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35 ° C

Mittwoch, 1. Oktober 1945
Donnerstag 2. Oktober 1945
Freitag 3. Oktober 1945
Ab nach Hause.
Die erste „Freundin“ 1948
Schlachtfest
Kindergarten, Spätsommer 1949
Freitag 1. Oktober 1950
Winter Januar 1950
Schule 1952
Umzug in die neue Schule Ostern 1953
Frühjahr 1955
Die Zwillinge 1958
Konfirmandenunterricht 1959
Sommerferien 1960
Autofahren die 1.
Autofahren die 2. Sommer 1964
Bundeswehr 1. April 1966
Oktober 1966
April 1969
Barcelona 1970
Tennis, Sommer 1972
Sommer 1975
Agenturfete 1979
Herbst 1979
Let’s get physical
Florida 1980
Das digitale Zeitalter beginnt 1988
Sommer 1998
27. Juli Havanna 2009


Mittwoch, 1. Oktober 1945

Das Ticken der Wanduhr, beruhigend nervtötend, tick, tack, tick, tack. Oder doch eher dumpfer, beginnend mit tack, tick, tack, tick. Ich höre es, mehr gefiltert als exakt. Die Präzision einer Zeitbombe tack, tick.
Sperrstunde, es ist doch Sperrstunde. Fuck.
Am Nachmittag waren zwei GIs da. Smalltalk mit Oma, war absolut crazy. Sie mit ihrem deutschenglisch und die Jungs aus Ohio, stoffelige Rednecks, verstanden zweimal die Hälfte nicht und grinsten freundlich und tranken Tee, wahrscheinlich den ersten in ihrem Leben. Die Konversation gipfelte in so umwerfenden Inhalten wie Madam und Teatime by Gerola Muada, was so viel heißen sollte wie „Gerlacher Mutter“.
Und die jungen Soldaten waren verbal auf Hochtouren. M‘am you‘re so great, we love your teatime.
Oma spülte mit ihrem fast kalten Tee die letzten Reste des Hefezopfs hinunter und sprach ganz leise. My daughter, kenn du help er? und weg waren sie, ab in der Küche, Türe zu. Nichts, ich hörte beim besten Willen nichts mehr. Die hauen einfach ab, die blöden Halbaffen, gefiel mir eher nicht, ganz und gar nicht.
Ich war doch startklar, und was jetzt? Ich durfte nicht raus. Schnür, schnür, ähh was ist das? Etwas zerrte an meinem Hals.
Was ist los. Ab nach Künzelsau, 12 km, 35 Minuten Fahrt, kann doch nicht so schwer sein, brabbel ich mit anschwellender Panik in mich hinein.
Aber?
Keine Aktion.
Irgendwas stimmt nicht.
Ich muss doch raus!
Ich spür’s.
Wieso will sie nicht?
Was ist los?
Und die scheiß Wanduhr tickt in ihrem stumpfsinnigen, gleichmütigem, emotionslosen tack tick... hey da war doch was, klar sie hat jetzt schon zum zweiten Mal tick tack gemacht, sie zeigt Anteilnahme. Doch es nützt mir nichts.
Die hängt so rum und tickt und ich, in mir tickt es auch.
Und wenn das so weitergeht, dann wird mein Startup zum final Countdown.
Doch halt ich hör was sie reden. Oh Gottseidank....was?
Was sagt sie? Sperrstunde, was soll diese irre Ansage. Sperrstunde heißt für mich Ausgangssperre oder Einsperren, ich komm hier nicht mehr raus, das geht doch nicht,
he, hört mich den keiner?
Ich glaub, ich geh bevor ich komme.
Das ist ja ein schweinemäßiger Scheiß.
Sie hört mich nicht.
Ich spür eine tierisch beschissene Zuversicht bei ihr.
Die gefällt mir gar nicht.
Was hat sie jetzt davon, wenn ich jetzt den Abflug mache.
Oh, na klar, ist doch logisch, no kid, no stress, kein weiteres hungriges Mäulchen zu stopfen. Und dann die große Mitleidsarie, oh die Arme, die scheiß Amis, aber das nur ganz leise und vorsichtig quasi wie auf Zehenspitzen, liebe Else, was du alles aushalten musst, das ist ja das Allerschlimmste was einer Mutter passieren kann und du wirst unter Tränen und Jammern zustimmen und dich in den Beileids- und Mitleidsbezeugungen suhlen, wälzen – oh ich Arme.
Prima.
Braucht sie das? Ich denk schon. Warum sonst macht sie solche Zicken?
Und die nervige Uhr tickt immer noch, ich glaub, ich hör da so ‘ne Art mechanische Häme. Tick, tack, tick tack, ich tick und du nicht. Ätsch! Blöde Zahnräderkiste du, oberlangweilige Pendelorgel, was bildest du dir ein? Anstatt hier öde rum zu ticktacken, könntest du doch grad jetzt mal ‘ne Ausnahme machen und wie ein Gockel einen Weckruf loslassen. Bitte! Aber so ne Wanduhr hat ein Gemüt wie ein Beamter oder ein Bierkutscher, die bringt einfach nichts aus der Ruhe. Oh fuck, jetzt ist irgendwas passiert, so was, wie wenn plötzlich der Sprit ausgeht. Ich hab ‘nen Versorgungsstillstand, oder mindestens einen Engpass, das muss sie doch merken. Irgendwie müsste jetzt doch alles in Hektik verfallen, Panik, Geschrei, Gezeter?
Doch nichts passiert. He ich bin hier drin, warum sagt denn keiner was, interessiert es denn niemand wie es mir geht? Doch eigentlich alle, nur eine nicht und die ist leider die Entscheidende und sie hat ihre Entscheidung getroffen. Ich finde es zunehmend ungemütlicher und eine bleierne, bohrende Unruhe beschleicht mich, die mit einer böse grinsenden Hoffnungslosigkeit gepaart ist.
Ich spüre wie mir langsam die „Luft“ ausgeht. Ich werde blau. Feurige Kreise explodieren in meinem Gehirn, Sterne, rote Flammen, grelle weiße Blitze und dann Funkstille...ab die Bohne oder so. Alles ist dunkel, das war‘s dann wohl, kurz vor dem Start abgesoffen. Schade.


