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Prolog

Auf dem Lebensweg begegnet man außerhalb der Familie vielen Menschen. Einige kennt man vom Sehen und hat vielleicht auch schon ein paar Worte mit ihnen gewechselt. Trotzdem bleiben es Fremde. Man sieht sich, grüßt vielleicht höflich mit einer Floskel und verliert sich wieder aus den Augen. Einige Menschen lernt man näher kennen, ist befreundet und verliert sich trotzdem wieder. Jeder Mensch, dem man begegnet, hat sein eigenes Lebensschicksal mit Höhen und Tiefen. Schöne Erlebnisse im Leben bleiben in der Erinnerung. Schicksalsschläge hinterlassen manchmal hässliche schmerzende Wunden auf der Seele. Die Zeit heilt langsam diese Wunden und es bleiben nur Narben. Die Narben verblassen. Manchmal braucht man Mut mit diesen Narben zu leben.

 

Oft reicht ein kleiner Auslöser um das Schicksal nachhaltig zu verändern:

Schlimme Erlebnisse treten in den Hintergrund und sind nicht mehr wichtig, aus Fremden werden Freunde, aus Trauer wird wieder Lebensfreude, aus Misstrauen wird Vertrauen, aus Freundschaft wird Zuneigung und aus Zuneigung wird Liebe.

 

 

Bella

oder eins und eins gleich eins

©D.HaHerO

Bella

„Bella, Fuß! Bella, bleib hier!“, ertönte die laute Stimme des älteren Mannes über die schmale Straße. Die rotbraunweiße Bernhardinerhündin ignorierte die Kommandos, zerrte mit ihren sechzig Kilo Lebendgewicht an der Leine und jagte bellend auf die Katze los. Durch den plötzlichen Ruck verlor der gehbehinderte Hundebesitzer das Leinenende und konnte nur mühsam mit den Gehhilfen das Gleichgewicht halten. „Bella, Fuß! Verdammt noch mal! Lass jetzt das Katzenvieh in Ruhe! “, brüllte er ärgerlich. Bella zeigte sich unbeeindruckt und rannte weiter. Die hinterherschleifende Hundeleine verfing sich an einem Fahrrad. Die ältere Radfahrerin hatte die Szene schon beobachtet und war vorsorglich abgestiegen. Bella lief weiter und zerrte das Rad mit zu dem Baum, auf den die Katze geflüchtet war. Beim Versuch die Hundeleine zu greifen, verlor die Radfahrerin das Gleichgewicht und fiel ins nasse Blumenbeet. Schimpfend versuchte sie auf zu stehen und beobachtete dabei fassungslos das weitere Geschehen. Die Katze saß jetzt zitternd auf dem Baum. Bella beendete die Jagd mit einem abschließendem lauten: „Wuff!“, und widmete sich dann dem aufgeplatzten Kuchenpaket, das aus dem Fahrradkorb gefallen war. Humpelnd erreichte der Hundebesitzer die mittlerweile wieder stehende Frau und fragte besorgt: „Haben sie sich verletzt? Es tut mir so leid! Bella hat sich einfach losgerissen!“ Verzweifelt versuchte sie den gröbsten Schmutz von den Händen und Kleidung mit Papiertaschentüchern zu wischen und schimpfte laut: „Haben sie keine Kontrolle über ihren Hund. Das ist ja lebensgefährlich. Menschen wie sie, sollten keine Hunde besitzen dürfen. So ein großer kräftiger Hund und sie auf Krücken. Das kann ja nur schief gehen.“ Zerknirscht sah er sie an und sagte: „Ihr Mund funktioniert noch. Haben sie sich irgendwo anders verletzt? Brauchen wir einen Krankenwagen?“ Sie blickte ihn kurz ernst an und überprüfte dann ihren Körper: „Bei mir ist noch alles dran. Ich bin nur schmutzig.“ Sie richtete ihren Blick aufs zerdrückte Blumenbeet: „Ich bin gottseidank weich gefallen. Nur meine Strümpfe haben es nicht überlebt.“ „Keine Sorge, dass kann man alles ersetzen. Die Reparatur ihres Fahrrads übernehme ich auch.“ Jetzt erst sah sie, dass Schutzblech und Handbremse beschädigt waren. Sie deutete auf des leere Kuchenpaket: „Das ist ja   alles schön und gut!“ Sie schielte zur Apothekenuhr und sagte energisch: „18 Uhr 15! Wo bekomme ich heute noch einen neuen Kuchen her? Es ist heute Samstag. Die Läden haben jetzt zu. Und ich bekomme morgen Besuch… Herr? Wie soll ich sie nennen?“ Erschrocken sah er sie an: „Entschuldigung, wie unhöflich von mir.“ Er hielt ihr die Hand hin: „Neumann! Helmut Neumann!“

