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1. Schmerzende Erinnerung

Sie sitzt auf ihrem Bett und starrt kreidebleich auf das Stück Papier in ihrer Hand. Ihre Augen wandern langsam von Wort zu Wort. Zeile für Zeile versucht sie den Inhalt dieses Briefes zu begreifen. Doch es gelingt ihr nicht. Seit er weg ist kann sie keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sie zittert am ganzen Körper und Tränen treten aus ihren schönen, rehbraunen Augen hervor.

 

Völlig erschöpft und kraftlos lässt sie sich auf ihr frisch gemachtes Bett mit der geblümten Bettwäsche fallen und der Brief segelt lautlos zu ihren Füßen auf den Boden. Mit größter Mühe zwingt sie sich eine ruhige Atmung beizubehalten während ihr Herz rast als würde es jeden Moment explodieren. Wie sehr wünscht sie sich in diesem Moment einfach unsichtbar zu sein. Sie möchte sich einfach in Luft auflösen mit der kalten Luft um sie herum verschmelzen. Die Augen schließen und die Anspannung in ihrem Körper verschwinden lassen.

 

Doch beim Öffnen ihrer Augen liegt ihr Körper noch immer schwer wie Blei auf ihrem für sie alleine viel zu großen Bett. Sie weiß, dass sie nun am Ende ihrer Kräfte angekommen ist, denn seit Tagen schafft sie es nicht einmal mehr kurz das Haus zu verlassen, um die Zeitung reinzuholen oder wenigstens die Sitzpolster von ihren Gartenstühlen abzuräumen, die inzwischen schon völlig durchnässt von den Regenergüssen der letzten Tage, triefend an Ort und Stelle liegen geblieben waren.

 

Als er ging, schien die Sonne. Immer wieder versucht sie ihre Gedanken zu sortieren, versucht einen klaren Gedanken zu fassen, versucht fast schon krampfhaft zu verstehen was jede weitere verstreichende Stunde mit ihrem Leben macht oder mit dem was davon übriggeblieben war. Ihre Versuche mit Gute-Nacht-Tee oder Wärmflasche das Einschlafen zu erleichtern waren ihr, wie man an den tiefen Augenringe unverkennbar sah, nicht besonders gut gelungen. Ihre starke Ausstrahlung und die stolze, aufrechte Haltung einer selbstbewussten, jungen Frau war einem geknickt aussehenden Häufchen Elend gewichen. Schwach und gebrochen. Gebrochen durch den Schmerz der unbarmherzigen Einsamkeit.

 

Stöhnend und ächzend stemmt sie ihren schmerzenden Oberkörper nach oben und bückt sich wie in Zeitlupe nach unten um das, mittlerweile stark abgegriffene, Papier wieder aufzuheben. Diese Zeilen sind alles was ihr geblieben ist. Ihr Blick schweift ab und bleibt auf dem, von leichten Nebelschleiern, angelaufenen Fenster gegenüber dem Bette stehen.

 

Vor ihrem geistigen Auge tauchen leicht verschwommene kurze Szene auf, Bilder der Vergangenheit. Ihr ganzer Körper sträubt sich im selben Moment vor Wut, Trauer und Enttäuschung. Wie sie wohl diese Höllenqualen noch ertragen kann, fragt sie sich unwillkürlich mehrmals in die eigene Stille hinein. Sie kann es nicht vermeiden sich in ihren kreisenden Gedanken ein weiteres Mal komplett zu verlieren. Wie schön wäre es, einfach nur die Augen schließen zu können und nie wieder aufmachen zu müssen. Ein scharfer, heftiger Kopfschmerz blitzt ihr durch ihre Schläfen.

 

Mit zittrigen Fingern massiert sie sich die schmerzende Stirn entlang und drückt die Augen fest zusammen. Als der Schmerz mit einem Mal nachlässt, nimmt sie ein scheinbar weit entferntes, leises Geräusch wahr. Zögerlich und schwerfällig öffnete sie die Augen und versuchte ihre Konzentration auf diese undeutlichen Töne zu fokussieren. Es war ein zaghaftes Stimmchen. Ein klägliches Jammern. Ihr Baby, es war ihr Baby. Nebenan im Kinderzimmer. Mit schlurfenden Schritten, kaum ihre Füße hebend, begibt sie sich ins Nebenzimmer. Nun steht sie da, im halbleeren Flur, mit ihrer kleinen Tochter im Arm, und Tränen laufen über ihr blasses Gesicht.

 

Die Angst vor der Zukunft beginnt sie förmlich zu lähmen. Ihre Geldrücklagen waren schon fast auf aufgebraucht. Und am Schlimmsten ist das Wissen, dass ihre geliebte Tochter ohne ihren Vater aufwachsen würde. Sie weiß, die nächsten Jahre werden schwer werden, ohne ihren Mann mit dem sie seit fast zehn Jahren zusammen war. Doch der hat es ja vorgezogen zu ihr zu gehen. Ihr von Tränen getrübter und ruheloser Blick schweifte durch das Treppenhaus, durch den langgestreckten Flur vor ihr. Unter dem Fenster vor ihr steht ihre liebste Kommode, welche sie von ihrer Mutter geerbt hat. In diesem Moment fällt ihr die Waffe ihres Mannes ein.



