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Schneewichtel

Winter 86 zwischen Weihnachten und Neujahr in einem Dorf im Hochsauerland…

„Es schneit, es schneit, kommt alle aus dem Haus!“, sang die fünfjährige Charlotte lautstark im Treppenhaus des älteren Mehrfamilienhauses und sprang polternd die hölzernen Treppenstufen hinunter.

„Charly! Warte mal! Nicht so laut!“, ermahnte die vorsichtig hinterher gehende Großmutter, „Du hast auch deine Handschuhe verloren. Langsam Charly, mein Kind!“. Mit einem Kopfnicken im Vorübereilen grüßte sie eine ältere Nachbarin, die wegen des Lärms neugierig die Wohnungstür geöffnet hatte. An der schweren Haustür wurde Charlotte von ihrer Großmutter eingeholt.

 „Oma Elli, hilf mir bitte mit der Tür, die geht so schwer.“

„Charly hier, nimm bitte die Handschuhe. Und mache auch bitte deinen Anorak richtig zu. Deine Stiefel sind auch noch offen!“, ermahnte kopfschüttelnd die Großmutter.

Mit einer Grimasse nahm Charlotte die Handschuhe, zog sich fertig an, breitete ihre Arme aus und fragte ungeduldig: „Oma, ist’s jetzt richtig?“

Die Großmutter korrigierte noch die Mütze und strich dem aufgeregten Mädchen mit einem Schmunzeln sanft durch das Gesicht. Gemeinsam öffneten sie die Haustür. Sofort wirbelten die Schneeflocken in den Hauseingang. Charlotte tanzte springend durch den Schnee und sprang übermütig in eine Schneewehe. Es waren über Nacht etwa zehn Zentimeter Neuschnee gefallen. Tief einatmend betrat vorsichtig Elisabeth den Hof. Die kalte Luft schmeckte und roch nach Schnee. Sie beobachtete schmunzelt ihre Enkelin, die über die verschneite Wiese tobte. Das Schneegestöber wurde wieder stärker.

Elisabeth fröstelte. Sie zog ihren Mantelkragen enger um den Hals, die Kapuze weiter über den Kopf und rief: „Charly, mein Kind, komm wir wollen gleich wieder rein.“

 

Sie beobachtete, dass das Mädchen auf den Zaun zum angrenzenden rückwärtigen Nachbargrundstück kletterte und sich mit einem älteren Mann unterhielt.

Kopfschüttelnd stapfte Elisabeth verärgert in Richtung Zaun und rief vorwurfsvoll: „Charly, ich hatte dich gerufen? Hörst du nicht?“

„Guten Tag!“, wurde Elisabeth freundlich von dem älteren Mann begrüßt.

„Ach sie sind es! Guten Tag, Herr Lohmeyer.“, grüßte sie zurück und nahm die angebotene Hand.

„Frau von Tannen, bitte nicht so förmlich. Wir waren doch schon beim Du? Nennen sie mich doch bitte Friedrich oder besser Fritz!“, meinte der Angesprochene.

Elisabeth schob die Kapuze zurück, sah freundlich den älteren Mann an und lachte: „Und ich bin dann Elisabeth oder Elli für sie … für dich.“  

 

Charlotte war mittlerweile über den Zaun geklettert und setzte sich schnell zu dem Jungen, der hinter seinem Großvater auf einem Schlitten saß.

„Charlie, komm sofort hierher. Du kannst doch nicht in einen fremden Garten gehen? Das macht man nicht.“, tadelte Elisabeth kopfschüttelnd.

Der Mann lachte, „Du siehst doch, sie kann!“, und blickte kurz zu den beiden Kindern, die ungeduldig auf dem Schlitten herumrutschten. Im Chor sangen die beiden dick vermummten Kinder übermütig das Kinderlied vom: „Schlitten fahren!“

„Elli, wir haben diese Woche unseren Enkel Sebastian zu Besuch. Seitdem es schneit ist der Junge kaum zu bändigen. Siebenjährige haben richtig Energie und müssen sich austoben. Um meiner Frau nach ihrer Lungenentzündung noch ein wenig Ruhe zu gönnen, bin ich jetzt zu dem kleinen Kinderrodelberg unterwegs.“

Elisabeth schüttelte die festsitzenden Schneeflocken vom Mantel und fragte mitfühlend: „Fritz, geht es deiner Frau schon wieder besser?“

„Ja, gottseidank ist Johanna auf dem Wege der Genesung. Sie ist knapp am Klinikaufenthalt vorbei geschrammt.“

Elisabeth richtete ihr Augenmerk wieder auf ihre Enkelin: „Charly, kommst du jetzt? Ich will rein. Mir ist kalt.“

Die Erwachsenen standen abwartend am Zaun. Die Kinder blieben sitzen, sangen laut das Lied vom Schneeflöckchen mit seinem weißen Röckchen und riefen anschließend: „Schlittenfahren … Schlittenfahren … Schlittenfahren …“