Sie besah kurz ihre Hände und reinigte sie mit einem Taschentuch. Dann nahm sie die dargebotene Hand: „Guten Abend, Herr Neumann. Maria Meinerts ist mein Name.“ Mit einer Hand schob die Grauhaarige eine bunt gefärbte Haarsträhne aus dem Gesicht und deutete auf das Fahrrad: „Wie komme ich jetzt nach Hause? Ich wohne in zehn Kilometer Entfernung. Und was mache ich jetzt wegen dem Kuchen?“ „Frau Meinerts, darf ich ihnen einen Vorschlag machen. Schließen sie das Fahrrad hier an den Zaun. Ich wohne nur zwei Straßen entfernt. Kommen sie bitte mit. Dort können sie sich auch richtig säubern. Das Rad lasse ich von meinem Enkel Manfred abholen; das bekommen sie repariert zurück. Wir werden mal sehen, ob sie jemand nach Hause fahren kann.“ Maria nickte zustimmend, aber so richtig wohl wahr ihr nicht. Sie kannte den Mann doch gar nicht. Helmut deutete zur nächsten Straßenecke und sagte: „Frau Meinerts, während sie das Fahrrad anschließen, gehe ich dort zum Briefkasten. Das war mein eigentlicher Plan. Bella lasse ich kurz hier.“ Helmut nahm die Hundeleine, befestigte sie am Zaun, gab das Kommando, „Bella Platz!“, und Bella setzte sich abwartend. Maria streichelte über Bellas Kopf und murmelte: „Bella, mache ich jetzt einen Fehler? Ich hoffe, du hast ein ehrliches Herrchen!“ Bella sah sie stumm an und stupste sie mit der Schnauze. Als Helmut den Briefkasten erreichte, nahm Maria die Leine und ging ihm mit Bella entgegen. Bella trottete brav neben Maria her. Helmut wollte die Leine übernehmen, aber Maria sagte: „Ich möchte das machen, Herr Neumann. Sie haben mit ihren Gehhilfen genug zu tun.“ „Frau Meinerts, schaffen sie das? Die Dame ist kein Schoßhündchen.“ „Herr Neumann, es kann nicht schlechter werden, als bei ihnen. Außerdem, traue ich es mir zu. Wir hatten früher einen Rottweiler.“ Wie zum Testen der Aussage zog Bella in Richtung eines entgegenkommenden Hundes. Maria kommandierte energisch: „Bella Fuß!“ Bella bewegte sich wieder neben Maria. Maria streichelte über den Kopf der Hündin und lobte sie. Helmut staunte: „Seit einem Jahr versuche ich Bella zu führen, aber es klappt nicht richtig.“ Er wischte sich über die Augen: „Meine verstorbene Frau hatte sich immer um Bella gekümmert. Ich war immer im Geschäft.“ Maria meinte: „Vielleicht will Bella sich ja auch nur mit mir gut stellen, sie hat ja schließlich meinen ganzen Kuchen gefressen. Übrigens Kuchen? Wo bekomme ich jetzt meinen Kuchen her?“ Helmut antwortete: „Geduld! Hier müssen wir rein.“ Er öffnete eine kleine Pforte: „Bitte, folgen sie mir. Keine Angst.“ Zögerlich betrat Maria den Hof. Nach dem Helmut sorgfältig die Pforte verschlossen hatte, löste er die Hundeleine. Bella rannte sofort los zu ihrem Wassernapf. „Kommen sie mit, Frau Meinerts.“ Helmut führte sie in ein flaches Gebäude und erklärte: „Hier links durch die Tür ist ein Waschraum. Handtücher sind dort im Regal. Dort können sie sich in Ruhe säubern. Jetzt ist keiner da. Ich gehe da vorne hin.“ Er lief zu einer Tür und rief: „Kaffee oder Tee?“ Maria antwortete laut: „Tee!“ Staunend sah sie sich um: Es gab Umkleideräume, Waschräume und einen kleinen Pausenraum. Sie fragte sich: Wo bin ich denn hier gelandet? Nach dem Maria sich einigermaßen gesäubert hatte, ging sie langsam zum angewiesenen Ort. Vorsichtig öffnete sie die Tür und blickte in eine Backstube. In einer Ecke werkelte Helmut. Er nahm die beiden Tassen, stellte sie auf einen kleinen Tisch und forderte Maria zum Sitzen auf.