2. wie gelähmt - kraftlos - hilflos

Es war seine Waffe. Er hat sie gekauft, um seine Familie zu schützen. Doch nun war er ja ohne große Rücksicht auf eben diese Menschen, welche er schützen wollte, gegangen. Zu ihr war er gegangen. Wortlos. Emotionslos. Schwankend bewegt sie sich durch die Kinderzimmer, zurück zum Babybettchen. Ihre Kleine ist bereits schon auf ihrem Arm eingeschlafen. Kurz huscht beim Blick auf sie, ein zögerliches Lächeln über ihre hängenden Mundwinkel. Sie tritt wieder in den Flur, auf den Weg zurück ins Schlafzimmer. Und wieder kommt sie vor der alten Kommende zum Stehen. Sie öffnet die leicht verklemmte Schublade der oberen Reihe unter den Dekorationsfächern des Eichenholz Erbstückes. Ihre Augen weiteten sich für einen Moment, als sie feststellt, dass sie noch da ist. Die Waffe liegt noch da, fast schon verstaubt.

 

Er hat sie wohl nicht mitgenommen. Verächtlich schnaubt sie bei diesem Gedanken. Den er hat ja am Ende wirklich schon so ziemlich alles mitgenommen, was nicht eindeutig ihr gehört hat. Aber die Waffe, die hatte er liegen gelassen. Vermutlich hat er sie bloß vergessen. Ihr Kopf beginnt erneut zu schmerzen, ihre Glieder werden richtig schwer und ihre Emotionen überfluten ihren Körper und ihren Geist in einem so raschen Schwall, dass sie kaum noch Luft bekommt. Ihr wird heiß und sie bekommt Schweißausbrüche. 

 

Ihre Gedanken fliegen wie lästige Fliegen um sie herum, sie spürt wie die Verzweiflung in ihr hochkriecht und sich ihr kochendes Blut durch die pochenden Adern drängt. Ihr Herz rast unaufhörlich schneller und als wollte es ihr aus der Brust springen. Wie in Trance, als würde sie ihren Körper dabei verlassen, sieht sie ihre Hand, ausgestreckt in Richtung Waffe greifen. Fest umschließt sie den eisernen, kalten Griff der Waffe und pustet den Staub vom Lauf. Sie dreht sie in ihrer Hand herum. Ihr starrer Blick geht ins Leere. Draußen ist es bereits dunkel geworden. Sie stolpert die Treppe hinunter, geht ins Badezimmer und wirft einen flüchtigen Blick auf den Spiegel. Fast erschreckt sie sich vor sich selbst. Ihre strähnigen Haare hängen zerzaust von ihrem leicht gesenkten Kopf. Sie merkt, wie ihr Gleichgewichtssinn ihr verloren geht und sinkt völlig kraftlos zu Boden. Die Waffe, welche sie bis dahin immer noch umklammert gehalten hat, rutscht ihr aus der Hand, fällt mit einem klirrenden Geräusch auf den dunkelblauen Fließenboden. 

 

Ein Schwall von Tränen läuft über ihre Wangen, den Hals hinunter und durchdrängt den Kragen ihres, bis zur Nasenspitze hochgezogenen, Pullovers. Sie versucht sich zu beruhigen, rafft sich hoch und schleicht die Treppe hinauf. Mit langgezogenen Schritten nähert sie sich wieder dem Kinderzimmer. Sie nimmt ihre Kleine in den Arm und drückt sie behutsam an sich. Der kleine, warme Körper ihrer Tochter, deren spürbarer, ruhiger Herzschlag, ihr für einen kurzen Moment wahres Glück schenkt, ruht an ihren Schultern. 

 

Ja sie weiß, ihre Tochter verlässt sich auf sie. Sie hat sonst niemanden mehr, der auf sie Acht geben könnte. Doch sie weiß einfach nicht wie es weitergehen soll, ist am Ende ihrer Kräfte, völlig aussichtlos. Es ist die schlimmste Lebenssituation, die sie sich jemals hätte vorstellen können. Ihr Wunsch nach Erlösung versucht mehr und mehr all ihrem noch verbleibenden Lebenswillen den Gar aus zu machen. Jede Hoffnung im Keim zu ersticken. So oft hat sie in den letzten Wochen zahlreiche Therapien und Medikamente getestet. Alles ohne großen Erfolg. Die dadurch aufgebaute Kraft war schneller verbraucht als der Tag zu Ende war. Was bleibt ihr den noch anders übrig. Welche Optionen soll sie den noch haben. Es packt sie eine unbändige Wut über diese total unwirklich erscheinende Situation. Noch im Leben hatte sie sich so hilflos, alleingelassen und ohne jede Hoffnung gefühlt…

