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Prolog

„Es ist nur eine Legende... Hörst du Sandrine? Nur eine Legende, sonst nichts...“, in seiner Stimme schwang Verzweiflung mit und seine Augen waren vor Panik geweitet. Es zerschnitt Sandrines Herz wie Dolche. Der Unglauben mit dem er sie musterte schmerzte sie noch nicht einmal so sehr,- sie hatte nichts anderes erwartet-, viel schlimmer war der unausgesprochene Vorwurf der sich auf seinem Gesicht abzeichnete. Die Gedanken schienen ihm regelrecht ins Gesicht geschrieben und es machte Sandrine rasend:“Du hast Angst, furchtbare Angst, dass ich dich `beeinflussen` könnte, Angst dass dies-“, sie stoppte kurz und machte eine alles umfassende Geste bis ihre Finger auf Höhe seines Herzens zur Ruhe kamen „dass dies alles nicht WAHR ist?“. Sandrines Stimme wurde immer leiser und kälter bis sie letztendlich brach und von einem hysterischen Gelächter abgelöst wurde. Ein verzweifelter Versuch ihrerseits den aufkommenden Schmerz zu überspielen. „Es war alles wahr, jede Sekunde, jeder Herzschlag...“, mit einer fließenden Bewegung wandte sie sich plötzlich ab. Trotz des Ausbruchs glitzerten keine Tränen in Sandrines sturmgrauen Augen. Und während sie sich langsam entfernte, fegte der Wind ein Lied von ihren Lippen, eine Melodie mit der Macht das Leben aus den Blättern zu saugen und die Sonne zu verdunkeln. Schritt für Schritt gewann Sandrine an Abstand und das Herz ihres Gesprächspartners versteinerte.

 

Die Macht der Sirenen war riesig, sogar größer als die Magie der herumlungernden Schatten. Doch die Kreatur, die sich nun aus der Dunkelheit entfernte um den Schauplatz in entgegengesetzter Richtung zu verlassen, hatte genug gesehen. Sie hatte ihren Beweis, dass selbst die perfekten Sirenen über Schwachstellen verfügen.

 

Kapitel 1

Geflüster, nirgends auf dem Campus war man sicher vor dem Getratsche auf den Korridoren. Und nirgends hörte Caroline, die selbsternannte Schönheitskönigin ihren Namen. Anfangs war sie nur verwirrt, doch ihr Missmut wuchs je länger sie dem Getuschel lauschte. Sie hasste es nicht die gewohnte (und wohl verdiente) Aufmerksamkeit zu bekommen, schlimmer war jedoch, dass sie nicht mal wusste wen sie dafür zur Rechenschaft ziehen konnte...

„Hey Tom“, Caroline reagierte schnell und zog den Muskelprotz zur Seite. Vielleicht konnte der Quarterback ihr ja erklären was zur Hölle hier los war. Ohne Strich oder Faden startete sie ihre Mission Informationen zu erlangen: „Sag mal, hab ich irgendwas verpasst? Über was wird hier denn die ganze Zeit getuschelt?“, das Augenklimpern war falsch wie immer, und es hatte den gewohnten Effekt. Tom drehte sich augenblicklich zu ihr um und musterte sie mit gerunzelter Stirn „Verdammt Caro, liest du denn keine Zeitung?“ mit einem Seufzen beantwortete er sich selbst die Frage „Anscheinend nicht... Na gut, hier kommt die Kurzversion“ er beugte sich zu der hübschen Blondine und sprach verschwörerisch auf sie ein: „Du kennst doch sicherlich diesen Samuel, oder wie auch immer sein Name war, Abschlussklasse, Physikgenie, sehr ruhig, ein wenig seltsam...“ Caroline nickte bestätigend und bedeutete Tom fortzufahren „nun, er hat gestern Selbstmord begangen, zu viele Schlaftabletten, zumindest wird das behauptet. Allerdings scheint das nicht alles zu sein... Warum hätte er sich denn auch umbringen sollen? Momentan verhört die Polizei seine Freundin, die Kleine aus deinem Spanischkurs... Wie hieß sie noch gleich?“- „Sandrine, das ist ihr Name...“ die Schönheitskönigin antwortete abwesend, noch während die Neuigkeiten sickerten überlegte sie sich, wie sie die sonst so graue Maus ausquetschen konnte. Immerhin konnte es nie schaden als beliebtestes Mädchen des Campus auch die neuesten Informationen zu haben. Vielleicht ergab sich ja später im Spanischunterricht eine Chance...

