Ich war zehn Jahre alt, als mir meine Mutter eröffnete, dass ich mich nicht wundern solle, wenn das Angebot auf dem Essenstisch demnächst nicht mehr so üppig ausfallen würde. Mein Vater hätte auf der Bank einen Kredit aufnehmen müssen, um Schulden zu begleichen. Um was für Schulden es sich handelte, erfuhr ich nicht, weil meine Mutter den Satz „Zwei Kinder zu ernähren, ist nicht billig“, nachschob. Jede weitere Frage nach Details der Kreditaufnahme erübrigte sich dadurch. Wie es schien, war die für mich fragwürdige Schuldzuweisung, durch meine Eltern schon geklärt.
Mir ging es nach dieser Eröffnung nicht gut. Das Vertrauen, das ich bisher in meine Eltern gesetzt hatte, war dahin. Bisher sicher, dass meine Eltern mich durch alle Unbill des Lebens bringen würden, hatte ich mir darüber, das es irgendwann nicht so sein würde, nie Gedanken gemacht. Umso größer das schwarze Loch, das sich vor mir auftat.
Die angedrohten „Diätmaßnahmen“ nahmen sich in meinen Augen übrigens nicht so schlimm aus, wie erst von mir befürchtet. Sicher musste ich wegen jeder Freizeitbeschäftigung, für die bezahlt werden musste und der ich nachgehen wollte, um Geld dafür nachfragen, doch da wir nicht wirklich am Hungertuch nagten, verschwanden meine Ängste bald. Ich sah mich also nicht mehr mit meiner Familie, abgemagert bis auf die Knochen, jeder mit einem Koffer in der Hand auf der Straße stehen, sodass mich das manchmal verweigerte Geld für diverse kindliche Vergnügungen nicht wirklich schmerzte. Ich machte mir also nach einer gewissen Zeit keine Gedanken mehr über den finanziellen Engpass meiner Eltern und mein Leben lief den für mich normalen Gang.
Das der Engpass jedoch immer noch bestand wurde mir im Alter von siebzehn Jahren deutlich, als mir meine Eltern den Besuch der Fachoberschule verwehrten. Den Besuch der Berufsfachschule im Bereich Hotelfach hatte ich mir im Alter von fünfzehn Jahren mithilfe meines Klassenlehrers erstritten, der sich vehement für mich bei meinen Eltern eingesetzt hatte. Doch nun war es vorbei. Es hieß: „Wird Zeit, dass du dein eigenes Geld verdienst. Du hast uns lange genug auf der Tasche gelegen.“ BAfög bekam ich keines. Das war seit meinem Besuch der Berufsfachschule klar, da meine Eltern zu viel Geld verdienten. Pech für mich. Auf den Gedanken mir mein Recht auf eine gewünschte Schulbildung gegen meine Eltern zu erstreiten wäre ich und bin ich nie gekommen.
Für mich folgten Lehre als Kellner, Wehrdienst, Auszug aus der elterlichen Wohnung, eine weitere Ausbildung zum Ergotherapeuten. Auf den Punkt gebracht: Meine Abnabelung von meinen Eltern hatte stattgefunden und meine finanzielle Unabhängigkeit von ihnen war gesichert.
Dass es meinen Eltern weiterhin finanziell nicht gut ging, merkte ich an kleinen Erlebnissen im Zusammenhang mit ihnen.
Bei einem Besuch bei meinen Eltern z. B. machte ich die Bemerkung, dass ich kein Salatbesteck in meinem Haushalt hätte. Als meine Mutter mir eines aus ihrem Repertoire schenken wollte - die Gute - erregte sich mein Vater sehr und verbot ihr irgendwelche Sachen einfach zu verschenken. Oder ein anderes Mal, als ich mit meiner damaligen Freundin zu Besuch war, regte er sich darüber auf, dass sie ihr Brötchen mit zu viel Wurst belegen würde. Peinlich!
In späteren Jahren half ich meinem Vater zweimal mit einem höheren Kredit aus, er musste so keine zu hohen Zinsen an die Bank zahlen. Ich habe aber nie erfahren, wofür er das Geld brauchte. Ich bekam nur die nichtssagende Mitteilung, dass das Leben eben teuer sei. Ich bekam aber immer alles auf Heller und Pfennig zurück, da war und ist mein Vater korrekt.
Jedenfalls zog sich dieses finanzielle Nadelöhr durch das gesamte Leben meiner Eltern. Dazu muss ich sagen, dass sie kein Auto besaßen und nie in Urlaub gefahren sind, beide arbeiteten und mein Vater hat als Angestellter im Mittleren Dienst bestimmt genug Geld verdient.
Ich werde wahrscheinlich nie erfahren, wieso es im Leben meiner Eltern diesen wirtschaftlichen Engpass gab. Von ihnen lebt nur noch mein Vater und ich werde ihn nicht bedrängen, mir seine finanziellen Angelegenheiten zu offenbaren. Er hatte Zeit genug dazu in seinem Leben, und wenn er dieses Familiengeheimnis mit ins Grab nehmen will, so werde ich dies respektieren.
Texte: R. Güllich
Bildmaterialien: R. Güllich
Tag der Veröffentlichung: 29.11.2012
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Widmung:
Beitrag zum 28. Wettbewerb autobiografischer Texte Dezember 2012. Thema: Familiengeheimnisse