Donnerstag 2. Oktober 1945

Wasser läuft in das Edelstahlbecken, handwarm, Hebamme Marie Bender hat das neugeborene Bündel Mensch in ein Tuch gewickelt. Du musst ihn noch baden, sagt der alte Oberarzt Dr. Friedrich Heinzelmann, den alle den alten Fritz nennen. Ach ja, klar, antwortet sie und denkt, so ein blaues Kind hab ich noch nie gesehen, kein Wunder, dass es die Geburt nicht überlebt hat.
Der Kreissaal ist noch immer recht notdürftig eingerichtet, an den zwei großen Fensterflügeln ist eine Scheibe aus Karton, sie soll nächste Woche wieder ein Glas bekommen. Es ist schon recht hell für einen Oktobermorgen, die Sonne, die sich in den letzten Tagen nicht so recht hinter den Wolken vorgetraut hat, scheint sich heute mehr durchzusetzen. Eine große schwarze Krähe sitzt auf dem Sims und sie shsut interessiert dem Treiben im Kreissaal zu. Seltsam denkt Marie Bender, was macht denn eine Krähe um die Jahreszeit hier in der Stadt? Hat sich wohl verirrt.
Müde und mit traurigen Augen nimmt sie das kleine Etwas aus dem Tuch, legt es sich behutsam auf den linken Arm. Vorsichtig beginnt sie es zu waschen.
Sie reinigt das kleine Gesicht, die verklebten Haare, die Ärmchen, den Rücken, den Bauch, die Beinchen und als sie den kleine Penis wäscht, da war es ihr als ob sich das Kind bewegt hätte. Sicher nur ein Reflex.
Marie Bender ist verunsichert. Herr Doktor, ruft sie dann hastig, kommen Sie bitte, schnell, schnell, ich weiß nicht, ich glaube.. Herr Doktor, sie stammelt, bricht mitten im Satz ab und beginnt von vorne, bricht wieder ab.
Der alte Fritz spürt die Aufregung seiner altgedienten Hebamme, was hast du gesehen? Ich sehe nichts, da ist nichts mehr, meint er.
Doch, doch hier!
Der alte Fritz nimmt sein Stethoskop und horcht den Kleinen nochmals ganz intensiv ab.
Lungen, Herz. Sein Gesichtsausdruck verrät genau was er denkt. Dieses alte Schlachtross hat ein Gespür, besser als alle medizinischen Apparate, aber bei einem Neugeborenen, das eine halbe Stunde nach der Geburt noch kein Lebenszeichen von sich gibt, ist das Getue wohl mehr ein Ausdruck ihrer übersteigerten Hoffnung als eine realistische Einschätzung. Dennoch, wenn sie schon irgend etwas bemerkt hat, muss er auf jeden Fall schauen. Doch was soll sich denn hier noch bewegen, es ist schmerzlich und gehört zu den Momenten, die einen Arzt nicht recht gut aussehen lassen, hier wird dir die Grenze des Machbaren drastisch vor Augen geführt.
Mitleidig schaut er auf das bisschen Mensch, das da blau vor ihm liegt. Angespannt lauscht er in sein Stethoskop, rauscht da irgendwas? Nein, das bin ich selbst, denkt er.
Schrrrrd.........schrrrd........schr... still, und dann noch mal ein fast schnurrendes Geräusch, und noch einmal und noch...? Stille... sein Herz pocht ganz laut, ach was, sagt er sich, das bin ich ja selbst. Die Marie hat mich ganz schön durcheinander gebracht.
Glucks, ein kleines Rinnsal läuft aus dem Mundwinkel des Säuglings. Sehns, sehns der tut doch, flüstert Marie.
Sturer alter Knochen denkt der alte Fritz, sei doch mal leise, sagt er zu ihr, wenn du so rumlärmst, dann kann ich doch nichts hören.
Aber schaun‘s doch, das Kindl lebt doch.
Er nimmt den Kleinen noch mal hoch und gibt ihm einen Klaps auf den Po. Nichts.
Noch mal sagt Marie, noch mal, schnell, schnell, schnell, beim letzten Ton überschlägt sich ihre Stimme beinahe. Dem Doktor geht das hysterische Getue der Hebamme mehr und mehr auf die Nerven. Er hat schon eine recht eindeutige Bemerkung auf den Lippen, als auch er zaghafte, kaum wahrnehmbare Lebenszeichen an dem Säugling entdeckt.
Rasch nimmt er ihn jetzt an den Füßchen hoch und gibt ihm einen kräftigen Klaps auf den Po. Mit einem blubberndem Geräusch fließt ein wenig Fruchtwasser aus dem Mund des Kindes, noch ein Klaps und noch mal und der Doktor kann‘s nicht glauben, was er da gerade erlebt, meine alte Marie, sie muss mit irgendwelchen überirdischen Mächten verbunden sein. Bei dem Kind waren doch gar keine vitalen Anzeichen zu sehen und trotzdem hat sie gewusst oder besser gefühlt, dass da nicht aller Tage Abend ist. Nach seinem letzten Klaps kommt doch tatsächlich ein zaghaftes Krähen aus dem Kleinen.
Jetzt sind auch beim alten Fritz die letzten Zweifel beiseite geschoben, er gibt dem Kleinen noch mal eine kräftigen Klaps und da kommt ein ganzer Schwall Fruchtwasser aus einem Mund begleitet von glucksenden Schreien, das immer kräftiger wird. Wir haben ein Kind und du hast es gerettet Marie, mit dieser seltsamen Aussage macht er sich an die Untersuchung. Mit gemischten Gefühlen, die Reflexe sind nicht besonders aber das hatte er auch nicht erwartet, er misst die Temperatur
35° C, hui, Puls bei 120 und so macht er weiter mit der nicht mehr erhofften Erstuntersuchung ohne jedoch weitere gravierende Fehlfunktionen feststellen zu können.
Wie schaugts aus Doktor?
Ist eigentlich alles so weit in Ordnung, nur die Temperatur macht mir Sorgen.
Aber vielleicht kommt sie ja noch, pack ihn mal schön warm ein, dann wird‘s schon werden.
Marie versorgt noch den Nabel und legt dem kleinen Wicht eine Stoffwindel an, zieht ihm ein Hemdchen an und eine Strampler in verwaschenem Blau, der sicher schon mehrere Generation erlebt hatte. Drüber noch ein Jäckchen, damit es der kleine Wilhelm auch schön warm hat.
Dann legt sie ihn in das Bettchen und rollt ihn in das Zimmer seiner Mutter.