Ein Blick auf die sündhaft teure Rolex ließ Caroline aufschrecken. Schon so spät? „Es tut mir leid Tom, ich muss zum Unterricht... Geschichte...“ sie mimte einen Würgereiz und verschwand dann im Gebäude, allerdings nicht ohne dem Quarterback Kusshändchen zu senden.

Kapitel 2

Sandrine erschien tatsächlich zur Spanischstunde. Schon von Weitem sah man ihrer Haltung die Anspannung und Erschöpfung an. Aber Caroline war wohl nicht die Einzige die sich wunderte keine Tränen im Gesicht der Schülerin zu entdecken, nicht einmal das kleinst Anzeichen, dass sie geheult hätte und das obwohl ihr langjähriger Freund erst kürzlich das zeitliche gesegnet hatte.

Die neugierigen Blicke von Caroline und den anderen Mitschülern blieben jedoch ohne Erklärung. Sandrine vermied jeglichen Augenkontakt und die Gespräche sowieso. Selbst einfache Fragen an sie wurden ignoriert, als ob die Welt um sie herum einfach nicht mehr existiert. Die Professoren ließen Sandrine weitestgehend in Frieden, abgesehen von den mitleidvollen Blicken. Sogar die neugierigen Studenten gaben relativ schnell die Sensationsjagd auf, in der Hoffnung die Neuigkeiten ein andermal aus der grauen Maus herauszukitzeln.

Missmutig entschied Caroline sich dazu, ihre Fragerei auf einen Zeitpunkt nach der Schule zu verlegen.

Dazu kam es jedoch nicht, sobald der Gong ertönte hetzte Sandrine fluchtartig aus der Universität. Sie musste hier weg. Den ganzen Morgen schon hatte sie versucht dem Sensationsgelüste ihrer Mitmenschen zu entgehen. Dabei war es nicht einmal die Trauer um Samuel, die sie scheinbar verrückt werden ließ, sondern Schuldgefühle:

Die Polizisten hatten sie über das steinerne Herz informiert, kein symbolisches, sondern ein echtes Herz aus Stein, das man bei der Obduktion von Samuels Leiche vorfand. Es half nichts zu wissen, dass er noch am Leben war als Sandrine ihn gestern verlassen hatte. Genausowenig konnte es sie beruhigen dass Samuels Todesursache die Schlaftabletten waren, nicht das mysteriöse Stein Herz. Sie wusste, dass der junge Mann niemals den Wunsch verspürt hatte zu sterben... Aber wer kann schon ohne jegliche Gefühle überleben?...

Abrupt stoppte Sandrine in der Bewegung. In Gedanken versunken hatte sie noch nicht mal bemerkt wohin sie rannte. Verwirrt blinzelte sie kurz, aber eigentlich war es gar nicht so ungewöhnlich dass ihr Unterbewusstsein sie an den Ort führte, an dem sie sich am sichersten fühlte... Das nie fertiggestellte Gebäude gab der Lichtung etwas schauerliches, und obwohl kein Zweifel daran bestehen konnte, dass die Natur bald über die zurückgelassenen Trümmer siegen würde, dominierten bis heute die zurückgelassenen Baumaschinen und das langsam verrostende Material. Es war schon seltsam, gerade an diesem Ort fühlte sich Sandrine geborgen wie nirgends sonst. Ein Ort der vollkommenen Einsamkeit. Es dauerte nur wenige Sekunden bis die ersten Wörter Sandrines Lippen verließen, Melodien formten und Geschichten webten. Das Singen war ein Urinstinkt, der es ihr ermöglichte die Lebensessenz zum vibrieren zu bringen. Es beruhigte Sandrine ungemein und der Entschluss die Nacht auf der Lichtung zu verbringen war schnell gefasst. Gerade heute brauchte sie den Nachthimmel über sich.

Die Anspannung war fast vollständig verflogen, als Gelächter von allen Seiten auf Sandrine einschlug. Geschockt drehte sie sich im Kreis um die Quelle des Geräusches zu lokalisieren, bis ihre Augen an dem Schatten haften blieben, der sich nur ein paar Meter entfernt befanden.

