Cover


Da stand ich nun. Im Hafen von Delfzijil in den Niederlanden. Ich war vor wenigen Minuten von zwei Matrosen außenbords gehievt worden, und ehe ich mich richtig versehen hatte, hatte das Fahrgastschiff vom Kai abgelegt und ich stand mutterseelenallein am Pier.
Wir hatten mit einer Gruppe alkoholkranker Rehabilitanden eine Ausflugsfahrt in den niederländischen Hafen gemacht. Wir, dass waren eine Sozialpädagogin, ein Erzieher und ein Ergotherapeut. Der Ergotherapeut war ich. Es war meine erste Stelle nach Beendigung meiner therapeutischen Ausbildung 1986.
Wir waren mit den Betreuten auf einer zweiwöchigen Urlaubsfreizeit in Ostfriesland, ein therapeutisches Angebot, dass jedes Jahr von dem Übergangswohnheim für Suchtkranke, in dem ich tätig war, durchgeführt wurde. Die dreistündige Schifffahrt von Norddeich nach Delfzijil, mit anschließendem zweistündigem Landgang, gehörte zum Rahmenprogramm der Freizeitveranstaltung.
Die Fahrt mit dem Schiff empfand ich persönlich als ziemlich langweilig. Glatte See, keine einzige Welle zu sehen, nur die ein oder andere Möwe achtern vom Schiff. Wahrscheinlich um irgendwelche Abfälle zu ergattern.
Als wir endlich im Hafen von Delfzijil einliefen, war ich erleichtert, dass wir unser Ziel erreicht hatten. Unsere Betreuten konnten nun tun und lassen, was sie wollten. Sie konnten das Städtchen alleine oder in Gruppen besuchen. Oder an Bord bleiben. Wir verabredeten mit ihnen, dass wir uns zehn Minuten vor Abfahrt des Schiffes, auf dem Oberdeck treffen wollten.

Als wir uns dann wieder trafen, fehlte ein älterer Mann. Es hatte ihn keiner der Anderen gesehen. Er war verschollen. Was lag näher als die Annahme, dass der Betroffene in irgendeiner Hafenkneipe hängen geblieben und einen Rückfall gebaut hatte. Das kam in der Einrichtung immer wieder vor, warum nicht auch hier? Der Fehlende war ein stiller, in sich zurückgezogener Mensch, keiner der anderen Betreuten hatte Kontakt zu ihm.
Wir mussten ihn umgehend suchen. Die Sozialpädagogin, unsere Leiterin, bat den Kapitän des Schiffes noch etwas zu warten, damit wir anderen den Abgängigen suchen konnten. Keine Chance! Das Schiff musste pünktlich den Hafen verlassen, der Kapitän musste sich an seinen Fahrplan halten. Da außerdem die Zeit drängte, das Schiff am Ablegen war, wurde ich ausersehen, den fehlenden Rehabilitanden zu suchen. Ich sollte ihn, möglichst wohlbehalten, mit dem nächsten abfahrenden Schiff nach Ostfriesland bringen.
Das nächste Schiff fuhr erst am folgenden Tag. Tolle Aussichten!
Unsere Leiterin teilte unsere Entscheidung dem Kapitän mit und da das Schiff schon abgelegt hatte, wurde ich mit Hilfe von zwei Matrosen von Bord geworfen. Na ja, eher ein geworfener Sprung. Ich konnte noch einige mitleidige Blicke der Mitpassagiere erhaschen und dann war das Schiff verschwunden.
Was nun? Da stand ich nun in den Niederlanden, wusste eigentlich nicht wo ich war, konnte kein Wort niederländisch verstehen, geschweige denn sprechen. Ich kam mir allein gelassen und verloren vor. Wie ein kleines Kind, das von seinen Eltern verlassen worden war. Weit, weit weg von Zuhause.
Ich wusste überhaupt nicht, was ich tun sollte.
Sollte ich tatsächlich von Kneipe zu Kneipe ziehen, um den Verschollenen zu suchen? War er überhaupt verschollen? Wieso hatte der Kapitän den Betroffenen eigentlich nicht über die Bordsprechanlage ausrufen lassen? Weil wir so sicher waren, dass der Betroffene verschwunden sei? Ich hatte plötzlich Zweifel am Verschwinden des Rehabilitanden. Wir hatten in der Panik vorschnell gehandelt.
Ich musste aber zu irgendeiner Entscheidung kommen. Ich hatte jedenfalls keine Lust die Nacht in Delfzijil zu verbringen. Ich entschloss mich die nächste Polizeistation aufzusuchen, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Leichter gedacht wie getan. Auf dem Polizeirevier sprach niemand Deutsch. Warum auch? Ich war in den Niederlanden. Der Polizeikommissar, mit dem ich mit meinem mangelhaftem Schulenglisch und Händen und Füßen sprach, wollte erst keine Vermisstenanzeige aufnehmen, da der Vermisste ja mal gerade zwei Stunden abgängig war. Als er verstanden hatte, dass ich umgehend nach Deutschland zurück wollte, nahm er die Anzeige auf, mit dem Hinweis, dass ich mich telefonisch melden solle, wenn ich in Deutschland angekommen sei. Vielleicht sei der Vermisste eventuell auch schon dort. Der Polizeikommissar, der übrigens den schönen deutschen Namen Schmidt trug, traute der Angelegenheit also auch nicht.