Hui was ist das kalt hier und schnupper, schnupper, irgendwas stinkt hier gräuslich und rattern tut das, ist das die Babyteststrecke, fuck die Bohne.
Aha jetzt geht ein Türlein auf, mal sehen wer sich dahinter versteckt, brr mir ist immer noch schweinekalt.
Hallo Else, Vorsicht nicht erschrecken, aber dein Jüngster lebt, ist das nicht ein Wunder.
Und da haut sie‘s um und wenn sie nicht im Bett gelegen wäre, wäre sie glatt auf der Nase gelegen. Sie bringt keinen Ton heraus, ungläubiges Staunen, wie wo was, ein Wunder und jetzt kommt das große Schauspieltalent, mei Bubele, sie schmeißt sich auf die Knie, gedanklich jedenfalls, in echt knickt sie leicht ein und dankt unserem Herrn, sagt sie. Ich sag ihr auch was: Hallo Arschloch, bin da, hättste nicht gedacht, der Fresser mehr wollte noch nicht abfliegen und rühr mich jetzt bloß nicht an, denn noch so ‘nen Killeranschlag überleb ich todsicher nicht. Aber war ja klar, sie kümmert sich einen Scheiß drum was ich will, greift mich wie ein Beutegut und drückt mich an sich. Ich wusste es, das ist ein Partisanenangriff und damit er ein Ende hat, kotz ich ihr erst mal kräftig in den Ausschnitt ihres voluminösen Nachthemds.
Prompt ist die Invasion gestoppt, entsetzt hebt sie mich hoch, dass sie es nicht mit spitzen Fingern macht und mich dabei nur an den Ohren hält, ist ein Wunder.
Marie, die Hebamme lächelt immer noch selig, wenn die wüsste, was die Mutter beinahe vollbracht hat. Ein Wunder, Else es ist ein Wunder, du hast einen hübschen kleinen Jungen und es fehlt im eigentlich nichts zumindest nichts Wichtiges. Dann ist‘s ja gut. Und jetzt kommt das Unglaubliche, sie überrascht mich dermaßen, dass es mich fast aus der Windel haut.
Marie, sagt sie, weißt du eigentlich sollte er ja Wilhelm heißen, nach seinem Patenonkel, aber ich denke der Name hat unserem Sonnenkind kein Glück gebracht, wir nennen ihn Albert, schreib das bitte an sein Bettchen, danke Marie und nimm ihn doch vielleicht auch gleich mit, ich bin doch reichlich fertig nach all den schweren Stunden, die ich hinter mir habe. Danke.
Ich staune nicht schlecht. Sie ist die absolut coole Mutter, das wird sich ändern, wenn demnächst die Karawane der Verwandten antritt, bin schon mal auf das Härteste vorbereitet, denn wenn die alle so aussehen wie Else, dann ist Polen offen.
Marie schiebt mich auf die Säuglingsstation zurück. Sie hat einen Heiligenschein um ihr mit weißer Haube bedecktem Haupt, ich seh‘s auf jeden Fall so. Und sie strahlt wie ein Apfelputzen. Und sie lobt den Herrn, vermutlich irgend einen, den sie gut kennt und der ihr echt nahe steht, denn wenn sie von ihm loslegt, dann strahlt sie noch mehr. Kann sie machen, ohne sie hätte die mich schon in die Tonne gesteckt, also find ich sie noch besser wie sie ihren Herrn.
Aber 100 pro. Und deswegen ist sie mein ultimativer Hero,
Lebensretter, Engel, Ersatzherr und was sonst noch.
Ich liebe dich Marie, ich steh tief bei dir in der Kreide, Bussi. Ich mach’s gut, wenn ich groß bin, versprochen.
Sie sieht ja auch aus wie ein Engel, dieser fürsorgliche Blick, ich bin hin und weg und dieses Leuchten, das sie umgibt, schon fast himmlisch.

Okay genug, ich nehm jetzt mal ‘ne Mütze voll Schlaf, schätze das die nächste Zeit recht stressig werden könnte.