Das Mädchen konnte Sandrine nicht täuschen, die eisigkalten Augen identifizierten sie sofort als Schatten. Augenblicklich verwandelte sich die Sirenenmelodie, bis sie schließlich ganz verebbte. Zurück blieb eine verängstigte Sandrine, die unkontrolliert zu Zittern begann. Zu recht, denn die physikalische Präsenz des Schattens war Beweis genug für dessen unglaubliche Macht. Unter normalen Umständen sollte der Schatten garnicht in der Lage sein sich zu materialisieren, die Sirenen hatten den Weg der Schatten in die normale Welt versiegelt... natürlich mit gutem Grund...

„Shhh... Warum denn so verängstigt mein Singvogel? Es ist ja nicht so, dass ich deine Angst nicht genießen würde, ich find es sehr angenehm sogar. Allerdings hilft uns eine zitternde Stimme nicht weiter, habe ich nicht Recht? Keine Sorge, bis jetzt hab ich noch keinen Grund dich zu töten...“, die Wörter waren nicht laut, dafür aber umso bedrohlich und wie schon bevor schienen sie aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. Eigentlich sah das Schattenmädchen harmlos, wenn nicht sogar nett und zerbrechlich, aus. Doch die Sirene wusste es besser, eine falsche Geste und sie wäre geliefert.

„Was willst du von mir, Schatten?“, es gelang Sandrine nicht ihre Stimme selbstbewusst klingen zu lassen, aber dies spielte nun keine Rolle, sie brauchte Zeit, und einen verdammt guten Fluchtplan.

Der Schatten schien jedenfalls amüsiert: „Das ist lustig. Als ob du das wirklich nicht wüsstest...“ eine Augenbraue hob sich verächtlich „Ich will nicht mehr als mir zusteht, und ich schlage vor, dass du meiner Art hilfst den Weg zurück in diese Welt zu finden. Es ist unsere Bestimmung zu regiern... Vielleicht werde ich dir als Dank sogar einen Gefallen tun, vorausgesetzt du kooperierst...“. Für eine Sekunde flickerte das Spiegelbild von Samuel vor Sandrines Augen, und sie wusste was ihr `Dank` sein würde. Ohne Frage, der Schatten besaß die Macht Samuel zurückzubringen, ein Talent, das den Sirenen verwehrt blieb. Und im Anschluss würden diese dunklen Kreaturen die Welt versklaven. Sandrine biss sich auf die Unterlippe, sosehr sie sich Samuel lebendig wünschte konnte sie doch nicht dieses hohe Risiko eingehen, oder? „Also?... Ich werde mein Angebot sicherlich nicht wiederhohlen. Genaugenommen ist es nicht wirklich ein Handel. So oder so wirst du für uns singen. Du kannst nur entscheiden ob du den schweren oder leichten Weg wählst“, Sandrine realisierte dass die Geduld ihres Gegners offensichtlich aufgebraucht war.

 

Kapitel 3

Vergiss den Plan, eine Kurznotiz in ihren Gedanken. Es würde sowieso nichts bringen, denn egal was die Sirene tun würde, höchstwahrscheinlich wären die nächsten Minuten ihre letzten. Sie traute dem Schattenmädchen durchaus zu eine Sirene zu töten, und zwar mit Leichtigkeit. Anstatt dem Schatten zu antworten, begann sie deshalb zu rennen. Hinter sich hörte sie noch ein genervtes Seufzen, gefolgt von Gemurmel: "Und ich dachte schon, diesmal hätte ich es mit einem intelligenten Opfer zu tun...". Es klang gelangweilt und gab Sandrine das Gefühl nichts weiter als lästig zu sein. Zeit sich darüber zu ärgern bekam die Sirene jedoch nicht. Aus den Augenwinkeln erregte eine flüchtige Armbewegung des Schattenmädchens ihre Aufmerksamkeit.