3. Tränenmeer

Er blickt aus dem, mit kitschiger Dekoration behängtem, Fenster, hinaus in die Dunkelheit. Atmet noch einmal ganz tief ein und aus, dann dreht er sich schweigend um, nimmt den Koffer, der fest verschlossen neben ihm steht und geht schwerfällig Richtung Tür. Immer und immer wieder schüttelt er, scheinbar geistesabwesend, den Kopf. Er kann es einfach nicht verstehen, er kann es nicht begreifen. Wie konnte er nur so blind sein. Wie konnte es sein, dass er nicht bemerkt hatte, dass seine Freundin, die er so sehr geliebt hatte und für die er sogar seine Frau mit ihrer gemeinsamen Tochter verlassen hat, nur so etwas tun. Seit Tagen hat sie in mehrfach belogen und mit ihrem Exfreund betrogen.

 

Was findet sie bloß an ihm, was hat dieser Typ, was er nicht zu bieten hat und vor allem, warum war ihm nichts aufgefallen. Seine Frau hat ihn von Herzen geliebt. Sie ist ihm seit Jahren treu gewesen. Und er ist einfach gegangen. Egoistisch und treulos. Er hat sie nie angerufen. Nie hat er sich auch nur mal nach seiner Tochter erkundigt. Die Schuld liegt jetzt wie Blei auf seinen Schultern. Er will nur noch eins. Zurück zu ihr, zu seiner Familie, den Menschen, die ihm mehr bedeuten als alles andere auf dieser Welt. Er schließt die Tür schnell hinter sich, auf keinen Fall will er seiner Freundin jetzt nochmal begegnen. Die Fahrt mit dem Auto dauert lange. Er steht immer wieder im Stau.

 

Unruhig und ungeduldig versucht er immer wieder seine geliebte Frau zu erreichen. Er hat ihr geschrieben, wie leid ihm das alles tut und, dass er zu ihr kommen möchte, um mit ihr zu reden. Sorgenfalten legen sich auf seine Stirn während er nach zwei Stunden endlich sein Ziel erreicht. Mit, vor Aufregung, stark zitternden Händen schließt er die Tür auf. Im ganzen Haus brennt kein Licht. Es ist stockdunkel und still. Er schaltet das Licht ein. Ein Blick auf die Uhr zeigt ihm, dass es bereits kurz vor Mitternacht ist. Leise geht er die Treppe hoch ins Schlafzimmer. Doch er findet nur ein leeres Bett vor, seine Seite des Bettes ist unberührt, die Decke immer noch fein säuberlich zusammengelegt. 

 

Beim Blick auf die Seite seiner Frau, fällt ihm ein zusammengefaltetes Stück Papier auf ihrem Kopfkissen auf. Er nimmt das abgegriffene Schriftstück und wird blass, denn sofort erkennt er, dass es seine Worte sind, die dort in eiliger Schrift geschrieben stehen. Sie muss ihn oft gelesen haben, schießt es im plötzlich durch den Kopf und irgendwie macht es ihn glücklich. Da durchfährt es ihn wie ein Blitz, er löst sich aus seiner Starre und rennt beinahe schon zum Zimmer seines Kindes. 

 

Er drückt die Klinke nach unten und öffnet vorsichtig die Tür. Im Schein des kleinen Nachtlichtes sieht er seine kleine Tochter friedlich schlummern. Er tritt an ihr Bettchen und streichelt ihr zärtlich über ihre weiche, warme Wange. Als er das Zimmer verlässt wird ihm klar, dass er seine Frau weder in deren Schlafzimmer noch bei ihrer Kleinen finden kann.

 

Er zückt sein Handy, um sie ein weiteres Mal anzurufen. Als er leise den Klingelton wahrnimmt, versucht er dem Geräusch zu folgen. Er findet sie weder im Wohnzimmer, noch im Gästezimmer oder in der Küche. Am Ende öffnet er nun die Tür zum Bad und als er eintritt, entweicht ihm ein markerschütternder Schrei. 

 

Auf dem mit Blut getränkten, hellblauen Teppich des Bades findet er den leblosen Körper seiner geliebten Frau. Die Waffe, seine Waffe, noch in ihrer Hand. Eine Kugel in ihrem blutenden Kopf steckend. Ihr Handy neben ihr liegend. Weinend und mit dem Wissen, dass er nicht nichts mehr für seine Frau tun kann, bricht er neben ihr zusammen. Und während er ihr verzweifelt und zitternd über ihr immer noch wunderschönes Gesicht streicht, bemerkt er eine geöffnete Nachricht auf dem, mit Blutspritzer besprenkeltem, Handy neben ihnen.

 


In einem, an ihn gerichteten, Nachrichtenentwurf steht in großen Buchstaben..
ES TUT MIR LEID … ICH LIEBE DICH

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Tag der Veröffentlichung: 02.01.2017

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