Knacke wie Harry, neudeutsch wie Horst, geht aber nicht, sonst heult mir Horst noch ins Bier, deshalb lass ich es bei Harry. Sanftes Rütteln, Marie hat was zum Trinken mitgebracht, Glukose, geil jetzt merk ich erst was ich für ‘nen Brand habe. Aber halt denk ich, der Drink ist ja okay, aber normalerweise gibt’s ja jetzt so die ersten Kuscheleinheiten, an die Brust anlegen und so. Was ist damit, bin ich hier in der dritten Klasse gelandet, saugen und kuscheln nur für 1. und 2. Klasse. Oh, warte, ganz ruhig, du weißt ja, wo das passieren müsste. Verdammt, hoffentlich hat keiner was gehört, das fehlt mir gerade noch, dass ich jetzt beim Anlegen noch einen völlig überraschenden Genickbruch erleide oder dass ich wegen der vorausgegangenen Strapazen an dem wahnsinns Busen ersticke. Ich mach mal lieber den total Fertigen, der es auf gar keinen Fall in das Wochenbett seiner Mutter schafft.
Marie sieht das auch sofort ein, sie ist eben mein Engel und wir zwei verstehen uns quasi blind.
Oh mei kloas Bubbele, du bist ja immer noch so kalt, ich muss mal deine Temperatur messen, ja und deine Hautfarbe geht langsam von blau nach rot, wie ein Indianer siehst du aus. Das wird schon noch, ich bin ja bei dir. Zum Glück, denk ich. Marie das mit der Temperatur kriegen wir schon in die Reihe, mir ist zwar ein bisschen kalt aber ich bin gottfroh lieber ein bisschen kalt und am Leben, wie warm beim Walross und in Lebensgefahr. 35 Grad hör ich sie sagen, besser wie Null denk ich. Doch Marie hat dicke Sorgenfalten auf der Stirn, sie karrt mich direkt zum nächsten diensthabenden Doktor, seltsamerweise immer noch der alte Fritz. Der kleine Albert ist immer noch so kalt, Temperatur 35 Grad.
Na dann gib ihn mal her. Er nimmt mich hoch, legt seine Hand flach auf meine Stirn, prüft den Puls, spitzt seine Lippen, grummelt, schaut mir in den Mund, in die Ohren, spitzt wieder den Mund. Hat er schon? Marie verneint, Trinkt er? Ja, hat ihn die Mutter schon angelegt. Nein, er war mir zu schwach.
Gut, da warten wir bis morgen.
Also die Temperatur müsste eigentlich mindesten bei 37,5 Grad sein. Das müssen wir im Auge behalten, hoffentlich geht die bald auf den normalen Wert.
Was kann denn da passieren, Herr Doktor? Ja Wachstumsstörungen, z. B. im Magen-Darmbereich, im gesamten Verdauungstrakt.
Ich pack ehm gut ei, der wird scho.
Und weg sind wir, wieder in Richtung Säuglingsstation. Vorsichtig äuge ich den Gang entlang, aber zum Glück kann ich nirgendwo Verwandte des Walrosses entdecken. Ich atme sichtlich erleichtert auf als wir endlich in meiner Trutzburg der Säuglingsstation in Sicherheit sind.
Marie setzt sofort in die Tat um, was sie dem alten Fritz versprochen hatte.
Sie geht an den Wäscheschrank, der im Halbdunkel des Raumes an der Rückwand steht.
Jo, jetzat hob i nur no a rosa Weschtle fir di. Egal, schaugst eh mehr aus wia a Madl.
Und schwupp hat sie mich in eine rosa Strickweste gepackt. Ahh, schön warm, wie wenn die Heizung angeht, Marie du bist die Beste. Ich schenkte ihr ein Gluckser, der ihr meine Dankbarkeit signalisiert. Isch scho recht mein Kleiner. Marie du bist genial, du verstehst mich super.
Sie gibt mir noch mal etwas von der Glukose und dann verdunkelt sie meinen Hochsicherheitstrakt.
Selig entspanne ich und wappne mich insgeheim auf das, was mir am nächsten Tag bevor steht.


Freitag 3. Oktober 1945

Der ist aber blau! Aha die Walrösser sind da. Aber warum ist der denn rosa angezogen, ist es gar ein Mädchen. Nein, aber Schwester Marie hat ihn heute Nacht warm eingepackt, damit er nicht friert. Ja hast du denn für den Kleinen nicht genug Kleider eingepackt. Äh, Pause, jetzt bin ich mal gespannt ob sie die Hosen runter lässt. Weit gefehlt. Schmerz, Jammern, Weinen, bittere Tränen, Schluchzen, das nicht enden will, oh was hat sie alles durchgemacht, und dann diese schrecklichen nicht enden wollenden Stunden, in denen alle gedacht haben der kleine Albert sei tot und jetzt das Geschenk des Herrn, aha sie also auch, und das ganze wieder von vorne und noch mal und noch mal, solange bis es auch der Letzte begriffen hatte, dass sie für dieses Wunder am liebsten ihr Leben gegeben hätte. Ich kann nichts dafür, aber als sie es zum 234. Mal wiederholt, spucke ich ihr einen Schwall Glukose an den von mir bevorzugten Zielort .
Tu das Kind weg, ach so sieht es aus, kaum spuckt der Kleine, schon ist er unangenehm.
Da gehe ich lieber wieder in meine Säuglingsstation, da krieg ich erstens was zum Essen und zweitens hab ich da meine sichere Ruhe.
Aber nix ist. Jetzt kommt die „Tour de Verwandte“. Zuerst die Oma, irgendwie schlecht rasiert aber sonst ‘ne Nette und sie weiß Bescheid.
Und dann, ja wer ist denn das, die ist ja putzig, du bist für eine Fledermaus ja vielleicht zu groß aber dafür rassig angezogen, geile Brille, vermutlich 3 Nummern daneben, das Schielen ist wirklich etwas irre, weiß gar nicht wo sie grad hinschaut, vielleicht sogar zu mir. Dafür hat sie wohl die mit Abstand hässlichsten Klamotten an, die den 2. Weltkrieg überstanden haben. Aber sie ist total lieb und sie hat Tränen in den Augen als sie ganz leise sagt. Mama, warum ist der so blau?
Und dann steht da noch einer, etwas dümmlich in der Ecke, sieht aus, wie wenn er dringend pinkeln müsste, sich aber nicht traut das zu sagen.
Autsch, das geht bestimmt bald in die Hose, nein. Er haut ab. Hihi. Was, was sagen die da, sie durften mit den Kindern nur rein, weil man noch nicht genau weiß, ob ich das hier überlebe. Ach so, die glauben also, dass sie hier mal so ‘ne Stippvisite, ablegen und das war’s dann. Nee, nee Jungs und Mädels, ich hab vor hier noch eine paar Runden zu drehen und zwar richtig viele. Blöde Hammel, kommen da her zur letzten Ölung, spinnen die, ich bin doch grad mal zwei Tage alt, und außerdem gehör ich ja rein glaubenstechnisch nicht zu den Letztenölungspopenmafiosis. Da hab ich mir ja ‘nen seltsamen Clan ausgesucht.
Hocken da um mich herum, ein Wunder, dass sie noch nicht in Schwarz da sind.
Ooooh, was wird denn da so nass? Jetzt flennen die im Chor und auch noch auf mich drauf. Vielleicht denken die ja auch mit den Tränen können sie meinen zart leicht blauen Teint reinwaschen. Irgendwie haben die die Nazizeit noch nicht richtig überwunden. Ein blauer ist vielleicht im Rassenranking direkt nach den Negern angesiedelt.
Apropos Neger, darf man ja sicher demnächst auch nicht mehr sagen.
Und bloß, weil die Amis so viele Neger haben. Vermutlich.