Und urplötzlich brach die Hölle los: Bagger und Kräne, verrostet durch den Zahn der Zeit, erwachten zu Leben. Sandrine fluchte, doch das Pech schien noch lange nicht fertig auf seinem Streifzug gegen die Sirene. Zu allem Überfluss begann das Schattenmädchen Feuergeschosse auf sie zu schleudern. Anfangs gelang es ihr noch ganz gut den Feuerkugeln auszuweichen, doch trotz der flinken Bewegung musste die Sirene geschockt feststellen, dass die Geschosse immer dichter hochgingen. Sandrine kämpfte sich immer verbissener voran, aber gegen die fürchterlich brennenden Lungen kam sie nicht an. Wild nach Luft schnappend widerstand sie dem Drang stehenzubleiben und ihren ausgelaugten Körper zu entspannen. Nur einen kurzen Blick warf die Sirene nach hinten. Sie hätte es besser gelassen. Das Schattenmädchen schien nicht einmal außer Puste. Frustriert musste sich Sandrine eingestehen, dass sie trotz aller Bemühungen mit dem Rücken zur Wand stand. Es konnte nicht mehr lange dauern bis der deutlich durchtrainiertere Schatten sie einholte, und dann war es das. Hasta la Vista, Baby. Alternativen gab es keine weit und breit, zumindest nicht wenn sie weiter floh. Was aber wenn sie sich verteidigen würde? Viel mehr konnte nicht mehr schiefgehen, oder?

Aprupt stoppte die Sirene im Lauf und drehte sich um. Ein zwei mal zog sie gierig die Luft ein und tat dann, was sie am besten konnte: Sie sang.

Sandrines Stimme klang brüchig, was ihrem Vorhaben nicht unbedingt dienlich war, da es ihre Kraft einschränkte. Doch bald schon gelang es ihr die Kontrolle über die Lebensessenz zu erlangen. Mit jedem weiteren der seltsamen Wörter wuchs die schützende Barriere um die Sirene. Langsam aber stetig und keine Sekunde zu früh. Sandrine stoppte den Gesang genau in dem Moment als die nächste Feuerkugel auf ihren Kopft zugeschossen kam... und an dem Schutzschild abprallte. Am liebsten hätte die Sirene laut triumphiert, doch sie hatte die Wucht der Geschosse unterschätzt. "Verdammt!", panisch musste sie mit ansehen wie die mühsam errichtete Barriere vibrierte. Für den Moment hielt sie dem Feuer stand, fragte sich nur wie lange. Und gegen die langsam näherrollenden Fahrzeuge würde es sie auch nicht schützen. Wie konnte sie das nur übersehen? Hätte Sandrine Zeit gehabt, hätte sie sich selbst für die Dummheit verwünscht, aber ihre Kraft und Konzentration wurde dringender an der Barriere gebraucht. Die Situation wurde mit jeder verstreichenden Sekunde tödlicher, immer schwerer fiel es Sandrine die Melodie aufrecht zu erhalten und nicht erschöpft zusammenzubrechen. 

Das aufkommende teuflische Gekicher übertönte sogar fast die Sirenenstimme und schien Sandrine von allen Seiten zu verhöhnen. "Zumindest einem gefällt dieses Spiel auf Leben und Tod...", sie merkte garnicht dass sie die bissige Bemerkung laut ausgesprochen hatte, wurde allerdings sofort durch das Gelächter des Schattenmädchens darauf hingewiesen. "Aber natürlich weiß ich dieses Spielchen zu schätzen, mein Vögelchen. Obwohl,... ein Spiel würde ich es nicht nennen, zum Spielen braucht es zwei gleichwertige Kontrahenten... Leider seh ich aber nur eine Maus im Käfig", ohne jegliche Eile kam der Schatten endlich in Sichtweite, die Lippen theatralisch zu einem Schmollmund verzogen. Eigentlich wäre es nun an der Zeit für die Sirene zu sterben, doch das teuflische Mädchen blieb vor dem Schild stehen, den Blick mit spöttischer Arroganz auf Sandrine gerichtet.

Jeder normale Mensch würde sich wohl von so viel Hochmut provoziert fühlen. Aber Sandrine war nicht normal und blendete das überhebliche Gefasel kurzerhand aus. In diesem Moment zählten keine unnötigen Gefühle, nur die harten Fakten: Die Barriere würde eventuell noch 5 Minuten gegen die Angriffe des Schattens bestehen, doch dies half ihr nicht weiter. Bis dahin wäre sie längst von der rauhen Gewalt der näherkommenden Fahrzeuge überrollt worden. Kein sehr schöner Gedanke... "Bleib bei der Sache", ermahnte sie sich selbst als sie merkte, dass ihre Gedanken wegdrifteten. In der Hoffnung den rettenden Ausweg übersehen zu haben, betrachtete Sandrine ihre Umgebung. Fehlanzeige! Weit und breit kein Entkommen in Sicht. Trotzig konzentrierte sie sich wieder auf ihren Gegner als sie der Geistesblitz traf.