Maria sah sich um: „Dürfen wir überhaupt hier sein?“ Helmut lachte: „Ja, warum nicht? Die Einzige, die was dagegen haben könnte, ist nicht da!“ Jemand räusperte sich: „Das denkst nur du! Ich habe Licht gesehen und wollte nachsehen, wer in meiner Backstube rumschleicht.“ Eine Frau im mittleren Alter kam an den Tisch, sah Maria an und sagte mit in die Hüften gestemmten Händen: „Papa, was machst du hier?“ Dann sah sie neugierig Maria an und fragte: „Und wer ist diese Frau?“ Helmut sah ertappt erst zu Maria, dann zu seiner Tochter: „Darf ich vorstellen: Das ist Frau Meinerts und das ist meine Tochter Gabriele.“ Während sich die Frauen begrüßten, sagte er: „Gabi, ich werde gleich für Frau Meinerts einen Kuchen backen, Bella hat ihr das Kuchenpaket aufgefressen. Hast du noch Äpfel?“ Maria blickte von einem zum anderen. Helmut erzählte nun die ganze Geschichte. Gabriele schüttelte nur den Kopf und sah freundlich Maria an: „Frau Meinerts, Hauptsache ihnen ist nichts passiert. Sie sind bei meinem Vater in guten Händen. Ich muss heute noch eine Kuchenlieferung wegbringen, in einer dreiviertel Stunde können sie mitfahren.“ Maria bedankte sich. Helmut sah zur Uhr: „Frau Meinerts, es ist schon 20 Uhr 30. Vermisst sie keiner?“ „Nein! Bei mir ist keiner zu Hause. Meine Enkelkinder übernachten bei Schulfreunden. Mein Schwiegersohn ist außerhalb bei einem Gokart-Rennen, mein Mann und meine Tochter sind vor Jahren bei einem Unfall verstorben. Ich bin alleine. Für mich war das heute ein schöner Abend. Sie müssen den Kuchen nicht backen. Es ist doch schon spät.“ „Ich habe es versprochen. Der Kuchen wird gebacken. Mein Enkel Manfred kann ihn morgen früh zu ihnen bringen.“

Am nächsten Tag in der Mittagszeit…

„Winterweg! Und die Hausnummer? Wo muss ich genau hin? Links oder rechts?“, murmelte der Achtzehnjährige. Er kramte den zerknüllten Zettel mit der Adresse aus der Hosentasche und las: „Nummer vierunddreißig. Bei Meinerts klingeln.“ Er schloss das Fahrrad am Zaun an und ging die fünf Stufen zur Eingangstür. Den Klingelknopf fand er halb zugewachsen mit Efeu links neben der Tür.

Auf dem Klingelschild stand:

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Hier wohnen

Ingrid, Walter, Sybille, Nils und Nele Oberwiesler

M. Meinerts, bitte zweimal klingeln

Klingelknopf kräftig draufdrücken!

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Die letzte Zeile war handschriftlich auf ein Pflaster geschrieben.