Und das zieht sich, bis mich jeder mal mit tränennassen Augen auf dem Arm gehabt hat.
Marie, mein Engel und Retter, taucht auf. Jo seids denn ihr narrisch, so‘n Klanen soi m‘r doch net aus seinem Bettchen reißen. Else, so schwach bist nimmer, oder? Do muasst scho was soagn!
Und ab die Bohne in meinen Säuglings-Rolls in die sicheren Wände meiner Trutzburg.
Grinse teuflisch und schlage beim Windelwechsel innerlich Purzelbäume und fühl mich wie ein Riesenrad und ‘ne Roller Coster gleichzeitig. Mein Verhältnis zu Marie betoniert sich. eisern. Musst nicht traurig sein Albert, ich sorg schon für dich. Und fuck, mir läuft doch tatsächlich eine Träne auf mein rosa Strickwestchen, das sie mir zwischenzeitlich wieder angezogen hat. Deine Temperatur die isch jo gar nicht so schlimm. Dös wird scho.
Und weg ist sie.
So richtig einen Überblick über die Säuglingsstation krieg ich einfach nicht, viele sind ewig und drei Tage an der Fillingstation angedockt, andere bei der Untersuchung und der Rest pooft. Ach doch nicht, ja wer wispert denn da ungefragt in dem Bettchen neben mir, ich seh nichts, geht auch nicht, denn das Säuglingsbettchen auf Rädern ist an der Seite mit einem Laken abgedeckt. Also Lauscher auf und fragen was der Wisperer will.
Bist du der Blaue, hör ich da, bevor ich auch nur ein Wort sagen kann und bin natürlich auch total platt. Woher weißt denn du das?
Das weiß doch hier jeder.
Und. Bist du ganz weiß?
Nö, ich bin eher rosa und ich bin ein Mädchen und bin gar nicht blau, so wie du, ätsch.
Da hätt ich natürlich gleich ein Beaumot auf der Pfanne, aber man weiß ja nicht, nachher fängt sie auch noch zu heulen an, da hab ich heut schon genug davon.
Na dann halt was Unverbindliches, selber ätsch, du Pissnelke. Heult trotzdem, spinnen doch die Mädels, wenn die wüsste, was ich ihr sagen wollte (wiher, grins, lach). Ich lass jetzt einfach die Rollläden runter und lausch mal was die Matratze mir zu sagen. Gut Nacht Heulsuse.


Ab nach Hause.