Das arrogante Schattenmädchen wollte mit der kleinen Maus spielen? Bitte, sie sollte ihren Willen bekommen. Die kleine vernünftige Stimme im Kopf der Sirene schalt sie für diesen wahnsinnigen Versuch, doch Sandrine befahl den Zweifeln kurzerhand zu schweigen. Ganz langsam entzog sie der Barriere die ersungene Energie, Energie, die sie durch diese Taktik für den Gegenangriff auf den Schatten brauchen konnte...

Die nächste Feuerkugel kam so nah, dass sie fast das Haar der Sirene versengte, es war knapp, aber längst nicht so tödlich wie die Angriffe vorher, was der Schatten auch prompt kommentierte: "Bist du etwa schon erschöpft, Vögelchen? Und deswegen hat man mich hierher geschickt? Um meine Zeit an so einem schwachen Menschlein zu verschwenden?", sie seufzte "komm schon... wo ist die Sirenenkraft? Streng dich an und stärk deine Barriere. So macht es keinen Spaß dich zu töten...", unter Kichern näherte sich der Schatten.

Irgendwie schaffte es Sandrine das Funkeln des Triumphes vor dem Mädchen zu verstecken. Der Schatten wollte sie singen hören? Oh, es würde ihr ein Vergnügen sein, diesem Wunsch zu entsprechen, allerdings nicht indem sie das letzte Fünkchen Kraft an das Schutzschild verschwendete. Diesmal konzentrierte sich die Sirene auf das Schattenmädchen selbst. Es war schwierig die Lebensenergie des Schattens aufzuspüren, aber nicht unmöglich. Als die Sirene endlich den Anfangston fand, sprudelten die Wörter und Melodien wie von selbst aus ihrem Mund und webten das Todeslied für den Schatten. Es dauerte nicht lange bis Schweißperlen das Gesicht von Sandrine zierten,  doch der Plan schien aufzugehen.

Die Barriere schwächelte und ermutigte den Schatten, sich auf die Sirene zuzubewegen. Dabei merkte das Mädchen zu spät, dass Sandrine keineswegs untätig auf ihr Schicksal gewartet hatte. Sobald das schützende Gebilde um die Sirene zerbrach entfesselte sich der andere Zauber. Die Wirkung war enorm. Völlig überrumpelt taumelte das Schattenmädchen rückwärts. Weder die panischen Angstschreie noch die ungläubig aufgerissenen Augen konnten sie jetzt retten. Fasziniert betrachtete Sandrine wie der Schatten vor ihr rasend schnell alterte und starb. Selbst als die Asche des Mädchens vom Wind verweht wurde kam es der Sirene so vor, als ob die Schreie ihres Gegners die Luft erfüllten.

Zu Tode erschöpft von der gewebten Magie sank Sandrine schließlich auf die Knie. Sie bekam nicht mehr mit, dass die Baumaschinen ihren Vormarsch gestoppt hatten und wieder in Leblosigkeit erstarrten. Bevor sie allerdings das Bewusstsein endgültig verlor kam sie nicht umhin sich zu wundern, wie schön selbst die Melodie des Todes sein konnte, komplettiert in perfekter Harmonie mit den Angstschreien des Schattenmädchens.

 

 