Der Mann schüttelte seine Pudelmütze aus und sagte beruhigend: „Elli, die beiden Schneewichtel kriegen wir jetzt ohne Geschrei nicht vom Schlitten. Mein Vorschlag wäre, dass ich deine Enkelin mitnehme und wir gönnen den Beiden ihren Spaß. Wann schneit es mal? Elisabeth gehe schnell wieder ins Warme und taue dich mit einer Tasse Tee auf. Nicht, dass du dich auch erkältest. In etwa einer Stunde bringe ich Charly gesund und munter zu dir.“

Elisabeth seufzte, sah dem Mann ernst in die Augen und sagte lächelnd: „Friedrich, du hast wahrscheinlich recht. Bei dem Wetter habe ich durch die Kälte wieder meine Schmerzen in den Knien … In Ordnung! Aber pass bitte auf Charly auf, sie ist ein richtiger Wirbelwind.“

Dann rief sie noch ermahnend: „Charlotte, hör mal! Du darfst bei Herrn Lohmeyer auf dem Schlitten fahren. Sei bitte artig und höre auf Herrn Lohmeyer!“

Vom Schlitten ertönte ein Freudengeschrei.

Friedrich griff nach der Leine und rief: „Basti, Charly haltet euch richtig fest. Es geht los!“

Mit einem kräftigen Ruck setzte er das Gefährt knirschend in Bewegung. Elisabeth sah noch einige Zeit dem Schlitten mit den juchzenden Kindern hinterher und ging dann langsam zur Haustür zurück.

Etwa eine Stunde später wurde Charlotte mit roten Wangen zu ihrer Großmutter zurückgebracht und erzählte aufgeregt mit glücklichen Augen von den erlebten Abenteuern mit Sebastian und seinem Großvater. Nachmittags löste Friedrich einige lose Elemente am Zaun und verband dadurch mit einem schmalen Durchgang die beiden Gärten.

Ab diesem Tag begann die langjährige Ferienfreundschaft zwischen den Kindern und endete erst am Ende der Schulzeit. In den nächsten Jahren verbrachten die Beiden regelmäßig die Winter- und Sommerferien bei ihren Großeltern. Gemeinsame Erlebnisse schweißten sie zusammen. Außerhalb der Ferien hatte aber jeder in seinem Wohnort eigene Schulfreunde, Charlotte in Köln und Sebastian in Lübeck. Während der Schulzeit im Heimatort hielten sie durch Briefe den Kontakt. Manchmal schickten sie nur Grüße, manchmal erzählten sie sich gegenseitig vom Alltagskummer und manchmal spendeten sie sich gegenseitig auch Trost. Nur als Teenager teilten sie ihre eigenen Gefühle für einander dem Anderen nicht mit…

Siebzehn Jahre später

Durch das leise Gemurmel der anderen Passagiere wurde die junge Frau geweckt und verneinte leise die Frage der Flugbegleiterin, die ihren Wagen durch die Reihen schob um Erfrischungen zu verteilen. Besorgt sah die Zweiundzwanzigjährige zum Nachbarsitz und zog die Decke weiter über den zusammengerollten Körper des schlafenden kleinen Mädchens. Sanft strich sie ihr eine rotblonde Haarsträhne aus dem Gesicht, legte beschützend ihre Hand auf die kleine Hand und beobachtete den tiefen Schlaf des Kindes. Langsam schloss sie die Augen und versank in einen unruhigen Halbschlaf. In ihrem Traum durchlebte sie noch mal die letzten vier Jahre…

 

„…Charlotte komm jetzt. Trödel nicht so! Das Boarding hat angefangen. Der Flieger wartet nicht auf uns.“, mahnte der Vater und zog seine Tochter zum Gate. Wieder willig folgte die Achtzehnjährige ihren Eltern. Die Mutter strich ihrer Tochter tröstend über den Arm und sagte aufmunternd: „Freust du dich nicht, Lotte? Wir fliegen jetzt nach Kanada. Das gibt ein Abenteuer für uns alle.“ Charlotte schossen die Tränen in die Augen, schniefte und sagte fast trotzig: „Ich will aber hierbleiben! Ich kann doch bei Oma oder bei Tante Moni bleiben. Ich will nicht mit. Ich bin volljährig und kann für mich selbst entscheiden!“ Der Vater antwortete ärgerlich: „Charlotte! Hör jetzt bitte auf. Das haben wir in den letzten Monaten und Tagen ausführlich besprochen. Es ist alles vorbereitet. Du bist in der deutschen Schule angemeldet und machst dort dein Abitur nach. Ich wurde für die nächsten Jahre in die Zentrale nach Vancouver versetzt. Wir haben die Chance später auch dauerhaft in Kanada zu bleiben. Ab nächste Woche werde ich meine Arbeit anfangen, Mama beginnt in vier Wochen. Unsere Wohnung in Deutschland wurde gekündigt und ein Teil der Möbel wurde eingelagert. Es ist alles geplant und vorbereitet! Wir fliegen jetzt alle als Familie nach

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: D.HaHerO
Bildmaterialien: D.HaHerO
Cover: D.HaHerO
Tag der Veröffentlichung: 27.08.2022
ISBN: 978-3-7554-2034-7

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