Fünf Tage später, es geht in das Kaff wo der Clan der Meuchelmörderin wohnt. Ich schau mir mal den Driver genauer an, und denk so bei mir, wo kommt denn da der Geruch von Old Spice in der Karre her? Das kann doch kein Dorftrottel sein, da müsste es nach Mistbrühe (auf Deutsch Jauche) stinken. Tut er aber nicht. Und lackiert ist der auch irgendwie, ziemlich schwarz, gefällt mir, bin ich nicht der einzige, der ‘ne andere Hautfarbe hat.
Aber mein Sympathiekoeffizient fällt rapide ins Nirwana, der dumpfbackige Schwarzsack meint nämlich sich über meine Hautfarbe äußern zu müssen. O-Ton. Baby from Mars, hähä?
Ich tret dem Kukluxklan bei und dann schaun mer mal wer dann lacht, du Toastbrot. Bin echt sauer, richtig stinkig, so‘ n Arsch. Ich hab doch auch kein Ton darüber gesagt, dass er zu spät aus dem Ofen gezogen wurde. Immer die gleiche Story, da bist du schon mal nett und was passiert, klong, kriegst du ne Breitseite, grummel ich so in mich rein.
Und dann hält der Sanni-Truck auch schon an.
Aufmarsch, das gesamte Dorf scheint auf den Beinen zu sein, wollen wohl alle das 7. Weltwunder sehen, zuerst tot und dann doch am Leben und aber auch noch richtig blau und auch noch kalt wie ein Fisch. Ich hoff doch, dass der Schwarze ‘ne Kanone hat, um den Mob zu befriedigen.
Schwitz, ich lausche wie ein Hase auf das schleifende Geräusch der Schlange...zitternd leg ich mein Ohr so weit wie möglich an den Rand des Korbes um soviel wie möglich von dem bösen Feind zu hören, doch nichts tut sich.
Jetzt?
Leises Gemurmel,
Bösartig? Nein.
Neugierig. Sie sind nur neugierig und wollen den blauen Alien sehen, ich lache erleichtert.
Der Marie ihrem Herrn sei Dank.


Sommer 1948

Die erste „Freundin“
Meine erste Konfrontation mit dem anderen Geschlecht, quasi.

Ich bin drei Käse und ein Scheibe Salami groß.
Und so wie es aussieht, weiß meine Mutter noch nicht, dass ich ein Junge bin, zwar noch ein recht kleiner aber eben ganz deutlich ein Junge, das sieht man vor allem da dran, dass ich richtig schöne große Bogen pinkeln kann und da bin ich auch mächtig stolz drauf.
Genau gegenüber von Omas Kolonialwarenladen ist der Bauernhof der Geisslers.
Sie haben eine kleine Tochter und die hat Hosen an und ich hab so ‘nen scheiß Hänger an, weiß, oben mit Spitzen, meine Haare blond, Hahnenkammfrisur. Der Erzengel Gabriel ist ‘ne Vogelscheuche neben mir.
Da stehen wir nun wir zwei. Die Susanne schaut mich strahlend an, ich möcht auch so ein schönes Kleid wie du.
Das ist kein Kleid, das sieht nur so aus. Jungen tragen keine Kleider.
Wieso siehst du denn dann aus wie ein Mädchen?
Seh ich nicht!
Siehst du doch!
Und wieso siehst du aus wie ein Junge?
Seh ich nicht!
Siehst du doch!
Ich seh aus wie ein Mädchen aber du siehst aus wie ein hübsches Mädchen.
Die spinnt, nur weil sie aussieht wie ein Miniackergaul muss ich ja nicht aussehen wie ein Mädchen.
Werde beim Mittagessen mal nachfragen, wieso die Susanne wie ein Junge aussieht, kann mir mein Onkel Willi bestimmt sagen. Und jetzt, was macht sie jetzt. Sie ruckelt sich die Hosenträger runter und schlupp rutscht ihre Hose mit einem Rutsch auf den Boden. So, jetzt gibst du mir dein Hängerchen und du kriegst meine Hose. Gut und schon zerrt sie mir das komische Rüschchenteil über den Kopf. Au, pass doch auf du Trampel, denk ich und da hat sie‘s auch schon und schwenkt es wie eine Siegestrophäe über ihren spärlichen Haaren.