Der junge Mann drückte zweimal kurz auf den Knopf und hörte keine Türglocke. Dann eben nochmal zweimal fest draufdrücken. Daraufhin schrillte eine altmodische Türklingel los und hörte nicht wieder auf. Erschrocken kontrollierte er nach einer halben Minute den Klingelknopf: „Mist, der hat sich verklemmt.“ Da er kein geeignetes Werkzeug hatte, versuchte der Dunkelblonde mit den Fingernägeln die Tastfläche aus dem Rahmen zu lösen. Die Klingel schrillte gefühlt nochmals mindestens eine Minute weiter. Die Haustür wurde aufgerissen. „Blödmann! Spinnst du? Hast du schon wieder deinen Schlüssel vergessen? Immer dasselbe mit dir. Du hast deinen Kopf nur, damit es oben nicht reinregnet!“, brüllte eine Stimme. Verdattert sah der junge Mann die Gestalt an, die nur mit einem Badetuch bekleidet im Flur vor ihm stand. Das Gesicht wurde durch ein weiteres Handtuch verdeckt und mit den Händen wurden die langen blonden Haare trocken gerubbelt. Er schluckte und flüsterte: „Ich habe hier noch nie einen Schlüssel bekommen.“ Beim Erklingen der unbekannten Stimme wurde das Handtuch vom Kopf gezogen. Die junge Frau musterte ihn kurz mit ihren himmelblauen Augen, dann wechselte sie die Gesichtsfarbe, ein undefiniertes Quietschen entwich ihrem Mund und das Badetuch wurde bis zum Hals hochgezogen. Dann rannte sie den langen Flur entlang und verschwand durch eine Tür. Dass dabei das verrutschte Badetuch einen reizvollen Blick auf ihr blankes Hinterteil freigab, bemerkte die gerade Siebzehnjährige erst im Zimmer. Von dort ertönte noch ein Wutschrei. Der junge Mann stand wie erstarrt in der offenen Haustür und verarbeitete das Gesehene. Maria kam gerade aus ihrer Souterrainwohnung, hatte aus den Augenwinkeln den wütenden Abgang ihrer Enkeltochter beobachtet und ging zur Haustür. Amüsiert wedelte Maria mit der Hand vor dem Gesicht des jungen Mannes. „Habe ich jetzt deine Aufmerksamkeit. Es ist vorbei.“ Er stotterte: „Was, was war das eben?“ „Das war nur meine Enkelin.“, sagte sie schmunzelnd. „Guten Tag, was kann ich für dich tun?“, fragte Maria. Irritiert sah er sie an: „Guten Tag. Ich bin Manfred und soll Grüße von meinem Opa bestellen. Hier ist der versprochene Kuchen.“ Manfred überreichte den Kuchen und meinte: „Das Fahrrad steht fahrbereit draußen am Zaun. Da war nur das Schutzblech verbogen, die Bremse ausgehakt und ein Lampenkabel herausgerissen. Es ist alles instandgesetzt.“ Maria bedankte sich, bestellte Grüße und fragte: „Du bist mit meinem Rad hergefahren. Wie kommst du jetzt nach Hause? Das sind zehn Kilometer.“ Manfred legte sich ein Handtuch um den Hals und antwortete: „Ich laufe zurück. Das ist für mich eine Trainingseinheit. Auf Wiedersehen.“ Er rannte los, drehte sich nochmal um und sah, dass er neugierig aus einem Fenster beobachtet wurde. Manfred lachte, hielt sich die Hand vor Augen und winkte zum Abschied. Mit einer ruckartigen Bewegung wurde die Gardine geschlossen.

„Oma, was war das für ein Idiot?“, wurde Maria gefragt. „Sybille! Mäßige deine Ausdrucksweise! Das war Manfred. Und er hat uns Kuchen für heute Nachmittag gebracht.“

Nachmittags beim Auspacken des Kuchens fiel eine kleine Karte aus dem Papier. Nachdenklich öffnete sie die Karte und las:

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Hallo Frau Meinerts,

ich möchte mich nochmals für die Unannehmlichkeiten entschuldigen.

Das Fahrrad ist instandgesetzt. Die Rechnung für die zerrissenen Strümpfe und die Kuchenplatte können sie mir gelegentlich zukommen lassen.

Rufen Sie mich vorher kurz an, damit Sie nicht vergebens kommen.

Ich wünsche Ihnen einen schönen geruhsamen Sonntagnachmittag. Lassen Sie sich den Kuchen schmecken.

Liebe Grüße

Helmut Neumann

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Unten in einer Ecke war eine Telefonnummer notiert.

Maria schmunzelte und schnitt den gedeckten Apfelkuchen auf. Ein schmales Stück kostete sie sofort: „Lecker! Ein Genuss!“ Der Nachmittag mit ihren Freundinnen verging viel zu schnell.

