Thorsten, einer der Kollegen aus meiner Schreibgruppe hatte an einem Märchenbuch gearbeitet und überraschte uns andere Schreibbegeisterten damit, dass es fertiggestellt sei. Über seinen Schreibcoach war er an eine Illustratorin gekommen, die das Buch mit schönen kindgerechten Bildern versehen hatte.
In Neustadt, einer von meinem Heimatort Marburg nicht weit entfernten Stadt sollte im Rahmen eines Festes einer Bürgerinitiative Thorstens Buch vorgestellt werden.
Arrangiert hatte das Herbert, Thorstens Schreibtrainer, der sozusagen Thorstens Management übernommen hatte.
In der Nähe des Festplatzes in Neustadt befindet sich der Junker-Hansen-Turm, der größte Fachwerkrundbau der Welt (das ist schon was!). In ihm sollten zwei Lesungen stattfinden, in denen Textauszüge des Märchens gelesen werden sollten.
Dazu benötigte Thorsten noch jemand der für ihn lesen konnte. Thorsten ist blind, es fällt ihm schwer, eine Lesung in Blindenschrift zu halten.
Ich erklärte mich dazu bereit und wir einigten uns darauf, dass ich auch ein Märchen aus meiner Feder vortragen könne.
Gute Idee dachte ich, doch welches Märchen aus meiner Feder? Ich hatte keines. An einem Märchen hatte ich mich schreibtechnisch noch nie versucht.
Zu diesem Zeitpunkt war ich jedoch von meinem schreiberischen Können dermaßen überzeugt, dass ich mich hinsetzte und mein erstes Märchen schrieb. So entstand „Der Prinz und die Hexe oder Märchen in Rosa“.
Ich trug das Märchen in unserer Schreibgruppe vor, es wurde als gut befunden. Diverse Verbesserungen des Textes wurden eingefügt. Thorsten übergab mir ein Exemplar seines Märchenbuches und ich konnte mich somit lesetechnisch auf die Lesung vorbereiten.
Das tat ich ausgiebig, bis dann der Tag der Lesung herangekommen war.
Bisher hatte mir das bevorstehende Ereignis wenig Sorge gemacht. Meine erste Lesung in Kronberg/Taunus mit dem net-Verlag war gut verlaufen, was sollte also schiefgehen?
Doch nun wenige Stunden vor dem Lesen sah die Sache ganz anders aus. Meine Frau saß noch beim Frühstück und ich lief unruhig in der Wohnung umher. Das Lampenfieber hatte mich gepackt. Würde meine Stimme funktionieren? Was war mit einer spontan einsetzenden Mundtrockenheit. Was wäre, wenn ich den Faden verlieren würde, einen Block bekäme? Solche und ähnliche Gedanken hielten mich in ihrem Bann.
Meine Frau und ich hatten schon besprochen, dass sie unseren PKW fahren würde, ich könnte dann die Texte noch mal durchgehen.
Als wir dann im Wagen saßen, wurde ich ein bisschen ruhiger. Die Fahrt dauerte ungefähr eine halbe Stunde und bald lag Neustadt vor uns. Ein Parkplatz war schnell gefunden und wir machten uns auf, um den Stand von Thorsten und seinen Begleitern zu finden.
Wir hatten sie schnell ausgemacht. Thorsten stellte uns seinen Schreibcoach und die Illustratorin vor. Thorstens Mutter, die auch anwesend war, kannten wir schon. Alle vier Protagonisten trugen T-Shirts, auf denen der Titel des Märchenbuches "Die Prinzessin und die fünf Edelsteine" aufgedruckt war.
An Thorstens Stand konnte man sich über sein Buch, die Arbeiten der Illustratorin informieren und natürlich auch das Buch erstehen. Thorsten war schon den ganzen Vormittag mit seiner Truppe zugange gewesen, es war aber noch nicht ein Buch verkauft worden.
Die erste Lesung sollte um 13:00 Uhr stattfinden. Wie mir Thorsten erst jetzt mitteilte, würde diese Lesung sein Schreibcoach bestreiten und ich würde erst um 14:30 Uhr lesen.
Super! Wenn ich das gewusst hätte, hätten wir uns mit unserem Erscheinen auch noch Zeit lassen können. Nun waren wir aber schon mal da, also schauten wir uns auf dem Festplatz und Markt um, tranken Kaffee und aßen ein Stück Kuchen.
Nebenbei bemerkt waren das jetzt Umstände, die mein Lampenfieber wieder so richtig anfachten. Eine an- und abschwellende Nervosität begleitete mich.