Kapitel 4

Die Köpfe der Zwillinge bewegten sich vollkommen synchron, bis sich die Augen der Brüder trafen. Es fielen keine Worte, dennoch wussten sie genau was sich abgespielt hatte. "Nun, sie hat versagt... Wirklich bedauerlich... Eigentlich dachte ich, dass sie länger überleben würde, aber anscheinend haben wir die Sirene unterschätzt", der rechte Zwilling öffnete kaum den Mund, trotzdem verfehlten die gesprochenen Worte nicht ihre Wirkung, eisig kalt war der Klang seiner Stimme, mächtig genug um den Verstand einer Person zu betäuben und zu quälen. Selbst die Temperatur in der kleinen undekorierten Wohnung fiel drastisch. Der andere Zwilling schien wenig beeindruckt. Gedankenverloren nickte er, während sich ein diabolisches Grinsen seine Lippen umspielte: "Scheint als ob du Recht hättest. Ich hab den Tod des Schattens ebenfalls gespürt... War ihr Schmerz nicht köstlich? Schade nur, dass wir es nicht hinauszögern konnten... Sie hätte eine Bestrafung für ihr Fehlverhalten verdient...", obwohl die Konversation zwischen zwei Personen stattfand, konnte man die Brüder in keinster Weise unterscheiden, weder durch die völlig identischen Stimmen, noch durch die klonhafte Ähnlichkeit ihres Äußeren. Allein die Lippenbewegung machte deutlich welcher Zwilling gerade sprach. Das Kichern verließ diesmal die Lippen des ersten Bruders: "Eine fantastische Idee. Warum haben wir das Talent den Tod zu bezwingen, wenn wir es nicht angemessen benutzen?", er zwinkerte dem anderen Zwilling zu und nippte zweimal an dem blutroten Wein, bevor er das Glas zurück auf den Tisch stellte, "aber ich muss zugeben, dass die Sirene mein Interesse geweckt hat... Es braucht ein gewisses Maß an Kraft und Können um einen Schatten kalt zu machen... Wie dem auch sei, wir brauchen das Vögelchen für unsere Zwecke. Zur Not müssen wir die Angelegenheit selber erledigen, die anderen Schatten sind ja offensichtlich nicht fähig genug dem Vögelchen das Genick zu brechen", mit einem Händeklatschen erhob er sich zum Gehen, but hielt in der Bewegung inne. Der andere Zwilling schien ihn zurückzuhalten, diesmal fand das Gespräch auf gedanklicher Ebene statt. Nach einer halben Ewigkeit, senkte der eine Bruder seinen Kopf, die Diskussion war zu Ende: "Ich stimme dir zu. Wir sollten den Zirkus zum Aufbruch vorbereiten... Las Vegas, hm? Eine gute Wahl...", sein Blick wirkte unbeteiligt "Ich werde später zur Hilfe nachkommen, aber lass mich zuerst noch ein wenig Spaß haben und das Schattenmädchen angemessen foltern..." das teuflische Grinsen verblasste bei seinen nächsten Worten fast vollständig "... und irgendjemand sollte vielleicht Evelyn manipulieren. Ich werd das Gefühl nicht los, dass sie für unsere Angelegenheiten noch von Nutzen sein wird". Sein Bruder nickte zustimmend: "Absolut, um die Hexe mach ich mir weniger Gedanken. Wenn es um ihre Erinnerungen geht, wird sie äußerst loyal... Worauf warten wir? Lass uns aufbrechen", wie auf Kommando bewegten sich die Zwillinge und verschwanden in entgegengesetzte Richtungen.

 

 

Kapitel 5

Der einsetzende Platzregen beendete Sandrines Ohnmacht schließlich. Immer noch benommen setzte sie sich auf und betrachtete ihr Umfeld verwirrt. Es dauerte eine Weile, aber der Blick auf das verbrannte Gras brachte die Erinnerung zurück und jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. "Alles in Ordnung, es ist vorbei...", ihr Flüstern hatte eine ganz eigene Melodie und beruhigte den Gemütszustand der Sirene, "ich sollte nach Hause gehen und mir ein wenig Ruhe gönnen... naja, eher sehr viel Ruhe". Indem sie die aufkommenden Schmerzen ignorierte gelang es Sandrine sich aufzurappeln. Sie konnte nicht widerstehen verunsichert zu den Baumaschinen herüberzulinsen. Die monströsen Geräte standen friedlich auf ihren Ausgangspositionen, als wäre nichts geschehen. Erleichtert, dass aus dieser Richtung keine Gefahr mehr drohte machte sie sich auf den Heimweg.