Abends beim Aufräumen betrachtete sie nachdenklich die Grußkarte: Soll ich es wagen? Oder ist das zu aufdringlich? Oder ist es schon zu spät? Jetzt ist erst 19 Uhr 30. Ich rufe ihn jetzt an und bedanke mich. Wo ist denn jetzt schon wieder meine Lesebrille? Zögerlich wählte sie die Nummer. Es folgte ein langes Gespräch. Zuerst über den leckeren Kuchen, dann über die Familie und den Verlust, den jeder für sich erlitten hatte. Er hatte eine sanfte Stimme und konnte gut zuhören. Sie bemerkten gar nicht, dass sie schon zweieinhalb Stunden telefonierten. Sie verabredeten sich für den übernächsten Sonntagnachmittag. Sichtlich aufgewühlt sah Maria sich abends im Bett das Bild ihres verstorbenen Mannes auf dem Nachttisch an, dachte an die schönen Zeiten mit ihm und ihrer einzigen Tochter. Sie erlebte gedanklich nochmal die Trauer, als die Polizei vor vier Jahren klingelte und die Nachricht vom Autounfall der beiden mitteilte. Sybille war fast zwölf, Nils war sechs und Nele war noch kein Jahr alt, als Ingrid starb. Es war eine harte Zeit. Das fröhliche Kinderlachen war für lange Zeit verstummt.

Während der Trauerzeit hatte sich ihr Schwiegersohn Walter in seine Arbeit vergraben. Wenn er mal zu Hause war, werkelte er in der Garage an seinem Gokart. Damit die Kinder wieder einen geregelten Ablauf bekamen, war Maria kurzerhand zu ihnen gezogen. Walter betäubte seine Trauer auf der Rennbahn als Fahrer. Maria hatte Angst um ihn und wagte den Gedanken nicht zu denken, was alles passieren könnte. Nachdenklich sprach sie mit sich selbst: „Soll ich jetzt auch mal wieder an mich denken? Mein Leben geht ja auch irgendwie weiter. Es war auf jeden Fall ein schönes Wochenende!“

Helmut wiederum holte sich nach dem Telefonat ein Bier, setzte sich in den Sessel und dachte über das vergangene Gespräch nach: „Es war schön mit Maria zu plaudern. Sie konnte gut zu hören. Wie alt sie wohl ist? Sie ist noch berufstätig, während ich durch meinen Lottogewinn vor fünf Jahren eine finanzielle Unabhängigkeit habe. Dadurch konnte ich die Backstube meiner Tochter überlassen; Sabine und ich wollten die letzten Jahre mit Reisen verbringen. Seit ich fünfzehn Jahre alt war, stand ich nachts um zwei in der Backstube. Ich war Bäcker mit Leidenschaft. Sabine war immer diejenige, die mir den Rücken freigehalten hatte. Es war so traurig, als sie vor gut zwei Jahren ihre Diagnose bekam und trotz Chemo der Krankheit letztes Jahr erlag.“ Helmut rieb sich über seine feuchten Augen und murmelte: „Oder ist das alles noch zu früh? Was spinne ich hier rum? Maria habe ich erst einmal gesehen und vorhin mit ihr telefoniert. Ich glaube ich gehe schlafen.“

Montag begann wieder der normale Wahnsinn für alle: Maria kümmerte sich um diverse Klienten, Helmut arbeitete in seinem Garten, an seiner Reha und beschäftigte Bella, Gabriele stand schon früh in der Backstube, Walter war auf einer Baustelle, die älteren Kinder drückten die Schulbank und Nele freute sich auf ihre Freunde im Kindergarten. Mittwochs radelte Maria in den Ort zum Einkaufen. Auf dem Rückweg traf sie an der Bäckerei Helmut. Freudig begrüßten sie sich. Gemeinsam gingen sie fröhlich plaudernd in die Bäckerei. Maria übergab das Backblech und bestellte bei Gabriele erneut einen Apfelkuchen, aber diesmal wollte sie ihn bezahlen. Als Helmut protestierte, blickte ihn Gabriele verwundert an. Irgendetwas war mit ihrem Vater passiert. Seine Augen glitzerten vor Freude. Das hatte sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Dann beobachtete sie heimlich Maria. Als beim Verabschieden Helmut Marias Hand länger als nötig festhielt, wirkte Maria irgendwie verlegen. Schmunzelnd widmete sich Gabriele dem nächsten Kunden. Helmut und Maria trafen sich in der Folgezeit zu ausgedehnten Spaziergängen mit Bella. Manchmal saßen sie nach Restaurantbesuchen bei einem Glas Wein zusammen. Durch die intensiven Gespräche entdeckten sie viele Gemeinsamkeiten in den Familien. Beide planten während des Sommers, dass im Herbst erste vorsichtige Familientreffen stattfinden sollten. Am Ende der Sommerferien bestellte Maria wegen Neles Einschulungsfeier bei Gabriele eine Torte.