Kurz vor 13:00 Uhr machten wir uns auf den Weg, um der ersten Lesung beizuwohnen. Ich machte Thorstens Führer und wir begaben uns zum Turm. Am Turmeingang befand sich eine Aufsicht, der Turm war an dem heutigen Tag kostenfrei zur Besichtigung freigegeben. Thorsten machte den Mann darauf aufmerksam, dass die angekündigte Lesung jetzt beginnen würde und er doch bitte nur Leute, die zur Lesung wollten, hereinlassen solle. Der „Turmwächter“ meinte daraufhin, er habe Anweisung alle Leute einzulassen. Die Besichtigung des Turmes und Lesung könnten parallel ablaufen. Ich dachte, ich höre nicht richtig. Auf unsere Einwände meinte er nur, im dritten Stock sei, an der der Aufgangstreppe gegenüberliegenden Seite, Stühle und Tische für die Lesung aufgebaut. Er wäre aber gern bereit die Besucher des Turmes auf die Lesung aufmerksam zu machen. Die Personen, die nur den Turm besichtigen wollten, würde er bitten, das später zu tun.
Also gut, es war nun mal, wie es war, wir Märchenfreunde hofften einfach mal auf das Beste.
Tatsächlich waren an einer Seite des Turms ein Tisch für den Autor aufgebaut, davor eine Anzahl von Stühlen für die Hörer.
Wir nahmen Platz. Meine Frau und ich als Zuhörer. Thorsten und Herbert, der Schreibcoach, uns gegenüber am Autorentisch. Zu meiner Frau und mir gesellten sich noch zwei Paare, um der Lesung beizuwohnen.
Im Turm selbst war reger Verkehr, man hörte das Knarren der Holztreppen, die Gespräche der erwachsenen Besucher und das Rufen der Kinder.
Für eine ablenkende Atmosphäre war also gesorgt.
Herbert begann zu lesen. Er las supergut, seine Betonung war 1 a. Ich kannte das Märchen ja zur Genüge, aber was Herbert allein durch sein Lesen da noch rausholte, war einfach enorm. Ich dachte an meinen noch bestehenden Vortrag und bekam weiche Knie. Nie würde ich diese Geschichte so vortragen können. Da ich noch ausreichend Zeit bis zu meinem Lesen hatte, konnte sich noch mehr Druck aufbauen. Na toll!
Trotz dieses Supervortrages verschwanden die beiden Paare nach kurzer Zeit und meine Frau und ich waren die einzigen Zuhörer. Glücklicherweise erschien dann noch ein Elternpaar mit zwei kleinen Kindern, die bis zum Ende der Lesung blieben.
Frustriert gingen wir vier „Literaturfreunde“ einen Kaffee trinken, Herbert suchte einen der Veranstalter auf, damit für die nächste, nämlich meine Lesung, noch mal die Werbetrommel gerührt wurde.
Das geschah. Kurz nach Herberts Verschwinden gab es eine Lautsprecherdurchsage, die das Buch von Thorsten und die anstehende Lesung hervorhob.
Herbert teilte uns noch mit, dass er versucht habe, dass die Besichtigung des Turmes während der Lesung unterbleiben könne, dass mit dem Veranstalter aber nicht darüber zu reden gewesen wäre.
Also machten sich Thorsten und ich mit gemischten Gefühlen erneut auf, den Turm zu besteigen. Meine Frau begleitete uns, notfalls musste sie als unsere einzige Zuhörerin fungieren.
Als wir unsere Plätze einnahmen, saßen immerhin schon vier ungefähr zehnjährige Mädchen gespannt auf ihren Plätzen. Da ich ja auch mein Märchen vorlesen wollte, fragte ich die Kinder, welches Märchen sie denn erst hören wollten, die gekürzte Fassung von Thorstens Märchenbuch oder mein Märchen, das etwa zehn Minuten Lesezeit beanspruchen würde. Sie entschieden sich für die halbstündige Version von Thorstens Märchen.
Als ich anfing zu lesen, kam noch eine junge Frau mit einem etwa fünfjährigen Jungen dazu. Die Kinder hörten gespannt zu. Das war das Publikum, das man hier brauchte. Die Nebengeräusche, die die Besucher des Turmes verursachten, die immer noch die Turmtreppe hochströmten, verschwanden im Hintergrund. Meine Nervosität hatte sich mit Beginn des Lesen gelegt. Meine Stimme war sicher, von dem befürchteten trockenen Hals war nichts zu spüren. Ich glaube, ich bekam beim Lesen glühende Ohren, jedenfalls gab ich mein Bestes. Die Kinder waren begeistert und waren nun auch ganz gespannt auf mein Märchen. Das hätte ich auswendig vortragen können, so oft hatte ich es in der letzten Zeit gelesen. Ich glaube, ich habe es gut rübergebracht. Die Kinder hörten gespannt zu und für so wenig Publikum gab es einen erstaunlichen Applaus.
Ende gut alles gut, war mein Gedanke.
Ich bin am Ende des Tages mit einem sehr positiven Gefühl nach Hause gefahren. Meine Lesung war von den Kindern und auch von der jungen Frau sehr positiv aufgenommen worden. Sie fragte nämlich in welchem Verlag denn von mir was erschienen sei, sie würde gern etwas von mir lesen. Für mich ein dickes Lob, was meinen Märchentext betraf.
Es kommt eben nicht auf die Menge der Zuhörer an, sondern darauf, die „richtigen“ Zuhörer zu haben.
Tag der Veröffentlichung: 29.03.2013
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