Niemals hätte sich die Sirene ausmalen können, dass die Schatten sie in diesem verschlafenen Nest finden würden und die Kraft ihres Gegners überraschte sie noch mehr... Unwirsch schüttelte Sandrine den Kopf, in dem Versuch die Gedanken zu verscheuchen, aber ihr Unterbewusstsein quälte sie unaufhörlich weiter: Und was wenn die Schatten zurückkamen? Was, wenn dies nur der Anfang war? Was wäre dann? Ihre Familie wäre ebenfalls nicht mehr sicher... Sandrine stoppte, nur einige Meter entfernt von einem kleinen, aber sehr hübschen Häuschen, ihrem Zuhause, dem Ort wo sie und ihre Adoptiveltern lebten. Die Erkenntnis entlockte Sandrine ein resigniertes Seufzen. Jetzt wo die Schatten wussten, wo sie nach ihr suchen mussten, würde sie nie mehr sicher in der Kleinstadt sein. Sie würde nur riskieren, dass ihre Familie in das Schussfeld der Monster geriet, und das konnte die Sirene einfach nicht verantworten.

Glücklicherweise schien niemand daheim zu sein, sicherlich war das nette Ehepaar bei der Arbeit im Restaurant, also schlich sie sich nach innen. Auf dem Weg nach oben wurde Sandrine das Herz bleischwer, dennoch  betrat sie ihr Zimmer und packte zügig ein paar Sachen für eine lange Reise. Sie drehte sich schon Richtung Ausgang um ihr altes Leben hinter sich zu lassen, als ihr plötzlich eine Idee kam. Sie konnte ihre Adoptiveltern doch nicht einfach so zurücklassen, die Trauer über Sandrines fortgehen würde sie wahnsinnig machen. Die aufkommenden Sorgen ignorieren kreierte die Sirene eine andere Melodie, ein Zauber des Vergessens, der das Haus Stück für Stück einhüllte. Glücklich mit dem Resultat trat sie durch die Haustür und verschwand ohne einen weiteren Blick zurückzuwerfen. Ihre Schritte führten Sandrine an die nahegelegene Bushaltestelle.

Bis jetzt hatte die Sirene noch keinen Plan wie es weiter gehen sollte, doch nach eingehendem Studieren des Fahrplans und ihres Portemonnaies, fasste sie erstaunlich schnell einen Entschluss: Las Vegas würde ihre neue Heimat werden. Der Gedanke an die Stadt die niemals schlief mit den millionen Lichtern zauberte ein zaghaftes Lächeln auf ihr Gesicht. Nach all den Schrecken der letzten Tage, hatte Sandrine endlich das Gefühl einen Schritt in die richtige Richtung zu tun. Der Bus hielt und sie stieg ohne zu Zögern ein. Über ihren Lebensunterhalt würde sie nachdenken, wenn sie erst einmal angekommen wäre...

 

 

Kapitel 6

Evelyn, die Sirenenjägerin... Die Hexe hasste ihren Job aus aus tiefster Seele und unter normalen Umständen hätte sie niemals zugestimmt dem `Verlorenen Zirkus`zu folgen. Zur Hölle, unter normalen Umständen hätte sie die Zwillinge zu Tode verflucht. Den Anweisungen der Brüder kotzte sie fürchterlich an, um ehrlich zu sein konnte sie sich nicht viele Dinge ausmalen die schlimmer sein könnten als ihre derzeitige Arbeit... Nur leider war ihre Situation alles andere als gewöhnlich. Seufzend ermahnte sich Evelyn, den Lohn für ihre Taten im Auge zu behalten und sich nicht von ihrem schlechten Gefühl nicht ablenken zu lassen... Es gab wirklich nichts, was die Hexe nicht eintauschen würde um eine ihrer kostbaren Erinnerungen zurückzubekommen. Ganz sicherlich würde sie nicht dafür zurückschrecken das Leben einer herzlosen Kreatur zu verkaufen, wenn es Evelyn ihren Wünschen näherbrachte.

Ihre Augen wanderten zum Pendel, dass nun immer stärker ausschlug. Im Stillen beglückwünschte die Hexe die verfluchten Brüder: Es war eine wirklich gute Wahl den Zirkus in Las Vegas anzusiedeln. Schon vor ihrem Aufbruch hatte Evelyn ein gutes Gefühl die Lage betreffend. Die Bewegung des magischen Instruments gab ihr Recht und zauberte ein Grinsen in das Hexengesicht. Die Sirene konnte nicht mehr weit weg sein. Schön bald würde Evelyn eine weitere Erinnerung ihr Eigen nennen.

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.06.2014

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