Samstags belieferte Manfred mit dem Servicefahrrad die Kunden. Den Kuchen für Meinerts plante er als letzte Station ein. Zaghaft näherte er sich mit dem Zeigefinger dem Klingelknopf und drückte in Erinnerung an das letzte Mal vorsichtig drauf. Er hatte ein Déjà-vu, es klingelte nicht. Er wollte gerade noch mal fester drücken, da sprang ein etwa elfjähriger Junge die Stufen hoch, langte an ihm vorbei und schlug mit der flachen Hand auf den Knopf. Die Klingel schrillte wieder im Dauerton. Während der Junge die Stufen schnell runtersprang, rief er, „So musst du das machen!“, und versteckte sich hinter der Hausecke. Die Tür wurde aufgerissen. Manfred wurde von zwei wütenden himmelblauen Augen angefunkelt: „Du schon wieder! Bist du zu blöd zum Klingeln? Mein Bruder ist genauso bescheuert. Jungs! Alle in einen Sack und draufhauen, man trifft immer den Richtigen.“ Mit diesen Worten schlug sie mit der Faust neben den Klingelknopf. Dadurch verstummte das schrille Geräusch. Fasziniert sah Manfred mit offenem Mund in ihr Gesicht: Himmelblaue Augen, Stubsnase, geschwungener Mund, um die Nase Sommersprossen. Das Ganze wurde eingerahmt von langen blonden Locken. Dann sah er weiter an ihr herunter: Knappes Shirt, das ihre Konturen verriet, und Shorts, lange Beine. Er verschloss seinen Mund erst, als sie weiter blaffte: „Was glotzt du so? Wo willst du hin?“ Er dachte bei sich: „So eine Kratzbürste, aber sie sieht so niedlich aus!“ Laut stotterte er: „Ich, ich … zu Frau, Frau Meinerts… ich…“ Kopfschüttelnd fragte sie mitleidig: „Kannst du nicht in ganzen Sätzen sprechen?“, und betonte dann jede Silbe einzeln: „Woll… Test… Du… Zu… Frau… Meinerts?“ Manfreds Augen blitzten gefährlich, aber er blieb höflich und nickte nur stumm. Amüsiert sah ihm die Kratzbürste ins Gesicht, zeigte hinter sich und murmelte: „Oma ist im Garten. Durch die Küche, die Hintertür…“ Ihr Tonfall wurde wieder lauter, als sie ihren Bruder erblickte: „Der kleine Nils ist auch schon da. Wie siehst du aus? Wasch dich jetzt. Wir wollen gleich mit Oma essen. Und bringe deine Schwester mit.“ Manfred sah sie kopfschüttelnd an, betrat den Garten und lieferte den Kuchen ab. Auf dem Rückweg durch die Küche traf Manfred auf Nils: „Warum hast du das mit der Klingel gemacht? Ich habe jetzt die Schuld bekommen.“ Der Elfjährige antwortete: „Das macht doch Spaß. Meine Schwester flippt immer so schön aus.“ Manfred grinste amüsiert und dachte an die Streiche seiner jüngeren Schwester. Auf dem Weg zur Haustür musste er an einer halboffenen Zimmertür vorbei. Dort saß die Kratzbürste mit dem Rücken zu ihm und sprach in ihr Handy. Er hörte die Wortfetzen: „…das ist vielleicht ein Idiot. Das kannst du mir glauben… Elena, weißt du schon, was du zu Fabians Geburtstag anziehst? Du kommst doch auch? Du bist doch auch eingeladen. Lass mich ja nicht im Stich.“ Langsam ging Manfred aus dem Haus und murmelte kopfschüttelnd im Selbstgespräch: „Die haben vielleicht Sorgen. Mädel werde erstmal erwachsen. Aber, ich bin auch zu Fabians Achtzehnten im Vereinsheim eingeladen! Jetzt habe ich einen Grund mehr, dahin zu gehen.“ Auf der Rückfahrt träumte er von himmelblauen Augen… 