Nach dem Besuch auf dem Polizeirevier suchte ich den Bahnhof in Delfzijil auf, da Deutschland ja auch auf dem Landweg zu erreichen war. Ich musste mit der Bahn erst mal ins Landesinnere nach Groningen fahren. In Groningen umsteigen. Auf den Zugwaggons, die auf dem Abfahrtsgleis in Groningen standen, stand in großen Lettern: Deutsche Bundesbahn. Ich war erleichtert. Als ich auf einem der Sitze in einem der Wagen Platz nahm, fühlte ich mich zu Hause. Ein schönes Gefühl. Noch war ich aber nicht da.
Als ich später dann die niederländisch-deutsche Grenze überquerte, fühlte ich Glück pur!
Um den Anschlusszug in Emden zu erreichen, musste ich ein Stück des Weges mit dem Taxi fahren. Mit dem Anschluss klappte es, ich war gegen acht Uhr abends in Norddeich. Ich begab mich gleich an die Anlegestelle der Fahrgastschiffe, da ich hoffte, von dort mit einem Linienbus zu unserem Zeltplatz fahren zu können. Wie ich feststellen musste, gab es um diese Uhrzeit jedoch keinen Linienverkehr mehr.
Merkwürdigerweise fehlte aber an der Anlegestelle die Frisia II, das Schiff mit dem ich in die Niederlande gefahren war. Auch der kleine Reisebus unserer Reha-Einrichtung stand noch auf dem Parkplatz. Das Schiff war also noch nicht angekommen, hatte also, wenn ich das richtig sah, zwei Stunden Verspätung. Schön, dann brauchte ich nur noch auf die Frisia II zu warten und dann gemeinsam mit unserer Gruppe zum Zeltplatz zu fahren.
Ungefähr eine Stunde später tauchte in der Ferne ein Schiff auf. Als es näherkam, konnte ich es gut erkennen. Die Frisia II. Ich ging zum Anlegesteg hinunter und erwartete das Schiff. An der Reling dicht gedrängt die Passagiere. Ich winkte. Ich wurde erkannt.
Alle Passagiere und Mannschaftsmitglieder an Deck begannen zu applaudierten und jubelten mir zu! Ein irres Gefühl! Nie wieder habe ich Ähnliches erlebt! Immer wenn es in meinem Leben nicht so gut läuft, denke ich an diesen Augenblick.

Übrigens: Der Verschollene war nicht verschollen. Er hatte das Schiff überhaupt nicht verlassen. Er hatte sich nach dem Betreten des Schiffes einen Platz gesucht und war dort sitzen geblieben. Er war nur einmal aufgestanden, um die Toilette aufzusuchen. Und das genau in dem Moment, als wir die Verabredung trafen, uns zehn Minuten vor Abfahrt des Schiffes auf dem Oberdeck zu treffen. Er war nie auf dem Oberdeck gewesen.

Impressum

Texte: R. Güllich
Bildmaterialien: R. Güllich
Tag der Veröffentlichung: 26.02.2013

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /