. Ich befand mich in einer Klinik für junge Suchtkranke, um den Kampf gegen meine Alkoholsucht aufzunehmen. Diese Busgeschichte wohl „mein“ Traum, wenn’s eng wurde!
Am nächsten Tag erzählte ich meinem Gruppentherapeuten von dem Traum. Er meinte auch, dass das wohl mein spezieller Traum für belastende Situationen sei. Wenn ich meine Sucht besiegt hätte, würde der Traum wieder verschwinden. Mich beruhigte diese Aussage etwas, trotzdem musste ich diesen Traum noch etliche Male träumen. Doch er verschwand noch vor Beendigung der Therapie. Ich war aber nicht erlöst, denn der Traum wurde von einem anderen abgelöst, der nicht minder beängstigend war.
Auch in dieser Illusion befand ich mich wie aus dem Nichts in einer tödlichen Gefahr. Ich hing mit beiden Händen an einem Felsvorsprung, tief unter mir schlug das Meer mit schäumenden Wellen an nadelspitze Klippen. Ich wusste, ich würde mich nur noch wenige Sekunden halten können, dann würde ich von den Felsen aufgespießt werden. Da ich keine Chance für mich sah, mich retten zu können ließ ich mich fallen … und wachte natürlich auf!
Wieder Schweiß, wieder wild schlagendes Herz.
Doch diesmal brauchte ich keinen Therapeuten oder sonst jemanden, der mir den Traum erklären konnte. Es war klar, das er verdeutlichte, dass ich bei anstehenden Problemen zu früh aufgab, zu schnell resignierte.
Dieser Traum war ab da mein Therapiebegleiter. Ich träumte ihn fast jede Nacht. Mein Therapeut sah diesen Traum als etwas sehr Positives an. Er sei ein guter Maßstab für meinen inneren Zustand. Ich solle schauen, ob der Traum sich verändern würde.
Tat er nicht. Aber er verschwand. Kurz vor Ende der Langzeittherapie. Und ist bisher nie wiedergekommen. Auch den Traum mit dem Bus träumte ich nie wieder. Therapieträume, die mich vor 34 Jahren bewegten.
Tag der Veröffentlichung: 03.08.2013
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