Am Sonntag radelte Maria in den Ort. Helmut erwartete sie schon an der Pforte: „Guten Tag! Schön, dass sie da sind. Kommen sie bitte in den Garten, ich möchte mit ihnen noch Kaffeetrinken. Wenn sie möchten, dann können wir nachher mit Bella noch eine Runde gehen. Er geleitete Maria zum Kaffeetisch in den Wintergarten: „Meine Tochter Gabi kennen sie ja schon, Manfred auch und das ist Melanie, meine Enkelin.“ Alle begrüßten sich freundlich. Bella drängte sich dazwischen und forderte auch ihr Recht um Streicheleinheiten. Während sich alle den leckeren Kuchen schmecken ließen, stellte sich Maria den neugierigen Fragen der Familie. Als die Fragen der elfjährigen Melanie, einem dunkelhaarigen pausbäckigen Mädchen mit etwas Babyspeck an den Hüften, zu persönlich wurden, versuchte Helmut die Fragestunde zu beenden. Aber Maria beantwortete mit einem kurzen Blick auf Gabi die meisten Fragen. An Helmut gerichtet meinte sie nur: „Es ist alles in Ordnung; ich habe nichts zu verbergen. Wenn sie irgendwann an unserem Kaffeetisch sitzen, dann sind sie an meiner Stelle und dürfen sich den Fragen meiner Familie stellen. Manfred kann gewiss bestätigen, dass es bei uns auch hoch hergeht. Familie eben!“ Der Angesprochene blickte mit roten Ohren auf den Teller und zählte die Krümel. Nach dem Kaffee spazierten Maria und Helmut mit Bella zum nahen Wald. Gabi blickte hinter den dreien hinterher, grinste und meinte zu Manfred: „Es ist erstaunlich. Opa hat seine Beinschiene angelegt und läuft relativ normal ohne Gehhilfen. Was der Arzt nicht geschafft hat, das hat Maria innerhalb von einer Woche erreicht. Mein Papa hat wieder neuen Lebensmut.“ Als die Spaziergänger um die Ecke verschwunden waren, vertiefte sich Gabriele wieder im Büro in die Buchhaltung ihres kleinen Betriebes. Manchmal schweifte sie mit ihren Gedanken in die Vergangenheit ab und dachte wieder an ihre Mutter, die mit Leichtigkeit die Formulare bearbeitete. Leise vor sich hin fluchend sortierte Gabi erneut die Papiere. Sie schimpfte leise: „Wo soll ich das jetzt eintragen? Das passt doch alles nicht! Aber das muss fertig werden, sonst bekomme ich Ärger mit dem Finanzamt.“ Sie hörte fröhlich plaudernde Stimmen aus dem Garten. Maria und Helmut hatten ihren Rundgang nach zwei Stunden beendet und labten sich an einer kühlen Weinschorle. Mittlerweile waren sie zum vertrauten „Du“ übergegangen. Maria lachte über eine Anekdote, die Helmut zum Besten gab. Gabriele beschloss, die verhassten Büroarbeiten auf das nächste Wochenende zu vertagen und ging wieder in den Wintergarten. Im Laufe der Woche wollte sie ihren Vater um Hilfe bei dem Papierkram fragen. Gemeinsam genossen sie noch den gemütlichen Nachmittag.

Planungen

 Zur Abendbrotzeit war Maria wieder zu Hause und gesellte sich zu Walter auf die Terrasse: „Walter, schön dass ich dich sehe. Bist du nächstes Wochenende

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: D.HaHerO
Bildmaterialien: D.HaHerO
Cover: D.HaHerO
Tag der Veröffentlichung: 16.05.2021
ISBN: 978-3-7487-8952-9

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