Sie stülpt es sich über ihren ballonartigen Schädel und zerrt es sich über ihren doch deutlich kräftigeren Körper als den meinen hinunter.
Spannt zwar etwas überm Oberkörper, aber sie sieht doch schon um zwei Klassen besser aus.
Ich zieh mir die Hose an. Sie schlottert großräumig an mir herum, egal ich find sie abenteuermäßig und fühl mich wie David Copperfileld oder John Dillinger oder Wyatt Earp oder Odysseus oder wie... im Moment fällt mir aus meiner Zukunft kein weiterer ein.
Doch das Glück ist nicht von Dauer, muss ich jetzt doch so ziemlich zum erstenmal feststellen.
Ein weiteres Mitglied aus meiner dieunmöglichsteTruppeaufdieserWeltistdieseFamilie, meine Tante Käthe, kommt mit strenger Miene und unnachgiebiger Geste auf uns zu.
Bist du meschugge, herrscht sie Susanne an, zieh sofort dem Albert sein Hänger aus.
Bückt sich zu mir herunter und zieht mir liebevoll die Trägerhose aus, während Susanne reichlich verstört versucht, sich das Hemdchen wieder über den Kopf zu ziehen, doch es ist halt schon recht eng. Tante Käthe geht‘s nicht schnell genug und hilft nach, unter einem leichten reißenden Geräusch hat sie es dann schließlich in der Hand und was natürlich folgt: „Siehst du dummes Kind, jetzt hast du es auch noch kaputt gemacht und ich muss es erst mal wieder nähen“ und im Weglaufen sagt sie noch typisch Bauern-trampel.
Ich steh reichlich belämmert daneben und will die Hose wieder haben, aber Käthe zerrt mich am Arm mit und schneller als ich schauen kann sind wir im Laden verschwunden.
Rein in die gute Stube, Nadel und Faden geholt und die kleine aufgetrennte Nahtstelle wieder zugenäht und da Albertle jetzt hast du dein schönes Hemd wieder, wie neu.
Du musst auf deine schönen Sachen aufpassen, weißt du,
die wollen die anderen auch gerne haben.
Und jetzt, denk ich, was mach ich jetzt, mit wem spiel ich jetzt?
Bleibt nur meine Schwester übrig.
Weil alleine lassen die mich gar nicht draußen spielen und Schwesterlein hat Angst vor allem, was sich bewegt oder zumindest so aussieht als ob es sich bewegen könnte und sie verlässt nur unter Geleitschutz von Ihrer Cousine oder der Oma das Haus und nur soweit, dass sie in maximal 10 Sekunden wieder in den Schutz dessen zurückkehren kann.
Also die ideale Partnerin zum draußen Spielen.
Muss ich halt die Geschichte mit Susanne wieder gerade biegen, wenn ich nicht zum Stubenhocker mutieren will.
Morgen ist Schlachtfest, mit diesen Worten kommt mein Onkel Willi zur Tür rein.
Hört sich gut an, vor allem, weil meine Schwester schlagartig grün im Gesicht wird, dann muss das eine echt krasse Veranstaltung sein. Da braucht aber unser Kleiner eine vernünftige Hose, meint Willi.
Wir haben doch noch eine in seiner Größe und verschwindet die Treppe hoch, kehrt nach ein paar Minuten mit einer grauen kurzen Hose in der Hand zurück.
Sie riecht spannend, so einen leichten Kampfergeruch,
richtig wie bei den großen Leuten, ha toll.
Also mein Kleiner, da kannst du uns morgen richtig helfen und jetzt ziehst du mal diesen komischen Frack aus und schlupfst in die Hose rein.
Gesagt getan und was passiert? Meine Schwester rast wie angestochen aus dem Raum und schreit „Der stinkt“.
Die spinnen die Mädels.
Also morgen ist das große Schlachtfest.
Kann mir so echt nix drunter vorstellen, wir werden sehen
was da geht.


Schlachtfest

Es ist am Morgen noch ziemlich grau und auch noch recht frisch. Ich schlupfe in meine geile Hose, zerr mir ein Hemd übern Hals und runter geht’s in die Küche. Oma hat schon den Herd angeheizt. Es gibt Hefenkranz und Tee. Wir warten auf den Metzger. Draußen im Schweinestall quiekt eine Sau.
Dann kommt Walter, der Metzger, ein wie auch immer Verwandter, Onkel oder so.
Er hat die Ruhe weg, frühstückt erst mal, allerdings mit Kaffee, denn wie sagt er so mit einem frechen Grinsen: Oma, dein alter Tee macht Männer hee! Alle wiehern, alle Männer, das ist mein Onkel Willi, Walter der Metzger und das bin ich. Die Mädels, meine Mutter, meine Tante, meine Schwester und die Oma, sind eher ruhig. Meine Schwester hat schon den leichten optischen Anschein einer Spreewaldgurke, sie ist reichlich grün im Gesicht. Irgendwas ekelt sie sich schon im Voraus.
Jetzt kommt Bewegung in die Geschichte.
Onkel Willi und Walter gehen in den Schweinestall und holen die Sau heraus. Doch die ahnt nichts Gutes und drängt sich ins hinterste Eck des Stalls. Walter geht auf sie zu und sagt zu ihr, komm nur, brauchst keine Angst haben. Seine Stimme hat aber nicht den wirklich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Günther Hieber
Bildmaterialien: Günther Hieber
Lektorat: Lektorat durchgeführt
Tag der Veröffentlichung: 05.12.2012
ISBN: 978-3-7309-0099-4

Alle Rechte vorbehalten

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